Dr. Ortwin Thal
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Ortwin Thal: Der diskrete Charme der Gewalt
Was die Liebe zum Kino so alles anrichtet: Quentin Tarantino gefällt sich in Planet Terror in einer Nebenrolle als gewalt- und sexgeiler Soldat, den lediglich der Umstand, dass sein Geschlechtsteil sich in Schleim und Eiter verwandelt, davon abhalten kann, eine Frau zu vergewaltigen. Kein Wunder, ist der Gute doch längst von einem Zombie-Virus befallen, das er nur befristet durch ein über die Atemmaske inhaliertes Gegenmittel in Schach halten kann. Da seine Geilheit jedoch stärker ist, verwandelt ihn das Virus innerhalb weniger Minuten in einen fauligen und sich auflösenden Untoten, dessen lustvolle Darstellung auf eine wichtige Frage des aktuellen Horrorfilm-Revivals hinweist: Lachen oder Kotzen?
Traditionen der Metaphorik: Was den Horrorfilm so umtreibt
Zunächst: was den Horrorfilm wirklich umtreibt, scheint auf den ersten Blick klar zu sein – die Zunahme expliziter Gewaltdarstellungen (z. B. in Saw und seinen Sequels), die Sorgen der jugendschutzorientierten Mahner, die etwas liberalere Deutungs- und Interpretationslust der Filmkritiker und die simple Tatsache, dass sich das Geschäft mit dem Horror rentiert, beispielsweise auch angesichts einiger 100 Millionen Dollar, die von der Saw-Serie eingespielt wurden. Wer nicht über die psycho-pathologische Relevanz dieser Erfolgsgeschichte nachdenken will oder kann, muss sich dennoch fragen, wie die unterschiedlichen Betrachtungsansätze unter einen Hut gebracht werden können1.In keinem Genre wird so viel gedeutet wie im Horrorfilm. Der Fundus ist breit angelegt: Psychoanalyse, Soziologie, Ästhetik, Anthropologie und Pädagogik. Auf der anderen Seite ist kaum ein Genre so nah dran am billigen Spektakel der Jahrmarktssensation, was bei Eltern, Pädagogen und Jugendschützern Ängste vor den Folgen auslöst. Und last but not least dürfte wohl auch in keinem anderen Genre der Abstand zwischen dem Bildungsstand der Kritiker und dem Motivationsgemenge des Massenpublikums so groß sein wie im Horrorfilm.
Horrorfilme sind zunächst ein Produkt. Neben dem ökonomischen Aspekt erfolgt das Durcharbeiten der Genrethemen und ihrer Erzählmuster (nicht nur im Horrorfilm) meiner Meinung nach aus zwei Gründen: Entweder hat der Filmemacher ein cinephiles, meistens sehr formales, vielleicht gar leicht obsessives Interesse an der Variierung und Steigerung/Exploitation eines Themas (Tarantino, Rodriguez) oder er nutzt die einem Genre zugrunde liegende metaphorische oder allegorische Qualität, um eine ‚Botschaft’ zu verbreiten. Letzteres wird am häufigsten vermutet, darauf scheint die Deutungspraxis der Kinotheorie und der Kritiker in den letzten Jahren hinzuweisen.
Dies führt zu einem ‚kleinen’ Problem: Parabeln, Metaphern oder Allegorien funktionieren nur, wenn Publikum bzw. Leserschaft im Bildungsfundus ‚erlernte’ Deutungscodes besitzen, die abgerufen werden können, um das Material zu interpretieren. Diese Codes sind kulturgeschichtlich tradiert oder werden im Kontext einer avantgardistischen Grenzüberschreitung neu erzeugt (Romeros Night of the Living Dead war 1968 eine derartige Grenzüberschreitung). Für die Codes (zum Beispiel des Horrorfilms) sind Kinotheoretiker und Filmkritiker verantwortlich. Auch wenn diese These nicht ganz ironiefrei ist, möchte sie doch auf ein Problem hinweisen: die schreibende Zunft lebt in einem hermetischen Kosmos und kann scheinbar nicht erkennen, dass einem Großteil des Publikums dieser Bildungsfundus gar nicht zur Verfügung steht. Man kann nur vermuten, dass sich ein Teil des Publikums deshalb wohl auch intuitiv vor komplexeren Deutungsangeboten ‚schützt’ und sich den völlig bedeutungsfreien und sadistischen Varianten des Genres zuwendet.2 Ein weiterer Aspekt bleibt daher meist im Verborgenen: Der Filmemacher antizipiert die Fähigkeit des Kritikers, Bedeutungen zu lesen, und präpariert seinen Film so, dass sie auch gefunden werden können.
Das ist natürlich etwas boshaft formuliert, aber kompliziert wird die ganze Angelegenheit im Falle des post-modernen Horrorfilms dadurch, dass der Trend erkennbar ist, durch außergewöhnliche Tabubrüche die von der Gesellschaft temporär akzeptierten ‚Grenzen des Zumutbaren’ zu überschreiten, ohne dass man auf den ersten Blick erkennen kann, ob sich dies einer avantgardistischen Erzähllust, ernst gemeinter Gesellschaftskritik oder/und einfach dem ökonomischem Kalkül verdankt.
Mancher vermutet eher letzteres. So schreibt Stefan Höltgen in seiner Arbeit The Dead Walk (2000) zu Recht, dass George A. Romeros The Night of the Living Dead nicht nur avantgardistisch war, sondern auch einen ökonomischen Mechanismus in Gang gesetzt hat, der zwangsweise die Brutalisierung des Genres nach sich zog: „… zukünftig musste sich jeder Streifen, der ökonomisch etwas gelten wollte, an der ‚Machart’ von Night of the living Dead messen lassen. Hinter diese Grenze zurück zu fallen, war gleichbedeutend damit, einen Flop zu riskieren. Das bedeutete also: ‚Härter’ (sprich: ekliger) sein als Night of the living Dead. Das ‚Prinzip des Fortschritts’ war damit als notwendiges Genreprinzip des Horrorfilms etabliert.“3
Doch immer wieder schob sich die Botschaft vor die Ökonomie. Bereits recht früh sprach Romero von der „sozialpolitischen Bedeutung seiner Filme“ und 2005 kommentierte er „Land of the Dead“: „… Es geht um das Ignorieren von Problemen. Es geht um Armut, Aids und Obdachlosigkeit. In meinem Verständnis sollten Filme immer die Zeit reflektieren, in der sie gedreht werden. Das gilt besonders für die sozialpolitischen und gesellschaftlichen Aspekte. Und die Schere zwischen Arm und Reich wird nun mal immer größer in Amerika… Das ist ja das, worum es heutzutage geht in Bushs Amerika.“ Ob man nun wie Wim Wenders mit Land of Plenty nach Antworten suchen sollte oder einen Zombie-Film dreht, sei dahingestellt. Auf jeden Fall hat sich Romero damit an der Erzeugung von Deutungscodes beteiligt und damit ein Problem erzeugt, das schon die Altvorderen kannten: Abusus non tollit usum (Missbrauch hebt den richtigen Gebrauch nicht auf). Wobei schon ausgeführt wurde, wer die gültige Deutungshoheit besitzt und damit den ‚richtigen Gebrauch’ vor den Niederungen gemeiner Schaulust schützt.
„Ernste Menschen haben selten Ideen, Ideenreiche sind nie ernst.“ (Paul Valéry)
‚Richtiger Gebrauch’ ändert sich mit dem Zeitgeist: So wurde unlängst (Oktober 2007) auf ARTE George A. Romeros Day of the Dead zu nachtschlafender Zeit ausgestrahlt, zwar nur in der FSK 16-Fassung, aber selbst dies wäre noch vor Jahren vermutlich undenkbar gewesen. Aktuelle Varianten berühren unser Thema nur am Rande: zum Beispiel die Computerspielverfilmung Resident Evil (Paul W. S. Anderson, 2002), das nicht sonderlich überzeugende 28 Days Later (Danny Boyle, 2003) oder das zynisch kalkulierte Remake Dawn Of the Dead (Zack Snyder 2003), in dem (wie auch bei Boyle) die Zombies ziemlich fix auf den Beinen sind und nicht mehr Romero-like durch die Gegend wanken. Edgar Wrights versuchte es mit einer Persiflage: Shaun of the Dead (2004). Dass dies die Kritiker insgesamt milder stimmt, schien auch die FSK nachvollziehen zu können: die in einigen Versionen beschlagnahmten Dead-Klassiker Romeros wirken im Vergleich mit Shaun zwar nicht altbacken, haben aber Splatter-Fans mittlerweile kaum mehr zu ‚bieten’ als der mit FSK 16 versehene britische Zombie-Spaß. Shaun of the dead ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine Genre-Ikonographie unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr als sonderlich bedrohlich aufgefasst wird.
Etwas näher am Thema war Land of the Dead (2005), der dritten Teil der Dead-Trilogie, in dem Romero einen philosophisch eher schwachbrüstigen Diskurs über lernfähige Zombies führte, die einer korrupten und vom Geld- und Warenfetischismus beherrschten Gesellschaft den Garaus bereiten. Immerhin: Romero hatte wenigstens etwas zu sagen, wenn auch nicht mehr so viel wie in Dawn Of The Dead (wo man das Allegorische als Kapitalismus-Kritik lesen kann, was einige Kritiker auch taten). Die neuesten Produkte auf dem Markt sind 28 Weeks Later (Juan Carlos Fresnadillo, 2007) und Planet Terror (Robert Rodriguez, 2007), die allerdings unterschiedlicher nicht sein können. An beiden Filmen fällt zunächst auf, dass sie Splatter in einer Weise präsentieren, die zumindest eins verdeutlicht: Das von Höltgen angekündigte ‚Prinzip des Fortschritts’ im Horrorfilm hat sich wohl durchgesetzt.
Die Grindhouse-Variante: Ekel-Zombies in Planet Terror
Planet Terror gehört ebenfalls zu den persiflierenden Filmen, aber dabei geht es nicht so sehr um das Zombiefilm-Genre, sondern um das Grindhouse-Projekt. Ältere Kinogängerinnen und Kinogänger erinnern sich vielleicht noch an die billigen Pulp-Filme der 70er Jahre, die in Bahnhofskinos als freche Mischung aus Dilettantismus und spekulativer Professionalität abgespult wurden. Tarantinos Death Proof und Planet Terror sollten als Double Feature samt Fake-Trailern und Kinowerbung das Publikum in diese Grindhouse-Kultur entführen. Das Ganze floppte und in Europa sind die Hauptfilme nun separat in längeren Schnittversionen zu sehen. Es ist nicht neu, dass Tarantino und Rodriguez (From Dusk Till Dawn) ihre cineastische Traditionsverpflichtung anders sortieren als der gemeine Filmemacher.
Als Handlungsrahmen dient in Planet Terror die Geschichte einer bereits infizierten US-Eliteeinheit, die den Zombie-Virus freisetzt, um die immun reagierenden Menschen für die Herstellung eines heilenden Serums zu missbrauchen. Erzählt wird jedoch eine Survival-Geschichte, in der (wie originell) eine Gruppe skurriler Typen ihre (welch ein Zufall) martialischen Qualitäten einsetzt, um ihr Leben und ein Barbecue-Saucen-Rezept zu retten. Heldin ist die Go-Go-Tänzerin Cherry (Rose McGowan), die auf dem Höhepunkt des Geschehens ihr von Zombies abgefressenes Bein mit einer äußerst effizienten Prothese ersetzt: einem Schnellfeuergewehr. Sie wird vermutlich zur neuen Ikone des Genres. Inszenatorisch bietet der Film eine Ekel- und Metzelparade, die Romero wie einen unbedarften Schuljungen dastehen lässt. Was Planet Terror bislang vor einer Indizierung gerettet hat, ist unklar. Aber vielleicht waren die Juroren angesichts der zerplatzenden Körper und der zu Match geschossenen Köpfe, der herausgerissenen Därme und der aufplatzenden Eiterbeulen der Meinung, dass auch hier die Persiflage im Gegensatz zu einem realistisch-allegorischen Film wie Dawn of the Dead keineswegs eine Gewaltverherrlichung ist, sondern ein greller Cineasten-Scherz. Das mag wohl sein, denn Rodriguez’ Film ist tatsächlich ungemein witzig, auch wenn man sich bei einigen Kritiken zuweilen an den hoffentlich noch nicht zombifizierten Kopf fassen muss: „Der Irakkrieg und die Folgen namens Guantanamo und Abu Ghraib, die man noch vor wenigen Jahren selbst nur für Fiktionen einer übertreibenden Fantasie und die Ausgeburt eines Horrorregisseurs gehalten hätte, bilden den seelischen Hintergrund des Films und der ganzen aktuellen neuen Horrorwelle im US-Kino … Man kann von Rodriguez und Tarantino halten, was man will – aber ihre Filme (auch Sin City, Kill Bill) sind politisch regierungskritisch gemeint“ (Rüdiger Suchsland in TELEPOLIS).
Na denn. Wie angesichts der offenkundig völlig selbst-referentiellen Trash-Orgie ein von mir geschätzter Filmkritiker dieser cineastischen Masturbation auf den Leim gehen konnte, dürfte sich unschwer aus der Deutungsdynamik des Genres ableiten lassen. Wer sich mit Jugendlichen und Kindern unterhält, die derartige Filme leicht aus dem Internet ‚saugen’ können, erfährt einiges über die Grenzen der Dekodierung. Diese ‚Zielgruppe’ kennt zum Glück nicht die Deutungsangebote der avancierten Filmkritik, denn sonst hätten Medienpädagogen und Lehrerinnen und Lehrer in ihrer täglichen Praxis einen noch schwereren Stand.
Romeros Traditionen: 28 Weeks Later
Eindeutig in der Tradition des allegorischen Horrorfilms steht indes 28 Weeks Later, bei dem Danny Boyle als Producer (28 Days Later) die Regie dem Novizen Juan Carlos Fresnadillo überließ. Anders als in Romeros düsteren Endzeit-Visionen zeigt das Sequel, was passieren kann, wenn man die Seuche scheinbar zu beherrschen gelernt hat: Monate nach Ausbruch des „Rage“-Virus sind die fleischfressenden Infizierten verhungert und die Überlebenden versuchen in einem von der Nato und der britischen Armee verwalteten Wohnkomplex den zivilisatorischen Neustart.
Als zwei Kinder aus dem abgeriegelten und sorgsam durch Videokameras kontrollierten Komplex ausbrechen, um ihre Mutter zu suchen, schleppen sie das Virus unbeabsichtigt wieder ein. Die infizierte Mutter ist zwar immun, steckt aber auf der Krankenstation ihren Mann Don (Robert Carlyle) an, der zum Zombie mutiert und die rasende Verbreitung der Seuche auslöst. Obwohl das Militär in einem minuziös dargestellten Blutbad Infizierte und Nicht-Infizierte ausrottet, gelingt nicht nur den Kindern die Flucht aus dem brennenden Edel-Ghetto, sondern auch Don. Dieser infiziert im Show-down seinen Sohn, doch auch das Kind ist immun. Zusammen mit seiner Schwester und einem Hubschrauberpiloten flieht es von der Insel und kann nun das Virus verbreiten. Das Schlussbild zeigt, dass wir mit einem weiteren Sequel zu rechnen haben.
Fresnadillos inszenatorisch gelungener Film stellt seinen Vorgänger deutlich in den Schatten. Das liegt nicht nur an seinen filmischen Qualitäten, sondern auch an seinen überbordenden Deutungsangeboten, die von der Kritik bereitwillig aufgenommen wurden: So spiegelt 28 Weeks Later vermeintlich den Irakkrieg und die Widersprüche militärischer Präsenz wider, man erkannte das traumatisierende Seuchenthema Aids, die Perfidie des Überwachungsstaates und die Zerstörung des Gemeinwesen, die folgerichtig der Ausgrenzung der Familie folgt. Es überraschte einige Kritiker, dass 28 Weeks Later trotz seiner intellektuellen Vorzüge nicht auf drastische Splattereffekte verzichten konnte. Sie haben offenbar die Dynamik des Genres nicht verstanden. Fresnadillos Film leistet einen weiteren Beitrag zum ‚Prinzip des Fortschritts’ (Höltgen), etwa indem ein Hubschrauber Dutzende von Zombies zerstückelt und die Kamera anschließend dokumentarisch über die Leichenteile schwenkt. Aus der insgesamt positiven Reaktion der Kritik kann man zwar eine gewisse Plausibilität herauslesen, indes lässt sich 28 Weeks Later auch mühelos als reaktionär-repressives Produkt deuten.
1. setzt er auf bekannte Genretopoi: Zum Beispiel die ewige Rückkehr des Bösen/des Monsters (Michael Myers-Prinzip), die in einem Sequel mit unweigerlicher Macht gewalttätiger, aggressiver und düsterer ausfallen muss. Der Film bedient sich zwar der leicht zu findenden Analogien zu aktuellen Realität, lässt aber bei der Bekämpfung des Bösen faschistoide Methoden als notwendig erscheinen,
2. legt das Ende des Film dem Zuschauer folgerichtig nahe, dass der militärische Überwachungsstaat nicht an seiner anti-liberalen Haltung gescheitert ist, sondern an seiner fehlenden Konsequenz4. Insgesamt zeigt sich, dass derartige Genrefilme mittlerweile völlig offen für Deutungen sind.
Die Metaphorik im Kino: eine Conclusio
Der Kultursoziologe Rainer Winter hat in seiner lesenswerten Arbeit „Zwischen Kreativität und Vergnügen. Der Gebrauch des postmodernen Horrorfilms“ zu Recht darauf hingewiesen, dass der post-moderne Horrorfilm unterschiedlich dekodierbar ist. Winter hat sich typologisch nicht nur mit den Fans, den „Buffs“ und „Freaks“ auseinandergesetzt, sondern auch mit dem „Kunstliebhaber“, den ich auch gerne als post-modernen Cineasten/Kritiker bezeichnen möchte: „Für sie ist charakteristisch, dass sie einerseits die Regisseure als „Auteurs“ im Sinne der Filmtheorie wahrnehmen. Sie identifizieren den Film mit seinem Regisseur und versuchen dessen stilistische Signatur zu entziffern. Auf der anderen Seite beziehen sie die gesehenen Filme jedoch nicht nur auf Filme, sondern stellen auch intertextuelle Bezüge zu anderen kulturellen Texten und Praktiken her. In den Zombiefilmen von Romero spüren sie die implizite Zivilisationskritik auf, in Carpenters Halloween (1978) entdecken sie eine subtile, nihilistische Abhandlung über das Böse und in Evil Dead (1983) die Bezüge zum Dekonstruktivismus im Sinne Derridas.“ Diese Charakterisierung lässt sich auch mühelos auf die Filmtheorie und -kritik übertragen. Alle Beteiligten beliefern sich gegenseitig mit Deutungsangeboten, die gleich mehrere Prädikate mitsamt ihren Widersprüchen verdienen:
1. Post-moderne Cineasten/Kritiker und ihre Deutungsangebote sind einerseits durchaus plausibel und begründet. Sie reflektieren ihren hohen (cineastischen) Bildungstand, der sensibel die Zusammenhänge zwischen sozialer Wirklichkeit und ihrer Verarbeitung im Kino registriert,
2. Sie sind andererseits aber auch konstruktivistisch, projizierend und bewegen sich in einem hermetischen Milieu, das sie systematisch von den profanen Lesarten des Massenpublikums abschirmt – und damit auch das Massenpublikum von den Lesarten der Kritiker.
Damit befinden wir uns in einem Dilemma: teilweise erzeugen die Kritiker erst die Phänomene, die sie vorgeben erkannt zu haben, institutionalisieren die dazu gehörende Begrifflichkeit und geben sie als Tradition an neue Generationen von Cineasten/Kritikern weiter, andererseits erkennen wir, dass das Meiste davon nicht völlig willkürlich ist. Denn: Nutzt man ihre Codes, so setzen sich die Filme auf sehr intelligente Weise in unseren Köpfen neu zusammen. Verfügt man aber nicht über diese Medienkompetenz, entstehen andere, möglicherweise gefährlichere Lesarten der Gewaltdarstellung im Kino. Das Problem bleibt: Abusus non tollit usum. Richtig oder falsch?
Insgesamt können wir ein buntes, schillerndes Spiel von Wechselbeziehungen und Querverbindungen beobachten. Es ist natürlich ein schöpferischer Prozess, der auch durch die Filmemacher befeuert und in Gang gehalten wird, Filmemacher, die sich bereits den Deutungskanon der Kinotheoretiker angeeignet haben.
Über allem scheint aber nach wie vor das Ökonomische zu schweben, das eigentlich darauf besteht, völlig frei von ideengeschichtlichen Substraten zu sein und sie doch benötigt, um die ‚Ware Film’ an den Mann zu bringen. Wir können beobachten, dass der Markt über- und unterirdisch seine eigenen Gesetze erzeugt und eine Kinotheorie5, die all dies unter einen Hut bekommen möchte, müsste sich vielleicht vom bevorzugten Blick auf die ästhetisch herausragenden Genreexemplare lösen und ganz tief in die Nischen des Schmuddelkinos und seiner Rezipienten eintauchen, um herauszufinden, ob der Horror nicht vielleicht doch ganz eindeutigen Verwertungsinteressen folgt und ob wir nur einer Illusion erliegen, wenn wir uns von ihnen durch unsere cineastische Metaphorik befreien wollen.
Anmerkungen
1 Dazu gehören sicher auch die Bewertungskriterien der FSK und der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), die – gelinde gesagt – gelegentlich doch sehr ambivalent sind.
2 Dieser Logik folgte zumindest ein Kritiker angesichts des sehr ambivalenten Rachedramas The Brave One (Die Fremde in dir). Der Rezensent reagierte allergisch auf die Intellektualität des Plots und empfahl das Ballerspektakel Death Sentence mit Kevin Bacon, da dieser Rachefilm doch "einfacher und ehrlicher sei".
3 Wobei am Rande darauf hingewiesen werden muss, dass die Freizügigkeit der Gewaltdarstellung im Kino mit dem Fortfall der amerikanischen Zensurbestimmungen (Hays Code) im Jahre 1968 begann.
4 Ein Jugendlicher, der den Film als Interview-Download gesehen hatte, bemerkte in einem Gespräch mit mir: "Da darf keiner raus oder rein. Wer’s trotzdem tut, der muss erschossen werden. Die sind selbst schuld."
5 Wobei man nur bedingt auf das fast vergessene und knochentrockene Handbuch wider das Kino (1975) von Günter Peter Straschek zurückgreifen kann, das in seiner Orthodoxie heute etwas befremdlich wirkt.
Literatur
Faulstich, Werner: "Der Spielfilm als Traum. Interpretationsbeispiel: George A. Romeros ZOMBIE.
In: medien + erziehung, 29. Jg., H. 4, 195-209.
Höltgen, Stefan: The Dead Walk, Institut für Germanistik, 2000.
Suchsland, Rüdiger: Die meisten werden gleich gefressen. Zombies ziehen eine Schleimspur durch das Herz der USA: "Planet Terror". In: Telepolis, 11.10.2007.
Winter, Rainer: Zwischen Kreativität und Vergnügen. Der Gebrauch des postmodernen Horrorfilms, Bis-verlag 2005.