Prof. Dr. Hartmut von Hentig
Beiträge in merz
Hartmut von Hentig: Der technischen Zivilisation geachsen bleiben
Wir haben den Kontakt zur Jugend verloren, lassen die Erziehungsmacht schlummern und überlassen unsere Kinder ab einem gewissen Alter komplett dem Computer. Erziehung findet hier nicht statt, nur Resignation. Die meisten Eltern kennen die Spiele, die Kinder von der Schule mitbringen, überhaupt nicht. Dennoch, und gerade nach Erfurt, halten sie Computerspiele für das wahre Übel. So einfach ist das aber nicht. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Der Computer ist niemals das „Böse“, sondern nur eine gute Brille, um Missstände deutlich zu machen. Wenn die Schule Probleme hat, lässt sich das am Beispiel Computer sehr gut zeigen, und wenn Eltern und Kinder sich nicht sehr gut verstehen, dann wird das eben gerade in Sachen PC deutlich. Was aber macht eigentlich die Pädagogik? Und was bewirkt der blinde Technikeifer an den Schulen? Wo bleibt die Technologiekritik, und warum schlummert die Pädagogik den Dornröschen-Schlaf? Diese wichtigen Fragen stellt auch Hartmut von Hentig in seinem neuen Buch „Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben“.
Eigentlich sollte dieses Buch nur die aktualisierte Fassung von „Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit“ werden. Aber Hentig schrieb das Buch völlig neu, auch wenn er, wie er zugeben muss, eigentlich nichts Neues sagt. Die Erkenntnisse in seinem Buch stellen aber viele Dinge in einen Kontext, bei dem der Leser zwar nicht immer zustimmend nickt, aber dennoch zugeben muss, den einen oder anderen Sachverhalt so noch nicht gesehen zu haben. Hentig kritisiert nicht den Computer, und er muss das ganze PC-Gedöns auch nicht lieben, ihm geht es vielmehr um die Gesellschaft, die Erziehung und das Miteinander in einer hochtechnologisierten Welt.„Die Einführung der jeweils neuen Technologie“, konstatiert Hentig, “erfolgt ohne Rücksicht darauf, ob die Menschen oder Kulturen darauf vorbereitet sind, auch ohne Rücksicht auf die Verluste, die dabei eintreten.“Und er hat natürlich Recht: In allen Entwicklungen trottet die Pädagogik hinterher. Wo bleibt denn eine neue Familienpädagogik? „Ich kenne sie nicht“, gesteht Hentig. Der Autor begrüßt den Informatikunterricht an den Schulen, denn er trägt zur „Entmythisierung und Entmystifizierung der Computer“ bei. Und weiter: „Neue Medien nicht als das neue Heil verkaufen, ist sinnvoll.
Zeit gewinnen und sich gegen die Gefahren rüsten, das scheint mir geboten und möglich.“Der Grund hierfür ist klar: Kinder und Jugendliche werden am Computer alleine gelassen. Immer wieder machen wir uns vor, dass unsere Kinder „mehr“ am Computer können als wir. Aber was können sie denn wirklich? Sie chatten, mailen, surfen, downloaden, suchen sich Mogelcodes und Knackprogramme, die den Kopierschutz umgehen. Das sind, zugegeben, alles tolle Fähigkeiten, aber das brachten sie sich alles selbst bei. Weil sich kein Erwachsener die Zeit nimmt, ihnen auch andere Dinge zu zeigen. Wie eine Suchmaschine funktioniert, wie eine relevante von einer redundanten Information unterschieden wird. Mehr noch. Es fehlt Anleitung und Einordnung- eine klare Aufgabe der Erziehung.Erst wenn die Einordnung fehlt, können Scheinwelt und Realität verschwimmen. Hentig dazu: „Es sind nicht die Computer, das Internet, die Fernsehwelten, die mich beunruhigen; es ist schon eher die Verbindung, die sie miteinander eingehen; es sind vollends die korrumpierenden Visionen, zu denen sie und ihre Betreiber verführen.
Wir sind dabei, die Wirklichkeit von Grund aus umzudeuten - aus Einschaltquoten, Wachstumsraten, Arbeitsplatzbeschaffung, Marktbereinigung, Vernetzung der Individuen, Kommunikation und Information (statt Politik, Gespräch, Aufklärung, Solidarität in lebendigen Gemeinwesen) setzen wir die guten Zensuren, die Hoffnungen, die Erfolgsgeschichte unserer Epoche zusammen. Eine Lebenslüge wird daraus, wenn wir selber nicht mehr „dahinterzukommen“ vermögen, weil die Mittel der Aufklärung selber von der Mediatisierung befallen sind, selbst falsche Verhältnisse schaffen, das falsche Bewusstsein hervorbringen.“Hartmut von Hentigs Buch „Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben“ ist eine ausgezeichnete Lektüre, die mit einer großen Liebe zur deutschen Sprache den Sieg von Klarsicht und Ernüchterung gegenüber allgemeiner Ratlosigkeit zeigt. Und obwohl sich das Buch in erster Linie an Lehrer und Pädagogen wendet und lange vor Erfurt erschien, ist es hochaktuell. „Die Lehrer sollten sich in Medienkritik versuchen“, rät Hentig. „Medienkritik heißt nicht Fernsehen, Videos, Computer und Internet „schlecht machen“.“ Und das gilt eben auch für Erfurt.(Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2002, 328 S., EUR 16,00)