Eric van der Beek
Beiträge in merz
Eric van der Beek: Überwachung, digitale Gewalt und die Architektur von Online-Räumen
Digitale Gewalt und Überwachung gehören zu den Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche mitunter in Online-Räumen machen. Der Ansatz der handlungsorientierten Medienpädagogik besteht darin, die damit verbundenen Risiken und Gefahren aus der Perspektive der subjektiven Aneignungsweisen zu verstehen und Heranwachsende zu einem souveränen und selbstbestimmten Umgang mit Medien zu befähigen. Ihre Maxime ist aber auch, sie vor potenziell entwicklungsgefährdenden Inhalten zu schützen und dabei ihre digitalen Teilhabeinteressen zu wahren. Francesca Schmidt setzt sich in ihrem Werk aus feministischer und intersektionaler Perspektive mit der Frage auseinander, wie Formen der Diskriminierung und Marginalisierung mit der Architektur des Netzes verwoben sind. Digitale Gewalt und Überwachung versteht Schmidt als Folge einer Netzpolitik, die den Prinzipien der De-Regulierung und Privatisierung folgt.
Im ersten Teil geht Schmidt auf ‚Konzepte & Geschichten‘ des Cyber- und Netzfeminismus und der Netzpolitik ein. Hier begründet sie die These, dass Technologie konstruiert und das Internet folglich ein hegemonialer Raum ist. Schmidt zeigt, dass das Netz als Artikulations- und Vernetzungsraum ein Potenzial für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen darstellt. Jedoch begünstigen der normativ-strukturelle Rahmen der Netzregulierung sowie die Internetgesetzgebung Exklusionsrisiken und Diskriminierungen im Internet. Im zweiten Teil stellt Schmidt ‚Feministische Netzpolitik im Einsatz‘ dar. Sie kritisiert, dass die Zugangsmöglichkeiten zur bürgerlichen Öffentlichkeit im Netz entlang sozialer, kultureller und ethnischer Grenzen ungleich verteilt sind. Mit der Idee einer reflexiven Öffentlichkeit entwickelt sie die politische Forderung, die Betroffenheit von Marginalisierung und Diskriminierung und deren strukturelle Bedingungen stärker in öffentlichen Diskursen zu betonen. Die Überlegungen zur digitalen Öffentlichkeit wendet Schmidt zunächst auf das Problemfeld der digitalen Gewalt an. Im Umgang damit fordert sie eine stärkere staatliche Regulierung und ein Verbandklagerecht zur Durchsetzung bestehender Gesetze. Sie zeigt aber auch auf, dass digitale Gewalt fern von der Gesetzgebung und den Absichten der Plattformbetreiber*innen zivilgesellschaftlich reguliert werden kann. Ansätze sieht Schmidt in der Mobilisierung von Gegenrede und Communitymanagement.
Danach wendet sich Schmidt dem Problemfeld der Überwachung zu. Sie argumentiert, dass die Voraussetzungen des algorithmischen Trackings und Cyber-Stalkings in den Algorithmen von Social-Media-Plattformen verankert sind. Dadurch bestehe die Gefahr eines sogenannten Chilling-Effects, also einer vorauseilenden Anpassung der individuellen Verhaltensweisen (Selbstzensur), die aus der Erwartung entsteht, dass man überwacht wird. Schmidt kann aufzeigen, dass digitale Gewalt und Überwachung tief in die Funktionsweise des Netzes eingeschrieben sind. Damit haben sie strukturelle Ursachen, die weit über die subjektiven Aneignungsweisen der Nutzenden hinausgehen. Die Medienpädagogik steht hier vor einem Dilemma. Die Verwirklichung von Teilhabeinteressen Heranwachsender kommt dort an die Grenzen, wo digitale Gewalt und Überwachung ihre Entwicklung gefährden kann. Die Maxime der Befähigung zu einem souveränen und selbstbestimmten Umgang mit Medien kann daher nur Teil der Antwort sein, was die Aufgabe der Medienpädagogik im Netz ist.
Aus den Ausführungen von Schmidt lassen sich meines Erachtens mindestens drei Aufgaben für die Medienpädagogik ableiten. Erstens müssen neben den Aneignungsweisen von Kindern und Jugendlichen die hegemonialen Strukturen der Online-Räume in den Blick genommen und die Interessen der Akteur*innen besser verstanden werden. Zweitens sind wir herausgefordert, anwaltschaftlich die Teilhabeinteressen Heranwachsender in diesen Räumen zu vertreten und an der Gestaltung von Regeln und Normen in Politik und Zivilgesellschaft aktiv mitzuwirken. Drittens brauchen wir in der Medienpädagogik eine reflexive Auseinandersetzung mit Überwachung und digitaler Gewalt als Prinzipien der Medienerziehung. Digitale Gewalt wird beispielsweise dort ausgeübt, wo Jugendschutzfilter den Zugang zu Inhalten versperren oder Medien zur Durchsetzung erzieherischer Sanktionen genutzt werden. Risiken durch Überwachung entstehen beispielsweise dort, wo der Umgang mit digitalen Medien durch Fachkräfte kontrolliert wird. Eignen sich Jugendliche in der aktiven Medienarbeit Social-Media-Plattformen als Identitätsspielräume und zur Artikulation ihrer politischen Interessen an, sind sie mit den Risiken von Überwachung und digitaler Gewalt konfrontiert. Die handlungsorientierte Medienpädagogik muss sich daher intensiv mit der Frage beschäftigen, wie hegemonial strukturierte Technologien mit den pädagogischen Zielen und Handlungsweisen verflochten sind.
Schmidt, Francesca (2021). Netzpolitik. Eine feministische Einführung. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich. 188 S., 18,90 €.
Erik van der Beek: Kinder und Jugendliche im Unmarked Space der Leitmedien?
Precht, Richard David/ Welzer, Harald (2022). Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. Frankfurt a. M.: S. Fischer. 288 S., 22,00 €.
Mit ihrer Veröffentlichung legen Richard David Precht und Harald Welzer ein populärwissenschaftliches Buch zur Bedeutung der Massenmedien für das politische Geschehen und die öffentliche Meinungsbildung in Deutschland vor. Damit wenden sie sich wichtigen kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen zu, welche die digitale Transformation der Leitmedien und ihre Funktion in der Demokratie betreffen. Die zwölf Kapitel bilden eine Dramaturgie von der Problembeschreibung über dessen Analyse bis hin zu Lösungsansätzen. Argumentativ beziehen sich Precht und Welzer auf Studien, Begriffe und Theorien der Kommunikationswissenschaft, Sozialwissenschaft und Sozialpsychologie. Die Verknüpfung dieser Quellen mit den Beobachtungen und Erfahrungen der Autoren sowie die Zuspitzung von Argumenten verweisen auf die Textform des Essays. Precht und Welzer eröffnen das Buch mit einer persönlichen Note: der Schilderung des medialen Theaters rund um den Offenen Brief an Olaf Scholz zum Krieg in der Ukraine, den die Autoren mitgezeichnet haben. Danach gehen sie analytischer vor. Sie arbeiten pointiert heraus, dass die Repräsentation von vielfältigen Meinungen konstitutiv für den öffentlichen Diskurs in einer liberalen Demokratie ist. Anhand der Berichterstattung über gesellschaftlich wichtige Themen problematisieren die Autoren eine wachsende Differenz zwischen der Meinungsvielfalt in der deutschen Gesellschaft und der veröffentlichten Meinung der Leitmedien. Sie konstatieren, dass die Leitmedien immer seltener die Meinungsvielfalt zu gesellschaftlich wichtigen Themen abbilden. Als ‚Unmarked Space‘ bezeichnen sie die wachsende Repräsentationslücke zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung.
Precht und Welzer beobachten, dass sich die Leitmedien zu politischen Akteuren entwickeln. Diese ‚amtierenden Medien‘ kolonialisieren das politische System, nehmen Einfluss auf die politische Willensbildung und nutzen die veröffentlichte Meinung als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Das gelingt, weil sie sich in ihrer Berichterstattung in Krisenzeiten, die durch Unsicherheit und Ungewissheit gekennzeichnet sind, aneinander orientieren. In diesem ‚Cursor-Journalismus‘ konstruieren die amtierenden Medien eine Phantomwirklichkeit jenseits der Öffentlichen Meinung, die durch Aufregerthemen und einen polarisierten Diskurs bestimmt ist. ‚Direktmedien‘ wie Twitter spielen dabei eine zentrale Rolle. Hier sind Politik und Journalismus miteinander vernetzt, der Cursor wird von den amtierenden Medien gesetzt und die personalisierte Kommunikation führt zur Ent-sachlichung von Diskursen.
Die Thesen von Precht und Welzer sind nicht neu und halten einer wissenschaftlichen Überprüfung kaum stand. Es gelingt ihnen nicht, die vielfältige Landschaft der Bürger*innen- und Alternativmedien in den Blick zu nehmen, die in Form von Podcasts, YouTube-Videos und Blogs für viele Menschen alternative Deutungsangebote bereitstellen. Dennoch stellen die Autoren wichtige Fragen und bearbeiten diese populärwissenschaftlich. Die mediale Aufmerksamkeit, die das Buch im Spätsommer 2022 erlangte, hat kaum dazu beigetragen, dass diese wichtigen Fragen kritisch in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden. Vielmehr standen die Akteur*innen der Leitmedien, der Politik und die Autoren selbst im Fokus. Dennoch: Precht und Welzer tragen eine Vielzahl von Beobachtungen zusammen, die durchaus geeignet sind, die Funktion der Leitmedien für den öffentlichen Diskurs zu problematisieren. Es ist jedoch nötig, sich – ganz im Sinne von Habermas – vernünftig mit ihren Thesen auseinander zu setzen.
Für die Medienpädagogik ergeben sich drei Anknüpfungspunkte. Erstens stellen Precht und Welzer Fragen, die das Verhältnis von Medien und Öffentlichkeit sowie politische Partizipation in der Demokratie betreffen. Diese Fragen tangieren den Kernbereich der Medienpädagogik: das gute Aufwachsen mit Medien und Medienkompetenz als Voraussetzung zur gesellschaftlichen Teilhabe. Daher sollte sich die Medienpädagogik intensiv mit solchen populärwissenschaftlichen Thesen auseinandersetzen und sich in das mediale Theater einbringen. Zweitens kann die Medienpädagogik auf der Ebene der Förderung eines kritisch-reflexiven Umgangs mit Medien ansetzen. Die Beobachtungen, die die Autoren machen, laden dazu ein, mit Kindern und Jugendlichen das Mediensystem zu analysieren und dessen Funktion zu reflektieren. Drittens sollte die Medienpädagogik die Repräsentation von Problemlagen und Meinungen junger Menschen in den Leitmedien stärker in den Blick nehmen. In den vielen Krisen der Gegenwart befinden sich junge Menschen und ihre riskanten Lebenslagen tatsächlich im Unmarked Space der Leit-medien. Kinder und Jugendliche müssen dort sichtbar sein, damit sie im öffentlichen Diskurs und in der Politik wahrgenommen werden.
Eric van der Beek: Die Mandate medienpädagogischer Professionalität
Die Medienpädagogik ist ein vielfältiges Arbeitsfeld, in dem eine Vielzahl professioneller Akteur*innen in Praxis, Forschung und Transfer tätig sind. Die Bedingungen ihres professionellen Handelns verändern sich stetig. Im trans- und interdisziplinären Feld der Medienpädagogik stellt sich daher die Frage, wie übergreifende Maxime der Professionalität formuliert werden können.
Im Sammelband Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung suchen 20 Autor*innen in 16 Beiträgen Antworten. Die Artikel sind in Arbeitsgruppen des GEW Bundesforums Bildung in der digitalen Welt entstanden und eröffnen eine Bandbreite aktueller theoretischer und praktischer Überlegungen in diversen Handlungsfeldern der Medienpädagogik. Dazu werden theoretische, ethische und praktische Herausforderungen der Digitalisierung unter dem Primat der Pädagogik formuliert und explizit Forderungen an die Politik abgeleitet. Die Beiträge durchzieht deutlich eine politische Dimension. Die Hürden des föderalen Bildungssystems werden aufgegriffen und Forderungen an Bund und Länder abgeleitet. Diese umfassen unter anderem die Finanzierung und Verstetigung medienpädagogischer Bildungsangebote, die Verbesserung digitaler Teilhabemöglichkeiten und die Demokratisierung der (digitalen) Bildung in der Medienpädagogik. Es wird aber auch das politische Mandat der Medienpädagogik zur Medienkompetenzförderung deutlich. Besonders sichtbar wird dieses Mandat in den Beiträgen über die schulischen Handlungsfelder. Hier setzen sich die Autor*innen kritisch mit der KMK-Strategie Bildung in der Digitalen Welt und ihren Implikationen auseinander.
Die Beiträge zeigen außerdem auf, dass sich in medienpädagogischen Handlungsfeldern durch die digitale Transformation vielfältige theoretische und ethische Fragen eröffnen. Kapitel 2 wendet sich der bildungstheoretischen Ebene zu. Es wird diskutiert, inwiefern sich die Voraussetzungen des Lernens durch die Integration digitaler Technologien in Lernsettings verändern, wie die wachsenden Orientierungsanforderungen an Subjekte in fragilen Medienumgebungen adressiert werden können und welche medienpädagogischen Kompetenzen in einer Kultur der Digitalität zu entwickeln sind. Weitere Beiträge wenden sich der ethischen Dimension zu und diskutieren beispielsweise die Ausbreitung kapitalistischer Strukturen und Datafizierung im Bildungsbereich. Um den Herausforderungen zu begegnen, wird das Primat der Pädagogik angesichts digitaler Spaltung und ungleicher Teilhabechancen in der demokratischen Gesellschaft kritisch diskutiert.
Neben der politischen Dimension und den disziplinären Verortungen eröffnen die Buchbeiträge tiefe Einblicke in die vielfältigen Handlungsansätze der Medienpädagogik. Hier rücken insbesondere die in Kapitel 3 dargestellten Praxisfelder in den Fokus. Bereits in der Krippe und im Kindergarten ist es beispielsweise relevant, mediale Bildungsprozesse und die kritisch-reflexive Auseinandersetzung von Kindern mit Alltagstechnologien zu fördern. Die Schulsozialarbeit eröffnet inklusive und demokratische Räume, in denen sie Heranwachsende bei der souveränen und selbstbestimmten Aneignung von Medien unterstützt. Betrachtet man das Feld der Erwachsenenbildung, sind medienpädagogische Angebote bisher rar gesät. Dabei ist Medienbildung als Teil der beruflichen Aus -und Weiterbildung für die Arbeitswelt hoch relevant. Auch für ältere Menschen werden bisher nur wenige Angebote bereitgestellt.
Das Buch zeigt, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur*innen im Feld der Medienpädagogik tätig ist. Alle erheben den Anspruch, die digitale Transformation mitzugestalten – und tun dies auch. Die vielfältigen Perspektiven und die politischen Forderungen, die daraus abgeleitet werden, bleiben jedoch disparat. Ein Orientierungsangebot, das Feld der Medienpädagogik zu ordnen, die politischen Forderungen zu bündeln und sie als gesellschaftliche Akteurin zu adressieren ist das aus der Sozialen Arbeit bekannte Trippelmandat1 professionellen Handelns: Übergreifend wird in den Beiträgen deutlich, dass die Medienpädagogik durch Bund und Länder erstens ein politisches Mandat zur Förderung der Medienkompetenz aller Zielgruppen erhält. Zweitens zeigen die Buchbeiträge, dass die Medienpädagogik ein Mandat durch ihre Adressat*innen erhält, sich für eine gelingende digitale Teilhabe innerhalb bestehender gesellschaftlicher Strukturen einzusetzen. Das dritte Mandat entsteht aus der theoretisch und ethisch begründeten Fachlichkeit der Medienpädagogik, die sich angesichts ihrer politischen Dimension und des digitalen Wandels stets weiterentwickelt.
Über eine solche Bestimmung medienpädagogischer Fachlichkeit ist es möglich, die Disziplin und Profession der Medienpädagogik als eine gesellschaftliche Akteurin und strategische Partnerin der GEW weiterzuentwickeln. Ziel ihres professionellen Handelns ist die Sicherstellung digitaler Teilhabe aller durch den souveränen und selbstbestimmten Umgang mit Medien und Partizipationsmöglichkeiten am digitalen Wandel zu eröffnen.
1Definition von Ronald Lutz unter www.socialnet.de/lexikon/Tripelmandat [Zugriff: 10.03.2023]Schorb, Bernd/Bensinger-Stolze, Anja/Schell, Fred/Dusse, Birgita/Antritter, Wolfgang (Hrsg.) (2022). Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung. München: kopaed. 208 S., 18,00 €.
Eric van der Beek: Die Rolle der Medienpädagogik im nächsten Internet
Ball, Matthew (2022). Das Metaverse. Und wie es alles revolutionieren wird. München: Vahlen. 328 S., 24,90 €.
Mit der Entwicklung neuer Technologien sind stets Projektionen über die Zukunft der Menschheit verbunden. Die gesellschaftliche Etablierung solcher Technologien folgt einer gezielten Disruptionsdynamik, die von den Tech-Konzernen ausgeht. Matthew Ball – selbst Akteur in der Tech-Branche – entwickelt in Das Metaverse seine Vorstellungen vom ‚nächsten Internet‘: eine integrierte Plattform, die alle Nutzer*innen, Angebote und Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten in einem digital-vernetzten Raum zusammenfassen und erweitern soll. Im ersten von insgesamt drei Teilen des Buches setzt sich Ball mit der Frage auseinander, was das Metaverse sein wird und was es leisten soll. Ball definiert das Metaverse hier als „massiv skaliertes und interoperables Netzwerk von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten, die synchron und dauerhaft von einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Nutzern mit einem individuellen Gefühl der Präsenz und mit einer Kontinuität der Daten wie Identität, Geschichte, Berechtigungen, Objekte, Kommunikation und Zahlungen erlebt werden können“ (S. 43). Im zweiten Teil beschäftigt sich der Autor dann mit den Problemen bei der Entwicklung dieser integrierten Plattform. Bei der Verwirklichung sieht er Videospiele als treibende Kraft, die Nutzenden schon jetzt vielfältige Erlebniswelten eröffnen. Um das Gefühl der Präsenz herzustellen, ist es wichtig, dass die Verarbeitung der Daten im globalen Internet möglichst verzögerungsfrei abläuft. Eingeschränkte Server-Ressourcen und die physikalischen Grenzen der Lichtgeschwindigkeit bei der Datenübertragung stehen dem (noch) im Weg. Um möglichst vielen Menschen einen Zugang zum Metaverse zu eröffnen, muss zudem Hardware entwickelt werden, die die Datenmenge verarbeiten und eine hohe Grafikqualität darstellen kann. Außerdem sollte sie bezahlbar sein. Die größere Herausforderung sieht Ball jedoch in der Entwicklung technischer und ökonomischer Standards. Betrachtet man die gegenwärtige Landschaft digitaler Plattformen im Netz, bestehen diese aus weitgehend getrennten Social-Media-Angeboten, Gamingwelten und Konsumplattformen. Im Metaverse soll es jedoch möglich sein, „sich als Neymar zu verkleiden, einen Baby-Yoda- oder Air-Jordan-Rucksack zu tragen, den Dreizack von Aquaman in der Hand zu halten und virtuell Stark-Industries zu erkunden“ (S. 148). Dazu müssen Standards vereinbart werden, die die Eigenschaften eines digitalen Körpers, seiner Kleidung und Accessoires und seine Interaktionsmöglichkeiten mit der Umwelt definieren. Darüber hinaus sind die Besitz- und Verwertungsrechte und deren Monetarisierung zu klären. Apple und Google blockieren diese Entwicklung als mächtige Marktteilnehmer durch die Zentralisierung von Angeboten. Im dritten Teil wendet sich Ball der Frage zu, wie das Metaverse die Gesellschaft verändern wird. In seiner Vision liegt dessen Wert im integrierten Meta-Business, in dem neben Bildung, Lifestyle und Unterhaltung auch Sexarbeit, Mode und Industrie vereint werden. Der Autor geht davon aus, dass wenige Unternehmen diesen Markt dominieren werden. Um diesen zu regulieren, fordert er Gesetze, die auf das Metaverse zugeschnitten sind. Angesichts der zunehmenden Regionalisierung des Internets durch nationalstaatliche Gesetzgebungen wird es im Metaverse wohl keine einheitlichen Regeln geben – womit das Metaverse als global integrierte Plattform eine Vision bleiben wird. Das Buch gibt einen tiefen Einblick in die ökonomische und technische Logik des kommerziellen Internets, die die Entwicklungspfade des Metaverse darstellen. Die Parallelen zur Entwicklung kommerzieller Spiele und mobiler Endgeräte helfen dabei, die Herausforderungen zu verstehen. Der Autor zeigt, wie GAFAM1 durch Marktmacht die Entstehung des Metaverse noch verhindern. Es wird deutlich, dass die Vision eines global ausgedehnten, interoperablen Netzwerks nur verwirklicht wird, wenn es gelingt, dezentrale Technologien (Stichwort Blockchain) zu etablieren und supranational zu regulieren. Balls zentrale Prämisse ist, dass das Metaverse in jeder Hinsicht durch Menschen erschaffen wird. Das gilt für die Regeln der Physik, die Verteilung virtueller Güter und die Möglichkeiten, an der Ausgestaltung dieser Welt zu partizipieren. Sollte sich dieser Raum eines Tages tatsächlich zum Lebensmittelpunkt für viele Menschen entwickeln, kommt der Medienpädagogik eine enorme Bedeutung zu. Denn das Metaverse wird in jeder Hinsicht ein hyperkommerzialisierter Raum sein, in dem die Relationen von Menschen und virtuellen Objekten einer ökonomischen Logik unterworfen sind. Es ist ein Raum, in dem sich die Gesellschaft nicht unbedingt durch demokratisch legitimierte und staatlich durchgesetzte Regeln oder universelle Menschenrechte konstituieren wird. Die Aneignung des Metaverse, die Partizipation an seiner Ausgestaltung und die Möglichkeiten, in ihm Bildungsräume zu initiieren, werden noch mehr als im Plattformkapitalismus einer radikalen Marktlogik unterworfen sein. Um die Disruptionsdynamik neuer Technologien zu überwinden ist es daher wichtig, dass wir Balls Metaverse kritisch rezipieren und die neoliberale Eigenlogik eines solchen hyperkommerzialisierten Raums schon jetzt antizipieren.
1 Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft
Eric van der Beek: Medienkompetenz: Ein Plastikwort?
Schulz, Nils Björn (2023): Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik. München: Claudius.
Die kritische Theorie hat die Medienpädagogik insbesondere in der machtkritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der Massenmedien für die Herrschaftsordnung der Nachkriegszeit geprägt. Der zentrale Stellenwert der Medienkritik in diversen Medienkompetenzmodellen belegt die Bedeutung, die die ideologiekritischen Arbeiten der Frankfurter Schule für die Medienpädagogik haben. Es zeigt sich jedoch, dass die Disziplin und Profession der Medienpädagogik stets in einem ambivalenten Verhältnis zur kritischen Theorie standen. Ihr normativ-kulturpessimistischer Duktus und die Distanz zur pädagogischen Praxis stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zum Subjektzentrismus der Medienpädagogik.
Nils B. Schulz nimmt die Fäden der kritischen Theorie in seinem Essay ‚Kritik und Verantwortung: Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik‘ auf und entwickelt einen macht- und ideologiekritischen Blick auf die Digitalisierung des Bildungssystems. Um den digitalen Wandel zu untersuchen, wendet sich Schulz – selbst Lehrer an einem Gymnasium – im Essay der Medienkritik der Frankfurter Schule zu.
Im ersten von fünf Kapiteln stellt Schulz die Frage, welche Rolle Medien bei der Konstitution von Welt- und Selbstverhältnissen im Schulunterricht haben. Er geht von der Prämisse aus, „dass junge Menschen in schulischen Lernsituationen Sachthemen am besten von älteren Menschen lernen – und zwar in leiblicher Präsenz“ (S. 19). In dieser Konstellation wird der Unterrichtsgegenstand in einer resonanten Beziehung zwischen Lehrkräften, Heranwachsenden und dem Gegenstand bearbeitet. Gerade in der produktiven und kritischen Auseinandersetzung mit Autoritäten und durch die Nicht-Anpassung könnten sich Individualität und Verantwortung bei Schüler*innen entwickeln. Den Digital Turn sieht Schulz als Teil eines umfassenden kulturellen Wandels, in dem die Leiblichkeit des Unterrichts verschwindet.
In den weiteren Kapiteln analysiert Schulz die Sprache, (digitale) Unterrichtspraktiken und den technologischen Wandel im Schulsystem. Durchaus provokant vergleicht er im zweiten Kapitel den Sprachstil der Digitalisierungsstrategie der Kultusministerkonferenz mit einer KI-gestützten Phrasenmaschine. Sprachlich produziere diese eine sich „über dreißig Seiten erstreckende Verkettung von Plastikwörtern“ (S. 41), die sich wolkiger Begriffe wie Individualisierung, Kollaboration und Innovation bedient. Im dritten Kapitel konzentriert sich Schulz auf den neoliberalen Wandel des Bildungssystems, der wesentlich durch junge und karriereorientierte Lehrkräfte vorangetrieben wird. Schulz kritisiert hier, dass die Datafizierung von Lehr- und Lernprozessen eng mit einer Ökonomisierung des Bildungssystems zusammenhängt. Zum einen werden datenbasierte Monitoring- und Evaluationssysteme etabliert, wodurch Schüler*innen zu selbstverwalteten Profil-Subjekten degradiert werden, die in eine technisch-funktionale, bildschirmvermittelte Beziehung zur Welt gestellt werden. Zum anderen schafft die Digitalindustrie mit der Entwicklung und Verbreitung von Bildungstechnologien Fakten in der Schule.
Angesichts der Machtposition der digitalen Ökonomie in der Schule und im Bildungssystem, den verarmten digitalen Weltbeziehungen und den Risiken, die mit der Nutzung digitaler Technologien einhergehen, fordert Schulz im vierten Kapitel Medienmündigkeit ein. Nach Schulz bedeutet das, „das notwendige technische Wissen zu besitzen, digitale Medien achtsam, selbstbestimmt, bewusst in kritischer Distanz und zeitsouverän zu nutzen, was eben auch einschließt, sie nicht zu nutzen“ (S. 105). Im fünften Kapitel entwirft Schulz schließlich die Grundzüge einer neoexistenzialistischen Pädagogik, in der es im Wesentlichen darum geht, eine resonante Beziehung zwischen Lehrkraft und Lerngegenstand herzustellen, Bildung als Krisenerfahrungen ernst zu nehmen und die Eigensinnigkeit von Schüler*innen und Verantwortung von Lehrkräften zu stärken. Ein solcher Unterricht nimmt auch kritisch die digitalen Transformationsprozesse in der Gesellschaft in den Blick.
Schulz zeigt, dass digitale Technologien machtvolle Instrumente zur Durchsetzung einer politisch-ökonomischen Agenda in der Schule sind. Dem Autor Fortschrittsverweigerung zu unterstellen, wird seinem Essay jedoch nicht gerecht. Vielmehr wird deutlich, dass die Gestaltung der Welt- und Selbstverhältnisse im digitalen Unterricht einem politökonomischen Paradigma unterworfen werden. In der Schule verändern sich nicht nur die technologischen Bedingungen der Lehr- und Lernsettings und die Kompetenzanforderungen. Deshalb ist es Schulz hoch anzurechnen, dass es ihm aus dem Bildungssystem heraus gelingt, die Machtverhältnisse in der digitalen Gesellschaft kritisch zu analysieren. Insofern ist sein Essay als Plädoyer dafür zu lesen, die Schule als gestaltbaren Raum für (Medien-)Bildungsprozesse von der Digitalindustrie zurückzuerobern.
Schulz zeigt, dass im digitalen Wandel der Schule ausgerechnet die Medienkompetenz – eines der Kernkonzepte der Medienpädagogik – ausgehöhlt und zu einem Plastikwort der politisch-ökonomischen Bildungsagenda wird. Das liegt auch daran, dass sich der medienpädagogische Diskurs über lange Zeit kritisch gegen allzu normative Positionen gestellt hat. Bei der Rückeroberung der Schule kann auch die Medienpädagogik einen Beitrag leisten, indem sie die Verantwortung für Medienkritik nicht lediglich als Kompetenzanforderung an Heranwachsende delegiert. Mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule kann sie sich ähnlich ideologiekritisch der digitalen Kolonialisierung der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen zuwenden.
Eric van der Beek: Zweig, Katharina (2023): Die KI war’s! Von absurd bis tödlich: die Tücken der künstlichen Intelligenz. München: Heyne. 320 S., 20,00 €.
Katharina Zweig legt ein populärwissenschaftliches Buch zur Entscheidungsfindung durch künstliche Intelligenzen vor. Die InformatikProfessorin wendet sich der Frage zu, wie algorithmische Urteilsfindung Menschen betrifft und wer die Verantwortung dafür trägt.
Im ersten Teil arbeitet Zweig zunächst die Grundlagen auf. Sie zeigt, wie Entscheidungen von Entwicker*innen die Funktionsweise von Algorithmen prägen und führt Grundbegriffe ein. Im zweiten Teil geht die Autorin dann auf die Fehler von KIs und die Betroffenen ein. Die Verantwortung sucht Zweig in einer langen Kette von Entscheidungen bei der Entwicklung von KIs. Die Entscheidungen, die KI-Systeme treffen, können jedoch nicht immer eindeutig einem Glied zugeordnet werden. Im dritten Teil des Buches geht es daher um die Frage, inwiefern KI-Entscheidungen überhaupt nachvollziehbar gemacht werden können. Mithilfe der Sprechakt-Theorie prüft Zweig, wann die Verantwortung in Entscheidungsprozessen auf eine KI übertragen werden kann. Im vierten Teil werden die Bedingungen für einen verantwortungsvollen Einsatz von KI-Systemen diskutiert.
Neben den verantwortungstheoretischen Überlegungen beeindruckt Die KI war’s durch das breite Spektrum von Anwendungsbeispielen. Hier zeigt Zweig, dass KIs für viele Menschen schon jetzt ein wesentlicher – und häufig unsichtbarer – Teil des Alltags und bei der gesellschaftlichen Teilhabe sind.
Zweig, Katharina (2023): Die KI war’s! Von absurd bis tödlich: die Tücken der künstlichen Intelligenz. München: Heyne. 320 S., 20,00 €.
Eric van der Beek: Befreit die Bildung von der Effizienz!
Kennen Sie Bernd Schorbs Monografie Einführung in die Medienpädagogik, die er im Jahr 2011 bei Springer veröffentlicht hat? Nein? Ich auch nicht. Ich fürchte, dass selbst Bernd Schorb dieses Standardwerk nicht kennt. Denn es existiert nicht. Dennoch reichte ein Student vor einigen Wochen eine Hausarbeit bei mir ein, in der er sich auf dieses Standardwerk bezog. Dort schrieb er: „Schorb (2011) definiert in seinem Grundlagenwerk drei Dimensionen der Medienkompetenz: Mediennutzung, Medienwissen und Mediengestaltung“. Eingefleischte Schorbianer*innen wissen natürlich: Inhaltlich liegt der Student daneben. Immerhin: Die Quelle war wissenschaftlich korrekt angegeben.
Der Verdacht: Der Student nutzte in der Hausarbeit offenbar KI-generierte Texte, in denen die Form des medienpädagogischen Diskurses zwar repliziert, aber der Inhalt verzerrt wird. Zweifelsfrei beweisen lässt sich dieser Verdacht jedoch nicht. Vielmehr verteidigte sich der Student: Auf die Einführung in die Medienpädagogik sei er über eine Sekundärquelle gekommen, deren Herkunft er nicht überprüft hatte. Bevor wir nun aber einstimmen in den Abgesang an die Hausarbeit als Prüfungsform und den Verlust von Wahrheit in Zeiten von generativer KI beklagen, sollten wir vielleicht eine andere Frage wagen: Ist hier womöglich die Bildungsbiografie das eigentlich zu beklagende Opfer?
Bildung ist längst einem Effizienzparadigma unterworfen. In ein Uni-Seminar, das mit drei Creditpoints angerechnet wird, sollen Studierende in der Woche vier Stunden und 30 Minuten ihrer Zeit investieren, inklusive der Besuche der Seminarsitzungen, deren Vor- und Nachbereitung und der Rezeption von Texten. Wenn ich Studierende in meinen Seminaren mit dieser Erwartung konfrontiere, ernte ich Schweigen. Für viele ist es schambehaftet, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit für daseinserhaltende Arbeit aufbringen, um ihr Studium zu finanzieren. Am Ende bleiben nur wenige Ressourcen zum Studieren übrig.
Die Entdeckung generativer KI fällt in eine Zeit multipler Krisen (Klima, Krieg, Demografie), in denen die gesamtgesellschaftlichen Ressourcen knapp erscheinen. KI-Technologien versprechen, die Produktionsverhältnisse effizienter zu machen und den Wohlstand zu sichern. Dieses Versprechen trägt nun seltsam ambivalente Blüten im Bildungsbereich: Studierende erleben einen Vertrauensverlust, weil sie in Verdacht geraten, ihre Hausarbeiten mit ChatGPT zu schreiben. Gleichzeitig werden KI-Technologien erprobt, mit denen die Bewertung jener Hausarbeiten automatisiert wird und KI-Plagiate identifiziert werden.
Bei allem Vertrauensverlust sehe ich eine Chance, die Bildungsbiografien junger Menschen wiederzubeleben: Bildung – die Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen – sollte in erster Linie ein Selbstzweck sein. So wie die Malerei durch die Fotografie von ihrer Gegenständlichkeit befreit wurde, könnten KI-Technologien die Bildung von der Effizienz befreien.
Eric van der Beek: Esposito, Elena (2024). Kommunikation mit unverständlichen Maschinen (Unruhe bewahren). Wien, Salzburg: Residenz Verlag, 96 S., 20,00 €.
Esposito, Elena (2024). Kommunikation mit unverständlichen Maschinen (Unruhe bewahren). Wien,
Salzburg: Residenz Verlag, 96 S., 20,00 €.Mit dem Launch von ChatGPT 3.5 im November 2022 hat OpenAI ein disruptives Momentum erzeugt und einen gesellschaftlichen Diskurs über das Potenzial von KI-Technologien angeschoben. Die Diskussion um generative KI ist seitdem in weiten Teilen einem technizistischen Chancen-Risiken-Dualismus unterworfen. Auch in der Medienpädagogik geht es häufig um die Frage des kompetenten Umgangs mit KI, der die Chancen des Individuums angesichts dieser technologischen Evolution sichern soll.
Was bisher kaum hinterfragt wurde: Handelt es sich bei generativer KI um eine Medientechnologie? Elena Esposito konzentriert sich in ihrem Buch auf die Interaktion mit KI-Technologien und wirft die Frage auf, wie Menschenmit Maschinen kommunizieren können, die gelernt haben, als kompetente Kommunikati-
onspartner zu agieren.Im ersten Teil verwirft Esposito zunächst den Mythos der intelligenten Maschine: „Das offensichtlichste Problem ist, dass diese Maschinen zwar intelligent erscheinen, es aber nicht
sind“ (S. 13). Von der Künstlichen Intelligenz lenkt Esposito den Fokus ihrer Ausführungen auf künstliche Kommunikation. Maschinen betrachtet sie als Teilnehmer an Kommunikationsprozessen. Den gesellschaftlichen Diskurs um generative KI vergleicht Esposito mit der Einführung der Schrift. Demnach befürchtete Platon, dass die Menschen ihre Erinnerungsfähigkeit verlieren, wenn das Memorieren der Schrift anvertraut würde. Esposito argumentiert jedoch, dass Platons Fehler darin bestand, „die Auswirkungen der Schrift zu bewerten, indem er sich auf die menschliche Intelligenz (die die Fähigkeit zu memorieren verliert) und nicht auf die Kommunikation (die es ermöglicht, viel mehr zu erinnern) bezog“ (S. 21).Die Autorin zeigt daraufhin, dass die Entwicklung generativer KI-Systeme auf zwei Innovationen beruht. Erstens die Entwicklung selbstlernender Algorithmen, die weitgehend autonom funktionieren. Die zweite Innovation sind die großen Datenmengen (Big-Data), die unter anderem im partizipativen Web entstanden sind. Die Basis generativer KI liegt nach Esposito gerade in der Einsicht, die Funktionsweise der Algorithmen nicht an Vorstellungen über menschliche Intelligenz auszurichten. Maschinen können an menschlicher Kommunikation teilnehmen, weil sie weitgehend autonom durch Big Data lernen – und sich dem menschlichen Verstehen und der Kontrolle weitgehend entziehen.
In Anlehnung an Luhmann geht Esposito schließlich davon aus, dass Kommunikation nicht von der Fähigkeit zum intelligenten Handeln und Denken abhängt. Kommunikation gelingt, wenn sie Gedanken anstößt, Informationen produziert und Anschlusskommunikation ermöglicht. Auch für Künstliche Kommunikation ist demnach entscheidend, dass sie Informationen produziert, die für die menschliche Kommunikation bedeutungsvoll werden. Esposito bilanziert, dass Algorithmen kommunizieren können, „weil sie gelernt haben, die menschliche Intelligenz eigenständig zu nutzen, obwohl sie ihn nicht verstehen“ und „den menschlichen Input in verschiedenen Phasen ihrer Prozesse parasitär nutzen, um ihr eigenes Verhalten zu strukturieren und zu steuern“ (S. 41).
Im zweiten Teil des Buches geht die Autorin der Frage nach, was sich ändert, „wenn wir nicht mehr von der Vorstellung von künstlicher Intelligenz und der Konkurrenz zwischen menschlicher Intelligenz und der Leistung von Maschinen ausgehen, sondern von der Vorstellung von Kommunikation und Partnerschaft zwischen Algorithmen und Menschen“ (S. 55). Probleme mit Künstlicher Kommunikation sieht Esposito beispielsweise dort, wo Maschinen Vorhersagen treffen, Menschen darauf angewiesen sind, die Funktionsweise von Algorithmen zu verstehen oder das Weltgeschehen durch Künstliche Kommunikation
vermittelt wird. Am Ende des Buches macht Esposito schließlich deutlich, dass die Folgen des Wandels durch generative KI wie bei der digitalen Transformation nicht vorhersehbar sind.Esposito entwickelt in ihrem Buch einen distanzierten und betont gelassenen Blick auf generative KI. Allein diese Leistung ist begrüßenswert, da der gesellschaftliche Diskurs seit der ChatGPT-Disruption gleichermaßen durch fantastische Utopien und zerstörerische Dystopien geprägt wurde. Die Rezeption von Espositos Werk fordert uns dazu auf, Distanz zu nehmen und die Dinge durch eine die analytische Brille zu betrachten.
Die Einsicht, dass generative KI „weder intelligent noch dumm“ (S. 54-55) ist und trotzdem kommuniziert, verweist auf einen Wandel der sozialisatorischen Relevanz von Medien insgesamt. Für die Medienpädagogik rückt die grundlegende Frage in den Fokus, inwiefern es sich bei den generativen KI-Technologien
überhaupt um Medien handelt. Wenn man davon ausgeht, dass Technologien wie ChatGPT
oder Stable Diffusion an Kommunikation teilnehmen, sind sie vielmehr als soziale Akteure zu betrachten. In Sozialisationsprozessen können diese Maschinen als eigenständige Instanzen analysiert werden, mit denen Individuen kommunizieren. Die medialen Eigenschaften von KI-Technologien liegen in den selbstlernenden Algorithmen begründet, die Daten verarbeiten, Informationen autonom in ihre Funktionsweise integrieren und Output generieren. Für die Medienpädagogik erscheint damit die Wechselwirkung zwischen maschinellem Lernen und individuellen Entwicklungsprozessen relevant. Inspiriert durch Espositos Ausführungen stellt sich beispielsweise die Frage, wie sich Maschinen zu kompetenten Kommunikationspartnern entwickeln können, die bedeutende Funktionen in der (Medien-)Erziehung
von Kindern und Jugendlichen übernehmen.Eric van der Beek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Lehre an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.