Florian Schneider
Zur Person
(Jahrgang 1967)Als freier Mitarbeiter am JFF tätig. Schwerpunkt: Projektleitung d-a-s-h EuropaBeiträge in merz
Florian Schneider: Streaming Media - ein Konvergenzmonster?
Wenn es im Internet im Jahr 2000 ein beherrschendes Thema gab, dann hieß es „Streaming Media“. Unter diesem Kampfruf haben sich mehr oder weniger abenteuerliche Phantasien Bahn gebrochen, die von der Konvergenz aller Medien zu einem einzigen, hybriden Monster handeln, welches die Endnutzer mit unablässiger Kommunikation auf allen zur Verfügung stehenden Plattformen heimsucht: Vom „Blairwitch-Project“ bis hin zur jederzeit am Mobiltelefon abrufbaren Videoüberwachung des heimischen Kühlschranks, von der AOL-Time-Warner-Fusion bis zur Versteigerung der UMTS-Lizenzen. Fünf Jahre nach dem Durchbruch des Internets als Massenmedium schien der Sprung auf eine qualitativ neue Ebene des Hypes nicht nur überfällig, sondern auch zum Greifen nah. Doch 2000 war auch das Jahr der im freien Fall nach unten korrigierten Prognosen. Was also ist dran an der Wunderwelt der miteinander verschmelzenden Medien? Worin besteht überhaupt das Besondere am Streamen?
Audio und Video via Internet
Zunächst einmal handelt es sich bei Streaming Media um einen vergleichsweise alten Hut: Schon kurz nachdem das Hypertextuniversum des World Wide Web erschlossen wurde, machte den Programmierer die Frage zu schaffen, wie über das neue Medium nicht nur statische Texte und Bilder, sondern auch ungleich umfangreichere Audio- und Video-Daten zu übertragen wären. Beim herkömmlichen Download kompletter Dateien war die Zeit des Wartens, bis der Prozess des Herunterladens endlich abgeschlossen war, in der Regel fünf bis zehn Mal so lang wie das eigentliche Hörvergnügen im Anschluss. 1995 gelang es der Firma „Progressive Networks“ aus Seattle erstmals, Audio-Daten via Internet zu übertragen - und zwar mehr oder weniger in Echtzeit. Mit dem RealAudio-Player konnte das Abspielen der Datei gestartet werden, sobald die ersten Pakete auf dem Rechner anlangten. Voraussetzung ist, dass der Endnutzer die Player-Software auf seinem Rechner installiert hat und dass die Ton-Dateien digitalisiert und komprimiert im proprietären Real-Audio-Format auf einem entsprechenden Streaming Server bereit gehalten werden. Die Daten können zwar auch über TCP/IP und das WWW-Protokoll HTTP übertragen werden, doch eigene Multi-Casting Protokolle wie das „Real Time Streaming Protocol“ (RTSP) oder UDP erhöhen die Übertragungsgeschwindigkeit um ein Vielfaches. Nur wenige Monate nachdem „Progressive Networks“ seine neue Technologie vorgestellt hatte, waren RealAudio-Downloads auf allen großen und populären Webseiten zu finden. Mit der zweiten Version des Players vom Frühjahr 1996 waren Live-Übertragungen möglich und die Einbettung der Audio-Inhalte in das Design von Webseiten. Kurz darauf kam der erste RealVideo-Player heraus, der bis zu seiner aktuellen Version 8 die Stellung als am weitesten verbreitete Play-Back-Software gegen die Konkurrenz von Apple (Quicktime) und Microsoft (Windows Media Player) behaupten konnte.
Open Spaces
Neben den großen kommerziellen Angeboten nutzten von Beginn an vor allem Hobby-Sender und Piratenradios das Internet als Übertragungsweg. Die Streaming-Technologie ermöglichte den Kleinst- oder Mikro-Medien neben der terrestrischen Ausstrahlung mit meist minimaler Reichweite auf einmal ein überregionales, nicht mehr eingrenzbares Publikum anzusprechen. Geradezu legendär ist der „World Service“ von Heith Bunting auf „Irational.org“. Rund um die Uhr sind dort Programme von Piraten- und Schlafzimmersendern aus aller Welt zu hören: Von „La onda bajita“ mit ihrer „Lowrider Show“ aus Kalifornien über Radio „Kyrgyzstan“ bis hin zum australischen „Stereopublic“ fügen sich Dutzende unterschiedlichster Mini-Programme in ein gemeinsam verwaltetes Sendeschema. Im „X-Change“ Netzwerk haben sich seit 1997 unter Federführung von Rasa Smite und Raitis Smits aus Riga und ihrem „E-lab“ alternative nicht-kommerzielle Internet Sender und praktizierende Individualisten zusammengeschlossen. „Open Spaces, Non-Linearität und experimentelle Praxis“ lauten die Prinzipien, nach denen die akkustischen Dimensionen des Cyberspace erforscht werden sollen. Pionierarbeit leistete auch Thomax Kaulmann, Mitbegründer des Internet-Radios der „Internationalen Stadt Berlin“, der mit seinem Projekt Orang.orang.org eine offene Datenbanklösung zur Archivierung von Audio- und Video-Inhalten entwickelte. OMA, das „Open Media Archive“, sammelt, streamt und erschließt Medien-Produktionen, die auf verschiedenen Servern angesiedelt, aber über eine gemeinsame, dynamische Plattform zugänglich sind. Im Unterschied zu kommerziellen Anbietern wie „Atomfilms“, „Eveo“ oder „Videofarm“ kann das Publikum hier nicht nur kostenlosen Content herunterladen, sondern auch eigene Produktionen in die nach verschiedenen Genres und Rubriken sortierte Datenbank hochladen.Kultur des ProvisorischenEs waren die kleinen, unabhängigen und randständigen Initiativen, die den großen Medienkonzernen vormachten, wie Interaktivität nicht nur versprochen, sondern auch wahr gemacht wird. Diese reichhaltigen Erfahrungen zu bündeln und mit der aktuellen Debatte um rechtliche Rahmenbedingungen, technologische Entwicklungen, sowie politische und ästhetische Implikationen zu verknüpfen, war Ziel einer Konferenz, die im Oktober 2000 in Amsterdam stattfand. „Net.congestion“ - also Netzstau, die Fehlermeldung die allzuoft die flüssige Datenübertragung unterbricht - lautete der ironische Titel des Großereignisses, das sich einzureihen versuchte in die Tradition „Next Five Minutes“-Kongresse. Die Frühphase des Experimentierens mit „Streaming Media“ angeführt von ein paar Enthusiasten sei unweigerlich zu Ende, hieß es im Konzept von „Net.congestion“. Netzradio und Web-TV seien an einem Punkt angelangt, wo es nicht mehr bloß gilt, Chancen und Möglichkeiten des hybriden Zusammenspiels von alten und neuen Medien auszuloten und taktische Varianten zu erörtern: „Die Werkzeuge, die die Produzenten von Streaming Media sowohl auf kulturellem wie auf kommerziellem Gebiet benutzen, sind nahezu dieselben. Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Gruppen ist die Art und Weise, wie die Inhalte präsentiert werden.“„Net.congestion“ verdeutlichte aber vor allem eines: Wohin man auch blickt, machen äußerst provisorische Lösungen den Charakter der neuen Medienwirklichkeit aus. Resultat ist eine Kultur des Imperfekten und eine Renaissance oraler Erzählstrategien, die sich den klassischen Plotgesetzen der verschriftlichten Welt Stück für Stück entziehen. Nora Barry vom Online-Filmfestival „The Bit Screen“ sieht vier narrative Taktiken im Aufwind: Interaktive Geschichten, die dem User die Kontrolle über den Fortgang der Handlung übereignen; kollaborative Strategien, bei denen mehrere gleichberechtigte Autoren am Werk sind; Zufallskonfigurationen, wenn Datenbanken automatisch jeweils einzigartige Versionen zusammenstellen; und zu guter Letzt der klassische Kurzfilm. Überschaubare Datenmengen kombiniert mit althergebrachter Dramaturgie und gängigen Pointen machen sicherlich den populärsten Audio- oder Video-Content auf Seiten kommerzieller Anbieter aus.
Ob die User, sobald sie einmal Blut geleckt haben, sich mit der Fortschreibung ihrer Rolle als Couch-Potatoes zufrieden geben, darf jedoch getrost bezweifelt werden. Zu groß sind die Verlockungen, mit denen neue Technologien und deren digitale Übertragungswege winken: Es beginnt beim banalen Chat, der als eine Art Rückkanal heutzutage jedes Streaming begleitet, das etwas auf sich hält. Dies führt zwangsläufig zum Recht auf Programmierung, das aus den Redaktionsstuben der Sendeanstalten in die Hände eines selbstbewußten Publikums übergleitet. Vorläufiger Endpunkt sind im Moment noch richtig radikal anmutende Szenarien, in denen die klassische Handlung mit festgefügtem Anfang und Ende in zahllose Erzählfragmente zertrümmert wird....
Machtverhältnisse verändernEnorme Bedeutung haben die Erfahrungen, die ein einstiger Piratensender wie das Belgrader Radio B92 bei der trickreichen Umgehung des staatlichen Sendemonopols sammeln konnte. Gerade in Gegenden dieser Welt, die nicht über bandbreitige Zugänge verfügen oder wo eine einzige Telefonleitung schon ein kaum vorstellbares Privileg ist, gehört die Zukunft dem hybriden Mix aus allen möglichen Übertragungswegen, seien sie nun analog oder digital, via Internet oder Satellit, im Äther oder im Boden verlegt. Arun Mehta, Streaming-Experte aus New Delhi, legte drei inhaltliche Kriterien fest, die unabhängige Medien im Zeitalter des „Digital Divide“ auszeichnen sollten: Unmittelbare Verbesserungen im konkreten Leben der Menschen herbeizuführen, Medienkompetenz zu befördern und dadurch die herrschenden Machtverhältnisse zu verändern.
Solcher Optimismus erinnert an Hoffnungen, die in der Früh- und Blütezeit von Dokumentarfilm- oder Videobewegung kursierten. Der entscheidende Unterschied dürfte aber darin bestehen, dass heutzutage nicht nur die Produktionswerkzeuge, sondern auch effiziente und vergleichsweise kostengünstige Distributionswege prinzipiell verfügbar sind. Im Gegensatz zu blanken HTML-Seiten setzt der Upload von Audio-und Video-Dateien dennoch um einiges kostspieligere Hard- und Software-Umgebungen voraus, sowie Internet-Zugänge mit großer Bandbreite, wie sie sich derzeit in der Regel nur größere Firmen leisten können. Je vehementer kommerzielle Anbieter sich auf dem Markt der konvergierenden Medien zu positionieren versuchen, desto wichtiger ist es, im Rahmen kommunaler Kulturpolitik und aktiver Medienarbeit frühzeitig Modelle zu entwickeln, die nichtkommerziellen Projekten die Möglichkeit bieten, ihre Audio- und Videoproduktionen zu digitalisieren, zu formatieren und ins Netz zu stellen.
Neutrale und werbefreie Kontexte sind sicherlich unabdingbare Voraussetzung für Glaubwürdigkeit und Erfolg zahlreicher Unterfangen. Gleichzeitig bergen Streaming Media gewaltige ästhetische Herausforderungen und ein immenses kreatives Potential. Eine völlig neue Dimension tut sich vor allem für die non-fiktionale Filmproduktion auf: Anstelle bloßer Dokumentation könnte es vielmehr um eine Art „Meta-Documentary“ gehen: Eine Sicht der Wirklichkeit, die in der Lage ist, zeitlich und räumlich unbegrenzte, parallel stattfindende und miteinander vernetzte Prozesse zu reflektieren.