Dr. Claus J. Tully
Beiträge in merz
Wahler, Peter / Tully, Claus J. / Preiß, Christine: Jugendliche in neuen Lernwelten. Selbstorganisierte Bildung jenseits institutioneller Qualifizierung
Wahler, Peter / Tully, Claus J. / Preiß, Christine (2004). Jugendliche in neuen Lernwelten. Selbstorganisierte Bildung jenseits institutioneller Qualifizierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 230 S., 24,90 €
„Nicht für Schule, sondern für das Leben...“, so der häufig nicht eingelöste Anspruch. Was halten Jugendliche diesbezüglich von der Schule? Und was lernen sie eigentlich außerhalb der Schule für das Leben? Die Autoren haben über 2000 Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 bis 18 Jahren mittels Fragebogen nach ihrer Einschätzung der Schule gefragt, aber auch nach Lernerfahrungen in den Feldern Nebenjob, Sport, Musik und im Umgang mit moderner Kommunikationstechnik.
In der Auswertung berücksichtigen sie Alter, Schulform, Region, Migrationshintergrund und Bildungs-/Berufsstatus der Eltern. Ein Ausschnitt aus den vielen Ergebnissen: Jugendliche mit aktiver Freizeit schneiden auch in der Schule besser ab. Dass Jugendliche neben der Schule zunehmend einem Job nachgehen, um selbständiger agieren zu können, aber auch um Konsumwünschen und -zwängen Tribut zu zollen, erweist sich nicht unbedingt als beklagenswert. Viele wollen durch das Jobben etwas Sinnvolles tun und sammeln Erfahrungen in der Arbeitswelt.In Bezug auf Kommunikationstechnik wie Computer, Internet und Handy ist weniger das Erlernen der technischen Bedienfunktionen die wichtigste Lernherausforderung, sondern vielmehr die sinnvolle Einbindung der Medien in den sozialen Alltag.
Claus J. Tully / Claudia Zerle: Handys und jugendliche Alltagswelt
Inzwischen verfügen rund 90 Prozent der Jugendlichen über ein Handy. Als Kommunikations- und Medienzentrale strukturiert es den mobilen Alltag und dient als Werkzeug zur Gestaltung und Organisation der Peergroup.
Gleichzeitig trägt es durch individualisierte Nutzung zur Identitätsfindung bei.
(merz 2005-03, S. 11-16)
Wahler, Peter / Tully , Claus J. / Preiß, Christine: Jugendliche in neuen Lernwelten. Selbstorgani
Dass Lernen in der Schule stattfindet, ist klar. Doch wie sieht es mit dem Alltagslernen jenseits der Schule aus?
Womit beschäftigen sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit, welche Lernwelten eröffnen sich außerhalb der Institution Schule? Informelle Lernprozesse sind im Kindes- und Jugendalter selbstverständlich, sie blieben jedoch bislang in der Debatte um Lernen und Bildung eher unberücksichtigt. Doch Hobbies, Interessensfelder und Freizeitbeschäftigungen werden vielfach zu Gelegenheiten, um neue Kompetenzen, Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben. Vor diesem Hintergrund ist das Deutsche Jugendinstitut im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektes der Frage nachgegangen, welche Bedeutung außerschulische Lernerfahrungen für die Bildung Heranwachsender haben.
Im Rahmen einer empirischen Studie wurden über 2064 Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren standardisiert befragt und qualitative Interviews mit Jugendlichen und Experten durchgeführt. Der Band dokumentiert die Ergebnisse dieser Untersuchung und zeigt, dass die Jugendlichen in den unterschiedlichsten Lebenswelten agieren, die sie sich auch als Lernwelten erschließen. Am Beispiel von Sport, Nebenjobs, Informationstechnik und Musik wird ein Überblick über außerschulische Aktivitäten der Jugendlichen vermittelt. Die Befunde geben Aufschluss darüber, welche Interessen und Motive auf Seiten der Schüler vorhanden sind und welche Bildungsansprüche und Zukunftsperspektiven sie mit dem Lernen außerhalb der Schule verbinden.
Im abschließenden Kapitel werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund einer veränderten Jugendbiografie auch im Hinblick auf ihre bildungspolitische Bedeutung erörtert.
Claus J. Tully und Peter Wahler: Wie ist die Jugend? – Flexibel? Optimistisch?
Inwieweit verändern die neuen Technologien Arbeit und Freizeit von jungen Menschen?
In diesem Beitrag werden verschiedene Untersuchungen und Umfragen zur Jugend kritisch betrachtet und jeweils an der Realität gemessen.
(merz 2000-04, S. 236-241)
Claus J. Tully: Mensch - Maschine - Megabyte. Technik in der Alltagskultur
Der Band ist eine Mischung aus soziologischer Analyse und essayistischer Beschreibung technikrelevanter Entwicklungen in der jüngeren Zeit. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht dabei der Umgang mit der Technik von Jugendlichen, deren Alltag, weitestgehend unbemerkt, von ihr strukturiert wird.
Die jüngste Technikgeneration ist bereits in einer technisierten Lebenswelt angekommen, in der die Gadgets der Moderne (wie SMS) spielerisch in den Alltag integriert sind. Der Autor beschreibt den Wandel mit teils verblüffenden Einsichten.
Claus Tully: Seifert, Robert (2018). Popmusik in Zeiten der Digitalisierung. Veränderte Aneignung – veränderte Wertigkeit. Bielefeld: transcript. 368 S., 39,99 €.
Musik spiegelt gesellschaftlichen Alltag wider, Stilwechsel kündigen gesellschaftliche Veränderungen an. Dies gilt auch für Popmusik. Sie steht für gesellschaftliche Umbrüche ab den 1950erJahren. In acht Abschnitten behandelt das Buch Popmusik in Zeiten der Digitalisierung Popmusik und ihre Einbettung in die Kontexte Sozialisation, Kultur, Technologie sowie Ökonomie. Im Zentrum der Betrachtungen stehen Veränderungen der Bedeutung wie auch der Nutzung von Popmusik, zuletzt durch Digitalisierung. Denn die digitale Transformation führt unter anderem zu neuen Formen der Aneignung. Robert Seifert arbeitet mit fünf Fallbeispielen und zeigt auf diese Weise, wie Popmusik zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf unterschied lichen Ebenen funktioniert. Demnach gestalten verschiedene Einzelphänomene – seien es technologische Innovationen, neue Geschäftsmodelle oder besondere Formen der Aneignung – nicht nur den Umgang mit und die Wertigkeit von Popmusik, sondern ebenso deren Bedeutung. Der Alltagsgegenstand Popmusik folgt nach Seifert gesellschaftlich und soziologisch beschreibbaren Metaentwicklungen. Angeführt werden in diesem Zusammenhang Globalisierung (vgl. Giddens 1999), Metamorphose (vgl. Beck 2016), Multioptionalität (vgl. Gross 1994), Beschleunigung (vgl. Rosa 2005), Fluidität (vgl. Bauman 2012), Reflexivität und Individualisierung (vgl. Beck 1993) sowie Mobilität (vgl.Tully/Baier 2006). Jedoch weist Popmusik im Kontrast zu anderen Medienformen gewisse Besonderheiten auf. Diese lassen den Umgang mit ihr stellenweise geradezu anachronistisch erscheinen, da „Orte, Räume, Zeiten und Objekte [im System Popmusik] medial mit Bedeutungen aufgeladen, aber gleichzeitig konkret individuell angeeignet“ (S. 166) werden. Die Popmusikerfahrung wird in diesem Aneignungsprozess verdinglicht, körperlich wahrnehmbar und damit real. In ihrer Zusammensetzung aus Musik, Objekten und Orten wird sie fluide, und ihre Konsumentinnen bzw. Konsumenten sind hierdurch – je nach Vorwissen, Erfahrungen, Erlebnisintensität und Geschmack – in der Lage, daraus einen individualisierten Nutzen zu ziehen. Auf diese Weise generieren technische Möglichkeiten neue Modi der Aneignung und erzeugen für Seifert einen neuen Umgang mit Popmusik sowie neue Strategien für Bewertungen (vgl. S. 317). Verbreitung und Aneignung von Popmusik werden systematisiert dargestellt. In der Übersicht (vgl. S. 15) werden unter anderem Bedeutungen von Medienträgern, Wiedergabegeräten sowie Verbreitungsmedien auf Phasen der Popmusikentwicklung bezogen (vgl. S. 196 ff.). Verdeutlicht wird, dass Popmusik im Laufe der Entwicklung, und umso mehr unter dem Eindruck der digitalen Transformation, einfacher handhabbar und ubiquitär geworden ist. Ihre Besonderheit konstituiert sich heute in einer orts- und zeit unabhängigen Nutzung und unbegrenzten Verfügbarkeit. Seifert betont hier die Portabilität und Flexibilität von Popmusik, die – wie die Kommunikation – Teil „einer Mobilitätsgesellschaft [und] deren Ausdruck ist“ (S. 317). Als relevante Dimensionen der Popmusik erörtert der Autor unter anderem Popularität, Politik, Unterhaltung und Vergnügen. Er arbeitet einerseits soziale Konstruiertheit und andererseits mediale Verfasstheit des Mediums sowie die Entstehung der Vielfalt von Genres heraus. Seiferts Popmusikbegriff ist dabei „offen, aber nicht allumfassend“ (S. 142). Er ist offen, weil er eben nicht nur die populären, leicht zugänglichen Inhalte umfasst, sondern auch die Verhandlung (politisch) relevanter Vorgänge in der Gesellschaft miteinbezieht. Abseits des Mainstreams zielt Seiferts Verständnis von Popmusik gleichermaßen auf die Musik der Sub- und Netzkulturen, die eben auch Hinter- und Untergründiges thematisieren. Dennoch ist sein Popmusikbegriff bestimmt – und zwar indem notwendigerweise Popmusik als „eine westliche, also anglo-amerikanisch geprägte“ (ebd.) verhandelt wird. Die Publikation verbindet medienbezogene, kulturbezogene und musiktheoretische Zugänge und spürt Aneignungsweisen sowie -kontexten nach. Die Geschichte von Popmusik wird als Ausdruck von Technikentwicklungen wie auch als Repräsentation ökonomischer und sozialer Entwicklungen gesehen. Hervorgegangen ist der Band aus einer wissenschaftlichen Arbeit und ist, angesichts seines Entstehungs zusammenhangs, erfreulich lesbar. Damit liegt ein informativer Beitrag zur Kontextualisierung von Musik vor dem Hintergrund von Technikentwicklungen vor, der nachzeichnet, wie neue Medientechnologien eben auch neue Präsentations- und Produktionsformen generieren. Adressatinnen und Adressaten sind sicherlich nicht allein kultur- und musikwissenschaftlich interessierte Studierende und Lehrende, sondern umfassen ebenso einen breiten Kreis von Studierenden, der an der sozialisierenden Wirkung von Musik sowie am Zusammenhang von Musik- und Gesellschaftsentwicklung interessiert ist. Auch Musikbegeisterte finden Anregungen und Einblicke und können durch die Lektüre einen neuen Blick auf ihre Musikpräferenzen gewinnen. Die Publikation zeigt: Neue gesellschaftliche Strömungen sind immer auch eine notwendige Rahmung von Musikentwicklung und -aneignung. Musik ist nicht nur, sie wird vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erwartungen und Gegebenheiten (Ökonomie, Technologie, Kultur) gemacht.
Claus Tully: Grenzüberschreitende Wechselseitigkeit
Mau, Steffen (2021). Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. München: Verlag C.H. Beck. 189 S., 14,95 €.
Die globale Gesellschaft ist normal geworden. Damit wird gerne die Idee einer Entgrenzung assoziiert, aber auch die von einer gewachsenen Freizügigkeit in der Welt. Mit dieser Annahme setzt sich Mau auseinander und widerspricht der Idee einer gewachsenen Freizügigkeit mit großer Präzision. Einleitend unterscheidet er räumlich-territoriale und mobilitätsbezogene Grenzen (S. 19) und hält fest: Grenzen trennen Territorien und Bevölkerungen. Dies nennt Mau mobilitätsbezogene Selektionsfunktionen. Er arbeitet heraus, dass sozialhistorisch die Entbettung aus ortsgebundenen Zusammenhängen und die Entterritorialisierung von Sozialbeziehungen eines der wesentlichen Entwicklungsmomente der Moderne sei. Die Form der Staatlichkeit, die mit der Industrialisierung ausgebildet wird, löst den Personenverbandsstaat ab, an die Stelle persönlicher Abhängigkeit und Loyalitätsverhältnisse tritt von da an eine patrimoniale Herrschaftsform, die im Monopol der Grenzkontrolle ihren praktischen Ausdruck findet.
Globalisierung wird im Buch als Intensivierung weltweiter Beziehungen beschrieben; entfernte Orte werden miteinander verbunden. Hier bezieht sich Mau sowohl auf Giddens, als auch auf den englischen Soziologen Urry und dessen Mobilitätsparadigma, wobei es Urry um die Bewegung von Dingen und Personen geht. Damit wird Abstand genommen von einer stationären Gesellschaftsvorstellung. Untersucht werden globale Ströme, sowie die Vernetzung von vielfältigen Bewegungsformen.
Unübersehbar eröffnen moderne Technologien neue Spielräume und eine fortschreitende Emanzipation vom Raum. Mau weist darauf hin, dass die Globalisierung Mobilität auf bislang unbekannte Weise polarisiere. Mit anderen Worten, es gebe Gruppen, die mühelos Begrenzungen des Raums überwinden könnten und andere, die unabdingbar lokal gebunden seien. Wie Giddens betont Mau dabei grenzüberschreitende Wechselseitigkeit.
Interessant ist die Art und Weise, wie Globalisierung gemanagt wird; wie also Objekte und Körper von Personen markiert werden und in der räumlichen Bewegung durchgängig identi-fizierbar sind. Der Titel von der Grenze als Sor-tiermaschine geht davon aus, dass erwünsch-te von unerwünschten Formen der Zirkulation unterscheidbar werden (S. 79). Einerseits gibt es goldene Pässe, die Mau als „eine Form der Kommerzialisierung von Mobilitäts- und Frei-zügigkeitsrechten“ (S. 89 f.) versteht und es gibt in großer Zahl Passinhaber*innen, denen Grenzübergänge verwehrt sind.
Neu sind informationelle und biometrische Kontrollen. Die Rede ist von „technologischer Grenzraumüberwachung“. Dafür stehen Entwicklungen wie: Einsatz von Drohnen, Radaranlagen und Kameras auf beweglichen Plattformen sowie akustische Sensoren und Wärme-Bild-Systeme, die verdächtige Bewegungen in Grenznähe registrieren und Alarm auslösen können (S. 100). Solche technischen Systeme sind funktionale Äquivalente der klassischen Barrieregrenzen. Im Weiteren diskutiert Mau den Einsatz smarter Technologien. Einzelne Kontrollschritte werden an Maschinen delegiert. Identifikationsvorgänge, egal ob es sich um Personen oder Objekte handelt, erfolgen nun digital. Smart Borders versprechen eine effiziente und rasche Kontrolle der Objekte, es kann sich dabei um Waren oder Personen handeln. Im günstigen Falle sind die Körper der Personen zugleich Träger*innen von Informationen (S. 112). Diese werden in Datenspeichern verdoppelt, sie dienen ihrer Identifikation (S. 107). An der Grenze checken sich die Personen selbst. Noch wichtiger aber wird, dass die Grenze ihren Ortsbezug verliert (S. 107), da Kontrollen exterritorialisiert werden. Transporteure (Fluggesellschaften, Logistikunternehmen etc.) sind in die Kontrolle eingebunden, ihnen ist verboten, Waren und Personen zu befördern, wenn gültige Papiere fehlen (S. 142). Absehbar kommt es zu einer „datensensiblen Verzahnung privater und staatlicher Kontrollaktivität“ (S. 110). Hilfsmittel sind Orts- und Aufenthaltserkennung, Mobilitätsdaten, Tracking und Interaktions-Daten, die verfügbar gemacht werden können.
Und was lernen wir? Wer technische Systeme vorgibt, gibt auch die Regeln vor, die installierten Kontrollsysteme spiegeln die Interessen ihrer Auftraggeber*innen. Für die Industrialisierung wurden neue Formen der Grenzinfrastruktur entwickelt, ganz anders verzichten die Grenzen von heute auf territoriale Beschränkung. „Der Nationalstaat ist durch diese Formen der ‚remote control‘ selbst an der Konstitution des Globalen beteiligt und dies sogar noch in seinen erkennbaren Interessen der territorialen Schließung, Mobilitätssteuerung und Kontrolle“ (S. 154).
Das Buch räumt auf mit den Ideen eines weltweiten Austauschs und damit auch mit der Idee vom ausgedehnten Austausch, der die Menschen letztlich hinführe zu mehr Freiheit und Reichtum. Es wird aufgezeigt, wie technische Schnittstellen und Interfaces die Interaktion von Personen ersetzen. Sichtbar wird, wie globale Strömungen Machtverhältnisse einer Netzwerkgesellschaft spiegeln.
Dem Soziologen Steffen Mau ist zu verdanken, dass er diese Entwicklung hochaktuell und nachvollziehbar zusammenfasst. Verwoben werden die einschlägigen soziologischen Überlegungen unter anderem von Max Weber über Anthony Giddens, Ulrich Beck und John Urry. Nicht erwähnt wird Marc Agé. Von ihm wissen wir: eine Welt, in der Maschinen das Sagen haben, ist eine der ‚Nicht-Orte‘. Das sind die modernen, kommerzialisierten und mobilen Gesellschaften, in denen wir schon leben. Wer wissen will, wie so eine Gesellschaft aussieht und funktioniert, sollte das Buch ‚Sortiermaschinen‘ lesen. Die Lektüre des gut geschriebenen Werks ist für alle sozialwissenschaftlich interessierten Leser*innen zu empfehlen.
Claus Tully: Lehren aus der Pandemie
Der Untertitel Lehren aus der Pandemie ist treffend gewählt. Der Rezensent hat selbst in Seminaren auf die Möglichkeiten von Online Teaching hingewiesen, um sich dann mit Einsetzen der Coronakrise selbst als Akteur und Nutzer dieser Technologie zu erleben. Krisen, wie die von Corona, zwingen dazu Vertrautes und Neues zu reflektieren. Das von Ralf Lankau herausgegebene Buch behandelt unter anderem Lehren und Lernen im digitalen Zeitalter, sowie digitalen Distanzunterricht als Beitrag sozialer Spaltung. Im Zentrum des Bandes steht die Reflexion, was Schulen und Gesellschaft aus der Pandemie lernen können. In den Einzelbeiträgen wird die Rolle von Medien im Schulsystem reflektiert und gefragt, inwieweit sich die Schule weiter für den Einsatz von Medien öffnen soll. Wäre der Übergang zu hybriden Formen des Unterrichts mit einem Wechsel von on- und offline strategisch günstiger als die Rückkehr zum vertrauten Unterricht im Klassenraum? Was meint off- und online hier bzw. deren systematische Kombination in Form von Hybridunterricht? Hybridunterricht bedeutet eine Hintereinanderreihung von „Präsenz -und Distanzphasen“, und er gilt „insbesondere Wirtschaftsvertretern als das Modell der Zukunft“ (S. 17). Was sind die Merkmale des Distanzunterrichts? „Lernplattformen, Lernprogramme und Learning Analytics, die im Zuge des digitalen Unterrichts im Homeschooling und danach eingesetzt werden, versprechen scheinbar objektivierte Ergebnisse. Und verhindern vermeintlich subjektive oder willkürliche Bewertungen durch die Lehrenden“ (S. 39). Faktisch fand Folgendes statt: Lernbeziehungen wurden modifiziert. Statt der Beziehung zwischen Schüler*innen und Lehrenden übernahmen Eltern die „Organisation der Lernzeit“ (S. 91). Online Teaching erfolgte gegebenenfalls qua fehlenden zeitlichen Vorlaufs als etwas, das an mehrstündig stattfindende Videokonferenzen erinnerte. „Erschwerend hinzu kommt die Isolation der einzelnen Schülerinnen und der Lehrperson“ (S. 39). Da Jugendliche auch ihre gesamte Freizeit digital verbracht haben, wurden in einschlägigen Studien extrem hohe Bildschirmzeiten ermittelt. Worum geht es wenn wir von der Schule sprechen? Es geht (1) um die Biografie von Kindern und Jugendlichen, (2) um die Schule als sozialen Ort des Austauschs, (3) um den Ausgleich von sozialen Unterschieden, (4) um Medien und deren Sideeffects bei der Wissensvermittlung, gestützt von Didaktik und gerahmt von Schulwirklichkeit. Jede Form der Mediennutzung bedarf einer sie stützenden Didaktik, das Nebeneinander von Präsenz- und Online-Unterricht hat das praktisch und unabweisbar erfahrbar gemacht. Didaktik und Lerninhalt dürfen dem Medieneinsatz nie nachrangig sein. In der Pandemie war das so, aber das war ja nicht intendiert. Biografien der Heranwachsenden sind aus der Sicht der Schule Lernbiografien und für die gilt der Grundsatz: erst real, dann analog und zuletzt digital (S. 18; S. 175 ff.). Notwendiger Weise ist die Schule Ort des sozialen Austauschs.
Empirische Untersuchungen beleuchten den Lebensraum, weshalb Schüler*innen immer zuerst ansprechen, wen sie dort treffen und erst an zweiter Stelle, was sie alles lernen1. Der Entwicklungsprozess Heranwachsender muss also mitgedacht werden. Im Buch wird deshalb auf Piaget, Erikson und die Jugendforschung verwiesen. In der Krise war häufiger von Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen und mangelhafter Ausstattung an Computern, schnellem Internet, Druckern, Scannern und mehr die Rede. Darüber hinaus ging es um die Mühen eines Lernalltags in zu engen Wohnungen. Zudem fehlt in solchen Familien auch oft die Kompetenz, bei der Vermittlung des Lehrstoffs zu unterstützen. Es ist kein Zufall, dass in Problemsituationen Medien weiterhelfen sollen. Medien eröffnen prinzipiell die Chance zu neuen Spielräumen, zu selbstbestimmter, eigenmotivierter, problemlösender und vom eigenen Lerntempo bestimmter Aneignung. Dies jedoch verstärkt Ungleichheit, statt sie zu eliminieren. Wenn Ungleichheit sichtbar ist, soll die Schule ausgleichen. Und wie sieht die Zukunft aus? Medien werden künftig eine wachsende Rolle in der Bildung spielen. Edwin Hübner führt in seinem Beitrag in die Herausforderungen für eine Pädagogik im Zeitalter des Metaverse ein. Es gilt wach zu sein für Veränderungen durch neue Technologien. Kinder können damit vermutlich umgehen, dennoch brauchen sie die Auseinandersetzung mit der realen Welt. Gerade die Generation, die viel Zeit im Metaverse verbringen wird, braucht eine Pädagogik, die hilft, Kindheit und reale Welt damit zu verbinden. Was sind die Lehren aus der Pandemie? Gewünscht ist eine Transformation der Bildungseinrichtungen, es gibt eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Stand der Schule, gefordert werden mehr Dynamik und mehr Spiegelung im Realen. Die Erfahrung einer weitreichenden Technisierung hat offengelegt, woran es mangelt, aber auch, dass es darauf zu achten gilt, dass Technik nicht zum Universalschlüssel aller Bildungsprozesse deklariert wird. Technik garantiert keine Teilhabe und keine Motivation. Studien belegen: nicht die technische Kodierung von Lerninhalten bestimmt die Nutzung von Medien, vielmehr geht es um eine „sinnvolle Einbindung in den sinnvoll strukturierten Präsenzunterricht und als Ergänzung in Selbstlernphasen“ (S. 215). Gelernt werden soll selbstbestimmt und selbstorganisiert, dazu braucht es Anleitung und Hilfestellung. Bildung bleibt absehbar an Menschen gebunden, ihr Kern ist Beziehungsarbeit, die als Dreieck von Pädagogik, Lehrperson und Unterricht zu denken ist.
1Wahler, Peter/Tully, Claus J./Preiß, Christine (2008). Jugendliche in neuen Lernwelten. Selbstorganisierte Bildung jenseits institutioneller Qualifizierung. Wiesbaden: Springer VS.
Lanka, Ralf (Hrsg.) (2023). Unterricht in Präsenz und Distanz. Lehren aus der Pandemie? Weinheim: Beltz Juventa. 232 S., 24,00 €.
Dr. Claus Tully: Alles mal aus dem Blickwinkel der Ästhetik
Babenhauserheide, Melanie/Krämer, Kalle/ Wolf, Benedikt (Hrsg.) (2022). Ästhetisierung von Kindheit und Jugend nach 1968. Interdisziplinäre Fallanalysen. Weinheim: Beltz Juventa. 215 S., 38,– €.
Die Proteste von 1968 stehen, so die Herausgebenden zu Beginn des Werks, für die Neuverortung von Hoch- und Populärkultur. Hinzu kommt ein gewachsenes Interesse an Kindheit und Jugend. Es folgen neun thematisch ungebundene Einzelbeiträge, anhand derer Konstellationen und Betrachtungen von Kindheit und Jugend gezeigt werden. Wie Windspiele in Kinderzimmern „deutet sich etwas an, was (noch) nicht ganz da ist; wir sehen erst richtig, wenn wir das, was nicht das ist, in das Bild, das wir uns machen, einbeziehen“. (S. 7). Ästhetische Artikulationen werden als unabgeschlossen und veränderlich gesehen. Damit geht es um Abbilder der Lebensphasen des Heranwachsens und deren Produktion und Reproduktion. Zwei Beiträge werden herausgegriffen: Krawall am Rande. Ulrike Meinhofs Fernsehspiel Bambule(1970) von Vojin Saša Vukadinović und Das Unbehagen als Jugendkultur von Dierck Wittenberg. Auswahlkriterium sind die politische Umbruchsituation der 1968er und das in der Jugendforschung durchgängige Thema der Jugendkultur.
Das Manuskript zum halbdokumentarischen Fernsehspiel Bambule stammt von Ulrike Meinhof. Offengelegt wird der autoritäre Charakter von Institutionen der Erziehung und Verwahrung. Gezeigt werden Verhältnisse dieser Zeit: Im Fokus sind die Repressivität der Totalität, die Gewalt von Institutionen, Arrestzellen in Erziehungseinrichtungen, die Sexualität von Heranwachsenden und, weniger typisch, die besondere Rolle der Mädchen. Gesucht sind Chancen für eine ‚Gegenkultur‘. Aufgegriffen wird auch, für die damalige Zeit sehr untypisch, die Homosexualität Heranwachsender. Bambule brachte ausgeblendete Verhältnisse zum Ausdruck. Es begann die Zeit, neu über Sozialarbeit nachzudenken (S. 72 f.) und sich den Verhältnissen zu stellen. Der zweite Beitrag Das Unbehagen der Jugend
kultur analysiert das Phänomen Punk mehr als 45 Jahre nach seinem Entstehen. Er ist „Ausdrucksform, Modeverweis und Musikstil, als Selbst- oder Fremdbezeichnung“ (S. 95). Die Vorstellungen aber gehen so weit auseinander wie die existierenden Subgenres unter dem Dach der Punkmusik. Punk ist Jugendkultur: „Wie andere Jugendkulturen auch, baut Punk auf einen gewissen Freiraum auf, den Jugendliche und junge Erwachsene beanspruchen können: Dass sie Möglichkeiten des kulturellen Ausdrucks und Konsums nutzen können, ohne bereits voll in die Arbeitswelt der Erwachsenen integriert zu sein. Den Gegensatz von Ich und Gesellschaft hat Punk in anderer Weise artikuliert als etwa vorher die Hippie-Bewegung.“ (S. 97). Ästhetik erlaubt Differenzen zu zeigen. Punk ist Inszenierung und damit mehr als eine Musikrichtung. Es geht um den Anspruch, „die Grenze zwischen Kunst und Gesellschaft aufzuheben oder zumindest zu beschädigen, und zwar von der Seite der Kunst her“. (S. 107) Kritik kann da nicht ‚eindeutig‘ sein. Unübersehbar ist das Buch vom Wunsch getragen, Ästhetisierung in großer Breite zu thematisieren. Dies steht einer Begriffsabgrenzung und -bestimmung entgegen. Der Band „richtet sein Interesse gleichermaßen auf Kindheit und Jugend und die konkreten Ästhetisierungen selbst“ (S. 7). Eigentlich kann da alles unter ‚konkreten Ästhetisierungen‘ subsumiert werden. Leider wird die mediale Durchformung von Kindheit und Jugend nicht berührt, sondern vorrangig als ästhetisches Phänomen begriffen. Antworten darauf, was Kinder- und Jugendalltag ist und war und wie sich diese Lebensphase Jugend verändert hat, gibt es jedoch nicht. Für Medienproduzierende ist das Buch dennoch zu empfehlen.Ide, Martina (Hrsg.) (2022). Ästhetik digitaler Medien. Aktuelle Perspektiven. Bielefeld: transcript. 232 S., 60,00 €.
Im Tagungsband werden verschiedene Aspekte von Ästhetik im Zusammenhang mit Medien
diskutiert, schließlich ist Wahrnehmung stets „medial gebunden und erfolgt in der Regel in Wechselwirkung mit technologischen Entwicklungen neuer Medien“ (S. 7). Medien eröffnen mithin neue Formen der Wahrnehmung und Anschauung. Das Medium bringt selbst etwas
Anschauung und wird bei McLuhan zur „Message“ (S. 8). Die Analyseperspektive fragt da-
nach, „ob und inwiefern sich im Zeitalter der Digitalisierung Begriffe von der Definition des Ästhetischen wandeln“ (S. 8). Zu Recht wird einleitend gefragt, welche Bedeutung dem Bildhandeln im Zeitalter des Smartphones zukommt, denn bildbezogenes Medienhandeln wird umfassend erkennbar. Gelebt werden ästhetische Werturteile unter anderem, wenn sie durch Likes und Dislikes kodiert sind (S. 9). Bereits der Beitrag von Klaus Gereon Beukers als Geleitwort macht erkennbar, dass die Ästhetik digitaler Medien in einen kunstgeschichtlichen Kontext eingeordnet wird. Zugleich führt Beukers aus, dass Bildwerke eine ikonografische Tradition besitzen. Das digitale Kunstwerk allerdings erfordert seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erneut eine Reflexion und Weiterentwicklung kunsthistorischer Zugangsweisen. Interessant ist, dass bereits der Buchtitel für den Eindruck steht, dass digitale Medien Wahrnehmung formen. Aufgegriffen werden hier zwei Beiträge zur Fotografie: Jenseits des Verstehens bildlicher Artikulationen in sozialen Medien von Nick Böhnke und ein Text von Iris Laner, der Ästhetik und Objektivität der Fotografie im Lichte der digitalen Wende behandelt. Böhme erinnert daran, dass „all das, was jenseits des Screens, all das, was jenseits des Bildausschnitts liegt, kaum mehr wahrgenommen“ (S. 31) wird. Die Screens bilden das „Gesichtsfeld“, an seinen Rändern werden „Schwellen der Unschärfe, die im Wandern des Blicks überwunden werden und eine neue Fokussierung ermöglichen, die ihrerseits wieder von Schwellen gerahmt ist und das Sehen zu einem uferlos ausgedehnten Vollzug und damit ein absolutes Erfassen des potentiell Sichtbaren unmöglich macht, umgrenzt der leuchtende Screen ein klar definiteres Bildfeld“ (S. 32). Das Zitat steht dafür, dass wir unsere Wahrnehmung per Gerät und App neu ordnen. Böhmes Fazit: Die Bildwürdigkeit wäre nicht mehr durch die „ästhetische Artikulation des Bildgegenstands motiviert“ (S. 54), ja die Bildwürdigkeit „des Banalen“ stehe ohnehin nicht in Frage. Die Social-Media-Ichs gründen weniger auf ästhetischer Artikulation, wohl aber auf bewusster Setzung. „Zwischen dem, was zu artikulieren versucht werden mag und dem, was sich zeigt, klafft eine nicht zu überbrückende Kluft: Zwei windschiefe Geraden, die sich im Bild des Chiasmus niemals kreuzen und dennoch nicht parallel zueinander verlaufen. So bleibt es nicht selten unentscheidbar, ob die Aufmerksamkeit auf das bloße Erscheinen oder die Erscheinung eines möglicherweise ästhetisch irrational artikulierten und zu Unrecht als banal aufgefassten Bildinhalts gelenkt werden soll” (S. 54). „Der Bezug muss seinen Ausgangspunkt im Anderen finden“ (S. 56). Und weiter sagt er: „auf Seiten der Produzenten bedarf es eines Bewusstseins für das Beziehungsgeflecht, in das sie gemeinsam mit den im Horizont ihres Erkennens je beschränkten Betrachtern verwoben sind“ (S. 55). Lahner diskutiert die Frage nach der Rolle der Fotografie. Sie ist längst kein Abbild, kein Dokument mehr, das zeigt, was ist. Was aber zeigt sie? Vor gut 180 Jahren stand das apparative Bildproduktionsverfahren für das „Produkt eines Apparats, der keine Stellung bezieht“ (S.57). Anders als die analoge Fotografie beruht jedoch die digitale Fotografie „nicht auf einem umfassend determinierenden Akt des Auslösens. Vielmehr bleibt der im digitalen Bild festgehaltene Referent offen für nachträgliche Bildgestaltungen, jedenfalls in viel größerem Ausmaß als in einer Nachbearbeitung analoger Bilder.“ (S. 67) Vorbei ist es mit der Unterscheidung objektiver Fotos und künstlerischer und gestalteter, arrangierter Bilder. Nicht nur technologisch setzt Digitalisierung neue Maßstäbe. Gesucht sind Thesen und Erläuterungen zum Verhältnis „zwischen dem fotografischen Ereignis – dem Referenten – und dem, was im Bild zur Erscheinung kommt“(S. 67). Es geht um das „Verhältnis zwischen Referenten und ‚wahrnehmendem Subjekt‘, medial vermittelt in Form des fotografischen Bildes“ (S. 74). Wie in der „analogen Fotografie ist die Ähnlichkeit durch die Produktionsbedingungen nicht gewährleistet“ (S. 74). Es gibt Spielräume für Bildbewusstsein als Differenzbewusstsein. Es geht um nachweisbare Spielräume bezüglich der Wahrnehmung und Deutung. Da drängt sich die Frage auf, ob es denn keine absehbaren Wirkungen digitaler Medien gibt. Im Zuge der Konkurrenz um Aufmerksamkeit werden mediengestützt textuale Mitteilungen durch Bilder verdrängt. Dies ist einer der Auslöser für die Zunahme von Bildern im digitalen Alltag, ein anderer sind die Interaktion und das Bedürfnis, sich in der Interaktion selbst zu zeigen und Dritte zur Interpretation zu veranlassen (GIFs, Mimes usw.). Im Buch geht es jedoch um Deutungen und nicht um Wirkungen, vermutlich wächst mit der zunehmenden kommerzialisierten Vereinnahmung der Subjekte das Bedürfnis nach Unbestimmtheit und Interpretationsspielraum.