Gerlinde Schumacher
Beiträge in merz
Gerlinde Schumacher: Die Vermittlung der Welt durch das Fernsehen
„Reiche Kindheit aus zweiter Hand?“ war der Titel einer medienpädagogischen Tagung des ZDF Ende September in Mainz. Die große Zahl von 450 Teilnehmern und Teilnehmerinnen, darunter Erzieher, Lehrer, Journalisten, Medienwissenschaftler und Multiplikatoren der Lehrer- und Erzieherausbildung aus ganz Deutschland, zeigte, wie hoch der Bedarf an medienpädagogischen Diskussionsforen ist. Themen der Vorträge und Podiumsdiskussionen waren unter anderen der Fernsehalltag der Kinder, die Rezeption von Informationsprogrammen, Kinder und Werbung, Medienerziehung in Kindergarten und Schule, konkrete Arbeitshilfen für Pädagogen sowie Multimedia. In seiner Eröffnungsrede hob der Programmdirektor des ZDF Markus Schächter die Qualität des öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehens von ARD und ZDF hervor. Der Spagat zwischen attraktivem und verantwortetem Programm sei ohne jeden Krampf gelungen.Fernsehen für Kinder noch immer umstrittenDas einführende Referat des Medienpädagogen Bernd Schorb von der Universität Leipzig beschäftigte sich mit der Bedeutung der Medien und speziell des Fernsehens für die Kinder heute. So belegen empirische Untersuchungen, dass mediale Freizeittätigkeiten im Alltag der Kinder zentral sind, wobei das Fernsehen an erster Stelle steht.
Außerdem zeigen Ergebnisse der qualitativen Rezipientenforschung, dass Kinder in Fernsehangeboten nach Hinweisen für die Bewältigung entwicklungsbedingter Themen sowie aktueller Problemlagen, nach personalen Vorbildern und ethischen Orientierungen suchen. Anhand der bei Kindern beliebten Formate Pokémon, GZSZ, Big Brother und Teletubbies führte Maya Götz vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen beim Bayerischen Rundfunk aus, was Kinder an diesen Serien begeistert, wie sie sie im Alltag nutzen und wo Problembereiche auszumachen sind. In der Diskussion wurde die Grundsatzfrage erörtert, ob Fernsehen für Kinder eher Chancen oder Gefahren birgt. Eher bewahrpädagogische Positionen vertraten dabei Susanne Gaschke von der ZEIT und der Kinderpsychiater Michael Millner aus Graz. Sie argumentierten, dass der häufig mit schwierigen familiären Verhältnissen einhergehende unkontrollierte Fernsehkonsum der Kinder ihrer Entwicklung abträglich sei. Dagegen plädierten Schorb und Götz für die Einsicht, dass Fernsehen ein zentraler Bestandteil des Alltags der Kinder sei, und es nicht darum gehen könne, es zu verdammen oder zu verharmlosen. Es biete den Kindern sehr wohl Chancen und Möglichkeiten, wobei sie die Unterstützung der Eltern und Pädagogen brauchen, um den richtigen Umgang mit dem Medium zu erlernen.
Informationen und GeschichtenZum Thema Informationssendungen wurden Ergebnisse von zwei im Auftrag des ZDF durchgeführten Untersuchungen vorgestellt. So präsentierte Frau Melzer-Lena von iconkids & youth die positiven Resultate einer qualitativen Studie zum ZDF-Informationsangebot Löwenzahn und die von Helga Theunert und Susanne Eggert vom JFF-Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis vorgestellte Rezeptionsstudie zu Wissenssendungen machte deutlich, dass Kinder einen enormen Wissensdurst haben, aber nur wenige Fernsehsendungen dieses Grundbedürfnis abdecken. Die bekannteste und beliebteste Wissenssendung bei den 7- bis 12-Jährigen ist Löwenzahn vor Philipps Tierstunde (ARD und KI.KA) und dem Erwachsenen-Magazin Welt der Wunder (ProSieben). Kinder haben hohe Erwartungen an eine Sendung zur Wissensvermittlung: Sie soll thematisch vielfältig sein, immer etwas Neues bieten, aber auch Vergnügen bereiten und von sympathischen und kompetenten Moderatoren, wie ihn z.B. Peter Lustig verkörpert, präsentiert werden.Am Beispiel der ZDF-Sendereihe Siebenstein wurde die Bedeutung von Fernsehgeschichten für Kinder erörtert. Dazu erläuterte die Redaktionsleiterin Irene Wellershoff die Programmidee von Siebenstein. Die seit Ende 1988 ausgestrahlte Sendereihe will „gute Geschichten erzählen, den zuschauenden Kindern ein unterhaltendes und emotionales Erlebnis ermöglichen und ihnen damit Anregungen für eigene Fantasiespiele und Geschichten geben“. Analysen der Universität GH Siegen (Hans-Dieter Erlinger, Katja Hoffmann und Bettina Lange) belegen, wie Siebenstein an ästhetische Muster unserer Kultur anknüpft und diese für Kinder fortentwickelt. In der Diskussion über die Qualitätskriterien für Fernsehgeschichten wurde das Fehlen einer ästhetischen Debatte und der Mangel an Fernsehkritik beklagt, die sich mit Kinderprogrammen befasst.Medienkompetenz und WerbungDen zweiten Tagungstag eröffnete Ingrid Paus-Haase von der Universität Salzburg mit einem Plädoyer für einen ganzheitlichen Ansatz in der Medienerziehung. Erfolgreiche Medienpädagogik setze eben voraus, die Medienkommunikation der Kinder zu verstehen, d.h. ihre favorisierten Medienangebote zu kennen und als symbolischen Ausdruck ihrer Anliegen zu begreifen.
Der Blick sollte stärker auf die Chancen des kindlichen Medienumgangs gerichtet werden. Wie zahlreiche rezeptionsanalytische Untersuchungen zeigen, reflektieren Kinder in der Auseinandersetzung mit Medienthemen ihre Lebenssituation und Handlungsmöglichkeiten. Medienangebote dienen als Erlebnisquelle, als Möglichkeiten der Teilnahme am Erwachsenenalltag und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklung. Zu den Aufgaben der Medienpädagogik gehöre es, kommunikative Kompetenz und Medienkompetenz zu vermitteln und die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder im Umgang mit den Medien, bedingt durch Herkunft, formale Bildung und Geschlecht, auszugleichen.Norbert Endres von der Münchner Werbeagentur Heye Media beschrieb die Bedeutung der Kinder als Zielgruppe der Werbung. Nach einer Dekade privaten Fernsehens in Deutschland sei das Kinderfernsehen für Werbungtreibende wichtig, die Kinder erreichen wollen. Bei Kindern wirke ein Fernsehwerbespot als „emotional aufgeladener Hinweis“ in besonderer Weise. Schon nach kürzester Zeit zeigten Werbeimpulse Wirkung. Außerdem beeinflussten Kinder heute stärker als früher die Kaufentscheidungen der Eltern.Der Medienpädagoge Norbert Neuß von der Pädagogische Hochschule Heidelberg problematisierte, dass rund die Hälfte der Vorschulkinder nicht zwischen Werbung und Programm unterscheiden können, die Intention von Werbung nicht erkennen und sich daher auch von ihr nicht distanzieren könnten. Er stellte einige der von ihm und Stefan Aufenanger entwickelten Materialien zur Förderung der Werbekompetenz von Vorschulkindern vor, die von den Erzieherinnen unmittelbar in der Arbeit mit den Kindern eingesetzt werden können.
Im Hinblick auf das Merchandising rund um Kinderprogramme stellte Susanne Müller, Leiterin des Programmbereichs Kinder und Jugend im ZDF, klar, dass das ZDF zwar seine Kindersendungen wie Löwenzahn und Siebenstein durch den Vertrieb von CD-ROMs oder Zeitschriften popularisieren, aber nicht Produkte unter diesem Namen verkaufen wolle, die keinen inhaltlichen Bezug dazu hätten.Bildung und AusbildungEinen Einblick in die Medienerziehung im Kindergarten und in der Grundschule gab Ulrike Six, Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik in Landau, auf der Basis von zwei neueren Repräsentativuntersuchungen. Demnach sind medienpädagogische Aktivitäten in Kindergärten und Grundschulen eher selten, obwohl bei den Lehrkräften durchaus eine Motivation festzustellen ist. Die Abstinenz ist eher in den Defiziten der Medienausstattung sowie in der medienpädagogischen Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte begründet.Weitere praktische Anregungen für die medienpädagogische Praxis wurden mit dem „Medienkoffer Kindergarten“ gegeben, dessen Konzept von weiterbildung live im Auftrag der ARD, des ZDF, des Kinderkanals und der evangelischen und katholischen Kirche entwickelt wurde (erscheint Anfang 2001).
Die Materialsammlung gibt praxisnahe Hilfen zur Fernseherziehung im Vorschulbereich. Zu fünf häufig vorkommenden Themen sind darin Filme aus den Reihen Teletubbies, Sesamstraße und Siebenstein enthalten und es werden dazu Spiel-, Bastel-, Gesprächs- und Bewegungsangebote offeriert. Um neuere Entwicklungen abzudecken, ist eine fortlaufende Aktualisierung vorgesehen.Horst Dichanz von der Fernuniversität Hagen befasste sich mit den Fragen, inwieweit unser Bildungssystem den Anforderungen des Multimedia-Zeitalters gerecht wird und die vorhandenen Netze sich für Unterricht und Lehre eignen. Im Hinblick auf die Informationstechnologien konstatiert er einen Reformbedarf der Schulen: Aufgaben und Ziele der Schulen müssten reformiert sowie Lehr- und Lernformen verändert werden.Für Wolfgang Meyer-Hesemann, Staatssekretär im Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung Nordrhein-Westfalen, stellt sich angesichts von Multimedia die Frage nach der Chancengleichheit mit neuer Dringlichkeit. Daher habe die Schule für eine umfassende Medienbildung aller Schüler zu sorgen.