Judith Schuhbauer
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Judith Schuhbauer: Großes Kino in kurzen Filmen
Eine Woche lang präsentierten junge Nachwuchsregisseurinnen und -regisseure aus aller Welt auf dem 31. Internationalen Festival der Filmhochschulen München 2011 ihre Werke. Die 54 Regie-Talente kamen aus insgesamt 26 Ländern, um ihre Arbeiten ins Rennen um Preisgelder in Höhe von mehr als 40.000 Euro zu schicken. Von Montag bis Freitag, von nachmittags bis spät abends wurden im Münchener Filmmuseum 61 Kurzfilme in zehn bunt gemischten Programmen dem Publikum und der Jury vorgestellt. In eindrucksvollen Spielfilmen, packenden Dokumentationen und aufwändigen Animationen behandelten die Nachwuchsfilmemacherinnen und -macher ein breites Themenspektrum. Vom Milchbauern Kurt, der aus Biogas so viel Strom erzeugt, dass er tropische Früchte im ländlichen Bayern anbauen kann und sich dabei eine goldene Nase verdient, über die verzwickte Situation des Lottomoderators, der nach Einführung des Farbfernsehens in Finnland nicht mehr zum Senderimage passt, bis hin zu den Problemen Homo- und Transsexueller in der Gesellschaft Bosniens und Herzegowinas. Der studentische Nachwuchs verarbeitete eine Vielzahl an aktuellen und gesellschaftlich relevanten Themen. Neben einer Reihe an ernsten Filmen, die das Publikum mit nachdenklicher Stimmung entließen, zeigten sich viele der Nachwuchsfilmerinnen und -filmer von ihrer humorvollen Seite. Mit viel Witz und Ironie erzählten sie in ihren Kurzfilmen die absurdesten, aber doch tiefgründigen Storys. Ob traurig oder witzig, Fiktion oder Dokumentation, den jungen Filmemacherinnen und -machern gelang es, Stimmungen zu schaffen und mit den Zuschauerinnen und Zuschauern in meist fremde Lebenswelten einzutauchen.
Mal bedrückend, mal weise, mal mit einer guten Portion Humor, der Regienachwuchs beobachtete seine Umwelt genau. Dabei belächelten sie manch gesellschaftliche Konvention ebenso leise, wie sie soziale Probleme klar und deutlich zur Schau stellten. Die jungen Regisseurinnen und Regisseure überzeugten das Publikum mit gut durchdachten Drehbüchern und professionellen Produktionen. Für Auskünfte zu ihren Werken standen alle Filmemacherinnen und -macher persönlich zur Verfügung. Hintergrundinformationen zur Idee, zum Dreh und zu den Absichten der Regisseurinnen und Regisseure machte das Erlebnis ‚Film‘ noch faszinierender. Dass den meisten Studierenden nur ein geringes Budget zur Verfügung stand, zeigt wieder einmal, dass auch mit einfachen Mitteln hervorragende Filme möglich sind. Mit Einfallsreichtum und Leidenschaft setzte der Filmnachwuchs seine Ideen eindrucksvoll um. Ideen und Kreativität zeigte der studentische Nachwuchs auch im Sonderwettbewerb Climate Clips. Sein Ziel ist es, Erfahrungen, Vorstellungen und Wünsche zu Klimawandel und Energieversorgung aus allen Erdteilen zusammenzutragen und Lösungsansätze publik zu machen. Auch hier setzten die Nachwuchsregisseurinnen und -regisseure der drei ausgewählten Short Cuts auf Humor und Leichtigkeit statt auf Weltuntergang und erhobenen Zeigefinger.
Die Message ihrer Clips ist dennoch eindeutig: Jede und Jeder Einzelne kann (und muss) etwas gegen den Klimawandel unternehmen! Den Abschluss des Kurzfilmmarathons bildete die feierliche Preisverleihung am Samstagabend (19. November). Der 27-jährige Regisseur aus Paris, Lilian Corbeille, wurde für sein Drama Les Trous Noirs mit dem Hauptpreis, dem VFF Young Talent Award ausgezeichnet. Aber auch neun weitere Filmstudentinnen und -studenten durften sich über eine Auszeichnung ihrer Filme und das Preisgeld freuen. Neben den hervorragenden Filmen sorgten die Veranstalterinnen und Veranstalter des Festivals für ein sympathisches Ambiente im Filmmuseum am Münchner St.-Jakobsplatz. In einer gemütlichen Lounge konnten sich Gäste sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmer zwischen den Programmen bei Getränken und Snacks zusammensetzen, entspannen oder informieren. Für eine persönliche Atmosphäre sorgten eine Fotowand der teilnehmenden Nachwuchsregisseurinnen und -regisseure sowie eine Wand mit ausgedruckten Pressestimmen zum Festival. Auch die Taschen aus der diesjährigen Plakatkampagne sowie Infomaterial zum Filmfest konnten als Souvenirs erworben werden. Die Besucherzahlen belegen den großen Erfolg des 31. Internationalen Festivals der Filmhochschulen München. Viele der Vorstellungen waren bereits im Vorfeld komplett ausverkauft und auch nachmittags war der Kinosaal gut besucht. Das Festival lockte, neben einem jungen kunstbegeisterten Publikum, Interessierte aller Altersgruppen in die Räume des Filmmuseums.
Auch Festivalveranstalterin Diana Iljine zieht eine zufriedene Bilanz: „Es war ein Fest der Entdeckungen mit vielen außergewöhnlich guten Filmen. Um die Zukunft des Films muss man sich bei diesen Talenten keine Sorgen machen.“ Weitere Informationen rund um das Festival und die Preisverleihung sowie weitere Termine unter: www.filmschoolfest-munich.de.
Judith Schuhbauer: Reality-TV als Trauma-Therapie: Jonas
Die Musik laut aufgedreht irrt Jonas in seinem knatternden alten Wagen durch Zeuthen, eine Gemeinde nahe Berlin. Er ist auf dem Weg zur Paul Dessau Gesamtschule. Heute ist sein erster Schultag. Darüber freut er sich nicht so sehr, denn Schule macht ihm eigentlich keinen Spaß. Aber er weiß auch, dass dies seine letzte Chance ist. Jonas, der neue Film aus der Boje Buck Produktion, erzählt die Geschichte des 18-jährigen Sitzenbleibers, der hofft, seine letzte Chance auf einen Schulabschluss zu bekommen. Dokumentarisch begleitet die Kamera Jonas vom ersten Schultag bis zur alles entscheidenden Lehrerkonferenz, in der sein Schicksal entschieden wird. Der Film gibt Einblicke in den Schullalltag, hält Szenen aus dem Unterricht fest und dokumentiert das Leben der Schülerinnen und Schüler. Schule, Lehrkräfte und Schülerschaft sind real. Nur Jonas heißt eigentlich Christian und hat seinen Schulabschluss schon seit Jahren in der Tasche: Nach Undercover-Rollen in Mein neuer Freund und ulmen.tv schlüpft Christian Ulmen diesmal in die Rolle des 18-jährigen, mehrfach sitzengeblieben Schülers Jonas. Aber anders als die Charaktere aus Mein neuer Freund, die ihre Mitmenschen durch provokantes Auftreten in den Wahnsinn treiben sollen, ist Jonas ein recht normaler Junge. Schnell lebt er sich in der neuen Schule ein, schließt Freundschaften und beteiligt sich am Unterricht. Nur mit Mathe steht er auf Kriegsfuß. Als er sich dann noch in die Musiklehrerin Frau Maschke verliebt, gerät das Sorgenfach noch mehr ins gedankliche Abseits: Um die Frau seines Herzens zu beeindrucken, gründet er eine Schülerband. Neben Bandproben und Parkplatzpartys stellt sich Jonas der Herausforderung ‚Logarithmus‘, um seine Probezeit an der Gesamtschule Paul Dessau zu bestehen – was sich in der finalen Lehrerkonferenz entscheidet. Soweit die Story des Films, die schnell erzählt ist. Aber um eine komplexe Geschichte mit verschiedenen Handlungssträngen geht es auch nicht. Vielmehr ist der Film ein Experiment: Eine Kunstfigur im realen Raum und das in Kinoformat.
Schülerschaft und Lehrkräfte wurden zwar im Vorfeld informiert, dass in ihrer Schule Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm stattfinden, Genaueres wussten sie jedoch nicht. Und nachdem der 36-jährige Schauspieler täglich drei Stunden in der Maske verbrachte, erkannte keiner mehr den ‚neuen Schüler‘ als Christian Ulmen. Ein richtiges Drehbuch gibt es nicht, kann es auch nicht geben. Alle Mitwirkenden gestalten durch ihr Handeln das Drehbuch mit. Nur mit einer Backstory zu Jonas und ein paar vagen Ideen ausgerüstet, begab sich das Filmteam in das Abenteuer. Dies bot Christian Ulmen genug Raum zur Improvisation. Allerdings sollte Jonas bewusst nicht die Szene dominieren und das Geschehen beeinflussen – er passt sich seinem Umfeld an, lässt sich lenken. Die Idee, die dahinter steckt, dreht das Schema bekannter provokativer Reality-Formate, wie zum Beispiel Borat, um: Nicht die Kunstfigur provoziert und manipuliert ihr Umfeld, sondern die Realität prägt die Kunstfigur. Christian Ulmen nahm als ganz normaler Schüler am Schulalltag teil, beteiligte sich an Unterrichtsgesprächen, verbrachte mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern die Pausen und schrieb Klassenarbeiten. Das Publikum wirft einen Blick in den Mikrokosmos ‚Schule‘, es verfolgt reale Debatten zu Kirche und Glauben mit Ethik-Lehrerin Frau Schröder, beobachtet den Ärger einiger Schüler bei der Notenvergabe im Geografieunterricht und bangt mit Jonas in Matheausfragen. Dabei lässt Christian Ulmens Unwissenheit um Logarithmen das Publikum regelrecht mitleiden. Für alle, die ihre Schulzeit hinter sich haben, ist der Film wie eine Zeitreise und lässt ab und an erleichtert aufatmen, nie wieder Mathearbeiten schreiben zu müssen. Ulmen selbst bezeichnete die Dreharbeiten als persönliche Trauma-Therapie, die ihm seine Albträume von der eigenen Schulzeit nahm. Doch auch für diejenigen, die nicht hin und wieder von Albträumen geplagt werden, bietet der Film Spaß und Unterhaltung.
Allein das Hinzufügen einer Kunstfigur im realen Raum und deren wechselseitige Beeinflussung ist ein spannendes Experiment. Dass Christian Ulmen ab und zu den Bogen etwas überspannt und sich ein wenig eigentümlich benimmt, stört dabei nicht weiter. Entsprechend ist auch das Genre schwer zu bestimmen. Weder als Dokumentar-, noch als Spielfilm angelegt, wird dem Film die Bezeichnung ‚Reality-Komödie‘ gerecht. Dabei wird allerdings nicht immer ganz deutlich, was real und was gestellt ist. Die Kinoproduktion bietet ein unterhaltsames Abbild des Schulalltags mit allem, was dazu gehört: Pubertät, Liebe und Musik. Aber auch ein etwas ernsteres Bild vom Jungsein wird gezeichnet. Verärgert über die schulischen Leistungen seiner Klasse hält der Chemielehrer eine überspitzte Ansprache zur Situation Deutschlands und den Berufschancen seiner Schülerinnen und Schüler. Christian Ulmen, 20 Jahre älter als seine Klassenkameradinnen und -kameraden, lässt Jonas diesen Appell öffentlich kritisch hinterfragen. Dass sich Schülerinnen und Schüler immer häufiger unter Druck gesetzt fühlen und Zukunftsängste aufbauen, verwundert angesichts solcher Szenen kaum. Insgesamt zeichnet sich der Film weniger durch eine spannende Handlung als vielmehr durch sein charmantes Setting aus.
Mit einem Augenzwinkern verkörpert Ulmen den liebenswerten und manchmal etwas zu freimütigen Jonas. Die authentischen, weil echten Charaktere und Situationen schaffen eine vertraute Atmosphäre. Die ungestellten Unterrichtsgespräche sind meist interessant und zeigen, was junge Menschen beschäftigt. Der Film aus der Boje Buck Produktion (Same Same But Different, Herr Lehmann, Sonnenallee), der unter der Regie von Robert Wilde (Mein neuer Freund) entstanden ist, ist ein unterhaltsamer sowie informativer Film über das Schulleben an einer Berliner Gesamtschule. Gleichzeitig wird ein spannendes filmisches und sozialpsychologisches Experiment geboten. An den Hype um Reality-TV-Formate anknüpfend, ist Jonas eine durchaus kinotaugliche Produktion, die auch ein jüngeres Publikum anspricht. Im Gegensatz zu fiktionalen Teenager-Komödien oder Reality-Dokus wie Die Schulermittler wird das Schulleben an einer durchschnittlichen deutschen Schule authentisch abgebildet. Dass das nicht immer trocken und stockernst sein muss, zeigt dieses Filmprojekt.
Für all diejenigen, die an innovativen Filmkonzepten und/oder an psychologischen Experimenten interessiert sind, ist Jonas sicherlich sehenswert. Aus medienpädagogischer Perspektive bietet die Umsetzung ebenfalls Ansätze zur Diskussion über Fiktion und Realität in den Medien, zumal der Filmkontext jedem aus eigener Erfahrung bekannt sein dürfte. Die Mischform aus Dokumentation und Spielfilm regt an, Filmgenres und Stilrichtungen genauer unter die Lupe zu nehmen.