Prof. Dr. Dagmar Hoffmann
- Beirat
Vita
Ich bin bei merz seit 2011.
Aktivitäten
Professorin für Medien und Kommunikation an der Universität Siegen
Meine Positionen bei merz
- Mitglied des Beirats
- Schwerpunktmitherausgeberin
- Gutachterin für merzWissenschaft
Schwerpunkte
Aktuell beschäftigt mich besonders …
Derzeit beschäftige ich mich u.a. mit den Medienpraktiken verschiedener marginalisierter Akteure und Gruppen im Social Web im Hinblick auf ihre Partizipationsbestrebungen, insbesondere ihr Self-Empowerment und inklusives Kommunikationsmanagement. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen Prozesse von Selbstbemächtigung und Selbstkompetenz, die über die Infrastrukturen und Dienste des Netzes möglich werden und die unter bestimmten Voraussetzungen die Kritikfähigkeit und Handlungsautonomie der Subjekte stärken.
In einem laufenden, interdisziplinären DFG-Forschungsprojekt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“ an der Universität Siegeninteressiere ich mich zusammen mit Kollegeninnen und Kollegen aus der Rechtswissenschaft für das derivative Werkschaffen von Amateuren im Netz (vor allem Fan Fiction-Autoreninnen bzw. -Autoren), ihren Medienpraktiken, ihrer Kollaboration und Vernetzung sowie nicht zuletzt ihrem Umgang mit dem Urheberrecht. Angesichts der in den letzten Jahren gestiegenen Bedeutung kooperativen Veröffentlichens im Internet ergeben sich neue Herausforderungen für das Verständnis von digitalen Öffentlichkeiten. Damit einher gehen Fragen nach der rechtlichen Gestaltung und dem Schutz kreativer Werke (u.a. auch Mashup, Remix, Covervideos etc.).
Beiträge in merz
Mikos, Lothar/Hoffmann, Dagmar/Winter, Rainer. Mediennutzung, Identität und Identifikationen. Die Sozialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungsprozess von Jugendlichen.
Mikos, Lothar/Hoffmann, Dagmar/Winter, Rainer (2007). Mediennutzung, Identität und Identifikationen. Die Sozialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungsprozess von Jugendlichen. Weinheim: Juventa, 280 S., 24 €
Der vorliegende Sammelband geht der leider immer noch im Mainstream der Jugend- und all-gemeinen Sozialisationsforschung vernachlässigten Relevanz von Medien im Selbstfindungs- bzw. Selbstbildungsprozess von Jugendlichen nach. In der Einleitung betont das Herausgeberteam, dass die Auseinandersetzung der Heranwachsenden mit dem vielfältigen symbolischen Angebot des Medienspektrums eben nicht isoliert und gleichsam ‚asozial’ abläuft, sondern im sozialen Leben stattfindet. Zuerst geschieht dies mit einem Schwerpunkt, wie Angelika Keppler in ihrer Studie schon 1994 festgestellt hat, in der Familie. Hier werden in den Diskussionen über das Gesendete thematisch Aspekte aufgegriffen, die dann individuell angeeignet werden, um die eigene Position auszuhandeln. Im Verlauf der Ju-gend gewinnen dann die Peers zusehends Relevanz als Aushandlungsforum. Die semiotischen Ressourcen der Medien werden zudem nicht nur interpersonal verarbeitet – vielmehr gehen sie ein in produktive ,Eigenproduktionen’, die nach außen sichtbar sind: in der Reflexion über das eigene Leben, in Kleidung, Zimmereinrichtung und Frisur.
Vor dieser Folie untersucht ein weites Spektrum von Beiträgen, wie herkömmliche Identitätsvorstellungen angesichts des überbordenden aktuellen semiotischen Medienbasars problematisiert werden. So könne zum Beispiel unterstellt werden, dass die Akteure in Fernsehserien, Beziehungs- und Castingshows, Daily Talks und Reality-Shows jeweils in Abhängigkeit zu den je-weiligen lebens- oder entwicklungsgeschichtlichen Themen für jugendliche Rezipientinnen und Rezipienten entweder Chance, Verunsicherung oder gar Hindernis für eine eigenständige, authentische Identitätsbildung sind. Einen markanten, hier ausführlich dokumentierten Beitrag liefert dazu Tanja Thomas. Sie analysiert Casting-Shows mit dem Instrumentarium der von Michel Foucault inspirierten Gouvernementalitätsstudien. Die Bezüge von Jugendlichen zu den Casting-Shows mit ihrer neoliberalen Botschaft des ,Erfinde-Dich-Selbst’ lassen sich verstehen im Rahmen der sozialen Verortung der Jugendlichen, wie die Autorin anhand von Interviewauszügen zeigt.
Sara Bragg und David Buckingham liefern auf der Basis einer britischen Studie einen wichtigen Diskursbeitrag zur schwierigen Materie des Umgangs von Kindern und Jugendlichen mit Darstellungen von Beziehungen, Liebe und Sexualität. Dabei arbeiten sie sehr subtil auch die Vorteile heraus, die Jugendliche für sich in diesen Repräsentationsmodi sehen. Renate Müller und ihr Team von der PH Ludwigsburg brin-gen die aktuellen Identitätsdiskurse ins Gespräch mit Daten aus der Hardcore-Musikszene. Nachgewiesen wird, wie reflektiert und zum Teil in offensiver Absetzung vom kulturell dominierenden Marktgeschehen Bedeutungen produziert werden. Gleichzeitig wird in diesen Forschungen der Ludwigsburger Forschergruppe ganz offensichtlich, wie notwendig und sinnvoll der oftmals vorschnell ,abgewatschte’ Begriff der Selbstsozialisation ist, gerade wenn es um Kultur und Identität geht.
Der weite Reigen der Beiträge erstreckt sich zusätzlich auf die Ultras, also jugendliche Fußballfans und ihre mediale Selbstthematisierung (Jürgen Schwier), die eigene Homepage als Identitätsarbeitsplatz (Sabina Misoch) und vieles andere mehr. Instruktiv ist schließlich der Beitrag zu neuen Methoden in der Publikumsforschung von David Gauntlett. Insgesamt gesehen liegt hiermit ein wichtiger, facettenreicher Reader vor, der eine spannende sowie anregende Zwischenbilanz des Forschungsstandes bietet, die auch im Rahmen von Lehrveranstaltungen mit Gewinn eingesetzt werden kann. Zum hohen Gebrauchswert des Bandes trägt nicht zuletzt eine informative Übersicht über die Autorinnen und Autoren bei.
Michael Gurt/Dagmar Hoffmann/Karin Knop: Editorial: Bewegte Bilder in Bewegung. Potenziale und Herausforderungen neuer Formen der Bewegtbildangebote und -nutzung
„Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen.“ Das Bonmot von Gert K. Müntefering, einem der Urgesteine des (bundes-)deutschen Kinderfernsehens und Erfinder der Sendung mit der Maus, ist mittlerweile 53 Jahre alt. Wenn man dieser Prämisse heute folgt, fällt es gar nicht so leicht, die Frage zu beantworten, was Kinderfernsehen ist. Denn was Kinder „fernsehen“, ist alles andere als klar: TikTok, Instagram, YouTube, Twitch, Smart-TV, Mediatheken, VoD-Dienste, Live-Streams; die Kanäle für und die Zugänge zu Bewegtbildinhalten sind ebenso vielfältig wie die Methoden, belastbare empirische Daten über die Gesamtheit der Bewegtbildnutzung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu generieren.
War das klassische lineare Fernsehen über Jahrzehnte das Hauptmedium, wenn es um die Ansprache großer Publika ging, verändert sich nunmehr die Nutzung von Bewegtbildinhalten rasant. Insbesondere die Nachfrage nach Fernsehcontent im Netz nimmt zu und vor allem jüngere Zuschauer*innen verlagern ihren Fernsehkonsum auf neue Plattformen. Unter der Bezeichnung Bewegtbild im Netz oder Streamingangebote sind alle audiovisuellen Angebotsformen subsumiert, die im Internet zur Verfügung stehen, seien es allgemein Videos, ganze Fernsehsendungen oder Ausschnitte daraus sowie sonstige bewegte Bilder. Zunächst erlebte die Nutzung von Mediatheken der Fernsehsender einen deutlichen Anstieg, die zeitversetztes Fernsehen ermöglichten. Nach YouTube waren die Sendermediatheken die meistgenutzten Bewegtbildangebote. In den letzten zehn Jahren hat sich der Markt der Streamingangebote jedoch nochmals fundamental verändert. Die großen Player im Bereich der Bewegtbildangebote von Serien, Filmen über Dokumentationen etc. sind nunmehr YouTube, Netflix, Amazon Prime Video, Disney+ und viele weitere. Der Streamingmarkt wächst stetig und differenziert sich aktuell weiter aus.
Heute stellen sich die Nutzer*innen ihr Programm selbst zusammen. Streamingplattformen ermöglichen die gewünschte zeit- und ortsunabhängige und in der ‚Dosierung‘ selbstgewählte Form der Nutzung von Bewegtbildangeboten. Neue und zum Teil exzessive Nutzungsweisen wie das sogenannte Binge-Watching etablierten sich. Diese Nutzung wird kontrovers diskutiert, da es sich (je nach Ausgangslage und individueller Disposition der Nutzer*innen) auch um ein suchtartiges Sehverhalten handeln kann, das über ein temporäres unterhaltsames, vergnügliches Eintauchen in einen Narrationskosmos hinausgeht. Durch die Ausschöpfung von Algorithmen werden Konsument*innen direkt adressiert und wird eine individualisierte Angebotslenkung möglich.
Streaming ist demnach ein Thema, das für Kinder, Jugendliche und Erwachsene von hoher Bedeutung ist, denn alle Nutzer*innen sind in veränderten und algorithmisierten und sich dynamisch wandelnden Angebotsmärkten herausgefordert, kompetent im Bewegtbildfluss zu navigieren. Freiheit und selbstbestimmte Nutzung setzen ein hohes Maß an Eigenverantwortung und reflektierter, bewusster Nutzungsweisen voraus, um positive Rezeptionserfahrungen zu machen.
Insbesondere Kinder und Jugendliche sehen heute gänzlich anders fern, was Eltern vor neue Herausforderungen stellt, da sie sich nicht mehr auf die Klassifikation ‚Kinderfernsehen‘ der Sender verlassen können, sondern den von ihren Kindern gewählten Content einschätzen lernen müssen. Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Ausgabe multiperspektivisch, das heißt medienhistorisch, -ökonomisch, angebots- bzw. inhaltsseitig als auch rezeptionsseitig dem Thema Streaming. Bereitgestellt und aufgearbeitet werden einige Basisinformationen über den Wandel im Bewegtbildangebot. Weiterhin werden die Herausforderungen für die medienpädagogische Praxis mit Bezug auf die veränderten Nutzungsweisen der Streamingangebote kritisch beleuchtet.
Der Medien- und Fernsehwissenschaftler Christian Richter befasst sich in seinem Beitrag zunächst mit den Mechanismen und der Wirkmacht der logarithmischen Interfaces von Netflix und ähnlichen VoD-Anbietern. Seine zentrale These lautet, dass die Benutzeroberfläche solcher Dienste so gestaltet ist und darauf abzielt, eine maximale Verweildauer der Nutzer*innen zu gewährleisten. Dazu beschreibt er fünf Methoden, mithilfe derer dieses Ziel erreicht werden soll: Räumliche Visualisierung, Ästhetik des Überangebots, nahtlose Fortsetzung, Mehr-vom-Gleichen-Logik und algorithmische Aggregation. Richter stellt in seinem Beitrag heraus, wie VoD-Dienste wie Netflix eine Nähe zum Fernsehen aufweisen und Strukturen, Ästhetiken und Mechanismen reproduziert werden, die bereits aus dem Fernsehen bekannt sind. Für ihn sind Streamingdienste exemplarische Anschauungsobjekte, deren Mechanismen und Funktionsweisen in der medienpädagogischen Arbeit hinterfragt werden sollten. Sie lassen sich nämlich auf andere Umgebungen übertragen, so dass sich für die Nutzer*innen ähnliche Herausforderungen aufgrund der algorithmischen Aggregation von individualisierten Oberflächen und Auswahlangeboten ergeben, die man auch von der Anwendung von Suchmaschinen oder von sozialen Netzwerken her kennt.
Birgit Guth, Leiterin der Forschungsabteilung Insights & Analytic Kids bei RTL Data, erörtert dann datenbasiert den Wandel der Nutzungsgewohnheiten der Zielgruppe der Kinder. Demzufolge nimmt die Nutzung des linearen Kinderfernsehens in den letzten Jahren kontinuierlich ab. Die zunehmende Konkurrenz durch VoD-Anbieter, aber auch Social-Media-Anwendungen, die Bewegtbildinhalte aller Art Kindern und Jugendlichen anbieten, machen nicht nur die medienpädagogische Begleitung komplizierter, sondern auch die Erfassung des Nutzungsverhaltens, insbesondere die Reichweitenmessung, die die Mediatheken der TV-Sender bislang unberücksichtigt ließ. Neben der Entwicklung des Kinderfernsehmarktes werden die Motive und Bedürfnissen, die der Bewegtbildnutzung von Kindern zugrunde liegen, beleuchtet. Hier zeigt sich, dass die Veränderungen der Struktur von Angeboten und Medienlandschaft wenig an den grundlegenden Bedürfnissen junger Zielgruppen ändert: dem Bedürfnis nach Unterhaltung, aber auch Orientierung in lebensweltlich relevanten Kontexten.
Der Elternratgeber FLIMMO informiert seit 1997 Eltern über TV-Inhalte und altersgerechte Filmangebote für Kinder und Preteens im Alter zwischen 3 und 13 Jahren. Der Projektleiter Michael Gurt und die mitverantwortliche Redakteurin Nadine Kloos berichten im Gespräch, wie der Elternratgeber nunmehr auch das Programm von Mediatheken und Streaming-Plattformen aufgreift und dezidierte Empfehlungen dazu gibt. Erklärt wird, wie aus pädagogischer Sicht auf die zunehmende Nutzung von Streamingdiensten zu reagieren ist und welcher Aufklärungsbedarf besteht. Deutlich wird, dass Streamingangebote, vor allem YouTube, selbstverständlicher Bestandteil des Medienalltags von Kindern sind und diese oftmals eigenständig darauf zugreifen können, was aus jugendschutzrechtlicher Perspektive problematisch ist. Weiterhin gehen die Medienpädagog*innen auf die verschiedenen Umgangsweisen mit Streaming in den Familien ein, die teilweise an der Nutzungszeit festgemacht wird, zuweilen aber situativ und anlassbezogen ausgehandelt wird. Eltern sind oftmals überfordert, sich mit den jeweiligen Nutzungsbedingungen der Streaminganbieter sowie den Sicherheitseinstellungen auseinanderzusetzen.
Der Medien- und Filmwissenschaftler Florian Kraus befasst sich mit der Entwicklung öffentlich-rechtlicher Formate hin zum Streaming – wie zum Beispiel in Form des Online-Content-Netzwerks funk. Diese Entwicklung wird am Beispiel der Webserie ECHT nachvollzogen, indem Strategien bei der Entwicklung von Ästhetik und Produktion in den Blick genommen werden. Grundlage liefern drei Expert*innen Interviews. Zielgruppe der Serie ECHT ist die eng begrenzte Altersgruppe der Preteens. Die Erzählweise ist horizontal, also über mehrere Folgen hinweg durchzogen von Perspektivwechseln. Wesentliche inhaltliche Strategie stellen der Fokus auf Diversität und den Einbezug relevanter Communities in der Serie dar, sowie das Ziel größtmöglicher Authentizität in der Darstellung der Lebenswelt jugendlicher Protagonist*innen. In der Produktion wurde vor allem auf intensive Recherche samt Einzelinterviews mit Preteens und ein glaubwürdiges Setting Wert gelegt. Auch beim Testscreening ging die Produktion neue Wege, indem den Kinderdarsteller*innen einzelnen Szenen oder Folgen vorab gezeigt wurden und deren Reaktionen in die Stoffentwicklung weiterer Folgen eingeflossen sind. Ein weiterer wichtiger Feedback-Kanal waren die Kommentare zur YouTube-Ausstrahlung der Serie. YouTube stellt insgesamt einen wichtigen Distributionskanal für das funk-Netzwerk dar, wobei ECHT auch linear im KiKA ausgestrahlt wird. Die Koppelung von Streaming auf YouTube und in Social-Media-Kontexten mit den Angeboten des öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehens wird vom Autor vor allem in Bezug auf die Zielgruppe der Preteens als tragfähiges Konzept skizziert.
Die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Karin Knop widmet sich dem Rezeptionsmodus Binge-Watching, was die exzessive Nutzung von (seriellen) Bewegtbildangeboten innerhalb einer Zeiteinheit im Sinne eines Serienmarathon meint. Auf Basis des Forschungsstandes zu Motiven, Rezeptionsmodalitäten und Wirkungen dieser veränderten Nutzungsmöglichkeiten durch Streamingangebote verdeutlicht sie das Spannungsverhältnis aus autonomer, selbstbestimmter zeitversetzter Nutzung von Bewegtbildangeboten zwischen genussvoll vertieftem exzessivem Rezeptionsvergnügen und dem Risiko der unregulierten problematischen bis suchtartigen Nutzung mit (subjektiv empfundenen) potentiell negativen Nachwirkungen. Die Autorin zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen Zuschauer*innen diesen neuen Rezeptionsmodus für sich individuell und sozial zuträglich funktional und lustvoll ausgestalten und worin die derzeitigen großen Herausforderungen für heranwachsende aber auch erwachsene Bewegtbildnutzer*innen bestehen. Achtsamkeit und Selbstregulationsfähigkeit werden in ihrer Bedeutung für die reflektierte und bewusste Nutzung herausgestellt und ein Differenzierungsvorschlag entlang von relevanten Dimensionen für das medienpädagogische Reflexionsgespräch gemacht.
Schließlich reflektieren Lars Gräser, Grimme Institut, und Markus Gerstmann, Medienpädagoge beim ServiceBureau Jugendinformation in Bremen, den Wandel des Zugangs zu Bewegtbildinhalten, allerdings fokussiert auf die Zielgruppe der Jugendlichen. Sie gehen der Frage nach, was und wie Jugendliche streamen und welche Zugänge zu VoD-Anbietern sie nutzen. Grundlage ist unter anderem eine Befragung von 47 jungen Menschen des ServiceBureau Jugendinformation, die unter Gästen der Bremer Jugendzentren durchgeführt wurde. Ausgehend von der These, dass Streamingangebote Aufmerksamkeit erzeugen (müssen), analysieren sie die interaktive Komponente von aktuellen populären Serien, Games oder Musikproduktionen einerseits und der Kommentierung und Verbreitung über Social-Media andererseits. Hier sehen die Autoren Parallelen zwischen aktuellen Diensten wie Twitch oder YouTube und älteren Vorläufern wie MySpace. Weiterhin stellen die Autoren das Potenzial heraus, das sich aus der pädagogischen Auseinandersetzung mit den Vorlieben und Praktiken jugendlicher Streaming-Nutzung ergibt, etwa im Hinblick auf die Bearbeitung identitätsbezogener Entwicklungsaufgaben und die Reflexion gesellschaftspolitischer Fragen. Anknüpfend an diese Überlegungen werden medienpraktische Methoden beschrieben, die dieses Potenzial im schulischen Kontext nutzbar machen sollen.
Nicht zuletzt möchten wir mit diesem Titelthema Akteur*innen in verschiedenen (medienpädagogischen) Handlungsfeldern grundlegende Informationen und Reflexionsimpulse zu aktuellen Entwicklungen im Streamingbereich geben, damit diese für sich selbst oder im medienpädagogischen Kontext nutzbar gemacht werden können. Denn das eigene Medienhandeln bewusst(er) erleben, beschreiben, reflektieren und problematisieren zu können und andere hierbei zu unterstützen, kann zu Gelingensbedingungen kompetenter Streamingnutzung beizutragen und eine Auseinandersetzung anregen, wie autonome, selbstbestimmte Rezeption unter den Voraussetzungen aktueller Angebotsstrukturen gelingen kann.
Überblickswerke
Chalaby, J. (2023). Television in the Streaming Era. The Global Shift. Cambridge University Press.
Jenner, M. (2021). Binge-Watching and Contemporary Television Research. Edinburgh University Press.
Schütte, O. (2919). Die Netflix-Revolution: Wie Streaming unser Leben verändert. Midas.
Dagmar Hoffmann: Digitaler Alltag, Datenpraktiken und Subjektautonomie
Im Beitrag werden einige Überlegungen zum Verständnis und den Folgen digitaler Praktiken im Alltag sowie zur gesellschaftlichen Rahmung von Digitalisierung vorgestellt. Es werden selektiv Herausforderungen identifiziert, die Menschen im alltäglichen Umgang mit digitalen Technologien zu bewältigen haben. Ihre Datenpraktiken sind oftmals kaum kontrollierbar, was wiederum die Subjektautonomie beeinträchtigen kann.
Literatur
Barnes, Susan B. (2006). A privacy paradox: Social networking in the United States. In: First Monday, (11) 9 . DOI: 10.5210/
fm.v11i9.1394.Block, Katharina/Dickel, Sascha (2020). Jenseits der Autonomie: Die De/ Problematisierung des Subjekts in Zeiten der Digitalisierung. In: BEHEMOTH – A Journal on Civilisation, 13 (1), S. 109–131. DOI: 10.6094/behemoth.2020.13.1.1040.
Burkhardt, Marcus/van Geenen, Daniela/Gerlitz, Carolin/Hind, Sam/Kaerlein, Timo/Lämmerhirt, Danny/Volmar, Axel (2022). Introduction. In: Burkhardt, Marcus/van Geenen, Daniela/Gerlitz, Carolin/Hind, Sam/Kaerlein, Timo/Lämmerhirt, Danny/Volmar, Axel (Hrsg.), Interrogating Datafication. Towards a Praxeology of Data. Bielefeld: transcript, S. 9–36.
Dander, Valentin (2014). Von der ‚Macht der Daten‘ zur ‚Gemachtheit von Daten‘. Praktische Datenkritik als Gegenstand der Medienpädagogik. In: Mediale Kontrolle unter Beobachtung, 3 (1), S. 1–21. DOI: 10.25969/mediarep/13783.
Ganz, Kathrin (2018). Die Netzbewegung. Subjektpositionen im politischen Diskurs der digitalen Gesellschaft. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich.
Gapski, Harald/Packard, Stephan (Hrsg.) (2021). Super-Scoring? Datengetriebene Sozialtechnologien als neue Bildungsherausforderung. München: kopaed.
Habscheid, Stephan/Hector, Tim M./Hrncal, Christine/Waldecker, David (2021). Intelligente Persönliche Assistenten (IPA) mit Voice User Interfaces (VUI) als ‚Beteiligte‘ in häuslicher Alltagsinteraktion. Welchen Aufschluss geben die Protokolldaten der Assistenzsysteme? In: Journal für Medienlinguistik, 4 (1), S. 16–53. DOI: 10.21248/jfml.2021.44.
Hoffmann, Dagmar/Sūna. Laura (2022). Von Datenspuren und Datenbewusstsein im Alltag – Zum Verständnis von Medien- und Datenpraktiken. JFF – Jugend Film Fernsehen e.V. https://digid.jff.de/magazin/daten/datenbewusstsein-datenpraktiken [Zugriff: 03.01.2023]
Knorre, Susanne/Müller-Peters, Horst/Wagner, Fred (2020). Die Big-Data-Debatte. Chancen und Risiken der digital vernetzten Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.
Lyon, David (2001). Surveillance society: Monitoring Everyday Life. Buckingham: Open University Press.
Missomelius, Petra (2022). Bildung – Medien – Mensch. Mündigkeit im Digitalen. Göttingen: V&R unipress.
Nassehi, Armin (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck.
PricewaterhouseCoopers (PwC) (2019). Ergebnisse: Bevölkerungsbefragung zu personalisierter Werbung. Frankfurt am Main. www.pwc.de/de/technologie-medien-und-telekommunikation/bevoelkerungsbefragung-personalisierte-werbung.pdf [Zugriff: 03.01.2023]
Gespräch mit Klaus Hurrelmann: Polarisierung der Gesellschaft. Wie kann das politische Engagement Jugendlicher gefördert werden?
Wie gehen Jugendliche mit der Herausforderung gleichzeitiger Krisen um? Was benötigen sie an Unterstützung im familiären Umfeld, in der Schule, in der Gesellschaft? Und welche Rolle können Medienpädagogik und politische Bildung dabei spielen? Diesen und weiteren Fragen gehen Klaus Hurrelmann und Dagmar Hoffmann in ihrem Gespräch nach.
Weiterführende Literatur
Albert, Mathias/Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus/Schneekloth, Ulrich/Leven, Ingo/Wolfert, Sabine (2019). 18. Shell Jugendstudie. Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. Weinheim/Basel: Beltz.
Fichtner, Sarah/Bittner, Martin/Bayreuther, Tamara/Kühn, Vanessa/Hurrelmann, Klaus/Dohmen, Dieter (2022). „Schule zukunftsfähig machen“ – Cornelsen Schulleitungsstudie 2022. Berlin: Cornelsen.
Ravens-Sieberer, Ulrike/Kaman, Anne/Devine, Janine/Löffler, Constanze/Reiß, Franziska/Napp, Ann-Kathrin/Gilbert, Martha/Naderi, Hila/Hurrelmann, Klaus/Schlack, Robert/Hölling, Heike/Erhart, Michael (2022). Seelische Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Kindern und Eltern während der COVID-19-Pandemie. Ergebnisse der COPSY-Längsschnittstudie [The mental health and health-related behavior of children and parents during the COVID-19 pandemic: findings of the longitudinal COPSY study]. In: Deutsches Ärzteblatt International, 119 (25), S. 436–437. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0173.
Kathrin Demmler/Dagmar Hoffmann/Georg Materna: Editorial: Medienpädagogik und politische Bildung. Gemeinsam gegen Polarisierung und Desinformation
Handlungsorientierte Medienpädagogik wurde von ihren Vertreter*innen immer auch als Teil politischer Bildungsarbeit verstanden. Ihre Ziele bestehen darin, Kinder und Jugendliche zur kritischen Reflexion medialer Inhalte zu befähigen und ihnen Wege aufzuzeigen, sich mithilfe von Medien selbst in die Gesellschaft einzubringen. Diese Ziele bleiben aktuell. Sie umzusetzen wird aber durch die tiefgreifende Mediatisierung unserer Gesellschaft vor neue Herausforderung gestellt. Dazu gehört auch der pädagogische Umgang mit Sozialen Medien. Dienstleister wie YouTube, Instagram oder Twitter sind in den letzten Jahren zu einem wichtigen Teil politischer Öffentlichkeiten geworden.
Kaum eine Krise wird in ihrer Dynamik nicht mit ihnen verbunden. Es geht um Desinformationskampagnen und Trollfabriken, um Radikalisierungsdynamiken oder extremistische Inhalte. Im Ergebnis richtet sich der Blick zunehmend auf die politischen Ränder. Es fühlt sich so an, als ob die Polarisierung der Gesellschaft immer mehr zunimmt. Dieses Thema wollen wir aufgreifen, denn es lässt sich an ihm zeigen, was politische Bildung und Medienpädagogik voneinander lernen und wie sie in Forschung und Praxis zusammenarbeiten können.
Damit bezieht sich diese Ausgabe auch auf das Positionspapier Politische Medienbildung der Landeszentralen und Bundeszentrale für politische Bildung. Die Fokussierung der politischen Bildung auf die Arbeit mit, über und durch Medien ist nicht neu, bekommt aber durch den Begriff ‚politische Medienbildung‘ eine erweiterte Dimension. Politische Bildung rückt damit eng an die handlungsorientierte Medienpädagogik, sucht möglicherweise den Schulterschluss. Wie die großen gesellschaftlichen Herausforderungen gemeinsam pädagogisch in den Blick genommen werden können, steht im Zentrum dieses Themenschwerpunkts.
Sabine Achour führt aus politikwissenschaftlicher Sicht in das Thema ein. Dafür setzt sie sich kritisch mit der Idee auseinander, dass die Gesellschaft durch Polarisierung in zwei Teile zerfallen könnte. Sie kann anhand von Daten zeigen, dass eine Zweiteilung für Deutschland aktuell nicht zu beobachten ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung bekennt sich zur Demokratie. Problematische Einstellungen gibt es vor allem bei Bürger*innen im rechtsextremen Spektrum. Wichtig ist deswegen, politische Bildungsarbeit besonders in Bezug auf Zielgruppen zu stärken, die demokratische Werte verstärkt abzulehnen scheinen. Denn Erhebungen aus dem schulischen Kontext zeigen, dass dadurch demokratische Einstellungen und Teilhabe gefördert werden können.
Dass die politische Medienbildung in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, das betont Thomas Krüger im Gespräch mit Bernd Schorb. Ausdruck dafür ist das eingangs genannte Positionspapier der Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung. Schorb und Krüger sprechen darüber, was das für die Zusammenarbeit beider Professionen bedeutet und welche außerschulischen Zielgruppen für die politische Medienarbeit zunehmend wichtiger werden.
Über Krisen spricht auch Dagmar Hoffmann mit Klaus Hurrelmann, allerdings mit einem besonderen Blick auf ihre Auswirkungen auf die junge Generation. Die letzten Jahre waren geprägt von sich überlappenden Krisen: Klimakrise, Coronakrise, Krieg in der Ukraine. Hurrelmann zeichnet insgesamt ein mutmachendes Bild der Jugend, differenziert es aber so weit, dass für bestimmte Jugendliche besondere Unterstützungsbedarfe erkennbar sind. Er erläutert, wie Schule und Eltern hierauf reagieren können und welche Rolle medienpädagogische Ansätze dabei spielen. Stichwort medienpädagogische Ansätze: Über das Heft verteilt finden sich Steckbriefe von Praxisprojekten, die im Bereich politischer Medienbildung gegen Polarisierung arbeiten. Die Projekte setzen sich mit Diskriminierung durch Künstliche Intelligenz (KI and ME) oder Cybermobbing auseinander (Abenteuer mit Sam). Vorgestellt wird ein Planspiel, in dem filmische Reflexionen darüber entstehen, wie ‚das‘ politische System unser Zusammenleben prägt (Parlamensch). Auch werden mit Truthellers ... Trust me, if you can?! und Don’t stop motion zwei aktuelle Dieter Baacke-Preisträger-Projekte vorgestellt.
Was politische Bildungsarbeit gegen Polarisierung außerdem im Detail ausmacht, darüber gibt es in dieser Ausgabe zwei Beiträge: Silke Baer stellt fest, dass für die Arbeit zu kontroversen Themen der Zugang über lebensweltnahe Medienbeispiele immer wichtiger wird. Diese dienen zum Beispiel als Gesprächsanlässe für narrative Formate. Außerdem argumentiert Baer dafür, Techniken aus der Mediation für die pädagogische Arbeit zu sehr kontroversen Themen zu entlehnen. Diese können helfen, dass Fachkräfte auch in normativ sehr umkämpften Bereichen mehr Handlungssicherheit gewinnen. In eine ähnliche Richtung, stärker strukturell fokussiert, argumentieren Seyran Bostancı und Özgür Özvatan. Sie gebenEinblicke in die Forschung zu den narrativenStrukturen gesellschaftspolitischer Debatten.Ihr Argument ist, dass postmigrantische Aushandlungsprozesse narrative Strukturen brauchen, die mit der klassischen Heroisierung undRomantisierung politischer Fragestellungenauf nationaler Ebene brechen. Das betrifft sowohl die von Politiker*innen entwickelten Problembeschreibungen als auch die mediale Berichterstattung. Demokratieförderlicher sindstattdessen politische Diskurse, die der Fehlbarkeit und Kontingenz politischer Entscheidungen gerecht werden und damit eher demdynamischen Charakter gegenwärtiger Demokratien entsprechen.
Komplettiert wird die Ausgabe durch zwei medienpädagogische Beiträge: Dagmar Hoffmann widmet sich dem Umgang mit Algorithmen und Big Data. Sie beschreibt, wie der digitale Wandel den Alltag umgestaltet, ohne dass er von den Nutzer*innen selbst als massive Transformation wahrgenommen wird. Hoffmann stellt dar, wie die Konsequenzen und Problematiken des eigenen Medienhandelns vor allem auf der Subjektebene verhandelt und weniger als gesellschaftspolitische Aufgabenstellung verstanden werden. Hier anzusetzen ist eine wichtige Aufgabe politischer Medienbildung.
Georg Materna, dessen Beitrag ergänzend frei zugänglich auf merz-zeitschrift.de erscheint, geht ebenfalls auf alltägliches Medienhandeln ein. Er wirft einen Blick auf das Informationsverhalten Jugendlicher, für das Soziale Medien eine wichtige Rolle spielt. Er argumentiert, dass die medienpädagogischen Herausforderungen in Bezug auf das Informationsverhalten Jugendlicher weniger Filterblasen sind, sondern eher der Umgang mit der Diversität der Kanäle und Inhalte, die junge Menschen nutzen, um sich zu orientieren. Medienpädagogische Arbeit sollte deswegen verstärkt dazu arbeiten, Informationsroutinen und Kriterien zur Bewertung von Information bewusst zu machen und zu verhandeln.
Kathrin Englert/Dagmar Hoffmann/David Waldecker: „Tut mir leid, ich verstehe nicht ganz“. Smart Speaker als vermeintliche Gesprächspartner*innen
Smart Homes sind vernetzte Systeme in Wohnräumen, die Effizienz und Bequemlichkeit im Alltag versprechen. Kommuniziert werden kann mit den Systemen über Sprachassistenten, die versuchen auf Fragen zu antworten, auf Befehle zu reagieren und für Unterhaltung zu sorgen. Gleichwohl verläuft die Kommunikation und Interaktion mit den Geräten nicht störungsfrei und mitunter weniger responsiv als intendiert, müssen die Nutzer*innen ihren Sprachduktus der Technologie anpassen und sich ihr unterwerfen. Berichtet werden ausgewählte Befunde aus aktuellen Studien und aus einem laufenden Forschungsprojekt, in dem Nutzer*innen Auskünfte über das Sprachverständnis und die Dialog(un)fähigkeit der Geräte geben.
Literatur
Bitkom e.V. (2021). Die Zukunft der Consumer Technology – 2021. Marktentwicklung & Mediennutzung, Trends & Technologien. Berlin. www.bitkom.org/sites/default/files/2021-09/210817_ct_studie_2021.pdf [Zugriff: 18.03.2022]
Groeben, Norbert/Scheele, Brigitte (2010). Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. In: Mey, Günter/Mruck, Katja (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 151–165.
Habscheid, Stephan/Hector, Tim/Hrncal, Christine/Waldecker, David (2021). Intelligente Persönliche Assistenten (IPA) mit Voice User Interfaces (VUI) als ‚Beteiligte‘ in häuslicher Alltagsinteraktion. Welchen Aufschluss geben die Protokolldaten der Assistenzsysteme? In: Journal für Medienlinguistik, 4 (1), S. 16–53. DOI: 10.21248/jfml.2021.44.
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Lotze, Netaya (2016). Chatbots – Eine linguistische Analyse. In: Runkehl, Jens/Schlobinski, Peter/Siever, Torsten (Hrsg.), Sprache – Medien – Innovationen. Berlin: Peter Lang.
Lotze, Netaya (2020). Künstliche Intelligenz im Dialog – Ein methodologisches Konzept zur Analyse von Mensch-Maschine-Interaktion. In: Marx, Konstanze/Lobin, Henning/Schmidt, Axel (Hrsg.), Deutsch in Sozialen Medien. Interaktiv – multimodal – vielfältig. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 363–368.
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Pieraccini, Roberto (2012). The Voice in the Machine. Building Computers that Understand Speech. Cambridge, London: MIT Press.
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Woods, Heather Suzanne (2018). Asking more of Siri and Alexa: feminine persona in service of surveillance capitalism. In: Critical Studies in Media Communication, 35 (4), S. 334–349.
Wolfgang Reißmann/Dagmar Hoffmann/Angelika Beranek: Editorial: Sexualität und Medien
Spätestens seit den 1980er Jahren haben sich Medienpädagog*innen mit sexualbezogenen Vorbildern und Orientierungen auseinandergesetzt, die von Filmen, Serien, Musikvideoclips oder Werbung ausgehen. Auch damals standen schon Aneignungs- und Wirkungsfragen im Mittelpunkt. Später wurden dann die neuen Möglichkeiten des Internets, Sexualität auszuleben und auszuprobieren und damit einhergehend erste Ansätze der Internetpornografie diskutiert.
Seit Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts sind Datingplattformen, Castingshows oder Porno Rap bewegende Themen. Hinzu kommen Debatten über Sexting und sexualisierte (Self) Celebrification in Plattformen. Deutlich gestiegen ist zudem die Aufmerksamkeit für Menschen mit sexuellen Identitäten, die über die binäre und heteronormative Geschlechtermatrix hinausgehen.
All diese Themen haben auch im Jahr 2021 ihre Aktualität nicht verloren. Gemeinsam mit weiteren Entwicklungen wie der 2017 entstandenen #MeToo-Bewegung und der intensivierten Mediendiskurse über sexualisierte Gewalt (unter anderem in Medienbranche und Kirche) formen sie das weite Themenspektrum, in dem das Thema ‚Sexualität und Medien‘ heute zu behandeln ist.
Jugendliche eignen sich die medialen Bilder und Diskurse über Sexualität ihrer Zeit – das ist die Konstante – aktiv an und entnehmen ihnen Anregungen und Orientierungen für die Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben. Sie identifizieren sich, sie grenzen sich ab, sie entwickeln Haltungen. Die sie umgebende Medienökologie und deren Struktur prägen sie. Mit ihrer eigenen Kommunikation und Selbstpräsentation gestalten sie diese Umgebung aber auch mit. Wer in welchem Alter mit welchen Inhalten und Ästhetiken in Berührung kommt und diese wie verarbeitet oder selbst produziert, lässt sich immer weniger auf einen Nenner bringen. Nutzungsmuster sind divers und es kann nicht von ‚der Jugend‘ oder ‚den Erwachsenen‘ gesprochen werden.
Die öffentlichen Debatten um das Verhältnis von Sexualität und Medien – auch das eine Konstante – werden hingegen zumeist von ihrem negativen Ende aus geführt. Früher wie heute stehen die vermeintlichen oder tatsächlichen Entwicklungsbeeinträchtigungen im Mittelpunkt, die von den digitalen Medienangeboten wie aktuell etwa Onlyfans oder Fernsehformaten wie ‚Naked Attraction‘ (RTL2) ausgehen (können).
Bei der Ausarbeitung des vorliegenden Schwerpunkts leiteten uns zwei Grundsätze:
Zum einen wollten wir ganz bewusst kein Pornografieheft gestalten. Zu oft wird das Thema ‚Sexualität und Medien‘ auf dieses Phänomen reduziert. Das Gleiche gilt für die einseitige Betonung von Risiken. Wohl aber interessierten uns die Grenzbereiche. Sexting etwa beschäftigt Medienpädagogik sowie Jugend- und Sozialarbeit weiterhin, es gehört in dieses Heft. Zudem ist sexualisierte und mithin pornografienahe Ästhetik Teil medialer Alltagskultur. Musikstars und Celebrities wie Katja Krasavice haben damit großen Erfolg. Diese Bezüge sollten aus verschiedenen disziplinären Perspektiven beleuchtet und kritisch reflektiert werden.
Zum anderen standen wir vor der Herausforderung, der Vielfalt des Themas gerecht zu werden. Die Themenliste oben zeigt an, was alles in dieser merz hätte ‚drin‘ sein können. Die hier versammelten Artikel stehen in einem doppelten Sinn stellvertretend für diese Vielfalt. Einerseits verweisen sie auf die mediale Vielfalt: von technisch-medialem Sexspielzeug, über Serienformate, bis hin zu Plattformen wie Instagram und YouTube sowie medialem Storytelling. Andererseits stehen die Artikel für thematische Schwerpunktsetzungen. Sie bearbeiten ganz konkrete Gegenstände, die jedoch allesamt für größere Felder und Fragen stehen, die hier nur angedeutet werden können. Im Laufe der Erarbeitung des Heftes ergab sich ein nicht intendierter Fokus auf die Zielgruppe der Jugendlichen, der in den meisten Beiträgen zu finden ist. Natürlich ist das Themenfeld eigentlich weiter zu sehen, da Sexualität kein exklusives Jugendthema ist.
Nadine Beck beschäftigt sich als Kulturwissenschaftlerin und -historikerin mit der Geschichte des Vibrators. Ihr Artikel steht stellvertretend sowohl für das Feld der Autoerotik als auch den Zusammenhang von Technik/‚Werkzeugen‘, Intimität und Medien, die unter digitalen Bedingungen weiter zusammenwachsen. Beleuchtet werden verschiedene Verwendungszwecke der Vibratoren in ihrer Frühzeit, ihre Tabuisierung und Etablierung durch Ratgeberliteratur, Sexspielzeugversandshops und auch das zunehmende Verlangen nach sexueller Selbstbestimmung. Die Autorin beschäftigt sich mit der Werbung und gesellschaftlichen Akzeptanz von Vibratoren sowie dem Design und der Technik, welche sich in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Wenngleich Beck historisch arbeitet, ist das bearbeitete Sujet ein Zukunftsthema. Heute ist nicht abzuschätzen, inwiefern VR-Brillen, Sensortechnik und taktile Technologien die Auto-, Paar- oder auch Gruppensexualität verändern und wie weit sie gegebenenfalls unter jungen Erwachsenen verbreitet sein werden.
Ganz nah an der medialen Gegenwart ist Moritz Stocks Analyse der viel besprochenen, äußerst erfolgreichen Netflix-Serie ‚Sex Education‘. Der Soziologe legt dar, wie die Serie vielfältige Erscheinungsformen jugendlicher Sexualität und zugehörige Probleme sichtbar macht. Es gelingt ihr auf humorvolle Weise Möglichkeiten zeitgemäßer Sexualaufklärung zu reflektieren, aber dennoch stets die Belange junger Menschen ernst zu nehmen. Gewissermaßen agiert sie insofern selbst als sexualpädagogische Akteurin und kann Jugendlichen eine Hilfe sein bei der Bearbeitung eigener sexual- und geschlechtsbezogener Entwicklungsthemen und vor allem bei der Konstruktion einer sexuellen Identität. Auch Stocks Beitrag verstehen wir als exemplarische Analyse. Sie steht für die Vielfalt an medialen Formen und Formaten, über die Jugendlichen sexuelle Bildung heute vermittelt wird.
Um sexuelle Bildung geht es auch im Beitrag von Lee Jansen. Ausgangspunkt ist die Diagnose, dass die schulische Sexualbildung die Lebenslagen und Fragen queerer Jugendlicher bislang nur unzureichend berücksichtigt. Peer-to-peer-Projekte suchen diese Schwäche des Bildungssystems auszugleichen. Sie fungieren als Anlaufstellen und Beratungsinstanzen für queere Jugendliche ebenso wie für Menschen, die sich über queere Sexualität und Identitäten informieren möchten. Jansen entfaltet ein Verständnis, wie queere Sexualaufklärung aussehen sollte und bespricht exemplarisch Instagram-Accounts verschiedener Projekte. Ein Zwiespalt der hier geleisteten Medienarbeit besteht in den Potenzialen der semi-öffentlichen Accounts, niederschwellig queere Jugendliche anzusprechen, und zugleich Zielscheibe für queerphobe Angriffe zu sein. Was für sexuelle Bildung immer gilt, gilt hier insbesondere: es braucht ‚safe spaces‘, in denen sich die Jugendlichen sicher fühlen.
Der Beitrag von Christina Witz widmet sich dem Phänomen Sexting. Nach den aufgeregten Debatten der letzten Jahre, wird Sexting nun wesentlich differenzierter gesehen. Hierbei stehen zwei Kernbotschaften im Mittelpunkt, die für Präventions- und Interventionsangebote zentral sind: Weg von der Opfer- zur Täteradressierung und eine Betrachtung der Rolle der Genderstereotype. Anhand des Beitrags können Pädagog*innen und Eltern gut nachvollziehen, wann Sexting unbedenklich ist, und wo und wann Missbrauch ins Spiel kommt. Auch dieser Beitrag steht stellvertretend für ein größeres Feld, in diesem Fall die mediatisierte Beziehungs- und Intimkommunikation. Anstatt Sexting vorschnell als unbedachtes und bloß riskantes Verhalten zu brandmarken, wird es hier – ohne Folgeprobleme auszublenden – akzeptierend als Teil medialen Alltagshandelns gefasst.
Nicola Döring behandelt in ihrem Beitrag die aktuelle Debatte über die Pille in Sozialen Medien. Mit Hashtags wie #pille oder #hormonfrei findet bei Instagram, TikTok und Co. eine Debatte unter jungen Menschen statt, in der das Absetzen der Pille als Befreiung zelebriert wird. Döring geht diesem Trend nach und ordnet ihn in den Stand der medizinischen Forschung zur Pille ein. Insgesamt verweist der Beitrag auf die große Rolle von Sozialen Medien als Diskursplattformen, in denen heterogene Ansichten und Erfahrungen artikuliert und verhandelt werden und von verschiedenster Seite Ratschläge und Tipps gegeben werden. Es ist davon auszugehen, dass für Jugendliche YouTube heute eine zentrale Informationsquelle ist, nicht nur zur Pille, sondern ebenso zu Fragen bezüglich Annäherung und Flirtverhalten, Liebeskummer, Menstruationsbeschwerden, Erektionsstörung und vielem anderen mehr. Medienpädagogik ist hier gefragt, um Jugendlichen zu helfen, die verschiedenen Quellen, Wahrheitsgehalte und Agenden der Akteur*innen differenzieren zu können.
Wolfgang Reißmann und Charlotte Horsch wenden sich im letzten Beitrag des Thementeils der Erotik-YouTuberin und Musikerin Katja Krasavice zu. Sie deuten Krasavice als Beispiel für einen Typus social-media-getriebener Karrieren, in denen (weibliche) Selbstsexualisierung und Plattformlogik ineinandergreifen. Hierbei verzahnen sich geschicktes mediales Marketing, das Spielen mit bzw. die Inszenierung von Tabubruch, und eine sexualisierte Selbstpräsentation, die dem kulturellen Muster der ‚phallischen Frau‘ folgt – hypersexuell und ultrasouverän zugleich. Interessant an Krasavice als exemplarischem Fall ist zudem die Vertiefung, die sie über biografische Berichte aus der Familiengeschichte in der öffentlichen Wahrnehmung momentan erfährt. Über diesen Einzelfall hinaus steht der Beitrag für eine Reihe an jungen, weiblichen Social Media Celebrities, die über den Weg der Selbstsexualisierung Anerkennung und Erfolg erfahren. Dazu zählen Akteur*innen wie Shirin David und Loredana, die als Vorbilder insbesondere für jüngere weibliche Jugendliche fungieren.
In der Summe lassen die verschiedenen Beiträge die Vielschichtigkeit des Themas erahnen. Das gilt letztlich ebenso für die Interpretationsperspektiven der Autor*innen, die teils anwaltschaftlich und im positiven Sinn parteiisch auftreten, teils kritisch argumentieren, teils die emanzipativen Potenziale betonen. Auch damit spiegelt das Heft die (traditionell) heterogenen Sichtweisen, mit denen auf den Zusammenhang von Medien und Sexualität geblickt wird. Mehr denn je gilt es wohl angesichts der Vielfalt sowohl des Sexuellen als auch des Medialen, die Adressat*innen medienpädagogischer Arbeit dort abzuholen, wo sie stehen. Wir hoffen, mit dieser merz für die medienpädagogische Praxis hilfreiche Impulse aus der Wissenschaft und selektiv Orientierungswissen bereitstellen zu können.
Auch diese merz wird von Expert*inneninterviews in unserem Podcast ‚mehr merz‘ erweitert. Neben dem Fachredakteur*innen-Talk wird es zwei begleitende Podcast-Folgen geben. Elke Prochazka ist Initiatorin des Projekts SexTalks; einem Projekt, das Jugendlichen und auch Multiplikator*innen zeigt, wie das Internet als wichtige Informationsquelle zum Thema Sexualität richtig genutzt werden kann. Mit den negativen Aspekten von Sexualität und Internet hat Miriam Zwicknagel von AMYNA e.V., einem Verein zur Abschaffung von sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt, zu tun. Mit Präventionsprojekten schult AMYNA etwa Fachkräfte im Umgang mit sexuellem Missbrauch in digitalen Medien. Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß lehrt an der Hochschule Merseburg im Studiengang Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung und spricht im Interview über die Rolle der Medien in der Entwicklung von Geschlechtertheorien und Geschlechterkonstruktionen sowie die Möglichkeiten, die Jugendlichen in Bezug auf ihre sexuelle Bildung und Entwicklung in den Medien bzw. mit Medien heute geboten werden. Schließlich stellt Annika Spahn von queerlexikon.net ihr Projekt vor, das eine Online- Anlaufstelle für lesbische, schwule, bi+sexuelle, a_sexuelle, a_romantische, trans, nicht-binäre, inter*, polyamouröse und queere Jugendliche und Kinder aus Regenbogenfamilien darstellt.
Kathrin Demmler/Dagmar Hoffmann: Editorial: Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten
Medien sind von jeher Erzähl-, Erlebnis- und Inszenierungsräume, die sich – so die Ausgangsthese – durch Digitalisierungsprozesse verändern, da sich unter anderem Angebote ausdifferenzieren, erweitern, neujustieren und zunehmend durch Nutzer*innen (mit)gestaltet werden. Nutzende fungieren nicht nur als Geschichtenleser*innen, sondern auch als Geschichtenerzähler*innen (Tophinke 2017). Produktions-, Nutzungs- und Aneignungsweisen von medial vermittelten Narrationen haben sich einerseits strukturell durch neue Formate und Plattformen und nicht zuletzt Streamingdienste gewandelt. Andererseits haben sich inhaltlich-dramaturgisch sowie ästhetisch neue Erzählweisen/-strategien in Film und Serien, auf Blogs, in Sozialen Netzwerken und vor allem auf Bild- und Videoportalen herausgebildet. Sie sind zu wichtigen Erzählkontexten avanciert, wobei die kulturelle Praxis des Erzählens sich mitunter den Umgebungen anpasst und sich die Erzähler*innen teilweise ihrem Publikum unterwerfen, dieses ‚empowern‘ und mobilisieren, erinnern oder auch verstören können. Es finden sich spontane, offene Erzählungen aber auch geschlossene. Manche haben Snippetcharakter. Man denke etwa an Instagram-Storys, Memes und Tweets. Erzählmedium ist sowohl Schriftlichkeit als auch Bildlichkeit in Form von Fotos, Filmen und kurzen Videos, die nur marginal beschrieben und kommentiert oder mit Hashtags versehen werden (Tophinke 2017; Wagner 2019). Letztere ermöglichen Themensetzungen, anlass- und issuebezogene Kollektivierungen von Nutzer*innen im Sinne einer „Neogemeinschaft“ (Reckwitz 2017, S. 262) sowie auch Resonanzräume, die kritisch nicht selten affektiv aufgeladen sind, Hate- und Counterspeech hervorbringen.
Das vorliegende Heft beschäftigt sich mit fiktionalen und dokumentarischen, interaktiven sowie multimedialen Erzählformen in Netzumgebungen. Der erste Beitrag von Christina Schachtner thematisiert narrative Selbstkonstruktionen in mediatisierten Lebenswelten. Ausgehend von der Metatheorie der Mediatisierung und dem phänomenologischen Lebensweltansatz gilt es, die Selbsterzählungen von Blogger*innen und Netzakteur*innen, die die Autorin interviewt hat, im Hinblick auf ihr Selbstbildungspotenzial einzuordnen. So verweisen nicht allein dominierende Narrationen, sondern auch narrative Puzzleteile, sogenannte „Narrationsnester“ (Kraus 2000), immer auf das eigene Selbst, das heißt auf Selbstentwürfe und das Bedürfnis nach einem kohärenten Identitätsgefühl.
Wie es sich anfühlt, verschiedenen Kulturen anzugehören, an zwei weit voneinander entfernten Orten zu leben und zu arbeiten, weiß der Theologe und Linguist Alexander Görlach nur zu gut. Kathrin Demmler hat ihn zu den aktuellen politischen Themen und der Prägung durch populäre Narrative interviewt.
Judith Ackermann, Leyla Dewitz und Alexandra Makulik interessieren sich für die Potenziale der App TikTok im Hinblick auf die individuelle und gesellschaftliche Bewältigung der Corona-Pandemie. Die Autorinnen werteten 100 Videos unter #corona inhaltsanalytisch aus und identifizier-ten zentrale Narrative. Als Ergebnis halten sie unter anderem fest, dass die Videos Krisenbewältigung, Angstreduktion und Stressregulation bei den Nutzer*innen ermöglichen.
Ausgangspunkt der Überlegungen von Florian Schultz-Pernice ist das Plakat der Fridays-for-Future-Bewegung mit dem Satz: „Dinosaurier dachten auch, sie hätten Zeit.“ Diskutiert werden neben der Kernbotschaft auch die Mittel und Strategien der Narrativierung, die seiner Ansicht nach ein besonderes Potenzial haben, eine der anthropozänen Konfiguration angemessene Bildungsbewegung anzuregen.
Historischen Narrativen in Film und Fernsehen widmet sich Andrea Kluxen. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, wie und ob Filme oder Fernsehbeiträge zu historischen Themen uns helfen, Geschichte zu verstehen oder unser Geschichtsbewusstsein verfälschen. Abschließend setzt sich die Autorin mit dem Film selbst als historisches Dokument auseinander und betont seine Bedeutung für die Wissenschaft.
Florian Krauß und Julian Kinghorst beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit digitalen Jugendnarrativen in der deutschen Fernsehfiktion. Anhand der Serien DRUCK, Wir sind jetzt und How to Sell Drugs Online (Fast) arbeiten die Autoren heraus, wie von Jugend erzählt wird. Demzufolge greifen alle drei Produktionen nicht nur narrationstypische Muster des Teen TV auf, sondern repräsentieren auch digitale Medienpraktiken und spiegeln so inhaltlich ihre Online-Distribution wider.
Einen Blick aus der Praxis auf Narrative werfen Jonas Lutz und Thomas Kupser in ihrem Beitrag am Beispiel von PARLAMENSCH. In diesem Projekt waren junge Filmemacher*innen gefordert, sich mit Demokratie aus der Perspektive unterschiedlicher Protagonist*innen auseinanderzusetzen.
Die Beiträge zeigen die große Bedeutung, die Narrative in der Aufbereitung und Rezeption von Themen mit Medien spielen. Kaum ein Medienbeitrag, in dem nicht Narrative zitiert, neue Geschichten erzählt und Bezüge zu bekannten Narrativen hergestellt werden. Insbesondere bei den von jungen Menschen selbst erstellten Medienbeiträgen ist die Auseinandersetzung mit bekannten Rollen und Bildern häufig grundlegend. Somit kann die Befassung mit medialen Narrativen sowohl zu einer spannenden Reflexion der eigenen Vorlieben und Bilder beitragen als auch
ein Ansatzpunkt für die pädagogische Arbeit sein.
LiteraturReckwitz, Andreas (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
Tophinke, Doris (2017). Erzählen im Internet. In: Martínez, Matías (Hrsg.), Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 70–75.
Wagner, Elke (2019). Intimisierte Öffentlichkeiten. Pöbeleien, Shitstorms und Emotionen auf Facebook. Bielefeld: transcript.
Kerstin Heinemann, Dagmar Hoffmann: Glaube und Religion im digitalen Wandel
Wenn Religion in konventionellen Medien verhandelt wird, dann bestimmen oftmals negative Nachrichten die Berichterstattung. Aktuell wird über Kindesmissbrauch und Rückständigkeit der Katholischen Kirche diskutiert, über Fundamentalismus sowie Islamisierung. Es wird über das Tragen von Kopftüchern gestritten und Atheisten betreiben mitunter „Christen-Bashing“ (Löbbert 2018) – vom Kampf der Religionen ist die Rede. Religion verbindet demzufolge nicht (mehr), sie entzweit und entfremdet. Die Religion, über die man liest und hört, so Kai Hafez (2013), sei nicht die, nach der man sich sehne und die man sich wünsche. Dies hat Gefühle des Verlustes religiöser Gemeinschaft und Zugehörigkeit zur Folge. Beobachten lässt sich, dass Religion keine Darstellungshoheit in den Medien innehat und ihre Öffentlichkeit weitgehend verschwunden ist. Es lässt sich ein Ungleichgewicht ausmachen, insofern negative Konnotationen in den Medien überwiegen und Religion stets in einem seltsamen Licht erscheint (siehe auch Neubauer 2018).
Gleichwohl stimmen einzelne Initiativen oder Großereignisse wie (Welt-)Kirchentage in Deutschland temporär optimistisch und wirken mit ihrer Mut machenden Botschaften integrierend und versöhnend. Allerdings täuschen diese Events mitunter auch darüber hinweg, dass seit den 1970er Jahren eine verstärkte Säkularisierung nicht nur in Deutschland, sondern insgesamt in der westlichen Welt zu verzeichnen ist. Diese ist zum einen durch den soziodemografischen Wandel bedingt und zum anderen durch eine Zurückhaltung und Ressentiments potenziell neuer Mitglieder gegenüber den dominanten Konfessionen. Gerade junge Menschen fragen häufig danach, was ihnen Glaube und eine Mitgliedschaft in einer der großen Kirchen (noch) nutzen. Moderne Gesellschaften sind durch einen Religionspluralismus gekennzeichnet. Damit zeigen sie sich demokratisch und offen, während die Vielfalt an Religionen in Mainstreammedien aber kaum abgebildet ist. So leben aktuell schätzungsweise fünf Millionen Musliminnen und Muslime in Deutschland, verbreiten sich kleinere Konfessionen und Freikirchen sowie charismatische Initiativen sind auf dem Vormarsch. Diese Vielfalt wird dort sichtbar, wo religiöse Gemeinschaften in Enklaven und Nischen agieren – auf Online-Video- und Bildportalen, in Sozialen Netzwerken oder über Blogs.
Religionsdiversität fordert mitunter moderne Individuen heraus, denn es stellt sich die Frage, wie geht man mit der gelebten Religiosität der anderen um, die man mitunter als exklusiv empfindet, wenig einzuschätzen und zu verstehen vermag. Der öffentliche Raum inklusive der Medien sollte sich in der Verantwortung sehen, die Begegnung vieler Religionen zu gewähren und nicht nur konfrontativ, wie etwa in Talksendungen oder anderen Fernsehformaten zu präsentieren. Religionspluralismus ist schlichtweg Teil der sozialen Wirklichkeit und macht Toleranz sowie Rücksichtnahme erforderlich (z. B. im Ramadan keine Schulfeste zu veranstalten). Insofern gilt es sich vertiefend der Aufklärungs- und Bildungsarbeit mittels verschiedener Medien(formate) und Anwendungen zu widmen. Aktive Medienarbeit in diesem Bereich dient der Intervention und Prävention, insbesondere wenn über religiösen Fanatismus, Fundamentalismus und Radikalisierungen reflektiert werden kann.
Die vorliegende dritte merz-Ausgabe greift das Thema Glaube und Religionen im digitalen Wandel auf. Es wird danach gefragt, wo und wie welche Religion heute von wem mit welcher Wirkung und Reichweite verhandelt wird. Aufgezeigt werden neue mediale Ausdrucksformen und Vergemeinschaftungen, neue Formen der Mitgliederwerbung und Sichtbarkeit von Religionen und Religionspluralismus. Dabei spielen erwartungsgemäß die Aktivitäten religiöser Medienvorbilder (z. B. Popstars, Influencerinnen und Influencer, YouTuberinnen und Youtuber) eine wichtige Rolle, aber bedeutsam sind auch Gebetsgemeinschaften sowie Bildungseinrichtungen und Museen, die kollektive Erinnerungsarbeit ermöglichen.
In den Themenschwerpunkt Religion. Digitalität. Pluralismus wird mit einem Beitrag von Andreas Büsch eingeleitet, der die Verflechtung von Religion, Gesellschaft und Medien in den Blick nimmt und sich unter anderem als Theologe und Erziehungswissenschaftler der Frage annimmt, wie Religion in den Medien dargestellt wird und ob es quasi-religiöse Elemente oder Funktionsäquivalente von Religiosität in Populärkulturen gibt. Zudem vermag er zu prüfen, inwieweit Religion Medien sind und Medien Religion.
Ein Teilaspekt des Fragenkomplexes von Büsch greift der Religionspädagoge Hans Mendl auf, der die Bedeutung religiöser Popstars für Heranwachsende herausarbeitet. Anhand verschiedener Medienfiguren reflektiert er deren Religionsverbundenheit und Suche nach religiöser Zugehörigkeit. Er konstatiert, dass die Vorbildfunktion religiöser Popstars auch in pädagogischen Kontexten nicht zu unterschätzen ist.
Mit der sozialen Praxis des Gebets beschäftigt sich die Theologin Viera Pirker, die verschiedene Gebetsformen auf Instagram fallanalytisch untersucht hat. Generell ist Religion und religiöse Praxis hier ein Nischenthema, dabei können die Insta-Stories, zum Beispiel von Prominenten, jedoch durchaus eine große Wirkmächtigkeit besitzen und heterogene Zielgruppen ansprechen und mitreißen. Rituale werden ausgebildet und es entwickeln sich Gebetsgemeinschaften.
Wie schwer sich die Katholische Kirche mit neuen Formen der Religionsvermittlung (z. B. Micro-Blogging) tut, legt der Journalist Felix Neumann eindrücklich dar. Als Redakteur bei katholisch.de und Social Media Berater weiß er um Möglichkeiten, die eine „digitale Kirche“ haben und positiv nutzen könnte, aber ebenso auch um die strukturellen Hindernisse, Vorurteile und Ressentiments der Gegnerinnen und Gegner.
Die Potenziale digitaler Vermittlungsangebote im Hinblick auf Erinnerungskulturen stehen im Zentrum von Meron Mendel, des Direktors der Bildungsstätte Anne Frank. Er stellt dessen digitales Lernlabor vor, das Interessierte mit der Geschichte und Entwicklung des Tagebuchs der von Nationalsozialisten verfolgten Anne Frank konfrontiert und interaktive Gegenwartsbezüge herstellt zu Rassismus und Diskriminierungserfahrungen. Götz Nordbruch und Pierre Asisi von ufuq. e.V. widmen sich der Frage von Radikalisierungsprozessen im Kontext des Islam. Dabei spielen Soziale Medien sowohl als Katalysator von Radikalisierungen, als auch als Handlungsfeld der Präventionsarbeit eine wichtige Rolle. Eine gelingende Präventionsarbeit sucht gerade deshalb die Schnittmenge von Medienpädagogik und politischer Bildung.
Bilder des Islam stehen im Zentrum der Beschäftigung der Islamwissenschaftlerin Jawaneh Golesorkh. Sie legt offen, wie das Selbstbild von Musliminnen und Muslime in Sozialen Medien ein Anknüpfungspunkt an Selbstermächtigungskonzepte darstellen kann.
Abschließend widmet sich Nicole Rauch in ihrem Beitrag der Frage nach der medienpädagogisch-praktischen Prävention von religiös-extremistischen Ansprachen in Sozialen Medien. Als Medienpädagogin des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis hat sie mit einem Team Modelle in der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit erprobt, die im Fokus mit dem lebensweltorientierten Ansatz der digitalen Memes arbeiten.
Kerstin Heinemann ist Diplom Religionspädagogin und Medienpädagogin und seit 2012 medienpädagogische Referentin am JFF - Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihre Schwerpunkte sind unter anderem digitale Medien, Partizipationsmöglichkeiten in gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen vor dem Hintergrund der digitalen Transformation und die Prävention religiös motivierten Extremismus.
Dagmar Hoffmann ist Professorin für Medien und Kommunikation an der Universität Siegen. Zu ihren Schwerpunkten zählt unter anderem Medien- und Jugendsoziologie, Mediensozialisations- und Partizipationsforschung, Social Media.
Literatur
Hafez, Kai (2013). Die Macht der Medien und die Religionen. Eröffnungsvortrag der Tagung „Die Religionen und die mediale Präsenz des Religiösen“, www.uni-erfurt.de/fileadmin/user-docs/philfak/kommunikationswissenschaft/files_publikationen/hafez/Die_Macht_der_Medien_und_die_Religionen.pdf [Zugriff: 20.05.2019]
Löbbert, Raoul (2018). Atheisten nerven. Die Zeit (online), Nr. 47, 14. November 2018. www.zeit.de/2018/47/religion-atheismus-christen-kirche [Zugriff: 20.05.2019]
Neubauer, Anna (2018). Religion, Öffentlichkeit, Medien. In: Pollack, Detlef/Krech, Volkhard/Müller, Olaf/Hero, Markus (Hrsg.), Handbuch Religionssoziologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 833–859.
Dagmar Hoffmann / Thomas Münch: Mediale Aneignungsprozesse im Netz
Die im Folgenden vorgestellte Studie beschäftigt sich mit der geschlechtsspezifischen Nutzung des Internet im mittleren bis späten Jugendalter. Es soll herausgefunden werden, inwieweit die Internetnutzung in den jugendlichen Alltag integriert ist. Ein Vergleich von Internet-Intensivnutzern mit Radio- und Musik-TV-Intensivnutzern verdeutlicht, dass Internet-Intensivnutzer andere Medienpräferenzen haben als Jugendliche, die primär auditive bzw. audio-visuelle Medien favorisieren. Anhand der Daten der DFG-Studie „Jugendsozialisation und Medien: Zur Entwicklungsfunktionalität der Medienaneignung im Jugendalter am Beispiel Hörfunk, Musikfernsehen und Internet“ sollen die geschlechtsspezifischen Motive der Onlinenutzung und die besonderen Themeninteressen der Internet-Intensivnutzer bestimmt werden. Ziel ist es, die Bedeutsamkeit der Internetnutzung im jugendlichen Alltag herauszuarbeiten und die individuellen Nutzen- und Gratifikationsaspekte für die Heranwachsenden zu identifizieren.
The purpose of the following study is to examine the gender specific use of the internet in adolescence. We first resume the context in which internet is being used in every day life and compare the general media preferences of a heavy internet user group with a group of heavy radio and Music-TV users. In brief we describe the study “Youth socialisation and media: On the developmental functionality of media appropriation in adolescence with a focus on radio, music television and internet use“. We try to analyse the particular reasons for adolescents to be online and determine the gender specific interests of the heavy internet user group. In conducting this study our goal was to establish the relevance of internet use in adolescent everyday life. We wanted to find out whether the internet could stimulate the ability and creativity of young men and women.
Dagmar Hoffmann: Zum produktiven Umgang von Kindern und Jugendlichen mit medialen Identifikationsangeboten
Welche Rolle spielen Medienfiguren und -geschichten im Hinblick auf die psychosoziale, soziokulturelle und ganz individuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen? Kann die Vielfalt an medialen Identifikationsangeboten für Jugendliche eine Chance bedeuten oder zur Verunsicherung bei der Identitätsausbildung beitragen? Vor dem Hintergrund dringlicher Entwicklungsbedürfnisse besonders im Jugendalter gilt es, Identifikationsleistungen medialer Angebote zu identifizieren und zu hinterfragen. Die vielfältigen Identifikationsprozesse für Mädchen und Jungen werden anhand entwicklungspsychologischer, soziologischer und geschlechtsspezifischer Aspekte der Mediensozialisation diskutiert.
What kind of role do media figures and media stories play in terms of the psychosocial, sociocultural and individual development of children and adolescents? Does the variety of identification opportunities offered in the media present a developmental potential or do these profuse options confuse and hinder adolescents in the development of own identity? The particular potentials and achievements of the media are discussed and questioned in the context of the prominent developmental task of identity development in adolescence. The discussion about the varieties of identification processes for girls and boys takes into account developmental psychological, sociological and gender specific aspects of media socialization.
Dagmar Hoffmann: Intimitäten im Netz
Online-Informationsstellen für sexuelle Aufklärung werden von Jugendlichen stark frequentiert. Die Anbieter können der Flut von Anfragen individuell kaum gerecht werden.
Die Analyse von über 400 Anfragen an das Internetportal „Lovespace“ zeigt auf, welche Bandbreite Jugendliche im Hinblick auf die Entwicklung ihrer eigenen Sexualität verhandeln. Dabei wird offensichtlich, wie wichtig solche Beratungsangebote sind.
merz 2005-05, S. 38-43
Dagmar Hoffmann: Die Mediennutzung von Jugendlichen im Visier der sozialwissenschaftlichen Forschung
Medien spielen für Jugendliche eine wichtige Rolle. In den öffentlichen Debatten werden sie meist jedoch nur unter dem Aspekt der Jugendgefährdung diskutiert, nach ihrer alltäglichen Bedeutung für Jugendliche wird kaum gefragt. Selbst in der wissenschaftlichen Jugendmedienforschung herrscht Schubladendenken vor: Die einen hängen einer kulturpessimistischen Perspektive an und können den Medien nichts Positives abgewinnen. Die anderen verfolgen medienkulturelle Ansätze, in denen die Potenziale der Medien für Jugendliche betont werden. Um ein angemessenes Bild der Bedeutung der Medien für Jugendliche zu erhalten, wäre es an der Zeit, sich von diesen ‚Schubladen’ zu lösen.
(merz 2006-04, S. 15-21)
Dagmar Hoffmann/Susanne Eggert: Gender Media – Praktiken und Forschungsbedarf
Die Auseinandersetzung mit dem Konnex ‚Medien und Geschlecht‘ scheint gerade in medienpädagogischen Kontexten eine Selbstverständlichkeit zu sein, gleichwohl hält man sie in postfeministischen Zeiten nicht selten für überholt und überflüssig. So berichtet die britische Kommunikationswissenschaftlerin Karen Ross in der Einleitung zu ihrem Buch Gendered Media (2010), dass sie sich immer wieder für ihr Projekt hat rechtfertigen müssen und einige in ihrem Umfeld meinten: „Another one?“ Dabei ist es bei genauerer Betrachtung auch international ein Trugschluss, dass es sich hier um einen überforschten Themenzusammenhang handelt. Genderfragen sind in Zeiten der Digitalisierung, des Social und Political Web, der kulturellen Partizipation und vielfältigen Darstellungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten insbesondere im Netz äußerst bedeutsam.
Studien finden sich aber kaum. Konfrontiert ist man mit medialen Genderstereotypen und geschlechtsspezifischen Medienpraktiken, die viele Fragen aufwerfen. Ruft man das Thema auf, wird zumeist eine differenztheoretische Perspektive assoziiert, die auf Geschlechterverhältnisse und normierende Geschlechterentwürfe und/oder verschiedene Mediennutzungsweisen von Mädchen und Jungen, Frauen und Männer fokussiert. Allerdings haben sich durch vielfältige gesellschaftliche Veränderungen Geschlechterordnungen und Arrangements in den letzten Jahrzehnten durchaus verändert. Sie haben sich mitunter flexibilisiert und liberalisiert, sind zugleich aber auch unübersichtlicher geworden. Im Alltag müssen Menschen nicht mehr immer als Geschlechtswesen auftreten. Ob bestimmte Dienstleistungen von Frauen oder Männern ausgeübt werden, spielt für die Kundin oder den Kunden zumeist keine Rolle mehr.
Aber nicht alle Arbeits- und Berufsbereiche zeichnen sich durch eine Gleichstellung der Geschlechter aus, wie man etwa an der Debatte um den Einsatz der Sportkommentatorin Claudia Neumann bei der Fußball- Europameisterschaft im letzten Jahr gesehen hat. Diversität ist demzufolge – vor allem im Medienbereich (vgl. Klaus/Lünenborg 2013) – noch keine Selbstverständlichkeit. Westliche Gegenwartsgesellschaften sind zwar insgesamt gegenüber Ungleichheiten sensibler geworden, dennoch bleiben ihre Mitglieder dem Denken in sozialen Kategorien oftmals verhaftet und Merkmale wie Geschlecht und Sexualität, Alter und ethnische Herkunft verlieren nicht an Bedeutung. Noch immer finden sich Stereotype und Vorbehalte, werden Frauen – wie der aktuelle Bericht über Frauen in Kultur und Medien zeigt (vgl. Schulz/Ries/Zimmermann 2016) – in bestimmten Medienberufen und künstlerischen Sparten ausgegrenzt. Aber auch Männer sind in Arbeitsfeldern wie beispielsweise in der Pädagogik und in etlichen Dienstleistungsbereichen nicht ohne weiteres anzutreffen.
Aktuelle Fragestellungen und Herausforderungen
Es lässt sich beobachten, dass bestimmte Themen und Kommunikationsräume durchaus geschlechtsspezifisch besetzt, genutzt und angeeignet werden. So sind Autorinnen bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia immer noch in der Minderheit. Der Anteil der von Frauen verfassten Artikel beträgt weniger als ein Viertel (vgl. Falke 2013). Mädchen und Frauen sind hingegen dominant vertreten, wenn es um das Betreiben von Fashion-, Beauty- und Food- Blogs oder aber das Einstellen von Haul-Videos bei YouTube geht. Bekannte hegemoniale und patriarchale Strukturen reproduzieren sich trotz aller Emanzipations- und Gleichstellungsbemühungen im Netz und auch in anderen Medienformaten sowie in kulturellen Bereichen (für einen Überblick siehe z. B. Prommer/Schuegraf/ Wegener 2015; Maier/Thiele/Linke 2012; Ross 2012). Hatte man in den 1990er-Jahren die Hoffnung, dass sich Geschlechterrollen durch neue Ausdrucksformen und Möglichkeiten der Selbstkonstruktion im Netz aufweichen könnten (vgl. Turkle 1995; Musfeld 1999), so lässt sich eine Überwindung normierter Zweigeschlechtlichkeit bislang kaum erkennen. Mediale Aushandlungen von Homosexualität, Transgender und Intersexualität sind zwar deutlich präsenter als in Pre-Internet-Zeiten, bilden aber dennoch – quantitativ betrachtet – eher Ausnahmen. Ausgehend von den vielfach reklamierten gendersensiblen (Forschungs-)Perspektiven in den Medien- und Kommunikationswissenschaften (vgl. z. B. Maier/Thiele/Linke 2012; Lünenborg/ Maier 2013) gilt es deutlich zu machen, inwieweit diese in der Praxis zur Selbstverständlichkeit, ja zum Mainstream, werden können. Die kritische Auseinandersetzung mit Medienformaten, die soziale Gruppen diffamieren, ist besonders in Zeiten dringlich, in denen rückwärtsgewandte Rollenbilder in Parteiprogrammen zu finden sind, es kollektiv organisierte sexistische Übergriffe gibt, ‚schwul‘ ein gängiges Schimpfwort ist, das Spott und Ausgrenzung demonstriert, und in denen LGBT1-Jugendliche mehrheitlich von Diskriminierungserfahrungen in ihrem sozialen Umfeld berichten (vgl. Krell/ Oldemeier 2016).
Zu diesem Heft
Den Auftakt macht Sigrid Kannengießer, die in ihrem Beitrag das breite Forschungsfeld der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Geschlechterforschung umreißt, dabei die Veränderungen der Forschungsschwerpunkte von den Anfängen bis heute aufzeigt und letztlich über aktuelle Tendenzen in der Forschung informiert. Am Beispiel des Cyberfeminismus macht sie deutlich, wie Frauen Internetmedien zur Vernetzung und politischen Mobilisierung nutzen. Im Anschluss diskutiert Angela Tillmann kritisch die vielfach diskutierten feministischen Hoffnungen, die damit verknüpft sind, das Internet als ein demokratisches Medium zu begreifen und es zu nutzen, um ungleiche Geschlechterverhältnisse zu verhindern und Geschlechterdualismen aufzubrechen. Anhand einschlägiger Studien und zahlreicher Beispiele kann sie veranschaulichen, inwieweit dies bisweilen auch durchaus gelingt. Die Autorin hebt jedoch kritisch hervor, dass sich im Netz aber auch Ungleichheiten fortsetzen und reproduzieren sowie bei bedeutsamen Partizipationsformen und Selbstinszenierungspraktiken ein starker Genderbias besteht. In ihrem Fazit hält sie fest, dass von einem „Geschlechterbeben im Internet“ nicht die Rede sei, sondern althergebrachte Dichotomien weiterhin spezifische Interaktionsformen und Machtrelationen, Ein- und Ausschließungsprozesse als auch Partizipationsprozesse begründen. Florian Krauß widmet sich einem neuen Ansatz im Bereich der Gender Media Studies, der sich mit der Analyse transspezifischer Medienpraktiken beschäftigt. Es wird in den Transgender Media Studies dafür plädiert, dass nicht nur Repräsentationspraktiken als Teil des Doing Gender erforscht werden sollen, sondern verstärkt auch die realen Bedingungen, unter denen Trans-Menschen leben, und Diskriminierungen, die sie erleben, berücksichtigt werden. Medien spielen dabei eine bedeutsame Rolle, da sie sexuelle Diversität präsentieren können oder eben nur einschränkt sowie bestimmte sexuelle Orientierungen als besondere vermitteln. Repräsentationspraktiken und konkrete, materielle Bedingungen sind immer miteinander verzahnt und sollten auch in dieser Interdependenz untersucht werden. So fungieren mediale Repräsentationen häufig als Teil von Diskriminierungen, indem sie diese verstärken oder eine Tradition der Pathologisierung, Fremdbestimmung und Stereotypisierung fortführen. Bisweilen hat aber auch eine eindimensionale Forschungsperspektive ihren Anteil daran. Im Interview erklärt Stevie Meriel Schmiedel von der Protestinitiative Pinkstinks, welche konkrete Aufklärungsarbeit zu leisten ist, wenn es darum geht, Eltern und Lehrende sowie Jugendliche für medial verbreitete unzeitgemäße Rollenbilder und für Diversitätsdenken zu sensibilisieren. Mit ihren Kampagnen kritisiert die Protestorganisation vor allem das zunehmende Gender-Marketing und Sexismus in der Werbung. Nicht unproblematisch sind auch Präsentationen der YouTube-Stars, die für Heranwachsende orientierende Funktionen übernehmen. Annekatrin Bock und Merja Mahrt haben an einigen Videos der bei Zehn- bis 15-Jährigen beliebten YouTube-Kanäle BibisBeautyPalace und ApeCrime exemplarisch die Präsentation von Geschlechterrollen untersucht. Sie stellen dabei fest, dass „die dargestellten Rollenbilder klassische genderstereotype Darstellungen reproduzieren“ (S. 46). Aus medienpädagogischer Perspektive gilt es diese Entwicklung im Auge zu behalten, da es den YouTuberinnen und YouTubern – anders als vielen Protagonistinnen und Protagonisten beispielsweise in Fernsehangeboten – oftmals gelingt, einen persönlichen Kontakt zu den Nutzenden herzustellen. Durch die geringe soziale Distanz genießen die YouTube-Stars eine große Glaubwürdigkeit bei den Heranwachsenden. Abschließend stellen die beiden Medienpädagoginnen Gabi Uhlenbrock, die sich vor allem für Games begeistern kann, und Sonja Breitwieser, von Anfang an von (Computer-)Technik fasziniert, im Interview mit Klaus Lutz ihre Erfahrungen mit und ihre Einstellung zur Bedeutung von Geschlecht in der medienpädagogischen Arbeit mit dem Computer dar. Beide sind der Meinung, dass geschlechtsspezifische Arbeit auch in einem Feld bzw. mit einem Medium, dem Computer, das stärker mit Jungen bzw. männlichen Jugendlichen verbunden wird, nicht unbedingt notwendig ist, manchmal aber hilfreich sein kann. Zwar bietet der Markt oft geschlechtsspezifisch konnotierte Angebote, aber auch hier lohnt es sich, sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Dennoch kritisiert Uhlenbrock die oftmals sexistische Darstellung von Frauenfiguren in Games. Der Schwerpunkt dieser Ausgabe von merz ist so gestaltet, dass möglichst verschiedene Sichtweisen auf das Thema Geschlecht bzw. Gender und Medien zur Sprache kommen und ein Einblick in die aktuelle Forschung gewährt wird. Wir hoffen, damit einen Anstoß zu geben, den Blick auf ein immer wieder aktuelles gesellschaftspolitisches Thema zu lenken und wünschen eine aufschlussreiche und anregende Lektüre. Anmerkung1 LGBT ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender.
Literatur
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Dagmar Hoffmann: Kult und Kultur, Spaß oder auch Ernst?
Soziale Netzwerke im Internet erfreuen sich steigender Beliebtheit bei Kindern und Jugendlichen. Sie dienen ihnen nicht nur zur Kommunikation, sondern auch zur Selbstdarstellung und -inszenierung. Anhand einer Analyse des Online-Portals schülerVZ werden Formen, Möglichkeiten und Risiken dieser Aspekte beleuchtet.
Literatur:
Adelmann, Ralf (2007). Die ‚weise Masse’. Zur medienökonomischen Ordnung des Politischen. In: Ästhetik & Kommunikation, 38. Jg., H. 139, S. 33-38
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Mühlhausen, Jan (2006). Widerstand ist zwecklos. Das StudiVZ. www.fspaed.de/faq_board/thread.php?id=171 [Zugriff: 10.4.2008]Pilmes, Andreas (2008). Lebst du schon oder surfst du noch? In: KiKuMa – Kinder Kultur Magazin, Nr. 1, S. 8-11
Schultz, Tanjev (2003). Alles inszeniert und nichts authentisch? Visuelle Kommunikation in den vielschichtigen Kontexten von Inszenierung und Authentizität. In: Thomas Knieper/Marion Müller (Hg.), Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten. Köln: Herbert von Halem, S. 10-24
(merz 2008-3, S. 16-23)
Dagmar Hoffmann: Die Mediennutzung von Jugendlichen im Visier der sozialwissenschaftlichen Forschung
Medien spielen für Jugendliche eine wichtige Rolle. In den öffentlichen Debatten werden sie jedoch meist nur unter dem Aspekt der Jugendgefährdung diskutiert, nach ihrer alltäglichen Bedeutung für Jugendliche wird kaum gefragt. Auch in der Jugendmedienforschung herrscht offensichtlich Schubladendenken vor: Die einen hängen einer kulturpessimistischen Perspektive an und können den Medien nichts Positives abgewinnen.
Die anderen verfolgen medienkulturelle Ansätze, in denen die Potenziale der Medien für Jugendliche betont werden. Um ein angemessenes Bild der Bedeutung der Medien für Jugendliche zu erhalten, wäre es an der Zeit, sich von diesen ‚Schubladen’ zu lösen.
(merz 2006/04, S. 15-21)
Dagmar Hoffmann: Sexualität in Film und Fernsehen
Von Kuppel-Shows am Vorabend über Bettszenen in Spielfilmen bis hin zu eindeutiger Werbung für Erotik-Hotlines: Im Fernsehen findet man zahlreiche Darstellungen von Sexualität. Wie gehen Jugendliche darauf zu, was suchen sie darin, was ziehen sie sich heraus und was halten sie davon? Diesen Fragen wurde im Rahmen einer Triangulationsstudie nachgegangen.
Literatur
Brosius, Hans-Bernd/Rössler, Patrick (1999). Die soziale Realität in einfacher Pornografie und Softsex-Filmen. In: Rundfunk und Fernsehen, 47. Jg., H.1, S. 25-42.
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Gauntlett, David (2002). Media, Gender, Identity: An Introduction. London: Routledge.
Hoffmann, Dagmar (2006). Die Mediennutzung von Jugendlichen im Visier der sozialwissenschaftlichen Forschung. In: merz 50/4, S. 15-21.
Hoffmann, Dagmar (2008). Aufklärung oder Verklärung? Das Wissen um Erotik, Sexualität und Pornographie im Jugendalter. In: deutsche jugend 56/4, S. 158-165.
Kluge, Norbert/Hippchen, Gisela/Kaul, Melanie (2000). Das Körperkonzept der Deutschen. Die neue Körperlichkeit in ihren Auswirkungen auf Einstellungen und Verhaltensweisen. Frankfurt/M.: Peter Lang.
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Müller, Daniel/Ligensa, Annemone/Gendolla, Peter (Hrsg.) (2009). Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte. Band 2. Bielefeld: transcript.
Andreas Lange und Dagmar Hoffmann: Populärkultur und Medienökonomie
Der Beitrag untersucht die Strukturen des popkulturellen und medialen Konglomerats, das heute ein nicht weg zu definierender Bestandteil des Aufwachsens geworden ist. Hierzu erfolgt einerseits eine Abgrenzung zu den gängigen Kulturkritiken. Andererseits wird davor gewarnt, vom Normalfall der souveränen Aneignung durch Kinder und Jugendliche auszugehen – zum einen aufgrund der neuen ‚Qualitäten‘ des popkulturellen Konglomerats und dessen kulturökonomischer Hintergründe; zum anderen aufgrund der sozial höchst ungleich verteilten personalen und strukturellen Voraussetzungen, die Angebote eigensinnig subversiv, spielerisch und persönlich bereichernd nutzen zu können. Abschließend werden medienpädagogische Konsequenzen umrissen.
Literatur
Altmeppen, Klaus-Dieter (2011). Strategisch geplante Sozialisation. Strukturen der Unterhaltungsbeschaffung und –produktion. merz, 56, Heft 1, S.XX
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Andreas Lange und Dagmar Hoffmann: Editorial
Spielt man rhetorisch Kultur auf der einen Seite und Geld bzw. Ökonomie auf der anderen Seite gegeneinander aus, dann ist das gegenwärtig eine fast so sichere Strategie, Beifall beim geneigten Publikum zu erheischen wie der unsägliche Rekurs auf „die Werte“. Hinter dieser Zusammenhangsvermutung, nach der „das Geld“ „die Kultur“ korrumpiert und insbesondere ökonomische Faktoren eigentlich zu einem massiven Verfall von Kreativität und Authentizität bei den Produzenten von Kinderkulturprodukten und zu passiver und eskapistischer Rezeption beim Publikum führen müssen, steht erstens eine wirkungsmächtige sozialwissenschaftliche Denkrichtung – die kritische Theorie der Frankfurter Schule, die in der „Kulturindustrie“ vor allem auch einen Apparat zur Unterdrückung der arbeitenden Klassen sah.
Auf der anderen Seite wurzelt die Gleichsetzung von ökonomischen Aspekten von Kultur mit Qualitätsverlust in einer mittlerweile überholten Sicht der Rolle medialer und künstlerischer Prozesse für die Entwicklung westlicher Gesellschaften. In Form der Kreativwirtschaft sind diese nämlich längst von einem ‚Sahnehäubchen‘ zu einem wichtigen und lukrativen Feld des Produzierens geworden. Erwerbsmotivation, betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten sowie Marktgesetzlichkeiten können, müssen aber nicht per se zu materiellen wie immateriellen Produkten führen, die den Heranwachsenden wenig eigene Spielräume zur Aneignung lassen oder die sie einseitig beeinflussen und mit schädlichen Verhaltenshabitualisierungen einhergehen. Das Spannende und Herausfordernde an der auch, aber nicht nur von makroökonomischen Verflechtungen mitbestimmten Wechselwirkung zwischen wirtschaftlicher Dynamik im Feld der Populärkultur, gerade derjenigen, die auf Kinder und Jugendliche zielt, und den künstlerischen sowie deutenden Prozessen der Interpretation und Nutzung der Produkte in und für die alltägliche Lebensführung, sind aus unserer Sicht die jeweiligen konkreten Anteile von Kommerzialisierung, Ökonomisierung, Standardisierung versus Eigensinnigkeit, Vielfalt und Nützlichkeit für die individuelle Subjektbildung und Alltagsgestaltung.
Vor dieser Folie geht das vorliegende Themenheft in ausgewählten Ausschnitten dem „Konglomerat“ von Populärkultur und Medien nach. „Konglomerationen“ ist ein Konzept, das von den Innsbrucker Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Maria Wolf, Bernhard Rathmayr und Helga Peskoller in die zeitdiagnostische Debatte geworfen worden ist. Es umschreibt ein Gefüge der von Individuen erlebten Erfahrungen in spätmodernen Gesellschaften, die trotz ihrer partiellen Widersprüchlichkeit und des vielfältigen Drucks im Alltagsleben so angeeignet werden, dass eine Handlungsfähigkeit im Alltag und Formen der Identität bewerkstelligt werden können „die nicht mehr aus dem Granit traditionaler Rollenbilder gefügt sind, sich aber auch nicht im Geröll moderner Beliebigkeit verlieren, sondern Vielfältiges zu temporären und alltäglichen Festigkeiten zusammenfügen“ (Wolf/Rathmayr/Peskoller 2009).
Im einführenden Beitrag geben Andreas Lange und Dagmar Hoffmann einen Überblick zu wesentlichen Linien des Diskurses um das Spannungsverhältnis von Populärkultur und Medien. Neben Überlegungen zur sozialisatorischen Bedeutsamkeit des „Konglomerats“ befasst sich der Artikel mit den möglicherweise sozialstrukturell bedingten Formen der Aneignung populärkultureller Produkte, die dann entweder zu einer souveränen oder zu einer instrumentalisierenden Subjektivierung sowie zu unterschiedlichen Bildungserfolgen von Kindern und Jugendlichen führen können.
Klaus-Dieter Altmeppen erörtert in seinem Artikel die ökonomischen Mechanismen der modernen Kulturindustrie am Beispiel des Fernsehens. Er expliziert die Strukturen von organisationalen Handlungsfeldern der Unterhaltungsproduktion und klärt darüber auf, unter welchen ökonomischen und kommunikationsstrategischen Voraussetzungen Unterhaltung heute „beschafft“ wird. Aus seiner Sicht werden die Marktmechanismen in sozialwissenschaftlichen Kontexten und in Modellen der Mediensozialisation zu wenig berücksichtigt. Seiner Ansicht nach sollten die häufig subtilen Programmstrategien sowie die damit verbundenen komplexen Marketingaktionen bei der Entwicklung von Mediensozialisationstheorien stärker problematisiert werden. Medienaneignung und Medienproduktion sind für Altmeppen rekursive Prozesse, deren Verständnis als aufeinander bezogenes Medienhandeln nicht allein Marketingfachleuten überlassen werden sollte.
Burkhard Fuhs möchte den Unterhaltungsmarkt differenziert betrachtet wissen. Er plädiert dafür, eine weniger wertende Perspektive auf populäre Kultur einzunehmen, da es den Individuen freigestellt ist, Phänomene populärer Kultur in ihre Lebensführung einzubauen. Eine Akteursperspektive, die nach dem Doing Culture fragt und die die performative Aneignung und Umdeutung massenkultureller Muster in konkreten sozialen Situationen in den Blick nimmt, kann am ehesten die konkrete Sozialisationsrelevanz populärer Kulturphänomene erfassen. „Kinderkultur“ entsteht heute im Spannungsfeld von industriellem Markt, eigenständigen kindlichen Interessen in der Peerkultur und elterlichen (pädagogischen) Bildungs- und Erziehungsnormen. Ziel sollte es sein, eben dieses Spannungsverhältnis von industriellem Markt der Dinge, öffentlicher Diskussion um die Kindheit, elterlichen Bildungs- und Erziehungsnormen und die individuelle sowie peerbezogene Gestaltung der Kindheit durch Kinder selbst in den Blick zu nehmen.
Die Ambivalenzen des Populärkulturellen werden im Beitrag von Anna Seidel sehr deutlich, die sich mit den Potenzialen nicht-kommerzieller Medienproduktionen und deren Aneignung beschäftigt. Sie stellt die im Jahre 2008 gegründete ‚alternative‘ Frauenzeitschrift Missy Magazine vor, die „Popkultur für Frauen“ darstellen und vor allem mit einer emanzipierten Haltung und feministischen Orientierung verbinden möchte. Im Missy Magazine wird über Themenbereiche wie Medien, Mode, Sexualität und Politik in einer Art und Weise berichtet, die es erlaubt, die Ideologien, Diktate und Normvorgaben konventioneller Frauenzeitschriften zu dekonstruieren.
Das Missy Magazine ist als gegenöffentliches Angebot auf dem bestehenden Zeitschriftenmarkt zu betrachten. Welche Potenziale, welche Reichweiten und kulturelle Einflüsse widerständige, gegenöffentliche Angebote haben bzw. haben können, werden im Interview mit einer der Herausgeberinnen des Missy Magazines, Chris Köver, veranschaulicht. Wie diese komplexen Einsichten und Positionen zum Konglomerat Populärkultur und Medien ohne den pädagogischen Zeigefinger zu überdehnen umgesetzt werden können, skizziert Sabine Sonnenschein anhand des Onlinemagazins für junge Medienkritik des Projekts Spinxx. Hier wird eine bemerkenswerte Kombination aus kritisch-analytischer, auch auf medienökonomische Fakten eingehender Medienarbeit und produktiver Medienarbeit praktiziert.
Zudem realisiert das Projekt eine Maxime der neueren Kindheitsforschung beispielhaft – die Perspektiven der Kinder durch unterschiedlichste Beteiligungsmodelle ‚sprechen‘ zu lassen.
Rathmayr, Bernhard/Peskoller, Helga/Wolf, Maria (2009). Theoretische Konturen alltagspraktischer Absicherung: Das Konzept der Konglomerationen. In: dies. (Hrsg.). Konglomerationen – Produktion von Sicherheit im Alltag. Bielefeld, transcript: S. 7-31.
Dagmar Hoffmann und Hans-Dieter Kübler: Editorial
„Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“ (Albert Einstein) Wissenschaften setzen sich seit jeher mit vielfältigen Fragen zur Zukunft auseinander. Es geht dabei in der Regel um die Chancen und Risiken der Entwicklung des menschlichen Daseins, des sozialen Miteinanders, also der Gesellschaft, sowie um den Erhalt der Umwelt, des Planeten und vieles mehr. Sich Gedanken und Vorstellungen über zukünftige Gegenwarten zu machen, ist eigentlich selbstverständlich. Bisweilen scheint es auch schwierig zu sein, aber es ist nicht unmöglich, denn die Bilder, die wir von der Zukunft haben, knüpfen grundsätzlich an vielfältig vorhandene Konstruktionen sowie Ängste, Sehnsüchte und Wünsche der Gegenwart an. Es ist die Sorge um uns selbst und die Verantwortung für nachfolgende Generationen, die uns veranlasst, über Zukunft zu sinnieren. Allerdings lässt sich die Zukunft schwer vorhersagen, aber es lohnt, über die mögliche zukünftige Gegenwart und damit auch über Alternativen des Möglichen zu reflektieren.Seit geraumer Zeit sind insbesondere Medien-und Sozialwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler (auf-)gefordert, sich verstärkt mit der Zukunft der Kommunikation auseinanderzusetzen, da die Präsenz und der Gebrauch neuer Medientechnologien zunehmend die Alltagskommunikation bestimmen und verändern.
Neue Technologien und Anwendungen generieren neue Informations- und Wissensmanagementsysteme die zeitökonomischer und zielgruppenspezifisch sein sollen, es aber de facto nicht immer sind. Die Fähigkeit, angemessen und zeitgemäß zu kommunizieren sowie letztlich Kommunikation effektiv und nutzenorientiert zu gestalten, wird zu einer Schlüsselqualifikation im sogenannten digitalen Zeitalter. Es scheint, als wären Medien- und Kommunikationssysteme einem grundlegenden Wandel ausgesetzt, dessen Folgen im Moment nur schwer abschätzbar sind. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht wieder eine neue Anwendung im Netz ‚gehypt‘ wird, die einem Unterhaltung, Lebenserleichterungen oder neue, vielversprechende Möglichkeiten der Selbstinszenierung verspricht. Gleichwohl setzen sich die wenigsten Anwendungen durch und finden eine massenhafte Verwendung. Im Grunde rekurrieren die meisten Erfindungen auf den üblichen psycho-sozialen Bedürfnissen und verweisen zumeist auf altbekannte Mediensysteme. Viele Anwendungen sind nur temporär populär.Allgemein lässt sich beobachten, dass das Entwicklungs- und Diffusionstempo jeweils neuer Medientechnologien rasant ist und immer schneller wird.
Dabei multiplizieren und erweitern sich die vorhandenen Medienkonfigurationen einerseits und konvergieren bestehende Mediensysteme andererseits. Allerdings lassen sich diese Entwicklungen aus verschiedenen Perspektiven bewerten: als Innovationen oder auch nur als Diversifikationen des schon längst Vorhandenen, je nachdem, welchen Fokus man wählt. In der öffentlichen Wahrnehmung jagt ein Medienhype den nächsten, und es scheint, dass medienpädagogische Theorien und Forschung diesen immer kürzeren Medienkonjunkturen weitgehend abhängig hinterherhecheln. Festzustellen ist, dass es an zeit- und kulturunabhängigen Theorien (was vermutlich auch unmöglich ist) und an dynamischen, präventiv angelegten Medienkompetenzmodellen (was legitim, aber dennoch für die Praxis bedauerlich ist) fehlt. Ferner bleibt meist weitgehend unklar bzw. uneinheitlich, mit welchen Kriterien, Instrumenten und Methoden jene Entwicklungen oder gar der Fortschritt der Medien gemessen und erst recht bewertet werden kann. Vielfach gewinnt man den Eindruck, je grandioser, abstrakter und damit unverständlicher die gemeinhin monokausal angelegte ‚Theorie‘ ausfällt, umso attraktiver und willkommener ist sie in der besorgten Öffentlichkeit, wohingegen sich wissenschaftliche Konzepte kaum mehr auf solche high levels wagen. Entsprechend werden zahlreiche Trends extrapoliert, die die Zukunft der Medien und damit die öffentliche wie private Kommunikation bestimmen (sollen). Sicherlich werden sich – wie schon in der Vergangenheit – Kommunikationsbeziehungen weiter verändern, aber womöglich auch so, dass sich neben generellen Standardisierungen vielfältige Spezialisierungen und Partikularsierungen herausbilden.
Wenn professionelle, vor allem kommerzielle Mediensysteme immer komplexer, ‚globaler‘ und mächtiger werden, dürften zugleich auf der Gegenseite viele kleine, amateurhafte, spontane, kollaborative Kommunikationsformen sprießen, die Entwicklungen werden also ebenso heterogener als auch homogener.Die vorliegende merz-Ausgabe kann nicht zu allen, zumindest aber zu einigen zentralen Aspekten des Diskurses über die Zukunft der Medien und damit die Zukunft der Kommunikation Orientierungen, Klärungen und zum Teil aber auch nur Fragestellungen präsentieren, die sich daraus für die medienpädagogische Forschung und Praxis ergeben. So nimmt zunächst der Soziologie Michael Jäckel eine Rückschau auf vorhergesagte Medientrends vor und setzt sie in Beziehung zu gegenwärtigen Entwicklungen. Zudem zeigt er auf, wie derzeit medienöffentlich und wissenschaftlich die Zukunft der Mediennutzung diskutiert und vor allem problematisiert wird. Er erklärt, inwieweit sich Medienangebote in räumlicher und zeitlicher, in sachlicher bzw. inhaltlicher sowie sozialer und funktionaler Hinsicht erweitern und verändern (werden). Menschen moderner hochtechnisierter Gesellschaften sind heute mehr denn je gefordert, sich mit den vielfältigen Funktionen und dem Nutzen von Medien auseinanderzusetzen. Nach wie vor haben Medien die Aufgabe, Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt zu vermitteln sowie Partizipation und Mitgestaltung an gesellschaftlichen Entwicklungen zu ermöglichen.
Auch Hans-Dieter Kübler setzt sich in seinem Beitrag mit dem tiefgreifenden und tendenziell universell sich vollziehenden Wandel der Medien und den Konsequenzen für gesellschaftliche Verhältnisse auseinander. Ein besonderes Anliegen ist es ihm zu verdeutlichen, welche Dilemmata sich aus den rasanten Veränderungsprozessen für medienpädagogisches Handeln ergeben. Er hebt bekannte und altbewährte Paradigmen zum Erwerb von Medienkompetenz und zur Medienbildung auf den Prüfstand und arbeitet heraus, inwieweit diese Modelle in Teilen überholt sind, modifiziert und erweitert werden müssten, um den Anforderungen der komplexen Mediengesellschaft gerecht werden zu können. Gleichwohl verzichtet der Autor darauf, eigene („kurzatmige“) Rezepte zu liefern, die hier aussichtsreich Abhilfe schaffen könnten. Demgegenüber betont Manuela Pietraß im Anschluss, dass traditionelle Modelle der Medienkompetenz für neue Phänomene, das heißt, für eine intendierte, verantwortungsbewusste und kritische Mediennutzung und Medienaneignung durchaus nutzbar gemacht werden könnten. Dabei scheint es hier besonders bedeutsam zu sein, Medien vorrangig als Instrumente für Kommunikation zu verstehen und Medienkompetenz als eine Ausdifferenzierung kommunikativer Kompetenz. Unerlässlich sei der Bedarf, so die Autorin, einerseits die Operationalisierung von Medienkompetenz an aktuelle technische Gegebenheiten anzupassen und andererseits deutlich zu machen, dass die Medienpädagogik mit dem Begriff der Medienkompetenz eine einheitsstiftende Deutungskraft in der Vielheit der Medienkonjunkturen bieten kann.
Im Beitrag von Manuela Pietraß wird der Begriff der digital literacy aufgegriffen und werden die Basiskompetenzen zur Kommunikation mit den digitalen Medien erörtert, wie sie für die Gegenwart unabdingbar zu sein scheinen. Im letzten Schwerpunktbeitrag des Kommunikationswissenschaftlers Jeffrey Wimmer geht es um die neuen Publikumsansprüche, die im Zuge der digitalen Bedingungen der Medienkonvergenz und der Ausweitung der individuellen Medienrepertoires neue Formen der Teilhabe an Öffentlichkeit induzieren. Der Autor hat sich zum Ziel gesetzt, das Ausmaß medialer Partizipation im Kontext der Diagnose der zunehmenden Verbreitung neuer Medien im Alltag zu analysieren und sieht Partizipation in einem engen Bezug zum umfassenden Wandel von Kommunikations- und Medienkulturen. Er erörtert zunächst den demokratierelevanten Zusammenhang von Öffentlichkeit, Medien und Partizipation und erklärt, inwieweit sich dieses Konglomerat derzeit neu konstituiert und zueinander verhält. Dann geht er auf konkrete Formen mediatisierter Teilhabe an Öffentlichkeit ein und nimmt einige Implikationen für Medienpolitik und Medienpädagogik vor. Zusammenfassend konstatiert er, dass sich durch die Digitalisierung und Mediatisierung von Partizipation auch der Wert und das Verständnis politischer Partizipation ändern und die Potenziale für einen emanzipatorischen Gebrauch insbesondere von jungen Menschen auch genutzt werden.Allen Beiträgen gemein ist, dass ihre Gegenwartsdiagnosen Aussagen über die Zukunft der Medien und zu erwartenden Medienkonjunkturen erlauben, wobei sie kaum Destablisierungs- oder Desorganisationsprozesse wohl aber Modifikationen traditioneller Sozialgefüge prognostizieren.
Deutlich wird auch, dass die medienpädagogische Praxis sich nur bedingt an etablierten Medienkompetenzmodellen orientieren kann, sondern die Akteurinnen und Akteure in der Praxis und aus der Wissenschaft deren Weiterentwicklung vorantreiben sollten, sodass diese für die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Mediengesellschaft besser genutzt werden können. Auch wenn viele Dynamiken der Kommunikation nicht vorhersehbar sind und einfach geschehen, gilt es weiterhin und auch verstärkt in vielen Bereichen medienpädagogische Begleitung und Unterstützung anzubieten, sodass digitale Klüfte minimiert und allen Menschen sowohl gesellschaftliche als auch kulturelle Teilhabe ermöglicht werden können.
Karin Knop und Dagmar Hoffmann: Editorial
Mit dem populären und zugleich missverständlichen Begriff Work-Life-Balance wird heute häufig für Beratungsliteratur und Personal-Coaching-Angebote geworben. Es wird suggeriert, dass Arbeit und Leben zwei getrennte Sphären seien, deren jeweilige Anforderungen man in technologisierten Welten kompetent meistern müsse, um ein gelingendes Leben zu führen. Richtig ist, dass Erwerbsarbeit und (ein sehr wohl mit nicht erwerbswirtschaftlicher Arbeit durchdrungenes) Privatleben lange Zeit getrennte Sphären waren, deren Grenzen sich nunmehr in Auflösung befinden. Weltweit finden umfassende gesellschaftliche Transformationsprozesse statt, die sich in veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen niederschlagen. Insbesondere vielfältige technologische Entwicklungen sind Anlass dieser tiefgreifenden Veränderungen. Der zentrale Stellenwert der Vernetzung und der Digitalisierung von Information hat großen Einfluss auf spezifische Arbeits- und auch allgemeine Lebensbedingungen von Beschäftigten. Denn heutige Arbeitswelten sind in zunehmend hohem Maße durch mobile Kommunikationstechnologien geprägt. Verschiedene Erwerbsarbeiten können (und müssen) tendenziell ortsunabhängig und in Teilen auch mobil erfolgen. Gründe dafür sind die Beschleunigung der Arbeitsorganisation und die stetig wachsenden Leistungsanforderungen. Zudem gibt es den latenten Druck, in seinem Job bestehen zu müssen, denn Arbeitsverhältnisse sind nur noch selten sicher, das heißt auf Dauer angelegt (vgl. Sennett 1998).
Es ist heute selbstverständlich geworden, aus beruflichen Gründen den Wohnort zu wechseln. Menschen sollen stets mobil und flexibel sein, werden zu sogenannten postmodernen Arbeitsnomaden, wobei dies auf Frauen und Männer gleichermaßen zutrifft. Die raum-zeitlichen Flexibilisierungspotenziale können hierbei als Chance für eine nun weitgehend individualisierte Organisation von Arbeit und Freizeit gesehen werden. Sie versprechen zudem Selbstverwirklichungs- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten. Gleichwohl gehen mit den beschriebenen Entgrenzungsprozessen aber auch Risiken wie Stressbelastungen und Überforderungen einher und verlangen zudem neue Formen der Beziehungs-, Familien- und Erziehungsarbeit. Paare und Familien müssen sich neu finden und organisieren. Tradierte Leitbilder werden auf den Prüfstand gestellt, werden modifiziert und lösen sich mitunter auf. Lebenslagen werden folglich einerseits beweglicher und durchlässiger, andererseits fragiler und brüchiger (vgl. Beck-Gernsheim 2010). In den Medien werden diese neuen Anforderungen sowie auch die veränderten Formen des Lebens und Arbeitens auf unterschiedliche Weise thematisiert. Als Repräsentationsmedien nehmen sie sich der Visualisierung von Berufs- und Arbeitswelten an. Sie offerieren den Nutzerinnen und Nutzern aber auch spezifische Bilder von Arbeitwelten und können gemäß vorliegender Wirkungsstudien – genannt sei hier beispielsweise der CSI-Effekt – auch Berufsvorstellungen und Berufswünsche von Zuschauerinnen und Zuschauern und Usern prägen (vgl. z. B. Keuneke 2010). Sie stellen Identitätsofferten bereit, die eine Auseinandersetzung mit beruflichen Anforderungen, beruflichem Erfolg und arbeitsbezogenem Scheitern ermöglichen und in Teilen herausfordern. Leider weiß man bislang wenig darüber, inwieweit sowohl mediale Angebote als auch Diskurse über traditionelle und vor allem neue Formen der Arbeit mit relevanten Normen und Werten und gesellschaftlichen Kontexten verbunden werden. Die vorliegende Schwerpunktausgabe widmet sich diesem Manko und soll zunächst den Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bilanzieren sowie forschungsleitende Fragestellungen entwickeln, die explizit die komplexen Zusammenhänge der Mediatisierung von Arbeitswelten berücksichtigen. Anhand exemplarischer Studien soll aufgezeigt werden, inwieweit moderne Arbeitswelten in besonderen TV-Formaten (re-) präsentiert werden und in welcher Hinsicht sie an ein gesellschaftliches Bewusstsein oder propagierte Arbeitsethiken anknüpfen. Ferner werden die Auswirkungen der Präsenz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Berufsalltag beschrieben. Nicht zuletzt wird anhand beispielhafter Best-Practice-Angebote aufgezeigt, wie man junge Menschen, die in der Berufsfindungsphase sind, bei der Ausbildungsplatzsuche unterstützen kann. Durch eine kreativ-kritische Medienarbeit lernen sie, diese Orientierungsphase als weniger belastend zu erleben und ihre eignen Potenziale besser einzuschätzen. Mediale und mediatisierte Arbeitswelten in Theorie, Empirie und PraxisZunächst zeigt der Sozialpsychologe Heiner Keupp auf, dass Teilhabe an Erwerbsarbeit und das damit verbundene Einkommen die soziale Position von Menschen in der Gesellschaft bestimmen und dadurch zentral für die Identitätskonstruktion ist. Die Arbeit an der eigenen Identität wird in beschleunigten Zeiten zu einem unabschließbaren Projekt und erfordert permanente psychische Investitionen. Er macht deutlich, wie im Verlauf der letzten Dekaden fertige soziale Schnittmuster für die alltägliche Lebensführung ihren Gebrauchswert verloren haben. Sowohl die individuelle Identitätsarbeit als auch die Herstellung von gemeinschaftlich tragfähigen Lebensmodellen unter Menschen, die in ihrer Lebenswelt aufeinander angewiesen sind, erfordern nun neue Kompetenzen. Die Beschleunigung und Verdichtung der Abläufe in den veränderten beruflichen und privaten Lebenswelten stellen die flexiblen Subjekte vor große Herausforderungen. Heiner Keupp macht die damit einhergehenden Chancen und Optionen zur individuellen Ausgestaltung deutlich, problematisiert aber auch die Belastungen und Risiken, denen der Einzelne ausgesetzt ist. In diesem Prozess stecken einerseits Potenziale für selbstbestimmte Gestaltungsräume, aber andererseits auch das Risiko und die leidvolle Erfahrung des Scheiterns.
Heiner Keupp interpretiert die massiv steigenden Depressionsraten und depressionsbasierte Arbeitsunfähigkeit vor dem Hintergrund von Selbsttechnologien und Ideologien des Neoliberalismus. Da Medien maßgeblich an der gesellschaftlichen Bedeutungskonstruktion beteiligt sind, analysiert die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Karin Knop ein jugendaffines Jobvermittlungsformat im Bereich des Reality TV daraufhin, wie spezifische Arbeitswelten konstruiert werden. Wie sich diese telemedialen Repräsentationsformen von Arbeit vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Kontextes und hegemonialer Subjektivierungsformen interpretieren lassen, wird hierbei auf Basis exemplarischer Sendeanalysen aufgezeigt und mit Rekurs auf das Konzept des Unternehmerischen Selbst und des Arbeitskraftunternehmers gesellschaftskritisch interpretiert. Die Ergebnisse von Gruppendiskussionen lassen außerdem deutlich werden, wie anhand solcher Formate arbeitsbezogene Wissensbestände und -ordnungen rezipiert werden, und sie veranschaulichen die potenziell handlungsleitende Relevanz der Deutungsangebote von Jobvermittlungsformaten. Die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Caroline Roth-Ebner reflektiert die Entwicklung der Mediatisierung von Arbeit. Auf Basis der Befragungsergebnisse von Digicom-Arbeiterinnen und Arbeitern verdeutlicht sie die Potenziale und Herausforderungen, die mit der Dominanz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Berufsalltag einhergehen. Es werden spezifische Strategien und Kompetenzen herausgearbeitet, die in diesen Arbeitsfeldern konstruktiv genutzt werden können, um den Entgrenzungsprozessen in flexibilisierten und virtualisierten Arbeitsprozessen zu begegnen. Über welche Kompetenzen die Arbeitskräfte von morgen verfügen müssen, um die Chancen einer mediatisierten Arbeitswelt zu nutzen und die Herausforderungen zu bewältigen, wird anhand von Medienkompetenzkonzepten systematisiert. Michael Bloech, medienpädagogischer Referent des JFF-Medienzentrums, skizziert das expandierende Angebot von Medienangeboten zu Berufsbildern und Ausbildungsmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund eines spartenbezogenen Fachkräftemangels werden verschiedene Optionen Ausbildungsangebote medial zu bewerben und damit attraktiv zu machen beschrieben. Er stellt den Video-Wettbewerb Ausbildung läuft? Kamera läuft!, ein Projekt aktiver medienpädagogischer Arbeit vor, bei dem der lebensweltliche Bezug zu Ausbildung und Arbeit im Vordergrund steht. Im Fokus des Projektes stehen die persönlichen Informationen über einen von den Teilnehmenden gewählten Lehrberuf. Es handelt sich also um ein innovatives Konzept, bei dem arbeitsweltbezogene Informationen von Jugendlichen für Jugendliche im Zuge aktiver Medienarbeit aufbereitet werden. Die Journalistin und Medienpädagogin Elke Dillmann stellt das Projekt Jobcast des Bayerischen Rundfunks vor. In diesem werden unterschiedlichste Kompetenzen gefördert. Jugendlichen wird Hilfestellung bei der Berufsorientierung gegeben, sie erweitern ihre Medienkompetenz durch aktive Medienarbeit und zusätzlich werden bei der Projektrealisierung soziale Kompetenzen erweitert. Die Beiträge verdeutlichen, dass Medien bei der Darstellung und Vermittlung von Berufsbildern und Arbeitswelten eine besondere Verantwortung zukommt. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass im Zuge der modernen Lebensführung Arbeitswelten von privaten Lebenssphären nicht entkoppelt betrachtet werden können. Es gilt insofern, Heranwachsenden bei dieser schwierigen, in Teilen unübersichtlichen beruflichen Orientierungsphase Hilfestellungen und Unterstützungsmöglichkeiten anzubieten. Dabei kann eine kritisch-reflektierte Medienarbeit äußerst nützlich sein, wobei das Spektrum an speziell für diese Thematik ausgerichteten Angeboten noch erweitert werden müsste.
Karin Knop und Dagmar Hoffmann
Literatur:
Beck-Gernsheim, Elisabeth (2010). Was kommt nach der Familie? Alte Leitbilder und neue Lebensformen. 3. überarb. u. erw. Aufl., München: C. H. Beck Verlag.
Keuneke, Susanne/Graß, Hildegard/Ritz-Timme, Stefanie (2010). CSI-Effekte in der deutschen Rechtsmedizin. Einflüsse des Fernsehens auf die berufliche Orientierung Jugendlicher. In: Rechtsmedizin (5), S. 400-406.
Sennett, Richard (1998). Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin-Verlag.
Dagmar Hoffmann: Was nützt der Tweet nur in Gedanken – Microblogging en passant
Berufsbedingt sitze ich viel vor dem Rechner. Wenn ich dabei meinen Gedanken nachgehen darf und nicht nur Mails zu beantworten habe (was leider inzwischen zum Kerngeschäft von Hochschullehrerinnen und -lehrern geworden ist), dann tue ich das sehr gerne und mit großer Ausdauer. Als ich vor vier Jahren im Nachgang zum Medienpädagogischen Kongress in Berlin (#kbom) einen Twitter-Account anlegte, war meine Familie empört. Das müsse ja wohl bitte nicht auch noch sein. Ich hinge eh schon genug vor dem Bildschirm und nun würde beim gemeinsamen Fernsehen auch noch die Timeline durchgescrollt werden, auf der sich (mehrheitlich) mir unbekannte Personen unter anderem über die Bahn beschweren, die Dramaturgie beim Tatort kritisieren, sich auch über Netzpolitik austauschen oder manchmal zu gerne selbst promoten. Ich versuchte, die Kritikerinnen und Kritiker in meinem Umfeld mitzunehmen, ihnen zu zeigen, was für mich wichtige Infos und Kontakte sind, und was manchmal eher Amüsement ist, das in meinem Alltagsgeschäft leider viel zu kurz kommt. Man – vor allem mein Sohn, damals 15 Jahre alt – versuchte, mit mir Regeln zu vereinbaren: Wenn Fußball oder Tatort geguckt wird, ist ein zweiter Bildschirm tabu. Lediglich bei der sonntäglichen Talkshow Günther Jauch dürfe ich mal einen Blick in die Tweets zum Hashtag wagen.
Die eigens berufliche Intension war nicht vergessen, wenngleich sich nach kurzer Zeit herausstellte, dass Microblogging für mich mehr als die Teilhabe am bildungspolitischen Diskurs und mehr als temporäres Networking sowie Kollaboration bedeuteten. Neben dem Mehrwert im beruflichen Kontext fand ich zudem die privaten Facetten mancher – nicht aller – Akteurinnen und Akteure interessant, denen ich folg(t)e. Junge Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen, die ihren Alltag mit kleinen Kindern zu managen haben, Frauen, die sich gegen Sexismus und Stigmatisierung auflehnen, Nachwuchsakademikerinnen und -akademiker, die an ihrer Karriere basteln müssen und dabei manchmal scheitern, Kolleginnen und Kollegen mit Leidenschaften für Fußball, Wein, Italien, Karikaturen sowie zuweilen dubiosen TV-Präferenzen. Studierenden folge ich #ausgründen nur selten, obgleich ich über ihre Tweets viel über Formen und Ursachen der Prokrastination lerne, aber auch erfahre, was sie neben ihrem Studium alles leisten (können), was sie darüber hinaus interessiert, bewegt und bedrückt. Manche Dinge, wie ihr Liebeskummer oder ihre Selbstzweifel, sind aber doch recht intim. Manchen Menschen ist vermutlich nicht immer bewusst, wer ihnen folgt und zuhört. Doch wem ist das schon klar – etwa im Bus? Ohne Zweifel ist die Zuwendung zu solchen Diensten zeitintensiv. Ich aber mag die bunte Mischung aus Sinnigem und Vordergründigem, aus belanglosen Inhalten und tiefen Wahrheiten. Dabei kommt mir die Frage von Frank Schirrmacher in den Sinn: Wollen wir denn, dass unser ganzes Leben Effizienzkriterien unterworfen wird? Ich will das nicht. Im Übrigen wird twittern in unserem Haushalt längst akzeptiert und begrüßt – nicht nur bei Wahlen, Talkshows und beim Tatort.
Dagmar Hoffmann: Im Spiegel des Zeitgeistes und jenseits von Medienhypes
Medienpädagogische Ansätze entwickeln sich nicht losgelöst vom Wandel der Medien und Medienumbrüchen, auf die sie mit angemessenen Methoden und Praxiskonzepten reagieren müssen. Die Digitalisierung, Medienkonvergenz sowie mobile und multimodale Nutzungsweisen stellen bewährte Programme der Medienpädagogik auf den Prüfstand und fragen nach deren Leistungsfähigkeit. Die Zielvorstellungen der Medienpädagogik können sich heute weniger an Gebrauchsweisen und einzelnen Medienangeboten ausrichten. Es gilt, vor allem die Leitgedanken von Kompetenz, Partizipation und Mündigkeit in Anbetracht neuer Formen von Öffentlichkeiten neu zu justieren.
Literatur:
Aufenanger, Stefan (2000). Medien-Visionen und die Zukunft der Medienpädagogik. In: medien praktisch, 24 (93), S. 4–8.
Baacke, Dieter (1973). Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München: Juventa.
Carstensen, Tanja/Schachtner, Christina/Schelhowe, Heidi/Beer, Raphael (2014). Subjektkonstruktionen im Kontext Digitaler Medien. In: Carstensen, Tanja/Schachtner, Christina/Schelhowe, Heidi/Beer, Raphael (Hrsg.), Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S. 9–27.
Hoffmann, Bernward (2003). Medienpädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Hoffmann, Dagmar (2016). Good Citizens. Eine akteursorientierte Perspektive auf die Bedingungen und Wirklichkeiten politischer Teilhabe. In: Pöttinger, Ida/Kalwar, Tanja/Fries, Rüdiger (Hrsg.), Doing Politics. Politisch agieren in der digitalen Gesellschaft. Schriften zur Medienpä¬dagogik. München: kopaed, S. 39–50.
Hugger, Kai-Uwe (2001). Medienpädagogik als Profession. Perspektiven für ein neues Selbstverständnis. München: kopaed.
Hugger, Kai-Uwe (2008). Professionalisierung der Medienpädagogik. In: Sander, Uwe/von Gross, Friederike/Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 559–563.
Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Recht, Marcus/Metz, Nina (2010). Flickernde Jugend – Rauschende Bilder. Netzkul¬turen im Web 2.0. Frankfurt am Main/New York: Campus.
Röll, Franz Josef (2006). Methoden der Medienpädagogik. In: Lauffer, Jürgen/Röllecke, Renate (Hrsg.), Methoden und Konzepte medienpädagogischer Projekte. Dieter Baacke Preis Handbuch 1. Bielefeld: Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur in der Bundesrepublik, S. 10–28.
Sander, Uwe/von Gross, Friederike/Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.) (2008). Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Schachtner, Christina/Duller, Nicole (2014). Kommunikationsort Internet. Digitale Praktiken und Subjektwerdung. In: Carstensen, Tanja/Schachtner, Christina/Schelhowe, Heidi/Beer, Raphael (Hrsg.), Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S. 81–154.
Schmidt, Jan-Hinrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe (Hrsg.) (2009). Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Berlin: Vistas.
Schorb, Bernd (1995). Medienalltag und Handeln. Medienpädagogik in Geschichte, Forschung und Praxis. Opladen: Leske + Budrich.
Süss, Daniel/Lampert, Claudia/Wijnen, Christine W. (2013). Medienpädagogik. Ein Studienbuch zur Einführung. 2. überarb. u. erw. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Tulodziecki, Gerhard (1997). Medien in Erziehung und Bildung. Grundlagen und Beispiele einer handlungs- und entwicklungsorientierten Medienpädagogik. 3. überarb. u. erw. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Dagmar Hoffmann und Susanne Heidenreich: Zur Bedeutung und Funktion von Empowerment im Kontext inklusiver Medienpraxis
Über die vielfältigen Vernetzungs-, Kollaborations-und Mobilisierungsmöglichkeiten durch neue mediale Öffentlichkeiten und damit verknüpft neue mediale Infrastrukturen, insbesondere Dienste, ist in den vergangenen Jahren viel diskutiert worden. Die Kommunikations- und Partizipationsangebote mittels vielfältiger Medien, Formate und Anwendungen haben sich enorm erweitert. Die neuen medialen Gegebenheiten haben Teilhabemöglichkeiten verändert und auch dazu geführt, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen und/oder Menschen mit Behinderungen in den Medien stärker präsent sind. Anfang des Jahrhunderts attestierten Gerard Goggin und Christopher Newell (2003) dem Internet und den mobilen Telekommunikationstechnologien das Potenzial, das Leben von behinderten Menschen künftig zu revolutionieren. Insbesondere text-basierte Informationen können für Sehbehinderte in auditive Informationen transformiert werden, auch haben sich einige technische Assistenten etabliert, die Beeinträchtigungen kompensieren können. Doch der technologische Fortschritt und die besseren Zugangsbedingungen zu gesellschaftlichen Teilbereichen, die im Netz (re-)präsentiert werden, mindern und eliminieren – so Katie Ellis und Mike Kent (2011) – nicht ohne Weiteres vorhandene Stigmatisierungen von Be-hinderungen und den sozialen Ausschluss benachteiligter Gruppen. Es werden allenfalls die Lebenswelten und Bedürfnisse marginalisierter Menschen offensichtlicher, was nicht zugleich deren Akzeptanz bedeutet. Weiterhin sind vor allem die Betroffenen selbst aufgefordert, auf ihre Belange hinzuweisen und sich zu ermächtigen, auf Probleme aufmerksam zu machen, Hilfen einzufordern sowie Missstände aufzudecken.
Dem Internet wird ein besonderes demokratisches Potenzial zugeschrieben, es gilt bisweilen als Befreiungsinstrument, doch findet sich dort faktisch jeder mit seinen persönlichen und/oder kollektiven Interessen wieder? Ist es nunmehr wirklich für alle sozialen Gruppen einfacher geworden, sich zielorientiert öffentlich zu machen und sich mit persönlichen Problemen und Nöten ausreichend Gehör zu verschaffen? Zu fragen ist, welche vielfältigen Bemühungen es derzeit gibt, mittels digitaler Medien und Anwendungen die Integration marginalisierter Akteure zu fördern und sie zu ermutigen, am sozialen und kulturellen Leben gleichberechtigt teilzunehmen sowie offensiv ihre Rechte verstärkt einzufordern. In diesem Kontext ist Empowerment zu einem Schlagwort avanciert, dass auf die (Wieder-) Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebensalltags abzielt und Menschen befähigen soll, eigenverantwortlich für die eigenen Bedürfnisse, Interessen und Wünsche aktiv einzutreten und sich gegen Bevormundung zu wehren. Es geht darum, sich der eigenen Ressourcen und des eigenen Gestaltungsvermögens bewusst zu werden sowie positive Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und sozialer Anerkennung zu machen. Es sollen Wege aufgezeigt werden, wie man sich Zugang zu relevanten Informationen, Dienstleistungen und Unterstützungsressourcen verschaffen kann, die einem nützlich sind und die helfen, sich mit seinen Problemen nicht allein zu fühlen. Empowerment-Konzepte sind in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erprobt und bisweilen kritisch diskutiert worden. Sie haben eine längere Tradition in der Sozialen Arbeit, der Behinderten- und Heilpädagogik, sie sind aber auch in der Bewegungsforschungund Entwicklungspolitik vertreten und in Arbeiten der Cultural Studies zu finden. Fokussiert wird auf Aspekte von gesellschaftlichem Machtgewinn und der Stärkung der Autonomie marginalisierter Gruppen. Ferner gilt es, Menschen zu befähigen, Strategien zu entwickeln und anzuwenden, die ihnen bei der Bewältigung der alltäglichen Lebensbelastungen behilflich sind (vgl. u. a. Bröckling 2003; Herriger 2014).
Kernfragestellungen und Problemfelder
Im Mittelpunkt aktueller Betrachtungen stehen Prozesse von Selbstbemächtigung und Selbstkompetenz, die einerseits über die Thematisierung anlassbezogener, temporärer sowie auch dauerhaft relevanter Ereignisse und Probleme, andererseits über selektive Kooperationen und die Nutzung medialer Infrastrukturen möglich werden. Das Laut- und Sichtbarwerden marginalisierter Individuen und Gruppen soll eine verstärkte Sensibilisierung gewähren und ein neues Problembewusstsein seitens der breiten Bevölkerung gegenüber benachteiligten Menschen schaffen. Daraus könnten sich dann – so die damit verbundenen Hoffnungenund Intentionen – Unterstützungsmomente für Inklusionsbestrebungen in unterschiedlichen Bereichen ergeben. Zugleich werden aber auch die Herausforderungen und pädagogischen Handlungsbedarf ein verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen evident, werden die Grenzen des Möglichen und Machbaren proaktiver Selbstintegration marginalisierter Gruppen verdeutlicht. Im Kontext der Debatte um Empowerment-Strategien und inklusive Medienpraxis gilt es herauszufinden, inwieweit strukturelle Ermutigungsbedingungen konkret dazu beitragen können, soziale Benachteiligung, Diskreditierung und Diskriminierung transparent zu machen, ihnen entgegen zu wirken und sie gegebenenfalls überwinden zu helfen. Kaum systematisch untersucht sind bislang die Formen öffentlicher Artikulation – wie etwa Blogging – marginalisierter Gruppen, die effektiv der Empörung, der Kritik und Destigmatisierung dienen. Empowerment-Strategien fokussieren primär auf die benachteiligten Individuen, ihren Befähigungen und Defiziten, eher selten werden die Affordanzen digitaler Medien, Infrastrukturen und Dienste in den Blick genommen, wenn es um die potenzielle und faktische Förderung von Emanzipation, Integration und Inklusion geht. Zu fragen und zu ermitteln ist, ob Bedürftigkeiten sowie Ressourcen und Bereitschaften der Betroffenen mit den vorhandenen Medienangeboten eigentlich zusammenpassen und inwieweit sie gewinnbringend mit gewisser Nachhaltigkeit genutzt werden (können). Welche Kompetenzen sind basale Voraussetzung, um sich eigenständig für soziale und kulturelle Teilhabe stark zu machen und gegebenenfalls andere als Unterstützende und Mitmachende zu gewinnen? Empowerment-Konzepte dienen dazu, sich der eigenen Stärken und Macht bewusst zu werden, sie erlauben es, Schritt für Schritt mutiger zu werden, um sich einzumischen. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass bestimmten pädagogischen und psychologischen Empowerment-Maßnahmen auch Grenzen gesetzt sind.
Zu diesem Heft
Die Frage von Ulrich Bröckling, was Medien mit Empowerment zu tun haben, scheint fast beantwortet: Sie bemächtigen (auch marginalisierte) Individuen, Kommunikation vernetzter, leichter und effizienter zu gestalten, durch einen erleichterten, globalen Zugang zu Wissen und Waren. Zugleich etablieren sie neue Ansprüche an Kommunikation (ständige Erreichbarkeit) und Effizienz (Multitasking, Informationsselektion). „Die Kommunikationsmöglichkeit ist zur Kommunikationspflicht geworden“, so Bröckling. Er hinterfragt, welche Rolle das Konzept des Empowerment spielt, mit welchen Widersprüchen der Begriff ausgestattet ist und in welcher Paradoxie Macht und Ohnmacht im Empowerment-Begriff vereint sind. Im Anschluss begibt sich Alexander Röhm auf die Suche nach Prozessen, die zu stigmatisierenden und destigmatisierenden Medieneffekten führen (können). Vor allem die Potenziale von Medien zur Destigmatisierung von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder Behinderungen stehen im Fokus und die Frage, wie sie als Empowerment-Instrument nutzbar gemacht werden können. Die Debatte um Inklusion greift Jan-René Schluchterauf, indem er die Frage nach Chancen-gleichheit in und Zugangsgerechtigkeit zur mediati¬sierten Gesellschaft – unabhängig von sozialer und/ oder kultureller Herkunft, Geschlecht, Alter oder Behinderung – zum Anlass nimmt, den Zusammenhang von Medien und sozialer Ungleichheit zu beleuchten. Dabei stellt Schluchter Medien als Instrumente des Empowerment vor und erarbeitet den Zusammenhang zur aktiven Medienarbeit.
Einen weiteren Schritt gehen Alexander Schmoelz und Oliver Koenig auf ihrer Spurensuche nach einer inklusiven Medienpädagogik. Sie sprechen von einer „Not“ für jene Menschen, „die in ihrer Biografie keine Möglichkeiten für Erfahrungen des Medienzugangs, der Medienkompetenz und der Medienbildung hatten.“ Daraus entsteht die Notwendigkeit einer Medienpädagogik, die in der Lage ist, „befähigende Räume zu schaffen“. Die Journalistin Mareice Kaiser berichtet im Interview mit Dagmar Hoffmann über ihre Intentionen, ein inklusives Familienblog zu führen. Sie erläutert, welches Vorwissen und welche Kompetenzen von Vorteil sind, um solch ein Blog kreativ und erfolgreich zu betreiben. Eindrücklich schildert sie ihre Erfahrungen des digitalen Austausches mit Eltern, die ebenfalls ein Kind mit Behinderung pflegen und betreuen, sowie von behinderten-feindlichen Reaktionen. Abschließend werden zwei Beispiele vorgestellt, in denen Medien Instrumente für Empowerment sind. Die Artikel widmen sich aus zwei Sinnes-Perspektiven dem Medium Film: Kira van Bebber- Beeg analysiert anhand einer US-amerikanischen Fernsehserie die Partizipationsformen gehörloser Rezipierender, während Lena Hoffmann neue Möglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen im Kino erläutert. Zwei Zugänge, die hörende und sehende Leserinnen und Leser dafür sensibilisieren, dass ein Kinobesuch oder Fernsehabend viel mehr sind als nur Freizeit und Unterhaltung, nämlich Selbstbemächtigung und Teilhabe!
Literatur:
Bröckling, Ulrich (2003). You are not responsible for being down, but you are responsible for getting up. Über Empowerment. In: Leviathan, 31 (3), S. 323–344.
Ellis, Katie/Kent, Mike (2011). Disability and New Media. New York/London: Routledge.
Goggin, Gerard/Newell, Christopher (2003). Digital Disa¬bility: The Social Construction of Disability in New Media. Lanham u. a.: Roman & Littlefield.
Herriger, Norbert (2014). Empowerment-Landkarte: Diskurse, normative Rahmung, Kritik. In: APuZ, 13–14, S. 39–46.
"Ein Bewusstsein dafür bekommen, wie politisch das Private ist"
Seit 2014 betreibt die Journalistin Mareice Kaiser das Blog „Kaiserinnenreich", auf dem sie über ihr Leben als Mutter von zwei Töchtern, mit und ohne Behinderung, über Inklusion sowie nunmehr auch über Trauer und Trauerbewältigung berichtet. Das inklusive Familienblog wurde 2016 bei den „Goldenen Bloggern“ als Bestes Tagebuch-Blog ausgezeichnet. Im Gespräch mit Dagmar Hoffmann berichtet Mareice Kaiser über ihre Erfahrungen, über Ansprüche an ein kreatives und ansprechendes Blog sowie über allgegenwärtige strukturelle Diskriminierungen.
merz: Du hast deinen Blog vor zwei Jahren eingerichtet mit dem Titel ‚Das inklusive Familienblog‘. Was genau war deine Intention?
Kaiser: Ich glaube, es hieß damals Kaiserinnenreich: Unser Leben zwischen Krankenhaus und Kita. Ich hatte nämlich noch gar nicht auf dem Schirm, was Inklusion eigentlich bedeutet und was wir als Familie damit eigentlichzu tun haben. Das ist irgendwann später entstanden, macht aber gut anschaulich, was in der Zwischenzeit mit mir passiert ist.
merz: Welches Ereignis hat dazu geführt, dass du irgendwann entschieden hast, dass es für dich ein inklusives Familienblog ist?
Kaiser: Ich bin mir gar nicht sicher, ob es das über¬haupt ist. Mittlerweile bin ich noch einen Schritt weiter und denke: Nur weil ich eine behinderte Tochter hatte, habe ich noch lange nicht das Recht, das Wort Inklusion für mich gepachtet zu haben. Aber ich glaube, die Umbenennung in ein ‚inklusives Familienblog‘ war in dem Moment, als ich so eine Ahnung hatte, wie eine inklusive Gesellschaft aussehen kann und wie viele unterschiedliche Menschen davon profitieren können. Unter anderem auch wir, als Familie mit einem behinderten Kind. Ich bin einfach Fan von dem Wort Inklusion und vor allem von seinem Wortsinn geworden – und fand es schön, es als Blickfang auf meinem Blog zu haben.
merz: Weißt du etwas über die Leserinnen und Leser deines Blogs?
Kaiser: Es gibt viele Menschen, die Blogs gründen, damit ein Marketingziel verfolgen und ganz genau wissen, woher die Leserschaft kommt. Das ist bei mir anders. Ich schaue ungefähr alle zwei Monate mal, wie viele Leute meine Texte gelesen haben und freue mich darüber. Ich bekomme Kommentare auf Blog-Artikel und viele Mails – übrigens von viel mehr Frauen als Männern. Am Anfang dachte ich, dass sich viele Eltern behinderter Kinder mel-den. Das passiert auch, aber in der Relation nicht viel mehr als andere Menschen, die bisher keinen Kontakt zu behinderten Menschen in ihrem Leben hatten und für die mein Blog eine Horizonterweiterung war. Auch Menschen, die mit behinderten Kindern oder behinderten Menschen arbeiten, haben mir zurückgemeldet, dass sie einen ganz neuen Blick auf ihre Arbeit bekommen haben. Und dann melden sich Frauen, die schwanger sind bzw. werden wollen. Sie haben mir viele Rückmeldungen gegeben, dass meine Texte sie dazu bewegt haben, neu über Pränataldiagnostik nachzudenken. Oder ein konkretes Beispiel, was mich sehr bewegt hat: Eine Frau, die ein Kind bekommen hatte, welches nur zehn Wochen gelebt hat. Sie wusste nicht, wie lange es leben würde – und in den zehn Wochen musste sie sich damit auseinandersetzen, vielleicht mit einem schwerbehinderten Kind zu leben. Mein Blog hat ihr geholfen, mit dieser Vorstellung zu leben. Es gibt noch andere Beispiele – und genau die waren für mich immer ein Grund weiterzuschreiben, auch wenn ich zwischendurch daran gezweifelt habe.
merz: Du kommst aus dem journalistischen Bereich und hast schon viele Kompetenzen mitgebracht. Was denkst du muss man für Eigenschaften haben, um einen Blog zu führen und wie aufwändig ist die Gestaltung?
Kaiser: Je nachdem wie perfektionistisch man veranlagt ist, kann man es mit ganz einfachen Mitteln machen. Es gibt unterschiedliche Systeme zum Bloggen, so dass man auch mit wenig Technikwissen selbst einen Blog starten kann. Als meine nicht-behinderte Tochter geboren wurde, hatte ich mich mehr mit Elternblogs beschäftigt und mich mit den Themen, die ich mit ihr hatte, wiedergefunden. Aber nicht mit den Themen, die ich dann noch extra mit meiner behinderten Tochter hatte. Die Blogs, die ich dafür gefunden hatte, waren mir zu sehr auf das Thema Behinderung spezialisiert. Und sie sahen leider für mich auch ganz oft so aus, wie sich viele Menschen Behinderung vorstellen: uncool. Ich wollte einfach gerne, dass mein Blog das widerspiegelt, was ich im Alltag mit meiner behinderten Tochter erlebt habe. Wenn ich von ihr erzählt oder ihre Diagnosen aufgezählt habe, dann waren immer alle total geschockt. Wenn sie aber meine Tochter gesehen haben, haben sie gesagt „die ist total süß und hübsch und so liebenswert“ – was natürlich überhaupt nicht im Gegensatz zu einer Behinderung steht. Ich wollte auf meinem Blog zeigen, dass auch ein behindertes Kind cool ist und auch der Blog von einer Mutter eines behinderten Kindes cool sein kann. Von daher hatte ich an mich selbst hohe Ansprüche, als ich mein Blog gestartet habe. Die resultierten auch daraus, dass ich schon vorher als Social Media-Redakteurin gearbeitet und andere Blogs konzipiert habe – und jetzt nicht irgendwas starten wollte. Natürlich ist es gut, wenn man dann bekannter werden möchte, wenn man auch auf anderen Social Media-Kanälen unterwegs ist. Das bin ich sowieso schon gewesen, weil ich indirekt seit 2001 online publiziere. Ich glaube aber, das Einzige, was man mitbringen muss, ist sowas wie ein Sendungsbewusstsein und ein Thema. Das habe ich eben mit meiner behinderten Tochter quasi in den Schoß gelegt bekommen. Seitdem sie tot ist, habe ich gar nicht mehr das große Bedürfnis noch weiter zu erzählen. Für mich persönlich reicht jetzt dieses ‚normale‘ – in Anführungszeichen – Familienleben nicht mehr zum Schreiben aus. Ich finde es spannend, über Trauer und Tod im Internet zu lesen und vielleicht ab und zu mal was dazu zu schreiben. Aber das eigentliche, für mich auch politische Thema, das bleibt – ich habe bloß aus dem Alltag nicht mehr so viel dazu zu erzählen. Da muss ich jetzt gerade gucken, in welche Richtung es gehen kann.
merz: Gab es andere Bloggerinnen und Blogger, die deine Arbeit beeinflusst haben?
Kaiser: Ich hab mich immer so eher als Außenstehende (im besten Sinne) von zwei digitalen Filterblasen gefühlt: Auf der einen Seite die Familienblogger, auf der anderen Seite die Inklusionsblogger. Ich war bei den Inklusionsbloggern das Anhängsel, weil ich nicht selbst behindert bin, und hatte bei den Elternbloggern die Außenseiterrolle, weil ich eben eine behinderte Tochter habe – und dadurch natürlich auch ein paar extra Themen. Ich fand es aber schön, sowohl in der einen als auch der anderen Filterblase wirklich herzlich begrüßt zu werden und von vielen Menschen lernen zu können. Aber es gab nicht die Bloggerin oder den Blogger. Gleichzeitig lese ich unheimlich gerne Blogs, in denen es nicht um Familie oder Behinderung geht, sondern um Musik, Bücher, das Leben, Politik, Gesellschaft. Was für mich selbst eine Horizonterweiterung war, waren Blogs von behinderten Menschen, vor allem von behinderten Frauen, zu denen ich mittlerweile oft auch persönlichen Kontakt habe. Denn das ist spannend, wenn man vor jemandem sitzt, ungefähr im gleichen Alter. Eine Frau, die irgendwie so tickt wie ich selbst, einfach wie eine Freundin, und gleichzeitig bin ich aber eben die Mutter, die über ein behindertes Kind schreibt und sie selbst ist quasi das behinderte Kind und hat auch eine Beziehung zu ihrer Mutter ... Es gab da viele spannende, Horizont erweiternde Gespräche, vor allem mit Anastasia Umrik, die mittlerweile auch eine Freundin von mir geworden ist. Ich weiß nicht, ob ich eine solche Begegnung gehabt hätte, wenn ich meinen Blog nicht gestartet hätte, und letztendlich ist das dann auch eine schöne Rückmeldung, von so jemanden eine Wertschätzung zu erfahren.
merz: Was hat der digitale Austausch oder auch die Präsenz mit dir und deiner Familie gemacht?
Kaiser: Auf jeden Fall habe ich daraus ganz viel gelernt: Zum Beispiel, was Diskriminierung bedeutet. Durch den digitalen Austausch ist mir erst bewusst geworden, wie viel Diskriminierung wir erlebt haben als Familie mit einem behinderten Kind. Bewusst war mir das schon vorher, aber ich konnte es nicht so richtig artikulieren. Vor allem auch, was strukturelle Diskriminierung angeht. Durch Kontakte zu anderen Bloggerinnen und Bloggern – nicht nur aus dem Behindertenkontext – habe ich viel gelernt, beispielsweise aus Blogs über Rassismus. Einfach ein Bewusstsein dafür bekommen, wie politisch das Private ist. Also, dass es tatsächlich eine politische Relevanz hat, was wir erleben bzw. erlebt haben: rund um die Beantragung von Hilfsmitteln, dass Hilfsmittel für behinderte Menschen von der Krankenkasse abgelehnt werden und viele einfach gar nicht wissen, dass sie Widerspruch einlegen können. Wenn ich solche Sachen aufgeschrieben und darauf Reaktionen bekommen habe und gesehen habe, dass wir kein Einzelfall sind, sondern dass es mindestens jeder zweiten Familie mit einem behinderten Kind so geht, sind das so Momente, in denen man sich fragt: Okay, wo ist denn jetzt die Gesellschaft? Und genau an diesen Punkten zeigt sich, dass sie behinderte Menschen eigentlich nicht will und sie ausschließt. Das hätte ich ohne das Internet auch erlebt, aber sehr viel schwächer in der politischen Dimension.
merz: Gab es auch Reaktionen, die du auf gar keinen Fall veröffentlichen wolltest auf deinem Blog?
Kaiser: Die behindertenfeindlichen Teile der Gesellschaft sind auch im Internet. Ich habe auch einige verletzende und diskriminierende Kommentare bekommen. Die meisten habe ich nicht freigeschaltet. Ab und an habe ich mich dazu entschieden sie zu veröffentlichen und fand es dann schön zu sehen, dass die Leserschaft, die ich dann schon hatte, das quasi selbst geregelt hat. Letztendlich tut es dann auch nicht mehr so weh.
merz: Gab es Momente, in denen du das Schreibensein lassen oder abbrechen wolltest?
Kaiser: Immer wieder. Die positiven Momente überwiegen aber. Ich glaube, der deutlichste Moment war nach dem Tod meiner Tochter. Ich hatte auf meinem Blog veröffentlicht, dass sie gestorben ist und dann gab es eine sehr große Anteilnahme, auch über das Netz hinaus. Alles, was im Netz passiert ist, war für mich in Ordnung, aber als es die Grenzen des Internet überschritten hat und auf einmal eine dpa-Nachricht wurde, war es zu viel. Es wurde ohne meine Zustimmung ein Foto von meiner Tochter und mir veröffentlicht. Da war für mich die Grenze eindeutig überschritten. Ich hatte ein Gefühl von Kontrollverlust. Gleichzeitig – mit etwas Abstand – ist es natürlich auch die Quittung dafür, dass ich mit meinen Texten Nähe erzeuge. Wobei das das ekelhafte Verhalten inklusive Urheberrechtsverletzung der Zeitung natürlich nicht rechtfertigt. Das war aber wirklich der einzige Moment, wo ich dachte, ich mach nicht weiter. Ansonsten erzeugt Kritik bei mir eher Power nach vorne, à la ‚jetzt erst Recht‘.
merz: Du hast nach dem Tod deiner Tochter eine Zeit lang pausiert. Dann gab es große Resonanz und Freude, als du wieder präsent warst. Hast du dich verpflichtet gefühlt, dich wieder zu zeigen?
Kaiser: Ich wünsche mir, dass Tod und Trauer auch Themen sein können, über die wir miteinander sprechen, so dass ein Rückzug für mich eine falsche Reaktion gewesen wäre. Gleichzeitig ist aber Trauer auch keine Situation, in der man öffentliche Entscheidungen treffen möchte. Also war es schwierig – und ist es auch weiterhin schwierig für mich. Den genauen Weg für mich suche ich gerade noch.
merz: Der Tod eines geliebten Menschen ist immer schmerzlich. Ein Kind zu verlieren fordert nochmal ganz anders, nicht wahr?
Kaiser: Zum Leben gehört eben auch Tod dazu und bei einem Leben mit Behinderung ist das vielleicht ein noch präsenteres Thema – oft, nicht immer. Ich habe mich irgendwann dazu entschieden, dieses Thema öffentlich zu machen und wie es jetzt zukünftig weitergeht, weiß ich nicht bzw. weiß ich schon ein wenig, weil ich auch ein Buch geschrieben habe, das in diesem Jahr veröffentlich wird.
merz: Ein Buch über deinen Blog?
Kaiser: Über meinen Weg als Mutter einer behinderten Tochter, die arbeitet und weitere Themen um Inklusion und Feminismus entdeckt. Es gibt im Buch kleine Ausschnitte vom Blog, aber auf 256 Seiten erzähle ich natürlich anders als in Posts.
merz: Hast du eine Wunschvorstellung, wohin es mit dem Blog gehen soll?
Kaiser: Ich würde mir wünschen, dass es ein Ort ist, an dem Eltern behinderter Kinder und alle Interessierten eine Horizonterweiterung und einen Perspektivwechsel erfahren können. In einer Porträt-Reihe stelle ich andere Mütter behinderter Kinder vor. Als Journalistin setze ich gern Menschen in Szene und lasse sie erzählen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass das Kaiserinnenreich vielleicht in ein oder zwei Jahren eine Plattform ist, auf der Mütter behinderter Kinder aus ihrem Alltag berichten; dass es mehrstimmiger wird. Ich sehe mich nicht als Vorbild und meine nicht, dass andere Mütter behinderter Kinder es so machen sollen wie ich. Ich denke einfach, dass es wichtig ist, dass Mütter behinderter Kinder sprechen können und Gehör bekommen.
Mareice Kaiser, 1981 geboren, lebt als Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt über Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter anderem für das MISSY Magazine und die taz. Im November erscheint ihr erstes Buch Alles inklusive im S. Fischer Verlag.Das Interview führte Dagmar Hoffmann.
Dagmar Hoffmann und Ulrike Wagner: Editorial
Aus der Perspektive medienpädagogischer Forschung sind Medien, ihre Angebote und Inhalte sowie ihre Kommunikations- und Interaktionsstrukturen von vielschichtiger Relevanz in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, verstanden als Prozess individueller Persönlichkeitsentwicklung und Vergesellschaftung. In der Auseinandersetzung des Subjekts mit gesellschaftlichen Gegebenheiten und Bedingungen werden sie unter anderem zur Orientierung, zur Information und zur Identitätskonstruktion herangezogen. Mit Blick auf neuere Entwicklungen im Bereich digitaler Medientechniken finden Heranwachsende zunehmend kommunikative und interaktive Werkzeuge in den Medien vor, um sich zu anderen in Beziehung zu setzen, eigene Werke zu gestalten und diese zu veröffentlichen. Den zentralen Ausgangspunkt bildet dabei die Annahme, dass Medien nicht mehr nur als eine komplementäre Sozialisationsinstanz neben Familie, Peergroup und Schule gelten können, sondern sich auf vielfältige Weise in diese zentralen Bezugsgrößen von Sozialisation einklinken. Die Präsenz digitaler Medientechnologien und ihre Verfügbarkeit in fast allen sozialökologischen Kontexten des Aufwachsens macht es erforderlich, bekannte theoretische und methodische Ansätze zur Beschreibung, Deutung und Interpretation der Medienaneignung und Mediensozialisation auf den Prüfstand zu heben, zu modifizieren und gegebenenfalls zu erweitern. Es stellt sich zum einen die Frage, inwieweit die Mediensozialisationsforschung sozialen Phänomenen, die über die Nutzung neuer Medientechnologien und erweiterter Medienensembles zu beobachten sind, (noch) erkenntnistheoretisch gerecht werden kann. Zum anderen bleibt es eine Herausforderung, eine konzise, zeitgemäße Theorie der Mediensozialisation zu entwickeln, die den Dynamiken medialer wie gesellschaftlicher Entwicklung annähernd gerecht wird.
Vor dem Hintergrund des fortschreitenden sozialen und medialen Wandels scheint auch eine integrative Perspektive auf Medien und Sozialisation angeraten, die weder auf Medien noch auf Sozialisation fokussiert, sondern beide Bezugsdimensionen respektive Analysegrößen gleichberechtigt berücksichtigt. Gegenwärtig besteht der Eindruck, dass nicht nur in medienöffentlichen, teilweise populistischen Diskursen sondern auch in wissenschaftlichen Kontexten (wieder) primär vom Medium und seinen Möglichkeiten und weniger von den Subjekten und ihren Bedürfnissen und Motivlagen aus gedacht wird. Es erscheint vor dem Hintergrund vielschichtiger Mediatisierungsprozesse mehr als notwendig, das Handeln der Menschen mit, in und über Medien als soziales Handeln und damit als zentrale Perspektive herauszuarbeiten: - So übernehmen mediale Inhalte erstens orientierende Funktionen in Bezug auf Themen, die in enger Verbindung mit den Entwicklungsaufgaben von Heranwachsenden stehen. Die Auseinandersetzung mit Facetten der eigenen Identität ist damit eine wichtige Größe im Sozialisationsprozess, aber bei weitem nicht die einzig relevante.- Zweitens sind mediale Inhalte und insbesondere bestimmte mediale Anwendungen wie Soziale Netzwerkdienste durch ihre Interaktionsstrukturen dafür geeignet, neuere Formen von Vergemeinschaftung zu realisieren. Wie sich die Gestaltung sozialer Beziehungen mit, in und über Medien ausformt und welche medialen Interaktionsstrukturen dabei besonders geschätzt werden, muss ebenfalls differenziert berücksichtigt werden.- Drittens ist Medienhandeln immer auch ein Handeln, das von sozialen und kulturellen Bedingungen gerahmt wird. Insofern ist mediales Handeln immer als Prozess im Kontext von Sozialisation zu begreifen, dessen sozio-kulturelle Bedingtheit als Untersuchungsaspekt von Interesse ist und für Prozesse der Vergesellschaftung besondere Relevanz erhält. Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen erfolgt in der Gegenwartsgesellschaft unter äußerst komplexen Bedingungen, die a) Ergebnis gesellschaftlicher und medientechnologischer Entwicklungen sind, die b) nicht statisch sondern dynamisch sind und die c) nicht singulär betrachtet werden können, da sie stets wechselseitig agieren. Diese Ausgangsverhältnisse fordern seit Jahren Wissenschaft und Pädagogik heraus, insofern sie darum bemüht sind, die strukturellen und soziokulturellen Rahmenbedingungen des Aufwachsens und ihre Konsequenzen für die Individuation und Sozialisation abschätzen zu wollen. Anliegen ist es, sowohl die Potenziale einer Sozialisation mit neuen Medientechnologien und erweiterten Medienensembles zu identifizieren als auch etwaige Beschränkungen und Zwänge aufzuzeigen, die Inhalte und Anwendungen evozieren (können).
Die vorliegende Ausgabe von merzWissenschaft greift die Frage auf, wie sich Sozialisationsprozesse mit und über Medien unter aktuellen gesellschaftlichen und medialen Bedingungen vollziehen und welche Herausforderungen mit deren Erforschung verbunden sind. Zunächst beschäftigt sich Wolfgang Reißmann in einer historischen Perspektive mit den veränderten Lebens- und Sozialisationsbedingungen, die neue kulturelle und soziale Praktiken im Hinblick des Zeigens und Gezeigtwerdens hervorbringen. Er arbeitet heraus, inwieweit sich die Kommunikationsräume von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten durch die Visualisierung der Onlinekommunikation neu geordnet und strukturiert haben. Neue soziale Ordnungen generieren neue Kommunikationsarrangements, sie erfordern zudem veränderte Formen der Selbstpräsentation sowie der Nähe- und Distanzverhältnisse. Unter den Bedingungen transparenter Sichtbarkeitsfigurationen – so seine These – werden die alten Beziehungen zwischen Person, Maske und Rollenspiel neu exploriert. Eine Konsequenz transparenter Sichtbarkeitsfigurationen kann sein, dass Jugendliche heute mit Inszenierungen ihrer selbst, ihres Körpers und ihrer Lebenswelt spielen und mehr ‚arbeiten‘ müssen, „um in Medienumgebungen, die ihnen auf den Leib rücken, bestehen zu können und Handlungsspielräume zu sichern bzw. wieder zu gewinnen“. Anzunehmen ist, dass Praktiken der „Selbst-Theatralisierung“ (Neumann-Braun 2009) an Bedeutung gewinnen werden, sich auch verselbstständigen können und sich Unbestimmtheiten ergeben können, die der allseitigen Belichtung und latenten Fixierung des Subjekts zuwiderlaufen. Seiner Ansicht nach gilt es stärker noch als bisher kritisch zu reflektieren, welche Bedeutung das Spielen mit sowie das Aufführen und Wechseln von (‚Real-Life‘-)Rollen als ‚Lebensführungsprinzip‘ für die Persönlichkeitsentwicklung hat. Eine eingehende Untersuchung der besonderen Bedeutung von Medienlogiken und Mediensymboliken im Alltag von Heranwachsenden verlangt eine umfassende Berücksichtigung aller Medienangebote und Rezeptionsweisen im Kontext der Sozialisation. Ingrid Paus-Hasebrink, Jasmin Kulterer, Fabian Prochazka und Philip Sinner betonen, dass Mediensozialisationsforschung stets die familialen, schulischen und außerschulischen Kontexte mit im Blick haben muss sowie insbesondere die individuell zur Verfügung stehenden Rahmen, in denen Jugendliche ihre subjektiven Bedürfnisse, Motive, Gefühle, Ziele und Interessen ausdrücken und realisieren können.
Im Mittelpunkt ihrer Konzeption einer praxeologisch ausgerichteten integrativen Mediensozialisationsforschung steht die Frage nach dem subjektiven Sinn des (Medien-)Handelns von Kindern und Eltern im familialen Zusammenhang, wobei sie ein Faktorenkonglomerat auf der Makro-, Meso- und Mikro-Ebene zu berücksichtigen versuchen. Im Fokus ihrer Langzeituntersuchung steht das Medienhandeln Heranwachsender in sozial benachteiligten Milieus, die in besonderem Maße Unterstützung benötigen, um selbstbestimmt, reflektiert und kritisch mit Medien umzugehen. Während es einigen Eltern an Problembewusstsein fehlt und sie einen ausgesprochen liberalen, in Teilen nachlässigen Medienerziehungsstil präferieren, sind andere Eltern dieser Milieus Medien gegenüber äußerst skeptisch eingestellt und zeigen eine restriktive Medienerziehung. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung lassen erkennen, dass gerade sozial benachteiligte Heranwachsende eine multidimensionale und kooperative Medien- und Alltagskompetenzförderung benötigen, die die dazugehörigen Familien nicht allein gewährleisten können. Zentrale Bedeutung kommt nach Ansicht der Autorinnen und Autoren den Schulen zu, die theoretisch Kinder aller Milieus mit gezielten Medienkompetenzförderprogrammen erreichen können. Auf die Notwendigkeit, mikro- und makrosoziologische Prozesse von Sozialisation und Erziehung zusammenzubringen und für die Mediensozialisationsforschung besser nutzbar zu machen, weist auch Dieter Spanhel hin. Er entwirft in seinem Beitrag einen theoretischen Bezugsrahmen, um neuere soziale Handlungspraktiken im Kontext der Aneignung neuer Medientechnologien besser einordnen und medienpädagogischen Handlungsbedarf systematisch aufzeigen zu können. Sein Konzept zielt darauf ab, systemtheoretische Ansätze für die Medienpädagogik fruchtbar zu machen und auch neue Perspektiven für eine sozialisationsorientierte Medienforschung zu eröffnen.Sozialisation möchte er in Anlehnung an Luhmann als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ verstanden wissen. Sozialisation ermöglicht die strukturelle Kopplung von psychischen und sozialen Systemen, die über Kommunikation funktionieren und sich reproduzieren.
Eine konsequent systemtheoretische Betrachtungsweise erlaubt es, die wechselseitige Konstituierung von psychischen und sozialen Systemen zu beschreiben und die Kopplungsfunktion der Medien herauszuarbeiten. Als symbolisches Medium bezieht sich Sozialisation auf die Einheit von Mitteilung, Information und Verstehen, die aber – so Spanhel – unter den Bedingungen von Mediatisierungsprozessen nunmehr keine Steuerungsfunktion mehr ausüben kann. Bei der Kommunikation mit digitalen Medien sind soziale Entkoppelungen beobachtbar, damit verlieren Informationen ihre Eindeutigkeit und ihre Referenz. Im Netz verliert seiner Ansicht nach das symbolische Kommunikationsmedium Sozialisation seine Funktionsfähigkeit und Wirkung und kann den Heranwachsenden keine Hilfen zur Identitätsentwicklung und Persönlichkeitsbildung geben. Die Medienpädagogik ist daher gefordert, Konzepte und Programme zu entwickeln, um eine inhaltliche Ausrichtung der Lernprozesse mit digitalen Medien auf Persönlichkeitsbildung und soziale Integration zu unterstützen. In dem Beitrag von Ebba Sundin wird deutlich, dass die fortschreitende Mediatisierung der Lebenswelten und auch Globalisierungsprozesse neue Anforderungen an die Individuen im Hinblick auf die politische Orientierung, politische Partizipation und Sozialisation stellen. Fragen nach dem Einfluss von Medien auf die politische Sozialisation von Kindern und Jugendlichen können nur beantwortet werden, wenn sie interpersonale Kommunikationsprozesse, die über die digitalen Technologien gegeben sind und über die politisches Engagement erfolgt, einbeziehen.
Die Verbreitung und Aneignung von politischen Informationen, strukturellem und faktischem Wissen hat sich grundlegend über mobil verfügbare digitale Anwendungen und Nachrichtenportale geändert. Ebba Sundin glaubt, dass in medienpädagogischen und bildungspolitischen Kontexten daraufhin gewirkt werden muss, Kinder und Jugendliche zu motivieren, sich mit dem politischen Geschehen auseinanderzusetzen und ihnen angemessene Kommunikations- und Aneignungsstrategien nahezubringen, um Informationen nach ihrer jeweiligen Relevanz für gesellschaftliche Prozesse filtern und bewerten zu können. Ihrer Ansicht nach werden neue Modelle zur empirischen Erforschung von politischer (Selbst-)Sozialisation und Teilhabe benötigt, die verstärkt Konzepteder Digitalisierung, der Mediatisierung, der Glokalisierung und Globalisierung integrieren. So müssen medienpädagogische Interventionen und Angebote angepasst werden, damit Kinder und Jugendliche gesellschaftliche Verantwortung im Erwachsenenleben übernehmen und im Sinne demokratisch verfasster Systeme agieren können. Die Internetnutzung über mobile Geräte haben Lutz Hagen, Rebecca Renatus und Susan Schenk näher untersucht. Sie kommen in ihrer Untersuchung von 2.200 sächsischen Schülerinnen und Schülern zu dem Ergebnis, dass die mobile Internetnutzung sich längst nicht auf eine spezielle Avantgarde beschränkt und altersoder bildungsabhängig erfolgt, sondern dass sie mittlerweile ein universelles Jugendphänomen darstellt. Wie traditionellen Medien kann auch den digitalen Medien attestiert werden, im Sozialisationsprozess wichtige Funktionen zu übernehmen, die der Vermittlung von jugendtypischen Sichtweisen und der reflexiven Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt dienen. Besondere Bedeutung kommt den sozialen Online-Netzwerken zu, sie werden zu einem wichtigen Treiber im Sozialisationsprozess, der auch der Selbstsozialisation mehr Raum verleiht.
Sichtbar wird das an der stärker ausgeprägten produktiven Internetnutzung der Unterwegsnutzerinnen und -nutzer, welche sich am deutlichsten im Typus des Hochaktiven Produsers zeigt. Der vergrößerte Handlungsspielraum für die aktive Auseinandersetzung mag nicht verwundern, aber die „mediale Ubiquität“ verstärkt bekannte Effekte jedoch. Dass vor allem Mädchen von unterwegs aus auf das Internet zugreifen, kann so gedeutet werden, dass sie ihre kommunikativen Bedürfnisse in Sozialen Plattformen besonders gut ausleben können. Aber auch der Kontakt zu Freundinnen und Freunden wird im Zuge der medialen Entwicklung schneller und unkomplizierter möglich, sodass die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben durch den interaktiven Austausch mit Gleichaltrigen vereinfacht wird und damit die Bedeutung der Peers als Sozialisationsinstanz gestärkt wird. Inwieweit sich die Bedingungen des Aufwachsens und die Verfügbarkeit und Nutzung von audiovisuellen Unterhaltungsangeboten durch Prozesse der Medienkonvergenz verändert haben, stellt Mathias Weber anhand einer qualitativen Studie mit 39 Jugendlichen dar. Demzufolge nutzen Jugendliche ihre zunehmenden Freiheiten in der Auswahl audiovisueller Unterhaltungsangebote und in der Entscheidung über Ort und Zeit ihrer Nutzung auch für eine umfangreiche Integration der Medienrezeption in ihre Freundeskreise. Medieninhalte werden nicht nur gemeinsam mit Freundinnen und Freunden rezipiert, sondern sie dienen auch der Rahmung von Ritualen des Erwachsenwerdens. Der Autor kann anhand der Interviews zeigen, dass Identitätsbezüge wesentlich deutlicher in der gemeinsamen Mediennutzung als in der solitären Nutzung zutage treten. Dies lässt sich daran erkennen, dass bereits das grundlegende Skript gemeinsamer Mediennutzungsepisoden direkt auf die Entwicklungssituation verweist und von den Jugendlichen ausdrücklich mit ihren sozialen Rollen-, Stil- und Zukunftskonzepten in Verbindung gebracht wird.
Die Verschränkung von Medien als Modelllieferanten und dem Freundeskreis als Umgebung des Experimentierens und Verhandelns dieser Modelle wird signifikant in der gemeinsamen Mediennutzung sichtbar. Mit der Nutzung neuer digitaler Technologien und insbesondere der Aneignung von Musik beschäftigen sich Martin Guljamow, Steffen Lepa und Stefan Weinzierl, wobei sozialstrukturelle Aspekte der Sozialisation besondere Berücksichtigung finden. Anhand der Auswertungen der deskriptiven Daten des „Survey Musik und Medien 2012“ konnten sie mittels einer Latent Class Analysis und einer logistischen Regression belegen, dass mit Geschlecht und Haushaltseinkommen statistisch signifikante Einflüsse auf die jeweiligen Nutzungsweisen neuer Audiotechnologien vorliegen. Bei den befragten Jugendlichen im Alter von 14 bis 21 Jahren werden zwei Nutzungsmuster von Audiotechnologien identifiziert: Zum einen das Muster, sich auf einige wenige, eher mobilitätsbezogene und digitale Technologien zu konzentrieren („Digital-Mobile“), das andere Muster ist durch eine größere Vielseitigkeit bei den verwendeten Geräten gekennzeichnet, wobei auch traditionelle, analoge Medien mit neuen Technologien kombiniert werden sowie eine stark ausgeprägte Affinität zu technisch komplexeren Audiogeräten vorherrscht („Vielseitig-Audiophile“). Die letzte Gruppe zeichnet sich durch einen besonders intensiven Musikkonsum aus. Ein weiterer Befund ist, dass Mädchen und junge Frauen vergleichsweise selten ein vielseitiges Audiorepertoire im Alltag nutzen. Zudem sind mehr Audiotechnologien bei