Chris Schüpp
Zur Person
Chris Schüpp ist seit vier Jahren Leiter des "Young People's Media Network in Europe & Central Asia" für das Genfer UNICEF-Büro.Beiträge in merz
Chris Schüpp: OneMinutesJr
Als der Workshop vorbei ist, bricht Christin (14 Jahre) aus Bochum in Tränen aus. Fünf Tage lang hat sie mit 16 anderen Jugendlichen verbracht und fast pausenlos an den OneMinutes gearbeitet. Sie war Regisseurin, Darstellerin, hat die kleine Handycam bedient und den Trainern beim Schnitt über die Schulter geschaut und Anweisungen gegeben. Jetzt sind die 17 Filme fertig – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben alle ihr eigenes OneMinute-Video produziert – und gleich geht es ab nach Hause.
Für mich als Projektleiter ist es kein ungewohntes Bild, dass am Ende eines Workshops Tränen vergossen werden. Das Arbeiten mit rund 20 Kindern/Jugendlichen in so komprimierter Form – fünf Tage, rund um die Uhr – schafft eine Gruppendynamik, die es schwer macht, nachher wieder ins „normale Leben“ zurückzukehren. Ich erinnere mich an einen Workshop in Rumänien vor zwei Jahren, wo wir mit 20 Roma-Kindern OneMinutes produziert haben. Am Ende haben fast alle geweint, inklusive der Video-Trainer. Aber es ist noch mehr als die entstandene Gruppendynamik, was das Ende eines OneMinutesJr-Workshops so emotional macht. Es ist eine Mischung aus Freude, Trauer, Stolz und Erschöpfung: Freude darüber, dass man fünf Tage mit 20 anderen Jugendlichen verbracht hat und viel Spaß gehabt hat. Trauer darüber, dass jetzt alles vorbei ist. Stolz, weil man eine Menge geschafft hat: 20 Jugendliche haben innerhalb kürzester Zeit 20 Ideen entwickelt und in Kurzfilmen umgesetzt. Und schließlich Erschöpfung, weil viel gearbeitet und geredet wird bei so einem Workshop, so dass der Schlaf meistens entschieden zu kurz kommt…
Im Jahr 2002 kam die Europäische Kulturstiftung (ECF) mit Sitz in den Niederlanden auf das UNICEF-Regionalbüro für Südosteuropa und die GUS-Staaten mit der Idee zu, ein Medienprojekt für Kinder und Jugendliche zu starten. Dieses Medienprojekt sollte eine Weiterentwicklung einer „Kunstdisziplin“ sein, die das Sandberg Institut, eine Kunsthochschule in Amsterdam und Projektpartner der ECF, Ende der 90er Jahre eingeführt hatte. Die Sandberg-Studenten hatten sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, kleine Geschichten oder Ideen filmisch umzusetzen und dabei den zeitlichen Rahmen von exakt 60 Sekunden weder zu unter-, noch zu überbieten. Die „OneMinutes“ waren geboren. UNICEF fand die Idee interessant, vor allem vor dem Hintergrund des Young People’s Media Network (YPMN), einer vom UN-Kinderhilfswerk ebenfalls im Jahr 2002 gegründeten Initiative, die Kindern und Jugendlichen in Europa mehr Raum in den Medien schaffen soll. Kurzum, die OneMinutes bekamen Nachwuchs: Die OneMinutesJr – für Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 20 Jahren. OneMinutesJr – Was Jugendliche beschäftigtDer erste Workshop fand im Jahr 2003 im Europäischen Jugendzentrum des Europarates in Budapest statt. Knapp 30 Jugendliche aus mehr als zehn Ländern in Osteuropa und vom Balkan waren die ersten Teilnehmer und produzierten OneMinutesJr-Filme, die bei den Projektpartnern kollektives Erstaunen auslösten: Die Direktheit, mit der die Jugendlichen ihre Ideen, Wünsche, Träume und Probleme in den Filmen umgesetzt hatten, übertraf alle Erwartungen. Auch die künstlerischen Aspekte verblüfften und so waren alle zufrieden: Die Europäische Kulturstiftung, weil Kunst und Kultur gefördert wurden. UNICEF, weil Kinder und Jugendliche die Möglichkeit bekommen hatten, sich selbst über die Medien aktiv in der Gesellschaft einzubringen und ihren Ideen neue Wege geben konnten, eine große Zahl von Menschen zu erreichen. Und die Kinder und Jugendlichen natürlich, die eine fantastische Woche in Budapest verbracht hatten, Filme produziert und eine Menge neuer Freunde gewonnen hatten. Übrigens: Das „traditionelle Tränenvergießen“ fing bereits in Budapest an. Damals waren es die jüngsten Teilnehmerinnen, zwei 13 und 14 Jahre alte Mädchen aus der Ukraine, die nicht wirklich schon wieder nach Hause wollten …
Drei Jahre später sind die OneMinutesJr-Filme ein fester Bestandteil der Jahresplanung von ECF und UNICEF geworden. Außerdem haben europäische Fernsehsender das Potenzial der Filme erkannt. Von Schweden bis Portugal laufen die OneMinutes erfolgreich auf verschiedenen Sendern und in verschiedenen Formaten. SVT in Schweden hat eine eigene OneMinutesJr- Internetseite auf schwedisch entwickelt und ruft dort und im OneMinutesJr-Programm im Fernsehen einheimische Kinder und Jugendliche dazu auf, selbst Filme zu drehen und diese einzusenden. Mit Erfolg! Beim „OneMinutesJr Award“, dem alljährlichen Festival der OneMinutes in Amsterdam, kamen im Jahr 2005 fast die Hälfte der nominierten OneMinutesJr-Filme aus Schweden. Zur Zeit senden neben SVT auch die BBC, YLE (Finnland), RTE (Irland), RTP (Portugal), TV3 Catalunya (Spanien) und RAI 3 (Italien) die OneMinutesJr regelmäßig in ihrem Programm. Andere Kooperationspartner sollen im Mai 2006 beim Prix Jeunesse in München, „angeworben“ werden. Da die OneMinutesJr ein „non-profit“-Projekt sind, bekommen die Fernsehsender die Filme kostenlos zur Verfügung gestellt. Für die Projektpartner ist der wichtigste Aspekt, dass die Kurzfilme so vielen Zuschauern wie möglich zugängig gemacht werden. Je mehr Menschen sich mit den Gedanken der jungen Filmemacher auseinandersetzen, desto besser. Denn selbst für die geübten OneMinutesJr-Trainer, die Projektleiter von ECF und UNICEF sowie die Studenten des Sandberg Instituts, bringt fast jeder Film und jeder Workshop wieder eine neue Erkenntnis.In den vergangenen drei Jahren hat das OneMinutesJr-Team fast ganz Europa bereist. Workshops fanden unter anderem in Island, England, Nordirland, Deutschland, den Niederlanden, Ungarn, Moldawien, Mazedonien, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Georgien und in der Türkei statt. Außerdem entwickelt UNICEF das Projekt in Lateinamerika weiter, wo die „Un Minutos“ demnächst sogar bei MTV laufen werden. Doch was genau macht die OneMinutes so erfolgreich? Zum einen trifft sicherlich das gute alte Sprichwort zu: „In der Kürze liegt die Würze!“ Eine Minute ist lang genug, um eine Menge zu sagen – aber gleichzeitig auch kurz genug, um für jeden x-beliebigen Medienkonsumenten zugänglich zu sein. In unserem heutigen Medienzeitalter muss Wichtiges auf ein „konsumierbares Maß“ runtergekocht werden. Genau darin liegen für die jungen Medienmacherinnen und -macher auch der Reiz und die Herausforderung. Einen komplizierten Gedankengang, eine fixe Idee, das gesamte Gefühlsleben eines Teenagers – und das in einer Minute …Zudem sind die OneMinutes das perfekte Format für einen Workshop. Wenn 20 Kinder oder Jugendliche, die sich vorher nicht kannten, fünf Tage lang auf engstem Raum zusammenarbeiten, dann müssen die Filme „kurz und knackig“ sein. Dann müssen Story-writing, Dreh und Schnitt machbar sein. In 20-facher Dosis natürlich. Lange Dokumentarfilme sind in so einem Rahmen ausgeschlossen und wenn alle an einem einzigen Film arbeiten würden, gäbe es sicherlich auch 20 verschiedene Ansichten, wie das Drehbuch zu gestalten wäre. Daher der „Einfachheit“ halber: Jede und jeder schreibt und produziert ihren/seinen eigenen Film. Und der muss eben genau 60 Sekunden lang sein. Vom Einzelgespräch zur FilmpremiereEinen OneMinutes-Workshop darf man sich natürlich nicht als ein Treffen von Alleinunterhaltern vorstellen. Die zwei oder drei Video-Trainer, die den Workshop leiten, zeigen nach einer lockeren Einleitung am Vormittag des ersten Tages bereits produzierte OneMinutes, damit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Gefühl für die Filme bekommen und sehen, was andere Jugendliche bereits gemacht haben. Danach werden die Filmgedanken einzeln aufgeschrieben, bevor es an die „Einzelgespräche“ geht. Diese sind wahrscheinlich der wichtigste Teil eines jeden Workshops, da hier aus den Ideen Bilder werden. Da die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch keinerlei Filmerfahrung haben, fällt es machen Jugendlichen schwer, die Texte zu „bebildern“. Einen Anfang machen da Skizzen, die so genannten „Storyboards“, bei denen die einzelnen zu filmenden Szenen gezeichnet werden, um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, was nachher gedreht werden muss. Die Gespräche der Trainer mit den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dauern zumeist den Rest des ersten Tages an, während die anderen Workshop-Teilnehmer sich gleichzeitig in Spielen oder Gesprächen besser kennen lernen. Für den zweiten und den dritten Tag entwerfen die OneMinutes-Trainer dann einen Drehplan, der davon abhängt, zu welcher Tageszeit die einzelnen Filme gedreht werden sollen (Wie muss das Licht sein, welche Stimmung soll erzeugt werden?), wo gedreht werden soll und wer in welchem Film als Darsteller benötigt wird. Die Teamwork fängt an und in diesem Miteinander, wo jeder mal RegisseurIn, DarstellerIn oder Kamerafrau/Kameramann ist, entwickeln sich neben einer intensiven Gruppendynamik auch exzellente Filme. Außerdem lernen alle von allen: Der eine kann schon mit den vom OneMinutes-Team mitgebrachten DigiCams umgehen, die andere nicht. Dafür ist der eine ein besserer Regisseur, die andere eine bessere Darstellerin. Jeder findet seine Rolle – vor oder hinter der Kamera. Am vierten Tag werden die Filme dann an den ebenfalls mitgebrachten Laptops geschnitten. Hier übernehmen die Trainer das Kommando, allerdings nur, was das „Knöpfedrücken“ anbelangt. Die professionellen Schnittprogramme können in der Kürze der Zeit nicht vermittelt werden, allerdings ist der jeweilige Regisseur immer nah dran und gibt Anweisungen, welche Szene folgen soll, ob Spezialeffekte angewendet werden sollen und wo das Material auf den Mini-DV-Bändern zu finden sein könnte. Die letzte Nacht ist zumeist sehr lang, noch länger als die anderen Nächte. Beim ersten Workshop in Budapest im Jahr 2003 sollte die „Final Presentation“, die Premiere aller produzierten Filme, gegen 20 Uhr stattfinden. Zuerst wurde sie großzügig auf Mitternacht verschoben, dann hieß es „gegen Mitternacht“, und als um kurz vor 6 Uhr in der Früh die Sonne über dem ungarischen Parlament auf der anderen Donauseite aufging, wurde der Raum im Europäischen Jugendzentrum für die von den Teilnehmenden euphorisch gefeierte Filmvorführung wieder abgedunkelt.Seitdem sind in Europa und Zentralasien, dem eigentlichen „Verbreitungsgebiet“ des Projektes, rund 700 OneMinutesJr-Filme produziert worden. In Workshops, in Zusammenarbeit mit Fernsehsendern, aber auch in Eigenregie, einfach, weil es Spaß macht, einen kurzen Film zu drehen, der genauso lang ist wie die anderen, die unter www.theoneminutesjr.org im Internet zu sehen sind. Filme, die zum Nachdenken anregenFür UNICEF und die Europäische Kulturstiftung sind die Erkenntnisse wichtig, die das Projekt gebracht hat und immer wieder bringt. Die Probleme, die in den Filmen aufgeworfen werden, regen zum Nachdenken an. Manchmal werden die Workshops thematisch „gesteuert“, wie in Bochum im April 2006, wo UNICEF Deutschland die zum größten Teil selbst davon betroffenen Jugendlichen aufforderte, Filme zum Thema „Kinderarmut in Deutschland“ zu produzieren. Aber selbst dann verblüfft die Vielschichtigkeit der Ideen, die Klarheit der Aussagen und die Unverblümtheit, mit der die Dinge des täglichen Lebens angegangen werden. Die Authentizität der OneMinutes ist das Wertvollste am ganzen Projekt. Echte Filme, produziert von echten jungen Menschen mit echten Gefühlen und keine kühl produzierten Werbe- oder Imagefilme für eine bessere Welt.