Prof. Dr. Andreas Lange
- Beirat
Vita
Ich bin bei merz seit 2004:
- 2004 bis 2010 in der ehrenamtlichen Redaktion
- seit 2010 im wissenschaftlichen Beirat.
Aktivitäten
Professor für Soziologie an der Hochschule Ravensburg-Weingarten
Schwerpunkte
Aktuell beschäftigt mich besonders …
… die Frage, wie Medien (Technologien und Inhalte!) das Wohlbefinden, das gute Leben und die „Resonanz“ von Menschen in allen Lebensphasen beeinflussen und welche Konsequenzen eine solche Perspektive für die Medienbildung hat
Beiträge in merz
Andreas Lange: Kindsein im Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Gesellschaft
Was sind die wesentlichen Entwicklungslinien von Kindheit seit den 1950er Jahren? Sind heutige Kinder „besser dran“ als damals? Schließlich: Welche Rolle nehmen in diesem Gesamtgefüge die Medien ein?
Es wäre vermessen, diese Batterie von Fragen im Rahmen eines kurzen Aufsatzes erschöpfend beantworten zu wollen.
Zu leisten ist eine Skizze, welche erahnen lässt, in welcher Weise gesellschaftliche Trends sich im Leben und Alltag der Kinder niedergeschlagen haben ...
(merz 06/2003, S. 7-17)
Susanne Eggert/Andreas Lange: Editorial: Die ambivalente Ökonomisierung von Medien in Zeiten der Digitalisierung
Hoppla, ohne es zu wollen, habe ich zugestimmt, dass die Online-Plattform, auf der ich mich gerade befinde, Cookies einsetzt – und damit implizit mein Einverständnis zur Sammlung und Verarbeitung meiner persönlichen Daten gegeben. Möglich war das durch die Verwendung der Dark-Patterns-Technologie. Diese bringt Nutzer*innen mit Hilfe von Designelementen dazu, ihre Zustimmung zu Vorgängen im Internet zu geben, ohne dass sie sich dessen unbedingt bewusst sind. Dark Patterns sind nur eine Möglichkeit, wie Anbieter im Internet an die Daten von Nutzer*innen kommen. Und wenn sie diese Daten einmal haben, dann ist der Weg frei, sie zielgerichtet weiterzuverarbeiten. Die Daten von Nutzer*innen sind eine wichtige und wertvolle Währung für kommerzielle Akteure im Internet. Wenn es um die Verbindung von Ökonomie und Medien geht, sind sie der wichtige Faktor. Warum?
Zunächst einmal ist es sinnvoll, sich ein wenig genauer anzuschauen, was eigentlich hinter dem Begriff der Ökonomie steckt bzw. was unter Ökonomisierung zu verstehen ist. Ökonomisierung ist einer der wichtigsten gesellschaftlichen Mehrebenenprozesse, der die Struktur und Dynamik der späten Moderne, des digitalen Kapitalismus (Fuchs, 2023), prägt. Ökonomisierung meint differenzierungstheoretisch betrachtet (Hedtke, 2014) das imperialistische, kolonialisierende Übergreifen ökonomischer Logiken in andere Systeme und Lebenswelten von Menschen. Zu diesen Logiken gehört das Schema Zahlung – Nichtzahlung, die Quantifizierung und damit zwangsweise Vereinheitlichung von Sachverhalten und der Export des homo oeconomicus als Leitbild. Schließlich werden alle Beziehungen marktförmig modelliert. Im Gefüge der Systeme erfolgt also eine Aufwertung der ökonomischen Logik und diese realisiert sich in erster Linie in den Organisationen der Teilsysteme; sprich in den Krankenhäusern, Universitäten, Redaktionen und Produktionsstudios. Allerdings ist dies kein linearer Prozess, weil die Eigenlogiken der anderen Systeme und Organisationen sich daran reiben und abarbeiten. Schon früh indes hat es solche Beziehungen zwischen den noch um endgültige Ausdifferen zierung ringenden Systemen, Medien auf der einen, und Wirtschaft auf der anderen Seite, gegeben. Spätestens mit dem Buchdruck haben die großen Druckhäuser und die medienrhetorisch versierten Theologen gezeigt, dass gutes Marketing zu ökonomischem Gewinn durch Medien führen kann (Kaufmann, 2022). Sie nutzten großflächig die Tatsache, dass zwar die Erstproduktion von Medienprodukten kostenintensiv ist, aber die nachfolgenden Skalenvorteile diesen Anfangsnachteil mehr als wettmachen. Im Interview zeigt Friedrich Krotz auf, wie sich das entwickelt hat, warum Gutenberg eigentlich den Buchdruck erfunden hat und wie die Entwicklung anschließend weiterging. Er macht deutlich, dass die Ökonomisierung von Medien insbesondere hinsichtlich der Weiterentwicklung der Technik und den damit einhergehenden Bildungschancen für die Menschen ein großes positives Potenzial enthält. Dieses Potenzial gilt es verantwortungsvoll zu nutzen, und zwar umso mehr vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung der Gesellschaft. Denn mit dem stetigen Zuwachs an neuen Medientechnologien und -formaten sowie deren Vermarktung entstand zum einen eine Aufmerksamkeitsökonomie (Franck, 2007). Angesichts der Überfülle des Medienangebots und der zunehmenden Notwendigkeit einer werbemäßigen Refinanzierung sind die Anbieter darauf angewiesen, wahrgenommen zu werden, um überleben zu können. Das damit verbundene Buhlen um Clicks und Abos schlägt sich zum Teil in Qualitätseinbußen nieder und kann dazu führen, wie das Beispiel Dark Patterns zeigt, dass Wege gesucht werden, die für die Nutzenden nicht mehr so leicht zu erkennen sind. Zum anderen forcieren die Digitalisierung und die Sozialen Medien nochmals die Ökonomisierung jedweder Kommunikation und die Ausbeutung der User*innen durch informatorische Arbeit. Vor allem führen sie auch zu einer Hypersingularisierung (Reckwitz, 2017) und einer zunehmenden Konsumorientierung sowie einer an Verhaltensvorhersagen orientierten Kontrolle des ökonomischen Denkens und Handelns von Menschen aller Altersgruppen (Zuboff, 2018), die durch die Sammlung ihrer persönlichen Daten möglich wird.
Wo in dieser Entwicklung die Fallstricke für Verbraucher*innen liegen, damit beschäftigt sich Verena Halm von der Verbraucherzentrale Bayern. Sie zeigt auf, welche Wege der Werbung sich im Internet entwickelt haben und warum sie für die Nutzer*innen oft so schwer zu erkennen sind. Dank der unzähligen persönlichen Daten, die wir regelmäßig im Internet zur Verfügung stellen, lassen sich unsere Bedürfnisse sehr genau analysieren. Genau hier setzen die Akteur*innen an und genau damit erreichen sie auch, dass wir nicht mehr so genau hinschauen. Das in diesem Text nun schon mehrfach bemühte Verfahren der Dark Patterns ist einer dieser Wege. Rudolf Kammerl und sein Team haben für die Bayerische Landeszentrale für Neue Medien die Bedeutung von Dark Patterns und Digital Nudging in Sozialen Medien untersucht. Sie stellen fest, dass Dark Patterns in fast allen Angeboten, die bei Kindern und Jugendlichen beliebt sind – seien es Apps oder Spiele –, vorkommen. Neben älteren Personen und Menschen mit geringerer formaler Bildung sind es aber gerade Kinder, die sich besonders schwertun, diese Mechanismen zu erkennen, was das Thema für den Verbraucher- und Jugendmedienschutz, aber auch für die Medienpädagogik besonders virulent macht. Die Bedeutung, die die Verbindung von Medien und Ökonomie für die Bildung und ihre Verbreitung haben kann, wurde bereits angesprochen. Während aber die (kostengünstige) Verfügbarkeit von Informations- und Bildungsmedien nicht hoch genug bewertet werden kann, birgt die Digitalisierung zunehmend die Gefahr, dass Bildung von ökonomischen Interessen bestimmt wird. Mit diesem Thema setzt sich die Initiative Bildung und Digitaler Kapitalismus auseinander. In einem gerade erst erschienenen Positionspapier wirft die Initiative einen kritischen Blick auf das Verhältnis zwischen Kapitalismus und digitalen Technologien und skizziert das Verhältnis zwischen Digitalem Kapitalismus und Bildung. Daraus entwickelt sie bildungspolitische Perspektiven und Forderungen. Gregor Eckert und Nina Grünberger sind Teil der Initiative. In ihrem Beitrag gehen sie auf das Vorgehen bei der Erarbeitung des Positionspapiers ein, bei dem unter anderem Wert darauf gelegt wurde, dass möglichst unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt wurden, und erläutern außerdem zentrale Begriffe des Textes. Insgesamt wird sehr deutlich, dass das Verständnis der Ökonomisierung der Medien und die Durchdringung des Zusammenspiels und der Verflechtungen zwischen Medien und Ökonomie vor dem Hintergrund unserer heutigen mediatisierten und digitalisierten Welt eine wesentliche Voraussetzung für einen kompetenten Einbezug digitaler Medien in eine souveräne Lebensführung sind und insofern ein zentraler Inhalt für die praxisorientierte Medienpädagogik. Wie dies umgesetzt werden kann, damit setzen sich die Beiträge von Charlotte Horsch, Tina Drechsel und Valentin Dander auseinander. Charlotte Horsch stellt das webhelm-Starterkit zum Thema Influencer*innen vor, das pädagogische Fachkräfte dabei unterstützt, mit Jugendlichen zu Influencer*innen und dem dahinterstehenden Geschäftsmodell zu arbeiten. Tina Drechsel stellt zwei Methoden vor, wie im Rahmen des Projekts ACT ON! – Aufwachsen zwischen Selbstbestimmung und Schutzbedarf die Reflexion ökonomischer Strategien und Strukturen unterstützt wird. Valentin Dander hat sich im Rahmen eines Praxis-Forschungs-Projekts damit auseinandergesetzt, wie das komplexe Themenfeld Daten und digitaler Kapitalismus mit Jugendlichen ab 14 Jahren umfänglich bearbeitet werden kann und dafür Methoden entwickelt. In einer kritischen Reflexion der Erprobung dieser Methoden stellt er fest, dass diese von pädagogischen Fachkräften positiv bewertet wurden, die teilnehmenden Jugendlichen aber immer wieder an Grenzen kamen. Vor diesem Hintergrund plädiert er dafür, Erfahrungen und Methoden aus der kritischen ökonomischen und politischen Bildung sowie Methoden aus dem Bereich der Critical Data Literacies in medienpädagogische Bildungssituationen einzubeziehen. Bei der Vorbereitung dieses Themenschwerpunkts zeigte sich, wie komplex und zum Teil schwer zu fassen und zu durchschauen das Thema Medien und Ökonomie ist. Wir hoffen, wir können mit den gewählten Perspektiven und Texten Anregungen zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren geben und wünschen eine spannende Lektüre.
Literatur
Franck, G. (2007). Ökonomie der Aufmerksamkeit: Ein Entwurf. dtv.
Hedtke, R. (2014). Was ist sozio-ökonomische Bildung? Perspektiven einer pragmatischen fachdidaktischen Philosophie. In A. Fischer & B. Zurstrassen (Eds.), Sozioökonomische Bildung (pp. 81-126). Bundeszentrale für politische Bildung.
Kaufmann, T. (2022). Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. C. H. Beck.
Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp.
Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus.
Andreas Lange: „Seltsam-Perverser“ Theoriecharme gut verdaulich aufbereitet
Laufenberg, Mike (2022). Queere Theorien zur Einführung. Hamburg: Junius. 300 S., 17,90 €.
Theorieentwicklung entlang der Maxime, neue Perspektiven auf soziale und individuelle Sachverhalte zu gewinnen, orientiert sich mit Gewinn an einer Auffassung, die Theorien als Instrumente ansieht – Instrumente, die einen heuristischen Zweck erfüllen (vgl. Reckwitz 2021). Eine weitere Qualitätsdimension einer solchen pragmatisch gehandhabten Theorie ist für mich ihr inter- und transdisziplinäres Anschlusspotenzial. Und dies alles ist gegeben, so meine Lesart, wenn die Queertheorie verstärkt Eingang in den medienwissenschaftlichen Mainstream gewinnt.
Eine solide und kluge Grundlage hierfür hat Mike Laufenberg in der renommierten Lehrbuchreihe [XY] zur Einführung geschaffen. Nach einer knappen Einleitung, in der er das rebellische, selbstermächtigende und affektgeladene Gemisch der „seltsam-perversen“ Theorie aufbereitet, rekonstruiert der Autor die Geschichte und wichtigsten Wurzeln des Queer-Ansatzes. Ein wuchtiges Katapult zur Verbreitung der queeren Kernideen lieferten dabei, die in sich wiederum sehr heterogenen, feministischen Strömungen der 1970er- und 1980er-Jahre mit ihrer vehementen Kritik an der „Zwangsheterosexualität“ (S. 29) und Homophobie. Eine wichtige theoretische Figur bildete die „Normativität“ von Geschlechts- und Sexualitätscodierungen und -praktiken. Separatist*innen und Fusionist*innen standen sich gegenüber. Die Separatist*innen waren insofern orthodox, als sie sich gegen jegliche andere Interpretation von „Schuldigen“ und Opfern wandten, wohingegen die Fusionist*innen um Koalitionsbildungen im Diskurs und den Praktiken von Sexualität und Lebensweise bemüht waren. Ein weiteres theoretisches Geschoss mit großer Wirkung gab Foucault ab (S. 67). In seinen Schriften wird eine historische Erklärung für die spezifisch moderne Form von Sexualität als wesentliche Komponente einer neuen Phase subtiler Machtausübung gesehen, als Bindeglied zwischen Biopolitik und Individualpolitik. Ein ganzer Werkzeugkoffer von Kontrollmechanismen wurde demnach geöffnet, um das Dispositiv einer heteronormativen, männlichen Bedürfnissen entsprechenden Form von Sexualität in die Seelen und Körper der Menschen nachhaltig einzuzimmern.
Über Foucault hinaus spielt die queere Normativitätskritik eine tragende Rolle (S. 129). Und diese Normalität ist auf das Engste mit der gesamten rechtlichen, sozialen und ökonomischen Architektur moderner Gesellschaften regelrecht vernietet, sodass bestimmte Formen der Lebensführung gefördert und andere diskriminiert, wenn nicht sogar in ihrer Existenz bedroht werden. Die Kritik der Heteronormativität ist gewissermaßen das Flaggschiff der queeren Theoriearmada (S. 133 ff.). Heute sehen wir uns im Neoliberalismus mit Rück- und Fortschritten der queeren Agenda konfrontiert, worauf die Theorie wieder mit vielfältigen und sich heftig bekriegenden Versuchen antwortet, diese Widersprüche in den Griff zu bekommen (S. 141 ff.). Die Diskussion zwischen großer Kapitalismusanalyse und der Decodierung der Geschlechterverhältnisse wird dann großflächig in einem eigenen Kapitel vertieft. Besonders ergiebig und weiterdenkenswert sind die Auseinandersetzungen um den Stellenwert, den Familien im Reproduktionsregime des neoliberalen kapitalistischen Staates spielen oder besser, welcher ihnen zugedacht wird (S. 199). Es liegt auf der einen Seite auf der Hand, dass die Familie aus Sicht der queeren Theorie eine die aktuellen Machtverhältnisse zementierende Institution darstellt und man sie durchaus abschaffen möchte. Auf der anderen Seite wird weiterführend argumentiert, es gehe nicht um die Verbannung der Familie, sondern vielmehr um eine Aufhebung des Notwendigkeitscharakters der Familie, also um eine Erweiterung der Formen des sorgenden Miteinanderlebens. Die globalen Dimensionen der queeren Thematiken sind wiederum Gegenstand eines eigenen Kapitels (S. 209).
Den Knopf auf seine Darstellung macht der Autor durch Bemerkungen zur Queer Theory im Interregnum, also einer gesellschaftlichen Zwischenzeit. Unsicherheit, Prekarität und virtuelle Optionsvielfalt generieren einen neuen Rahmen für die zumindest partielle Durchsetzung der queeren Agenda. Aber die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse provozieren eben auch neochauvinistische Ressentiments gegen Transmenschen und Co. In diesem Zusammenhang sind nun auch die Medienwissenschaften gut beraten, die Rolle von Kommunikation und Digitalisierung in diesem neu aufgespannten Zwischenraum zu untersuchen und sich dabei mit Gewinn an dieser seltsam-perversen Theorie zu bedienen. Mike Laufenbergs Publikation ist hierfür eine wertvolle Navigationshilfe in einem sehr zerklüfteten Wissenschaftsterrain.
Andreas Lange: Die Printing Natives als Modell für die Digital Natives
Mit dem Werk des Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann werden quasi ‚von hinten‘ die Möglichkeitsbedingungen der bürgerlichen Öffentlichkeit aufgerollt. Es soll der Erkenntnisgewinn des Vergleichs der Generation der Digital Natives mit der ‚Generation Luther‘ ausgelotet werden. Die Lektüre lohnt sich aufgrund der subtilen Verflechtung (kirchen-)historischen Detailwissens mit dem analytischen Gespür für die Verwicklung des Buchdrucks in große Modernisierungstendenzen: Gezeigt wird, wie die Hardware Buchdruck das Betriebssystem der gesamten Kultur umprogrammiert hat. Dazu werden die technisch-ökonomischen Bedingungen der ‚Emanzipation von der Handschrift‘ nachgezeichnet. Es waren die Goldschmiedekunst und die Glockengießerei, die um 1480 die notwendige technologische Infrastruktur für den Buchdruck vorhielten. Für die Logistik der Verbreitung von Büchern konnte man auf ein existierendes System der Handschriftenzirkulation zurückgreifen. Von Anfang an gingen betriebswirtschaftliche Erwägungen Hand in Hand mit kulturellen Aspekten. Die sich sukzessive beschleunigende Erhöhung der Auflagen und des Umsatzes der Druckereien und zunehmenden Verlage (S. 31) wurden dann katalysiert durch die ‚Türkenbedrohung‘ und die Nachfrage nach Ablassbriefen. Übergreifend entwickelte sich durch die Distribution von immer vielfältigeren Druckerzeugnissen nach 1480 ein gesellschaftlicher Kommunikationsraum (S. 28). Insbesondere die Kirchenvertreter*innen sahen eine willkommene Gelegenheit, den christlichen Glauben zu kommunizieren. Gleichzeitig befürchtete man, auch ketzerische Absichten könnten so leichter den Weg zu den Menschen finden. Eine besondere ‚Valorisierung‘ der Buchkultur ist auch nicht von ungefähr mit dem Namen Martin Luther verbunden. Der Reformator sah den Buchdruck als Basis nicht nur für den Glauben, sondern auch für Wissenschaft und Erkenntnis – von Sprache und Kultur überhaupt.
Eine weitere bis heute wirksame Strategie und damit Bedingung unseres modernen Verständnisses von Diskursen als permanenten Argumentationsliefermaschinen war das Schüren von Interessen für neue Bücher und Auflagen (S. 64). Das wiederum stellte einen Teil der übergreifenden Revolution des Zeitverständnisses in Richtung Linearität und Zukunftsorientierung dar. Diese Entwicklungen richteten die Startrampe auf, von der aus Luther seine Reformation zünden konnte. Diese markierte die Geburt eines neuen Formats der intellektuellen, kulturellen Auseinandersetzung, eines freien, „räumlich entgrenzten“ (S. 102) Diskurses. Luthers 95 Thesen wurden nicht, wie vormals, primär in räumlich-sozial geschlossenen Zirkeln der Eliten diskutiert, sondern verbreiteten sich über das neue Massenmedium wie ein Lauffeuer. Bald konnte er auf einer riesigen Welle von Interesse surfen.
Im Epilog bündelt der Autor die wuchtigen Bugwellen des Schlachtschiffs Buchdruck, die heute vor allem durch Soziale Medien noch weiter hochgepeitscht werden: Da ist die Beschleunigungswelle, die durch das notwendige publizistische Antworten auf Gegenargumente angetrieben wird; da ist aber auch die Enthemmungs- und Empörungswelle. Und da ist die Beteiligungswelle, durch die immer mehr Menschen an den kulturellen Diskursen partizipieren konnten, was auch zu Irritationen führte. Schlussendlich bleibt zu klären, wie diese Revolution der ‚Generation Luther‘ zur heutigen Medienrevolution steht. Hier ist der Autor versöhnlich-zuversichtlich. Ja, die neue Medienrevolution ist noch umwälzender und entgrenzender. Andererseits: „Und doch mehren sich die Zeichen, dass die digitale Medienrevolution die typographische nicht ablöst, sondern fortsetzt: Printmedien erweisen sich als attraktive Flucht- und Ruhepunkte, je unumgänglicher das Tagwerk im Internet zugebracht wird“ (S. 259). Aus unserer Erfahrung mit der ersten Medienrevolution können wir also den Umgang mit der Digitalität als Aufgabe auffassen, bei deren Bewältigung wir guttun, uns an unsere 500 Jahre Auseinandersetzung mit der ersten Medienrevolution zu besinnen.
Kaufmann, Thomas (2022). Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. München: C.H Beck. 350 S., 28 €.
Andreas Lange/Nicole Svorc: Sprache und Medien in familienbezogenen Diskursen. Aufriss eines Forschungsfeldes
Im Beitrag wird zuerst der unter heftigem Druck stehende ‚Diskurskessel‘ der späten Moderne skizziert: Innerhalb dessen vollzieht sich die sprachliche und inhaltliche Gestaltung von Familiendiskursen. Vor dieser Folie werden die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Familie, Diskursen und Sprache angerissen. Die leitende These lautet, dass Familie lebenspraktisch und wissenschaftlich zu einem erheblichen Anteil diskursiv-sprachlich ‚hergestellt‘ wird. Resümierend formulieren wir die sich daraus ergebenden Aufgabenstellungen für Medienpädagogik – mit einer Anregung in Richtung eines fürsorglichen Sprachgebrauchs als Öffnung von Räumen des Denkens und Handelns.
Literatur
Anderson, Nina J./Graham, Susan A./Prime, Heather/Jenkins, Jennifer/Madigan, Sheri (2021). Linking Quality and Quantity of Parental Linguistic Input to Child Language Skills: A Meta-Analysis. In: Child Development, 92 (2), S. 484–501.
Barthelmes, Jürgen/Sander, Ekkehard (2001). Erst die Freunde, dann die Medien. Medien als Begleiter in Pubertät und Adoleszenz. Medienerfahrungen von Jugendlichen. Band 2. München: DJI.
Berendsen, Eva/Cheema, Saba-Nur/Mendel, Meron (Hrsg.) (2019). Trigger Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen. Berlin: Verbrecher Verlag.
Berger, Peter L./Kellner, Hans (1965). Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Abhandlung zur Mikrosoziologie des Wissens. In: Soziale Welt, 16 (2), S. 220-235.
Chamakalayil, Lalitha/Ivanoya-Chessex Oxana/Riegel, Christine/Scharathow, Wiebke (2021). Hegemoniale Vorstellungen von Familie — Ambivalente Aushandlungsprozesse und Positionierungen in pädagogischen Institutionen. In: Sektion Sozialpädagogik der frühen Kindheit (Hrsg.), Familie im Kontext kindheits- und sozialpädagogischer Institutionen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 184-197.
Ecarius, Jutta (2017). Spätmoderne Jugend - Erziehung des Beratens - Wohlbefinden. Wiesbaden: Springer VS.
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Franck, Georg (2005). Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München: Hanser.
Gubrium, Jaber F./ Holstein, James A. (1990). What is family? Mountain View, Kalifornien: Mayfield Publishing Company.
Gubrium, Jaber F./ Holstein, James A. (1993). Phenomenology, Ethnomethodology, and Family Discourse. In: Boss, Pauline G./Doherty, William J./LaRossa, Ralph/Schumm, Walter R./Steinmetz, Suzanne K. (Hrsg.), Sourcebook of Family Theories and Methods: A Contextual Approach. New York: Plenum.
Heinemann, Isabel (2018). Wert der Familie. Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts. Berlin: De Gruyter.
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Holland-Cunz, Barbara (2007). Alarmismus. Die Struktur der öffentlichen Debatte über den demographischen Wandel in Deutschland In: Auth, Diana/Holland-Cunz, Barbara (Hrsg.), Grenzen der Bevölkerungspolitik. Strategien und Diskurse demographischer Steuerung. Opladen: Barbara Budrich, S. 63-79.
Katzer, Catarina (2019). SmartYouth und das Verschmelzen von Offline und Online Sozialmagazin. In: Die Zeitschrift für Soziale Arbeit, 44 (3/4), S. 51-57.
Keppler, Angela (1994). Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Keppler, Angela/Knoblauch, Hubert (1998). Familie als kommunikatives Netzwerk. In: Luckmann, Thomas (Hrsg.), Moral im Alltag. Sinnvermittlung und moralische Kommunikation in intermediären Institutionen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, S. 47-101.
Kepplinger, Hans Mathias (1998). Der Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren. In: Holtz-Bacha, Christina/Scherer, Helmut/Waldmann, Norbert (Hrsg.), Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 19-38.
Lange, Andreas/Kammerl, Rudolf (2021). Die mediatisierte und digitalisierte Familie: Prozesse und Resultate der Sozialisation. Einführung in den Schwerpunkt. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 41 (4), S. 361–365.
Lüscher, Kurt/Wehrspaun, Michael (1985). Identitätszuschreibung als familiale Leistung. In: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie, 44 (4), S. 197-219.
Neuberger, Christoph/Jarren, Ottfried (2018). Thesen zum Wandel der Wissenschaftsöffentlichkeit und zur Wissenschaftsvermittlung im Internet. In: Weingart, Peter/Wormer, Holger/Wenninger, Andreas/Hüttl, Reinhard (Hrsg.), Perspektiven der Wissenschaftskommunikation im digitalen Zeitalter. Weilerswist: Velbrück, S. 65-77.
Pörksen, Uwe (2018). Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Hanser.
Raphael, Lutz (1996). Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft, 22 (3), S. 165-193.
Reckwitz, Andreas (2021). Gesellschaftstheorie als Werkzeug. In: Reckwitz, Andreas/Rosa, Hartmut (Hrsg.), Was leistet die Gesellschaftstheorie? Berlin: Suhrkamp, S. 23-150.
Schneider, Ulrich (2021). Die Narrative des Neoliberalismus: Von Verlockungen und Denkschwellen. In: Schneider, Ulrich (Hrsg.). Für Alle, nicht die Wenigen. Warum wir unsere Zukunft nicht den Märkten überlassen dürfen. Frankfurt a. M.: Westend, S. 55–80.
Schnerring, Almut/Verlan, Sascha (2020). Equal Care. Über Fürsorge und Gesellschaft. Berlin: Verbrecher Verlag.
Sommer, Lisa/Schopp, Nikola (2022). Alleinerziehend. In: Haller, Lisa Ysashodhara/Schlender, Alicia (Hrsg.), Handbuch Feministische Perspektiven auf Elternschaft. Opladen: Barbara Budrich, S. 401–412.
Stegemann, Bernd (2021). Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Stuttgart: Klett-Cotta.
Van der Woude, Ida Nynke (2011). „Familie“ als Diskursobjekt. Veränderungen im Spiegel des Sprachgebrauchs der Presse seit den 1960er Jahren in Deutschland und Schweden. Linköping University. http://liu.diva-portal.org/smash/get/diva2:435577/FULLTEXT01.pdf [Zugriff: 22.02.2022]
Andreas Lange/Susanne Eggert: Editorial: Deutungshoheit und Sprachschlachten. Sprache in den Medien
Sei es das Gendersternchen, sei es die Flüchtlingsdebatte, sei es die Ökonomisierung weiter Bereiche der Gesellschaft: Die Medien transportieren ein Bündel von Vorstellungen, Bildern, Vorurteilen, Theorien in die Köpfe der Gesellschaftsmitglieder und tragen sie in unterschiedliche Diskurse und Diskursarenen. Obwohl die Visualität bzw. Ikonizität der Darstellungen in den öffentlichen Arenen auf dem Vormarsch ist, passiert der multisensorische Bedeutungstransport vornehmlich über Sprache. Die denunzierte Rede von der „Political Correctness“ (Degele 2020) ist hier ein, aber nicht das einzige wichtige Thema und es geht um Grundsätzliches: Wird von ‚Fremdbetreuung‘ im Umfeld der Kleinkindbetreuung gesprochen, werden andere Türen in unserem Bewusstsein aufgestoßen, als wenn wir von familienergänzender oder gar familienunterstützender institutioneller Betreuung sprechen. Ein ‚Konkubinat‘ mit seinem negativ konnotierten Bedeutungshorizont war noch in den 80er Jahren eine geläufige Bezeichnung für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft, die heute semantisch ‚upgegraded‘ auch als ‚partnerschaftliche Verantwortungsgemeinschaft‘ läuft.
Die Beispiele sollen verdeutlichen: Sprache ist das Prädikat, welches immer wieder als das Merkmal genannt wird, welches den Menschen als solchen auszeichnet. Seit der antiken Rhetorik wird über die Wirkmächtigkeit dieses humanspezifischen Zeichensystems nachgedacht. Wenn auch unbestritten ist, dass die Medien über ihre je eigene Materialität und sonstigen Eigenschaften inhaltliche Botschaften mitformatieren, darf daher die sprachliche Formulierung nicht außen vor der medienwissenschaftlichen Debatte gelassen werden.
MÄCHTIGER EIGENSINN DER SPRACHE
Es gibt eine Reihe von Konstruktionsprinzipien der menschlichen Sprache, die in Wechselwirkung mit der auf Sozialität und Gegenseitigkeit hin angelegten Kognition des Menschen (Tomasello 2020) für die ‚Macht und Magie‘ sprachlicher Zeichen sorgen, wie unter anderem Schramm/Wüstenhagen (2015) auf der Basis einer breiten Forschungsliteratur rekonstruieren:
1) LAUTMALEREI UND KLANG DER SPRACHE LEGEN BESTIMMTE BEDEUTUNGEN NAHE
Eigentlich dürfte es einen solchen Zusammenhang gar nicht geben. Die klassisch-linguistische Theorie behauptet, dass der Klang der Worte völlig willkürlich, ohne Zusammenhang zur Wortbedeutung steht. Neuere Arbeiten und Positionen vor allem auch aus experimentiellen Arbeiten postulieren und weisen zumindest partiell nach, dass bestimmte Lautkonglomerate, sogenannte Phoneme, Bedeutungen von Worten mit festlegen. So wird behauptet, dass das I wie in Liebe, Paradies, Frieden gute Laune macht. Die Autorinnen sammeln dann Belege für die zumindest partielle Ikonizität: In der Sprache scheinen mehr ikonische Anteile zu stecken als bislang bekannt war: „Tatsächlich lassen sich in vielen Sprachen zumindest vereinzelt solche Zusammenhänge finden. Kleine Dinge etwa klingen erstaunlich oft auch klein. Als beliebte Beispiele dienen oft: ‚diminutive‘ oder ‚teeny-weeny‘ im Englischen, ‚klein‘ oder ‚winzig‘ im Deutschen, ‚mikros‘ im Griechischen oder ‚chico‘ im Spanischen. Schon die Wörter an sich scheinen dem Klang nach einen Hinweis auf die physische Eigenschaft der bezeichneten Sache zu geben. Alle diese Worte haben etwas gemeinsam: den i-Laut. Sie haben dies gemeinsam mit Spitznamen und anderen Verniedlichungsformen, die hierzulande häufig auf i enden, wie Hansi, Claudi oder Steffi, oder in Spanien auf ito/ita wie Señorita. So hat das schmale unscheinbare i offenbar erhebliche Ausdrucksstärke – weil es so gut als Signal für die kleinen Dinge fungiert.“ (Schramm/ Wüstenhagen 2015, S. 24). Umgekehrt verhält es sich dann mit Wörtern, die Großes indizieren. Diese beinhalten oftmals ein a oder o. Man denke an ‚grand‘ im Französischen, ‚makro‘ im Griechischen, und ‚groß‘ im Deutschen.
2) WORTE, KONZEPTE UND INSBESONDERE METAPHERN ‚SCHIEBEN‘ UNSER DENKEN IN BESTIMMTE RICHTUNGEN
Ein einziges Wort kann unser Urteil, Denken und Handeln signifikant beeinflussen, das zeigt die inzwischen umfängliche Forschung zu den Metaphern, also den Bedeutungsübertragungen von einer Quelle in ein Ziel: Elisabeth Wehling (2016), die hierzulande im Umfeld der Framingdebatte bekannt geworden ist, verdeutlicht die Wirkungskaskaden beim Wort- und insbesondere Metaphernverständnis: Um Worte zu begreifen, aktiviert das Gehirn große Wissensbestände – konkret motorische Schemata, Bewegungsabläufe, Emotionen, Gerüche und visuelle Eindrücke. Das tut es, um linguistischen Konzepten eine Bedeutung verleihen zu können. Bestimmte Worte bestimmen also nicht eine genau zugeschnittene Bedeutung, sondern einen mehr oder weniger großen Bedeutungsradius. Diese Macht der Metaphern wird in unterschiedlichen Forschungsrichtungen und von unterschiedlichen Autor*innen unterstrichen. Einer der renommiertesten unter ihnen ist George Lakoff, ein Linguist. Er geht sogar so weit zu sagen, dass Metaphern töten können. Dabei bezieht er sich auf die Rahmung der Regierung Bush nach dem 11. September 2001; zuerst wurde von Opfern gesprochen, dann von Verlusten – mit diesem Sprachwechsel wurde der Krieg gegen den Terror eingeläutet. Die Anschläge wurden vom Verbrechen zu einer Kriegshandlung, was dazu führt, dass die entsprechenden Gegenmittel eingesetzt wurden.
3) DIE REKURSIVE SYNTAX MENSCHLICHER SPRACHE ERMÖGLICHT MÄCHTIGE WEITERE SPRACHWERKZEUGE: NARRATIVE, GESCHICHTEN UND CO.
In einem fesselnden Sachbuch zum Thema ‚Wie Geschichten unser Leben bestimmen‘ zeigen El Ouassil/Karig (2021), dass die Möglichkeit, eine Rückbezüglichkeit innerhalb von Sätzen herzustellen, zum Beispiel durch Neben- oder Schachtelsätze, Grundlage dafür ist, dass wir entlang eines Zeitstrahls Ereignisse anordnen und wiederholen können. Grammatik ermöglicht es erst, zum einen die fiktiven Welten, die wir beim Lesen und Hören von Geschichten mental erschaffen, überhaupt zu entschlüsseln und auch selbstständig zu generieren. Syntax ermöglicht insbesondere den Ausdruck unseres linearen Zeitempfindens – also unserer Fähigkeit, chronologisch und in Kausalzusammenhängen zu denken. Im Gegensatz zu Tieren haben wir nicht nur eine Vorstellung davon, wie ein Zeitstrahl verläuft, sondern auch ein Konzept für zeitliche Koordination, für die ‚Wanns‘ auf diesem Zeitstrahl, sowie ein Gefühl für ein Davor und Danach. Unsere Kommunikation besteht in großen Teilen aus Aussagen darüber, wann Dinge passiert sind und/oder passieren werden.
Dieser kleine sprachwissenschaftliche Exkurs, der sicherlich noch um vielfältige Aspekte ergänzt werden könnte, zeigt, dass die Sprache eigensinnige Bedeutungsüberschüsse in sich trägt, die dann mit den Medienspezifika in eine Wechselwirkung treten. Besondere rhetorische Formeln und Sprachfiguren schmiegen sich organisch an bestimmte mediale Formate an, umgekehrt bilden neue Medien teilweise neue Sprachformen und -praktiken aus (Marx/ Weidacher 2020, S. 119 ff.): Es entstehen unter anderem neue Wörter und Abkürzungen, um die spezifische Temporalität des Mediums zu bedienen, hybride Kommunikationsformen zwischen mündlich und schriftlich und – besonders erwähnenswert: anders als es die Kulturkritik insinuiert, eine neue Form von Sprachsensibilität!
Vor dieser Folie haben wir einige ausgewählte Debattenbeiträge aus dem weitläufigen, noch systematischer und vor allem interdisziplinär zu beackernden Forschungsfeld versammelt: Den Anfang machen Andreas Lange und Nicole Svorc, die danach fragen, was eigentlich Familie ausmacht, wie Familie ‚hergestellt‘ wird? Sie stellen die These auf, dass Sprache hieran einen großen Anteil hat. Medien wiederum sind eine zentrale Quelle dafür, wie, also mit welcher Sprache und welchen (Sprach-)Bildern Familien sich ‚herstellen‘ und ihre familienbezogenen Wertvorstellungen entwickeln, beispielsweise, indem sie sich von medial diskutierten und mit bestimmten Begriffen konnotierten Familienbildern abgrenzen, sich diesen unterordnen oder zugehörig fühlen (wollen). Problematisch daran ist, dass die medial vermittelten Vorstellungen von Familie und ihre sprachliche Darstellung eine starke Komplexitätsreduktion bedeuten, die den vielfältigen Ausprägungen von Familie nicht gerecht wird, jedoch das Bild von Familie in der Gesellschaft beeinflusst. Vor diesem Hintergrund plädieren Lange und Svorc für eine „fürsorgliche Kommunikation“ in den Medien, durch die „Räume des Denkens und Handelns […] nicht beschränkt und eingeengt, sondern geöffnet werden“ (S. 22).
Kathrin Englert, Dagmar Hoffmann und David Waldecker nehmen sich der Frage an, ob eine gewissermaßen ‚wirkliche‘ sprachliche Interaktion mit Alexa und Co. möglich ist. Den vollmundigen Behauptungen der großen Techfirmen setzen sie die geballte Macht der theoretischen und empirischen Ressourcen der Forschung entgegen. Eine grundlegende Charakteristik der Interaktion ist dabei die großflächige Vermenschlichung, zumeist in Richtung weibliches Gattungsexemplar, die die Nutzenden vornehmen und den Sprachassistenzsystemen nicht zuletzt auch Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. In seinem eigenen Projekt geht das Siegener Team den subjektiven Zuschreibungen theorieanaloger Art nach, die die Menschen im alltäglichen Austausch mit Alexa und Co. entwickeln. Durchaus modifizieren demnach die Sprachsysteme den Interaktionshaushalt in vielerlei Hinsicht. Allerdings wird dieser Beitrag relativiert und es bilden sich durchaus unterschiedliche ‚Beziehungen‘ zu den Sprachgerätschaften heraus. Diese Beziehungen bedeuten auch zusätzliche Kommunikations- und Emotionsarbeit, die aber in mehr oder weniger unaufgeregtem Modus erbracht wird; schließlich sind die Geräte nicht essenziell für die alltägliche Lebensbewältigung, sondern, immerhin, ‚nice to have‘.
Auf der sprachlichen Ebene der Diskursaustragung lokalisiert Sebastian Zollner für die Gegenwart zahlreiche digitale invektive Konstellationen – womit die herabsetzende, entwürdigende Form von Kommentaren in Hate Speech, Verschwörungstheorien und Fake News gemeint ist. Als eine wichtige Maßnahme in diesem Zusammenhang gilt gemeinhin die Counter Speech, die Gegenrede. Der Autor zeigt auf der Basis linguistischer Überlegungen erstens die Vielschichtigkeit des Begriffs auf. Er macht unter anderem deutlich, dass die Gegenrede nicht zwingend von den Invektierten, also Betroffenen ausgehen muss, sondern es auch Fürsprache von Dritten geben kann – eine Einsicht, die nicht nur didaktisch, sondern auch zivilgesellschaftlich relevant ist. Zweitens breitet er den Fächer der Wissensbestände zu Counter Speech aus. Da ist zu nennen die sprachlich-kommunikative Realisierung in Praktiken, die auf etablierte Formeln zurückgreifen können und daher auch systematisch trainierbar sind. Ebenfalls weiterführend sind die Funktionen, die Counter Speech im Interaktionshaushalt von Gruppen, Organisationen und Gesellschaften einnehmen kann: Von der Positionierungs- über Irritationsarbeit bis hin zur Empathie und Verständnisarbeit reicht das Spektrum. Vor allem aber hat systematische, breit getragene Gegenrede das Potenzial zu verhindern, dass Vorurteile und Hassschablonen Teil des unhinterfragten, geteilten Alltagswissens, vulgo, des ‚gesunden Menschenverstandes‘ werden.
Drittens verweist Sebastian Zollner auf erfolgversprechende Möglichkeiten, sowohl in der außerschulischen Jugendarbeit, vor allem aber im Schulunterricht insbesondere sprachliche Mittel zu lehren, die einen kompetenten Umgang mit Hate Speech in der Lebenswelt der Schüler*innen ermöglichen. Guido Bröckling und Fabian Hellmuth schließlich setzen sich damit auseinander, welche Rolle Sprache in medienpädagogischen Projekten spielt. Eine Prämisse der aktiven Medienarbeit ist es, ihrer Zielgruppe, den Kindern und Jugendlichen, auf Augenhöhe zu begegnen, sich auf ihre Themen einzulassen und sie ernst zu nehmen. Das heißt auch, ihre Sprache zu akzeptieren und einen guten Weg der Kommunikation zu finden und dabei authentisch zu bleiben. In einem Kiez-Projekt in Neu-Kölln sollte mit Sprache gespielt und experimentiert werden – ‚spoken word poetry‘ sollte entstehen, wohl gewählte Worte, um sich kritisch zum Beispiel mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen und dafür Medien kompetent in Gebrauch zu nehmen. Die Jugendlichen aber wollten ein Rap-Projekt. Ihre Idole, denen sie hier nacheiferten, sprechen eine Sprache, die diskriminierend, beleidigend und grammatikalisch falsch ist. Für die Medienpädagogen bestand die Herausforderung darin, ohne erhobenen Zeigefinger mit den Jugendlichen über die Aussagen ins Gespräch zu kommen und sie zu einem kritischen Blick und zum Austausch mit anderen zu motivieren. Rückblickend reflektieren sie, inwieweit ihnen das gelungen ist und was ein medienpädagogisches Projekt ausmacht.
Die Aufsätze illustrieren, dass und inwiefern es sich zukünftig lohnt, den feinen und komplexen Wechselwirkungen zwischen Sprache als eigensinnigem System, Sprache als sozialer Praktik auf der einen Seite und den unterschiedlichen ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien auf der anderen Seite näher unter die Lupe zu nehmen. Und das nicht nur in grundlagenwissenschaftlicher Manier, sondern mindestens ebenso intensiv in medienpädagogischer Hinsicht: im analytischen Sinne einer zu schulenden Dekodierungskompetenz für sprachliche Verführungen, Herabsetzungen und Diskriminierungen und in der Dimension der Gestaltungkompetenz als immer mitlaufende sprachliche Sensibilität bei der Produktion von Medieninhalten. Und auch hier ist Interdisziplinarität zu wünschen und produktiv. So könnten die Einsichten der kognitiven Medienlinguistik hierzu beigezogen werden. Bleibt zu hoffen, dass es in naher Zukunft zu intentional betriebenen, intensiven Verschränkungen medienwissenschaftlicher und sprachwissenschaftlicher Expertise kommt!
Dr. Susanne Eggert ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Familie und Medien, Medien in der Frühen Kindheit, Inklusion und Medien sowie Medienwandel und Bildung.
Dr. Andreas Lange ist Professor für Soziologie an der RWU Ravensburg-Weingarten an der dortigen Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Soziologien der Kindheit, Jugend und Familie, Medienwissenschaften sowie Zeitdiagnose.
Literatur
Degele, Nina (2020). Political Correctness – Warum nicht alle alles sagen dürfen – Mit einem Vorwort von Renate Künast. Weinheim: Beltz Juventa.
El Ouassil, Samira El (2021). Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Berlin: Ullstein.
Marx, Konstanze/ Weidacher, Georg (2020). Internetlinguistik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto.
mediensprache.net | Das Medienlinguistik-Portal (o.J.). www.mediensprache.net [Zugriff: 25.02.2022]
Schramm, Stefanie/ Wüstenhagen, Claudia (2015). Das Alphabet des Denkens. Wie Sprache unsere Gedanken und Gefühle prägt. Hamburg: Rowohlt.
Wehling, Elisabeth (2016). Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln: Herbert von Halem Verlag.
Andreas Lange: Familie digital gestalten. Digitale Medien und die Herstellung von Familie im Fadenkreuz qualitativer Längsschnittforschung
Die Digitalisierung des Familienlebens schreitet in Verknüpfung mit ihrer Medialisierung und Mediatisierung stetig voran und wurde durch die Pandemie nochmals forciert. Mit der vorliegenden Forschungsarbeit gewähren uns die Autor*innen fundierte Einblicke in diesen Prozess und in die Konsequenzen für die kindliche Medienaneignung.
Methodisch gesehen handelt es sich um eine qualitative Längsschnittstudie. In sechs Erhebungen wurden zu Beginn bei 20 Familien, von denen noch 14 bei der letztmaligen Datenerhebung im Herbst 2020 dabei waren, detaillierte Informationen zu folgenden Aspekten eingeholt (S. 15ff): Mittels eines Leitfadens wurden die allgemeine Lebenssituation, Betreuungs- und Wohnkonstellation, Rolle der Medien im Familienalltag, kindliche Entwicklung sowie Haltung der Eltern zu digitalen und mobilen Medien abgefragt. Dazu wurden teilweise ergänzend eigene Erhebungsinstrumente konzipiert wie ein ‚Medienhaus‘ und eine ‚Medienpizza‘.
Ein instruktiver Forschungsüberblick bahnt den Weg in die Darstellung der eigenen Ergebnisse. Aufgegliedert in kognitive, emotionale, motorische und soziale Entwicklung werden die medienbezogenen Fähigkeiten der Kinder beschrieben. Besonders innovativ ist die vertiefende Auseinandersetzung mit den Potenzialen, die das digitale Medienrepertoire speziell Kindern mit Förderbedarf bietet. Für alle Kids wiederum sind neben der Entspannung durch Medienrezeption die Erlangung von Selbstwirksamkeit durch das immer bessere Bedienen der Geräte sowie die orientierende Funktion hervorhebenswert. Insgesamt gesehen erklären sich die medienbezogenen Fähigkeiten der Kinder durch den Fortschritt in anderen entwicklungsbedingten Fähigkeiten, die medienbezogenen Erfahrungen und durch den jeweils zugänglichen Medienfundus – ökologisch eingebettet in die sozialen Parameter wie Geschwister und die elterliche Medienaffinität (S. 61).
In Kapitel 4 warten die Autor*innen mit einem gelungenen Transfer eines familienwissenschaftlichen Konstrukts auf die Digitalisierungsthematik auf. Sie greifen auf das maßgeblich durch Karin Jurczyk, Andreas Lange und Barbara Thiessen entwickelte Konzept der ‚Familie als Herstellungsleistung‘ – Doing Family – zurück, um zwei Sachverhalte ins Rampenlicht zu stellen. Zum einen wird danach gefragt, wie sich Familiales auf den Medienumgang auswirkt. Umgekehrt wird zum anderen der Tragweite des Mediengebrauchs für den Vollzug der Familienwirklichkeit nachgegangen. Wie zu erwarten, erweist sich der vielfältige Mediengebrauch als feste Koordinate im Familienalltag, wobei das eingesetzte und genutzte Medienspektrum zwischen den Familien erheblich variiert. Gemeinsam aber ist der geräteübergreifende Zugriff auf die präferierten Medieninhalte. Die Orchestrierung und Interpunktierung des Doing Family hängt von den konkreten Lebensweltumständen ab.
Auch auf der emotionalen Ebene fungiert die Medienaneignung als wichtiges familienstützendes Moment. Dies kommt insbesondere in den regelmäßigen Medienritualen zum Tragen, die über die Erhebungszeit der Studie weitgehend stabil bleiben.
In Nichtroutinesituationen werden die digitalen Medien ebenso familienintegrativ und -dienlich eingesetzt. Das gilt für das Hören von Hörspielen via MP3-Player bei längeren Urlaubstrips ebenso wie für eher lästige institutionell bedingte Wartezeiten beim Arzt und Behörden (S. 105). Und es hatte herausgehobene Bedeutung während der Hochzeiten der Pandemie (S. 119).
Einem Schlüsselfaktor des gelingenden und entwicklungsförderlichen Medienumgangs wird umfassend in Kapitel 5 Rechnung getragen. Angesprochen sind die Haltungen der Eltern zu digitalen Medien und der Medienerziehung. Welche Haltung gegenüber den Medien eingenommen wird, hängt von einem Multifaktorengeflecht ab (S. 163).
Die konkrete Medienerziehung ist sehr differenziert in Kapitel 6 beschrieben und wird in einer Typologie systematisiert abgebildet. Diese Typologie konstituiert sich durch den Einbezug der Haltung der Eltern zu digitalen Medien, zu Medienerziehung allgemein und zur konkreten Regelsetzung. Unterschieden werden können auf diese Weise sechs Typen der Medienerziehung (Die Unterstützenden, die Flexiblen, die Anspruchsvollen, die Zwiegespaltenen, die Überzeugten und die Verunsicherten). Eine zusammenfassende Übersicht über die Hauptergebnisse findet sich in Kapitel 8.
Insgesamt gesehen liegt hiermit ein wichtiger Beitrag zur Debatte um die Digitalisierungsfolgen in Familien vor. Das Verdienst der Studie liegt in einer engen Kopplung von Forschungsstanderuierung, theoretischer Konzeptualisierung und unprätentiöser Auswertung. Unterstrichen werden soll durch eine wissenschaftssoziologische Brille gesehen die enge Verzahnung familien- und medienwissenschaftlicher Expertise.
Besondere ‚take-aways‘ sind neben der konzisen Ergebnisdarstellung und überzeugenden theoretischen Rahmung vier Elemente, die an dieser Stelle hervorgehoben werden sollen. Erstens sind die Fallstudien zu den einzelnen Familien klugerweise nicht linear aneinandergefügt, sondern inhaltlich passend zu einzelnen Teilkapiteln. Zweitens folgen auf jedes Kapitel anregend formulierte, unaufdringliche Medientipps. Drittens ist das Buch in einer klaren, plastischen Sprache verfasst – was für sozialwissenschaftliche Texte nicht immer zutrifft. Und viertens tragen die Visualisierungen zu einer aufgelockerten Lektüre bei.
Eggert, Susanne/Oberlinner, Andreas/Pfaff-Rüdiger, Senta/Drexl, Andrea (2021). Familie digital gestalten. FaMeMo – eine Langzeitstudie zur Bedeutung digitaler Medien in Familien mit jungen Kindern. München: kopaed. 277 S., 19,80 €.
Susanne Eggert/Andreas Lange/Bernd Schorb: Editorial: Soziale Ungleichheit 4.0. Polarisierungen der Sozialstruktur und die Rolle der Medien(-pädagogik)
Das die Soziologie seit ihren Anfängen begleitende Dauerthema soziale Ungleichheit als analytische Vermessung der Ressourcenverteilung innerhalb einer Gesellschaft (Huinink/Schröder 2019) und das sozialphilosophische Begleitkonstrukt soziale Gerechtigkeit als normative Richtschnur der Verteilung von Gütern erleben seit geraumer Zeit eine intensivierte Zuwendung in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten. Hintergrund für diese neue Aufmerksamkeit sind zum einen massive sozialstrukturelle Verwerfungen, die ihre unübersehbaren Spuren auch im Ungleichheitsgefüge auf globaler wie nationaler Ebene hinterlassen, als auch vermehrte wissenschaftliche und publizistische Anstrengungen, diese Entwicklungen zu beschreiben, zu verstehen und eventuell ansatzweise zu verändern. Auf internationaler Ebene haben insbesondere die voluminösen Veröffentlichungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty (2013; 2020; s. auch Alvaredo et al. 2018) die Debatte enorm befeuert: In seiner ersten großen Publikation belegt er auf der Basis von Steuerdaten den historischen Verlauf von sozialer Ungleichheit in der westlichen Welt mit dem für uns wichtigen Befund, dass ein zwischenzeitliches Absinken der sozialen Spreizung von Vermögen und Einkommen bis etwa 1980 massiv konterkariert wird durch eine enorme Polarisierung in der Reichtumsverteilung zwischen ‚ganz unten‘ und ‚ganz oben‘. Die Gründe dafür sind ganz klar in der neoliberalen Restrukturierung des Wirtschaftslebens und der Vermarktlichung der Gesellschaft zu sehen, nicht zuletzt in einer unglaublichen und atemberaubenden, um nicht zu sagen einfach unverschämten Bevorteilung der ohnehin Privilegierten durch das Steuersystem, wie Saez/Zucman (2020) detailreich und entlarvend exemplarisch für die USA nachzeichnen. Neben der Rekonstruktion der jeweiligen Struktur der Ungleichheit spielt die Legitimation, die Begründung der ungleichen Verteilung eine fundamentale Rolle. Und das ist ein wichtiges Thema, das Piketty (2020, S. 22) in seiner jüngsten Publikation behandelt. Er spricht von der jeweiligen Ideologie der Ungleichheit – Ideologien verstanden als machtstabilisierende Formen der Wissens- und Rhetorikproduktion und als eigenständige Sphäre, die es sozialwissenschaftlich zu beachten gilt: „Dieser Ansatz unterscheidet sich von zahlreichen konservativen Diskursen, die uns erzählen wollen, Ungleichheit sei ‚naturgegeben‘. Es verwundert kaum, dass in ganz unterschiedlichen Gesellschaften, zu allen Zeiten und unter allen Breitengraden die Eliten es darauf anlegen, Ungleichheiten zu naturalisieren, also so zu tun, als hätten diese natürliche und objektive Gründe, um uns darüber zu belehren, die sozialen Ungleichgewichte seien nur zum Besten der Ärmsten und der Gesellschaft überhaupt …“ Dass diese Ideologien heute noch auf breite Resonanz stoßen, zeigen soziologische Umfragebefunde: Man stuft sich gerne hierzulande „in der Mitte“ ein (Beckers 2020) und zementiert so die unhinterfragte gesellschaftliche Hierarchie.
Und spätestens hier kommen die alten und die neuen Medien, die Medienwissenschaften und nicht zuletzt die Medienpädagogik ins Spiel, die aber auch über diesen Zusammenhang hinaus relevant werden:
- Alte und neue Medien können auf der inhaltlichen wie auf der formalen Ebene dazu genutzt werden, die elitenproduzierten Ideologien zu verbreiten oder sie zu relativieren.
- Der Mediengebrauch von Individuen, Mitgliedern sozialer Schichten bzw. Milieus steht in einem engen Zusammenhang mit Aspekten der sozialen Ungleichheit bzw. kann soziale Ungleichheit reproduzieren, verfestigen, aber eventuell auch modifizieren. Dies gilt in besonderer Weise auch vor der Folie der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche.
- Die Medienwissenschaften im weitesten Sinne behandeln immer auch, wenn auch nicht schwerpunktmäßig, konzeptionell und empirisch, soziale Ungleichheiten, nicht zuletzt die Analyse der Repräsentationen von sozialer Ungleichheit entlang der Kategorien Schicht/Milieu, Geschlecht, Ethnizität.
Soziale Ungleichheit als Thema in der Medienpädagogik
In der Medienpädagogik spiegelt sich die Diskussion um soziale Ungleichheit, die in der BRD seit langem und mit Fug und Recht geführt wird, unter zwei Gesichtspunkten wider. Hier geht es erstens um die Frage nach der Aneignung von Medieninhalten, zweitens um die Frage der potenziellen Aneignung technischer Medien. Bis heute, etwa im Kontext von Streamingangeboten oder Internetplattformen, wird mit Medien konnotierte Ungleichheit als Ungleichheit der Nutzung von medialen Angeboten gefasst. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche werden mögliche Wirkungen der Medien auf Denken und Handeln sowie auf die Entwicklung der Heranwachsenden analysiert. Eine zentrale Rolle spielten Gewaltdarstellungen im Film bzw. Video, im Fernsehen sowie in Computerspielen (vgl. Theunert 1996; Hausmaninger/Bohrmann 2002). Hier wurde vor allem herausgestellt, dass gesellschaftlich unterprivilegierte Personen, die selbst zu Gewaltanwendung neigen, auch eher bereit sind, mediale Gewaltdarstellungen als Vor-Bilder zu akzeptieren. Diese Frage nach der Wirkung medialer Gewalt wird heute trotz oder wegen der unübersehbaren Masse digitaler Angebote kaum noch gestellt. Über vier Dekaden, in denen diese Frage im gesellschaftlichen Diskurs, nicht nur im medienpädagogischen, wichtig war, wurde einerseits eine große Anzahl von Untersuchungen durchgeführt und es wurden andererseits Modelle entwickelt, um negativen Effekten medialer Botschaften entgegenzutreten, prophylaktisch durch Aufklärung oder verhindernd durch Jugendschutzmaßnahmen.
Allgemein wurden in der kommunikationswissenschaftlichen bzw. medienpädagogischen Forschung Verbindungen von sozialen Unterschieden und Medienaneignung untersucht. „Generell kann gesagt werden: je niedriger das Alter, der soziale Status und das Bildungsniveau, desto undifferenzierter ist die Mediennutzung“. Diese Aussage, die Baacke, Frank und Radde 1989 (S. 115) als Resümee einer ihrer Untersuchungen getroffen haben, ist im Kern heute noch gültig (vgl. Stegbauer 2012).
Neben der Frage nach unmittelbaren Wirkungen medialer Inhalte wurde mit zwei Schwerpunkten auch gefragt, welchen Einfluss das Medienensemble auf die Gesellschaft hat, ob und inwieweit die Medien selbst soziale Ungleichheit verstärken. Da ist zum einen die Theorie der Wissenskluft. Sie beinhaltet die Annahme, dass Bildungsprivilegierte im Gegensatz zu Bildungsbenachteiligten Medieninhalte nutzen, um ihr Wissensrepertoire zu erweitern und auf diese Weise ihre privilegierte Position stärken und die Kluft hin zu den Benachteiligten vergrößern zu können. Diese Theorie hat Müller (2019) bezüglich Social Media differenziert und aktualisiert. Die zweite Theorie, die der digitalen Kluft, ist verknüpft mit der Computerisierung der Gesellschaft. In diversen Varianten stellt sie im Kern die Behauptung auf, dass zum einen die Beherrschung der Rechner und ihrer Programme Privilegierte, die das hierfür notwendige Wissen vermittelt bekommen haben, weiter privilegiert und dass diejenigen, die den Zugang zu Soft- und Hardware haben, in einer mediatisierten Gesellschaft über Herrschaftswissen verfügen, welches sie wiederum privilegiert und die Kluft zwischen Handlungsmächtigen und dem Rest der Bevölkerung vertieft. Allerdings ist diese Theorie heute mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Rechnern und bezogen auf die Masse konfektionierter Unterhaltungsprogramme, im Internet wie im Fernsehen, umstritten (Arnhold 2003). Jenseits des Unterhaltungssektors aber hat gerade die Corona Krise gezeigt, dass es im Bildungsbereich sehr wohl eine digitale Spaltung gibt. Die Schließung der Schulen und die Verlagerung des Lernens als digitales ins Internet verschärft die Benachteiligung Heranwachsender in prekären Lebensverhältnissen, die zu Hause keinen Computer besitzen, nicht zuletzt, weil sie hierfür keine staatliche Unterstützung erhalten. In sozialen Brennpunkten mehrerer Städte der Bundesrepublik werden Schüler*innen hierdurch vom digitalen Unterricht ausgeschlossen. Hier wird die digitale Spaltung durch staatliche Maßnahmen nicht allein verstärkt, sondern auch geschaffen.
Dieses aktuelle Beispiel verweist auch darauf, dass mediale Ungleichheit immer gebunden ist an soziale Ungleichheit als Kennzeichen der Gesellschaft sowie darauf, dass sie dort ihre primären Ursachen hat. Dem tragen neuere medienpädagogische Projekte Rechnung, etwa die Arbeit von Ingrid Paus-Hasebrink (2014). Sie ist auch in diesem Heft mit einem grundlegenden Artikel vertreten. In dem Sammelband Medien. Bildung. Soziale Ungleichheit (Theunert 2010) werden Medien im Kontext analysiert und dargestellt. Bezugspunkte sind hier die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in ihrer Einwirkung auf Sozialisation und Bildung. Herausgestellt sind die Familie, die Gleichaltrigen, die Schule, die Medien, sowie das Bildungssystem als Chancenverteiler. Diese neueren Ansätze tragen dem Fakt Rechnung, dass die Medien heute integraler Bestandteil der Lebenswelt sind, von dieser wiederum einerseits selbst bestimmt werden, insofern sie in das ökonomische und politische System des globalen Kapitalismus eingebettet sind und andererseits es in der Einwirkung auf die gesellschaftlichen Subjekte legitimieren und zementieren.
Soziale Ungleichheit und Medien: Verantwortlichkeiten und Herausforderungen
Vor dieser Folie beabsichtigen wir mit diesem merz-Themenheft, das Thema soziale Ungleichheit und Medien systematisch im Schnittpunkt von Sozialpolitik, allgemeiner Sozialwissenschaft, Medienwissenschaft und insbesondere Medienpädagogik diskursiv voranzutreiben: Den Auftakt macht der seit langem sich immer wieder in die Diskurse über Ungleichheit und vor allem der Extremform Armut einschaltende Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Er beleuchtet in einem historischen Panorama die aus seiner Sicht eher unrühmliche Rolle, die Publizistik und Massenmedien in der Auseinandersetzung mit dem sozial schiefen Verteilungsgefüge seit der Nachkriegszeit gespielt haben. Insbesondere legt er die rhetorischen Strategien zur Individualisierung – Orientierung an Einzelfällen, Ausblenden struktureller Zusammenhänge – des Problems, damit der Ablenkung von den auch sozial und politisch von Menschen gemachten politischen Verhältnissen, schonungslos frei.
Diese an der gesellschaftlichen Makroebene angesiedelte Analyse von Christoph Butterwegge ergänzt Ingrid Paus-Hasebrink durch eine dezidiert mehrebenenanalytische Betrachtungsweise: Sie berichtet über das von ihr geleitete Panel zur Mediensozialisation Heranwachsender in benachteiligten Lebenslagen. Die Analyse des Ineinandergreifens von Sozialstruktur und Familie wird hier über die drei Konzepte Handlungsoptionen, Handlungsentwürfe und Handlungskompetenzen geleistet. Es kristallisiert sich aus der Ergebnisdarstellung ein Zusammenhang heraus, der auch aus anderen Forschungsgebieten wie zum Beispiel der Armutskonsequenzenforschung belegt ist: Sozioökonomische Benachteiligung führt zu Stress und Überforderung der Eltern, die aus diesem Grund nicht mehr über die Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit verfügen, die notwendig sind, um eine liebevolle und lenkende Erziehung ihrer Kinder zu bewerkstelligen. Natürlich handelt es sich nicht um einen kausalen Automatismus, weil Persönlichkeitseigenschaften der Eltern und soziale Unterstützungsnetzwerke den Zusammenhang abfedern können. Gleichwohl ist tendenziell festzuhalten, dass gerade heute in Zeiten der ubiquitären Mediatisierung eine so anspruchsvolle Erziehungsaufgabe wie die Vermittlung von Medienkompetenz in der Familie wesentlich durch das Zusammenspiel sozialer, kultureller und ökonomischer Kapitalien beeinflusst wird und damit die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe auch an dieser Stelle ungerecht verteilt sind. Einer der wichtigsten Faktoren mit Blick auf gesellschaftliche Teilhabe ist der Bildungshintergrund bzw. die eigene Bildung.
Heidrun Allert setzt sich in ihrem Artikel damit auseinander, wie algorithmische Strukturen und Prozesse zunehmend auch in Bildungsprozesse Eingang finden und auf diese Einfluss nehmen. Sie macht deutlich, dass es das Wesen von Algorithmen ist, Ungleichheiten aufzuzeigen. Welche Konsequenzen damit verbunden sind, ob also Ungleichheiten als gegeben hingenommen und manifestiert werden und damit scheinbar vorgezeichnete Lebens- und Bildungswege noch schwerer zu ändern sind, oder ob das Wissen, das die Algorithmen liefern, dazu beiträgt, Ungleichheiten zu erkennen und vor diesem Hintergrund Weichen zu stellen und damit Chancen zu generieren, ist eine politische und im Bildungsbereich auch eine pädagogische Entscheidung. Entwicklungen und Entscheidungen dürfen nicht den Vorgaben der KI und der algorithmischen Strukturen überlassen werden, sondern müssen umgekehrt genutzt werden, um Freiräume zu schaffen und verantwortungsvoll zu handeln. Immer wenn es brenzlig und prekär wird, hofft man auf die Kavallerie, in unserem Falle also die zuständige Medienpädagogik.
Guido Bröckling attestiert dieser allerdings in seinem Artikel nur wenig Durchschlagskraft in Sachen Ausgleich soziokultureller Benachteiligungen von Kindern. Verantwortlich hierfür macht er sowohl allgemeine konzeptionelle Desiderata als auch praxisbezogene Leerstellen. Erstens moniert er, dass das Konzept von Medienkompetenz instrumentalistisch verkürzt neoliberalen Interessen im Sinne einer Zuschneidung auf ökonomische Verwertbarkeit geopfert und das Motiv der Unterstützung der emanzipatorischen Subjektbildung unterlaufen werde. Zweitens führe die Nichtreflexion des eigenen gesellschaftlichen Status‘ und damit verbundenen medialen Habitus‘ dazu, dass die genuinen Interessen der weniger privilegierten Kinder und Jugendlichen in den Projekten der Medienpädagogik nicht angemessen berücksichtigt werden und daher auch ein geringer Grad der Beteiligung seitens dieser Gruppe vorprogrammiert ist. Gleichzeitig müssten aber wirklich kompetenzfördernde Angebote für diese Zielgruppe auch deren Habitus überschreiten und Neues bieten – eine Ambivalenz, welche die Schwierigkeit emanzipatorischer Medienarbeit gut umreißt. Schließlich spricht der Autor weitere unhintergehbare Rahmenbedingungen für die ungleichheitssensible Bildungsarbeit an, die in technischen Ausstattungsmerkmalen und vor allem in Zeit und Vertrauen zu sehen sind.
Dass es durchaus schon Schritte in diese Richtung gibt, illustrieren die sich anschließenden Beiträge, die ihren Blick aus einer praktischen Perspektive auf das Thema richten. Mit ‚schwer erreichbaren Familien‘, was es so schwer macht, sie zu erreichen und wie dies aber doch gelingen kann, beschäftigt sich Katrin Schlör in ihrem Artikel. Als zentrale Hürde beschreibt sie den normativen Blick auf die Medienpraktiken der Familien, mit dem diese isoliert von den jeweiligen Lebenslagen betrachtet würden. Genau diese sind es aber, an denen angesetzt werden muss. Die individuellen Lebenslagen und die damit verbundenen Ressourcen der Familien müssen den Ausgangspunkt für jegliche Unterstützungsleistungen darstellen. Methodisch sind dabei partizipative Formate, die es Familien ermöglichen, sich als diejenigen zu erleben, die ihre Lebens- und Medienwelt gestalten, besonders wertvoll.
Eltern miteinander ins Gespräch über Erziehungsfragen zu bringen, ist eine Herangehensweise niedrigschwelliger Präventionsarbeit, die seit fast 20 Jahren erfolgreich im Projekt ELTERNTALK umgesetzt wird. Der eine Pfeiler des Projekts ist Kommunikation, der andere das Peer-to-Peer-Prinzip. Der Austausch auf Augenhöhe senkt die Hürde, sich mit den eigenen Erfahrungen und Problemen einzubringen. Da über die Jahre zahlreiche Eltern aus anderen Kulturkreisen, die zum Teil auch andere Sprachen sprechen, das Angebot von ELTERNTALK wahrgenommen haben, selbst die Rolle der Gastgeberin oder des Gastgebers übernommen oder sich zur Moderatorin bzw. zum Moderator haben weiterbilden lassen, ist die ELTERNTALK-Community inzwischen groß und vielfältig. Vor diesem Hintergrund und mit diesen Ressourcen gelingt es auch, geflüchtete Eltern zu erreichen. Nataša Eckert und Marianne Meyer beschreiben, welche Schwierigkeiten in diesen Familien im Vordergrund stehen und wie sie durch die ELTERNTALK-Runden unterstützt werden können.
Abschließend wendet sich Florian Seidel der Zielgruppe der jugendlichen Gamer*innen zu. Er macht deutlich, dass Computerspiele im Jugendalter milieuübergreifend eine wichtige Rolle als Kommunikations- und Handlungsraum und für die Identitätsarbeit spielen sowie als „verbindendes Element [fungieren] … und sich durch die heutigen technischen Möglichkeiten als zusätzliches Teilhabeinstrument anbieten.“ (S. 52 f.) Damit könnten sie ein wertvolles Instrument sein, um mit Jugendlichen unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund zu arbeiten. Dieses Potenzial wurde und wird in der (außerschulischen) Bildungsarbeit aber nur zögerlich genutzt; solange das Computerspielen keine bessere Lobby bekommt, wird sich daran wohl auch nicht viel ändern.
Welche Aufgaben ergeben sich nun aus unserer selektiven Zusammenstellung von Hot Spots des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit, Medienrezeption und Medienproduktion?
Vonnöten ist im gesamten Bereich der Medien- und Kommunikationswissenschaften eine stärkere integrale und systematische Berücksichtigung sozioökonomischer Variablen und Zusammenhänge, insbesondere auch im interdisziplinären Zusammenspiel mit Ökonomie und Soziologie. Im Feld der praktischen medienpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wie auch mit Familien gilt es, Medienangebote auf ihr Potenzial, sozialeUngleichheiten zu nivellieren, abzuklopfen und sie – wie am Beispiel von Computerspielen gezeigt – entsprechend gezielt zu diesem Zweck einzusetzen sowie sich wieder stärker am Konzept der Unterstützung der emanzipatorischen Subjektbildung zu orientieren.
Literatur
Alvaredo, Facundo/Chancel, Lucs/Piketty, Thomas/Saez, Emmanuel/Zucman, Gabriel (2018). Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018. München: C.H. Beck.
Arnhold, Katja (2003). Digital Divide. Zugangs- oder Wissenskluft? Internet Research, Band 10. München: Fischer.
Baacke, Dieter/Frank, Günter/Radde, Martin (1989). Jugendliche im Sog der Medien. Medienwelten Jugendlicher und Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Beckers, Maja (2020). Die Mitte als Extrem. In: Hohe Luft, 2020 (3), S. 37–40.
Hausmanninger, Thomas/Bohrmann, Thomas (Hrsg.) (2002). Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. München: Fink Verlag.
Huinink, Johannes/Schröder, Torsten (2019). Sozialstruktur Deutschlands. 3. Auflage. München: UVK (UTB).
Müller, Patricia (2019). Social Media und Wissensklüfte. Nachrichtennutzung und politische Informiertheit junger Menschen. Wiesbaden: Springer VS.
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Piketty, Thomas (2020). Kapital und Ideologie. München: C. H. Beck.
Saez, Emmanuel/Zucman, Gabriel (2020). Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp.
Stegbauer, Christian (Hrsg.) (2012). Ungleichheit. Medien- und kommunikationssoziologische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.
Theunert, Helga (1996). Gewalt in den Medien – Gewalt in der Realität. Gesellschaftliche Zusammenhänge und pädagogisches Handeln. Reihe Medienpädagogik, Bd. 6. München: kopaed.
Theunert, Helga (Hrsg.) (2010). Medien. Bildung. Soziale Ungleichheit. Differenzen und Ressourcen im Mediengebrauch Jugendlicher. München: kopaed.
Andreas Lange/Karin Knop: Medien, Wohlbefinden, gelingendes Leben in unterschiedlichen Lebensphasen
Wie können Medienangebote, Medienrezeption sowie aktive Medienbeteiligung zu einem guten gelingenden, glücklichen Leben beitragen? Dieser Frage wird im Kontext allgemeiner, soziologischer und psychologischer Glücks- und Zufriedenheitsforschung bezogen auf die Lebensphasen Kindheit, Jugend-, Erwachsenen- und Seniorenalter nachgegangen. Aufgezeigt wird die zentrale Rolle der Förderung von Selbstregulationsfähigkeiten und der Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse wie denjenigen nach Autonomie, Kompetenzerleben und Zugehörigkeit durch Mediengebrauch als vermittelnde Faktoren, die das Wohlbefinden situativ oder langfristig steigern können. Abschließend wird übergreifend diskutiert, wo Grenzen und Chancen der Steigerung des Wohlbefindens qua Medien zu verorten sind.
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Bertram, Hans (2015). Kindliches Wohlbefinden als Maßstab. DJI-Impulse, 111, S. 4–7.
Betz, Tanja/Bollig, Sabine/Joos, Magdalena/Neumann, Sascha (Hrsg.) (2018). Gute Kindheit. Wohlbefinden, Kindeswohl und Ungleichheit. Weinheim: Beltz Juventa.
Bucher, Anton (2009). Psychologie des Glücks. Ein Handbuch. Weinheim: Beltz PVU.
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Karin Knop/Roland Bader/Andreas Lange: Medien, Wohlbefinden, gelingendes Leben
Der Wohlstand von Gesellschaften oder einzelner Individuen wurde und wird noch häufig (ausschließlich) anhand monetärer oder materieller Indikatoren bestimmt. Bezogen auf die ebenfalls mehrdimensionalen Konzepte subjektives Wohlbefinden, Lebensqualität und Lebenszufriedenheit werden neben dem Einkommen nunmehr unter anderem aber auch Gesundheit, Bildung, Arbeit, die sozialen Verbindungen und Beziehungen als Gradmesser herangezogen (u. a. Diener et al. 1997). Positive Emotionen, Kompetenz- und Autonomieerleben sowie gelingende soziale Beziehungen haben dabei einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Glückserleben und psychologisches Wohlbefinden oder well-being (Ryan/Deci 2000). Es geht also um die Summe an bereichsspezifischen Verwirklichungschancen von Menschen und die objektiven und subjektiven Freiheitsgrade und Potenziale im Bereich realisierbarer Lebensentwürfe, die das Individuum hat oder eben vermisst, um ein gelingendes, selbstbestimmtes Leben nach eigenen Plänen und Vorlieben zu führen. Der Einfluss der Medien auf die Lebensqualität ist dabei nicht zu unterschätzen. Wohlbefinden und Glück sind dann dezidiert das Resultat der Auseinandersetzung mit verschiedensten Medieninhalten von Buch, Radio, Fernsehen und Onlinemedien. Medien sind dann in vielen Bereichen des Lebens eine wertvolle Ressource, die beispielsweise durch Erholung, vielfältige Bedürfnisbefriedigungsoptionen, soziale Interaktionen und soziale Unterstützung das Wohlbefinden erhöhen (kann). Wenn – um einige anschauliche Beispiele zu nennen – durch eine spannende Serie Unterhaltungserleben und Abschalten ermöglicht wird, wenn durch einen Spielfilm oder eine Dokumentation eine Auseinandersetzung mit Werten oder Lebenszielen geschieht, wenn soziale Unterstützung erfahren oder Identitätsarbeit durch digitale soziale Medien praktiziert werden kann, wenn durch Produktion eines Videos, Radiobeitrags oder eines Blogs selbstständig und kreativ Medienprodukte erschaffen werden, wenn durch digitale Technologien Zeitersparnis und generelle Lebenserleichterung erfolgt, dann tragen Medien fraglos zur Verbesserung des individuellen Wohlbefindens und der Steigerung von Verwirklichungschancen bei. Voraussetzung für diese positiven Medienwirkungen auf das Wohlbefinden ist aber unter anderem ein selbstbestimmtes, kompetentes Medienhandeln. Vor diesem Hintergrund unternimmt merz 1/2019 eine vielfältige und facettenreiche Bearbeitung des komplexen Themas.
Zu diesem HeftAndreas Lange und Karin Knop geben einen Überblick zum Stand der allgemeinen, soziologischen und psychologischen Glücks- und Zufriedenheitsforschung. Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden, Wohlstand und Glückserleben werden bezogen auf die Lebensphasen Kindheit, Jugend-, Erwachsenen- und Seniorenalter beleuchtet. Aufgezeigt wird die zentrale Rolle von Selbstregulationsfähigkeiten deren Bedeutung für die Erfüllung von Grundbedürfnissen nach Autonomie, Kompetenzerleben und Zugehörigkeit. Dabei kann Mediengebrauch das Wohlbefinden situativ oder langfristig steigern. Es wird ausgelotet, wo Grenzen undChancen der Steigerung des Wohlbefindens qua Medien zu verorten sind.
Frank Schneider und Annabell Halfmann befassen sich mit den gesundheitsfördernden und vorbeugenden Aspekten der Salutogenese und zeigen auf, wie der achtsame, selbstkontrollierte und sinnstiftende Umgang mit Onlinemedien gelingen und zur Steigerung des Wohlbefindens beitragen kann.
Karin Knop, Sarah Lutz, Ines Vogel und Roland Gimmler veranschaulichen auf Basis des aktuellen Forschungsstandes die Potenziale und Herausforderungen der mobilen, digitalen Kommunikation via Smartphone für direkte interpersonale Kommunikation. Mit Bezug auf relevante Dimensionen von Medienkompetenz werden Gelingensbedingungen skizziert und medienpädagogische Implikationen abgeleitet.
Das Schulfach Glück trägt seit 2007 an der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg zur Steigerung des Wohlbefindens von Schülerinnen und Schülern bei. Welche Rolle die Medien innerhalb dieses innovativen Fachunterrichts spielen, erläutert die Lehrerin Andrea Gietzelt im Interview mit Karin Knop.
Roland Bader diskutiert in seinem Beitrag, inwieweit Alltagsunterstützende Assistenzlösungen, sogenanntes Ambient Assisted Living, das Potenzial haben, älteren Menschen durch eine medienunterstützte intelligente Lösung einen längeren Verbleib in ihrem eigenen häuslichen Wohnumfeld zu ermöglichen. Es werden Beispiele und Einblicke in die bisherigen Projekte und den aktuellen Stand der Entwicklung gegeben.
Überblicksorientierte Beiträge aus der Forschung werden ergänzt durch Einblicke in medienpädagogische Praxisprojekte und nützliche Tools. Das Projekt ATOLE (Attentif à l’école) des französischen Hirnforschers Jean-Philippe Lachaux arbeitet daran, Kindern Wege aufzuzeigen, wie sie auf der Grundlage aktueller Hirnforschung die Steuerung ihrer Aufmerksamkeit verbessern können. Elke Dillmann berichtet über das Webvideo-Projekt Here’s my story von der Arbeit mit geflüchteten Menschen, die ihre Geschichten erzählen und dabei Identitätsfragen und ihre eigenen Kompetenzen fokussieren. Nadja Jennewein beschreibt in ihrem Beitrag MoMimA – Moderne Medizintechnik im Altenheim, wie sich Pflegeschülerinnen und -schüler mediengestützt mit ethischen Fragen des Technikeinsatzes in der Pflege auseinandersetzen.
Aus der Fülle der Apps, die für die medienpädagogische Arbeit oder zum Eigengebrauch hilfreich sein können, hat die Redaktion einige ausgewählt und getestet, darunter Smiling Mind, Breathe, Think, Do with Sesame, Quality Time und Daylio – Tagebuch und Stimmungen. Weitere App-Rezensionen sind zudem auf der merz-Homepage unter www.merz-zeitschrift.de abrufbar.
Literatur
Diener, Ed/Suh, Eunkook/Oishi, Shigehiro (1997). Recent findings on subjective well-being. In: Indian Journal of Clinical Psychology, 24(1), pp. 25–41.
Reinecke, Leonard/Oliver, Mary Beth (2017). Handbook of media use and well-being. New York, NY: Routledge.
Ryan, Richard M./Deci, Edward L. (2000). Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development, and well-being. In: American Psychologist, 55(1), pp. 68–78.Karlheinz A. Geißler und Andreas Lange: Editorial
Vor mehr als 500 Jahren, als man noch nicht ausdrücklich über die Zeit gesprochen und auch nicht mit ihr Handel getrieben hat, war sie heilig. Danach waren es die Uhren und die Kalender, die zu Heiligtümern wurden und manch ein Manager trägt heute noch seinen ‚Timer‘ wie eine Monstranz vor sich her. Heute, in der Postmoderne angekommen, heiligen wir die Medien, die ihrerseits wiederum das Aktuelle, das ‚Immer‘, das ‚Überall‘ und das ‚Sofort‘ anbeten. „Die Civilisation will die Materie vergessen machen und den Verkehr beflügeln ...“ Mit diesen prophetischen Worten kennzeichnete Franz von Baader vor 150 Jahren die Entwicklung „des Lebens überhaupt und des socialen Lebens insbesondere“ (Baader 1854, S. 101). Er hat in einem Ausmaß recht gehabt, wie er es sich selbst nicht hat vorstellen können. Heute ist Realität, was die Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kühn postulierten: „Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen“ (Marinetti 1909). Rundfunk, Fernsehen und das Internet bestimmen mit wachsender Intensität und vor allem tiefgreifend, unsere Wirklichkeit und das, was wir für ‚wirklich‘ halten. Sie prägen in der Art und Weise, wie sie gestaltet und von uns wahrgenommen werden, unser Verständnis von Zeit und unseren Umgang mit ihr.
Die zeitlichen Koordinaten des Lebens in Bildung, Lernen, Arbeit und Freizeit, aber auch in der Familie und der Peergroup sind häufig durch Medien bestimmt: Mit dem Radio lassen wir uns wecken, und mit der Fernbedienung in der Hand schlafen wir vor dem Fernseher schließlich ein, dazwischen ein Arbeitstag, den immer mehr Menschen vor diversen Bildschirmen mit dem Finger auf dem Touch-Screen verbringen, nicht selten auch bemüht, ihre „sozialen Standleitungen“ (Reißmann 2013) zu anderen Menschen dadurch à jour zu halten. Die Zeitgestalten der Medien sowie auch die Möglichkeiten, Zeit mit Medien zu gestalten, sind äußerst vielfältig (Beck 1994). Auf den ersten Blick dienen die geliebten Geräte erstens der Beschleunigung des Lebens und mittlerweile zweitens immer mehr der Abkopplung von festen Vorgaben.
Insbesondere in den elektronischen Medientechniken sind ‚zeitsparende‘ Effekte angelegt: Das Telefonieren spart den Besuch oder den zeitaufwendigen Brief; E-Mails befördern eine Nachricht in Sekundenschnelle; Radio und Fernsehen können uns ‚live‘ über beliebig entfernte Ereignisse informieren, ohne jene Zeitverzögerung, die dem vormals ‚schnellen‘ Medium Zeitung noch anhaftet. Das neue Leitmedium, den Computer, einschließlich seiner vielgestaltigen Abkömmlinge, nutzen wir, um zeitintensive Routinen und Abläufe zu beschleunigen: von der Buchhaltung über die Textverarbeitung bis hin zu umfangreichen Internet-Recherchen. Dazu kommt die Beschleunigung in und durch die Medienformate. Ein Krimi oder eine Dokumentation aus den 60er Jahren ist nicht nur wegen der bescheidenen Sendequalitäten ‚altbacken‘, sondern wegen der langsamen Schnitte und tempoarmen Handlungsbögen. Das könnte einen „Sozialisationseffekt“ dergestalt entfalten, dass zumindest der kognitive Aufwand zur Decodierung dieser Inhalte steigt (Grunow et al.).
Die Mediatheken von Fernseh- und Radioangeboten wiederum machen uns weitgehend unabhängig von kollektiv vorgegebenen Sendezeiten. Bezogen auf unser Heft-Thema heißt dies, dass Kinder und Jugendliche demnach in einer auch durch Medien beschleunigten, gleichzeitig immer stärker auf individualisierte, gleichsam ‚solitär‘ und dadurch auch fragmentierte Zeitverwendung hin abzielende/ermöglichende Gesellschaft aufwachsen. Da darf es nicht wundern, dass die nächste Welle der Kulturkritik der Medien auch hier ein neues Betätigungsfeld gefunden hat, man denke an die Stichwörter „Digitale Demenz“ und „Hyperaktivität“ bzw. das Zeitalter der Zerstreuung /Simultaneität … Zumindest in technischer Hinsicht scheint das Ende der Beschleunigung erreicht. Wenn sich Informationen mit Lichtgeschwindigkeit übertragen lassen, ist dem unaufhörlichen Streben nach möglichst rascher und verzögerungsfreier Nachrichtenübermittlung das Ziel abhanden gekommen und damit auch die Beschleunigung als technische Leitmaxime der Medienentwicklung an ihrem Ende.
Im Anschluss an das napoleonische Zeitalter vollendete sich die Beschleunigungsidee in weniger als 200 Jahren. Die elektromagnetischen Welten haben die Sekunde in deren Bruchteile zerlegt und die Räume, besonders aber die Zeiten, der menschlichen Wahrnehmung entzogen. ‚Zeit‘ wird mittels neuer Techniken jenseits der bewussten Anschauung organisiert. Mit den Beschleunigungspotenzialen der Medien wurden völlig neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns erschlossen. Mit der „elektrischen Augenblicksverbindung“ (Warburg 1923) und der „Eroberung der Allgegenwärtigkeit“ (Valéry 1959) lässt sich die Zeit scheinbar eliminieren. Nichts dauert mehr. Alles ist sofort, auf Knopfdruck, da. Und doch haben wir das Gefühl, dass uns mehr denn je etwas fehlt. Mit dem Ende der Beschleunigung gewinnt die Zeit-Verdichtung als weitere spätmoderne Technik der Zeitbewirtschaftung noch mehr an Bedeutung. Verdichtet, so die real wirksame Vorstellung, lässt sich die relativ knapp bemessene, gleichwohl historisch neue Dimensionen einnehmende Lebenszeit dann ,effizienter‘ nutzen, zum Beispiel indem man mehrere Dinge gleichzeitig tut bzw. möglichst viel (an Information) in die gleiche Zeit packt. Auch hierfür bietet die Welt der Medien eine Vielzahl an Möglichkeiten: Radiohören beim Zeitungslesen, Bügeln beim Fernsehen, Musikhören beim Internet-Surfen, Telefonieren beim Auto- oder beim Zugfahren. Wer seine Aufmerksamkeit teilt, hat mehr vom Leben – so lautet das Credo der Zeitoptimierer. Es geschieht immer etwas, und weil immer etwas geschieht, geschieht noch vieles andere. Das möglichst gleichzeitig, immer aber möglichst schnell. Selbst das Bildungssystem ist von diesem Tempo-Virus (Borscheid 2004) infiziert, mit nicht nur positiven Effekten für die Schülerinnen und Schüler.
Vielmehr scheint sich die Verdichtung der Kindheit und Jugend in einer Prekarisierung anderer Tätigkeiten auszuwirken wie beispielsweise der Jugendverbandsarbeit (Lange/Wehmeyer 2014). Das Handeln derer, die die Medien nutzen, erschöpft sich jedoch nicht in den Strategien der Beschleunigung und Zeitverdichtung. Denn Zeit ist in unserer Gesellschaft nicht nur zu einem knappen Gut geworden, mit dem es möglichst ‚effizient‘und ‚sparsam‘ zu wirtschaften gilt. Sie ist zuweilen auch im Überfluss vorhanden. Zu allererst für das Heer der unfreiwilligen Arbeitslosen. Aber auch für diejenigen, die sich tagsüber in ihrem Beruf abrackern (dürfen), verwandelt sich Zeit spätestens am Feierabend oder in der Freizeit zu etwas, mit dem man reichlich gesegnet ist (Erst ‚ranklotzen‘, dann ‚reinglotzen‘, ist das Motto dieses Lebensstils). Mit diesem Zeit-Reichtum können nicht alle gleichviel anfangen. Die gesuchte Ablenkung, die mehr als vier Stunden (Frees/Eimeren 2013), die die Bundesbürger täglich vorm Fernseher verbringen (Reuband 2012: Fernsehen kann als low-cost-Freizeitbeschäftigung vor allem bei älteren Menschen noch zulegen) beispielsweise, ist immer auch eine Ablenkung von der ‚Leere‘ der Zeit, von der ‚Langeweile‘, dem ereignislosen Verfließen der Zeit – und damit immer auch eine Ablenkung von sich selbst. Der Mediengebrauch dient offenbar nicht nur der Beschleunigung des Lebens, sondern auch dazu, die wachsende ‚freie‘ Zeit zu strukturieren und ihr einen wie auch immer gearteten Sinn zu geben.
Ganz gleich, ob in chronischer Zeitnot oder in der Situation, in der wir uns einem Überfluss an Zeit gegenüber sehen: In beiden Fällen vertreiben wir die Zeit aus unserem Leben: zum einen, indem wir sie möglichst intensiv bewirtschaften und nach dem Prinzip ‚Zeit ist Geld‘ den Kampf gegen alles Langsame, Bedächtige, Pausierende aufnehmen. Zum anderen, indem in der so gewonnenen Freizeit mit Hilfe der Medien die Zeit ‚totgeschlagen‘ wird. Wir sprechen von ‚Zeitvertreib‘ wenn wir beschreiben, um was es geht: ‚Zeit‘ soll vertrieben, Zeitlosigkeit erreicht werden. Der massenmediale Weg zur Zeitlosigkeit ist die massenmediale wie auch durch interaktive Medien getriebene Beschleunigung, die Rundum-Betriebsamkeit, die Verdichtung der Sensationen, die Dauerablenkung. Auch wenn tagsüber ununterbrochen und erfolgreich Zeit ‚gespart‘, Abläufe beschleunigt werden und durch gerätegestützte Parallelhandlungen verdichtet wird, scheinen viele doch an langen Fernsehabenden oder in stundenlangen Internet-Sitzungen alle Zeit der Welt zu haben. Die Rastlosigkeit beim vermeintlichen Sparen von Zeit mündet am Feierabend in der nicht minder großen Ratlosigkeit, sinnvoll mit ihr (und sich) umzugehen. Es fällt offenbar schwer, eine Balance zwischen dem ‚Müssen‘ und der möglichen ‚Muße‘ zu finden. Zeitmangel und Zeitüberfluss verweben sich zu spät- oder postmoderner Zeiterfahrung. Je mehr Zeit man hat, umso mehr muss aufgrund des neoliberalen Verwertungszeitgeistes mit dieser etwas gemacht werden und entsprechend weniger hat man dann wieder.
Vier Zeitdynamiken sind es, die für die elektronischen Medien und für deren Gebrauch charakteristisch sind:
Informations- und Kommunikationsmedien zielen darauf ab, räumliche wie zeitliche Distanzen zu reduzieren. Bereits die frühen Formen der Nachrichtenübermittlung versuchten das Trennende des Raumes mit möglichst geringem Zeitaufwand zu überwinden. Den neuen elektronischen Medien gelingt es erstmals, diesen Zweck aller Mediennutzung zu vollenden. Mit der Lichtgeschwindigkeit der Signalübertragung wird die Grenze der Beschleunigung erreicht, werden zeitliche und räumliche Distanzen reduziert und der Wahrnehmung entzogen. Räumliche wie zeitliche Unterschiede verlieren ihre Bedeutung im weltweiten Netz der Medien. Die globale Gleichzeitigkeit wird zur zentralen Zeiterfahrung.
Die weltweite Medienvernetzung kommt dem menschlichen Streben und der menschlichen Sehnsucht nach möglichst schwereloser Überwindung von Raum und Zeit entgegen. Weniger diese Überwindung als solche, vielmehr ihre (vermeintliche) Mühelosigkeit macht die Faszination der neuen Medien aus. Angefangen mit dem Telefon, vorerst endend mit der digitalen Neuschöpfung der Welt im Cyberspace, erheben wir uns zu engelsgleichen Wesen. Geschöpfe, die der Naturgesetzlichkeit scheinbar nicht mehr unterliegen und die Barrieren von Raum, Zeit und Materie mühelos überwinden. Die Gesetze der Schwerkraft scheinen außer Kraft, wenn wir uns per Mausklick oder Fernbedienung die Welt auf den Bildschirm holen. Diese ‚Engelhaftigkeit‘ unserer virtuellen Existenz versteckt und verdeckt die materiellen und naturgesetzlichen Bedingungen, denen die neuen Medien und ihr Gebrauch unterliegen. Diese Engelhaftigkeit erstaunt uns Erwachsene vielleicht noch, ist aber zur existenziellen Matrix der heute Heranwachsenden geworden.
Die Informations- und Kommunikationsmedien sind nicht nur Teil unserer Nonstop-Gesellschaft; sie sind dafür mitverantwortlich. Die pausenlose Verfügbarkeit von Programmangeboten in Fernsehen und Radio ist heutzutage selbstverständlich. Das Internet ist ein ‚Ort‘, zu dem man jederzeit Zutritt findet. Die vielfältigen Formen moderner Telekommunikation ermöglichen ein Nonstop der Erreichbarkeit. Dadurch nehmen die individuellen Nutzungsspielräume entscheidend zu. Eine soziale Koordination des Medienumgangs und des Mediengebrauchs findet jedoch nur selten statt, eher kann man von einer massiven Deregulierung sprechen. Individuell sind die Freiheiten zweifelsohne größer geworden, aber kollektiv (zum Beispiel politisch) werden diese Freiheiten nicht mehr abgesichert, so dass mit den Freiheiten auch die Zwänge zunehmen. Auf soziale Zeiten und Rhythmen wie etwa das Wochenende oder den Wechsel von Arbeit und Ruhe nehmen die Medien (bzw. ihre Nutzenden) keine Rücksicht mehr. Dies führt zu der erfahrbaren Paradoxie: Je vernetzter und flexibler unsere Nonstop-Gesellschaft, umso isolierter sind ihre Mitglieder. Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit geht mit einem wirklichen Verschwinden der Allmählichkeit einher.
Die Medien, speziell jene, die wir als ‚neu‘ bezeichnen, konfrontieren uns täglich mit höchst flexiblen Zeitformen. Diese sind jedoch nicht mehr an der zeitlichen Vielfalt der Natur orientiert, weder der äußeren Natur noch unserer eigenen, inneren Natur. In einer globalisierten Medienwelt ist immer ‚was los‘, ein Event jagt das andere, stets ist dadurch alles taghell beleuchtet. Die Vielfalt der Zeitmuster, die wir in der Natur vorfinden, wird ergänzt und häufig auch ersetzt durch eine Vielfalt von technisch/elektronisch produzierten Zeitmustern und Programmschemata, deren interner Verweisungslogik und darauf zugeschnittener theatraler Inszenierungen im Bereich der Wirtschaft, des Sports und der Politik. Durch diese Entkopplung von den Zeiten der Natur entsteht eine zivilisatorische Spannung zwischen der Welt der Medien einerseits und der kaum noch wahrgenommenen Natur andererseits. Trotz aller medialer Aufrüstung und Abschirmung sind und bleiben die Menschen jedoch ein Teil der Natur, allein die Zugehörigkeit zur Natur lässt sich, die Medien sorgen dafür, besser leugnen. Spätestens am Ende unserer Existenz werden wir sie akzeptieren müssen.
Vor dieser Folie betrachten die Beiträge der vorliegenden merz-Ausgabe das Thema Medien und Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven: Woher kommen eigentlich unsere Probleme mit der Zeit? Frank Orthey befasst sich mit dieser Frage anhand eines stroboskopartigen Blicks zurück in die Zeitgeschichte und legt so fossile temporale Gesteine frei, die vielfach modifiziert und dann um neue ‚Brocken‘ ergänzt – zu nennen ist die Erfindung und technische Implementation der linearen Zeit in Gestalt der Uhren – unsere heute Zeitökologie und Zeitwahrnehmung mitgeformt haben. Karlheinz A. Geißler, Jonas Geißler und Frank Michael Orthey loten in ihrem launigen intergenerativen Chat sowohl die erwartbaren und nicht erwartbaren temporalen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen den Generationen als auch die notwendigen Kompetenzen aus, um nicht in der Flut von Optionen, die ja immer auch Zeit brauchen, um abgewogen zu werden, unterzugehen. Dass die zeitlichen Folgen der Mediatisierung des Alltags höchst ambivalent sind, arbeitet überzeugend Vera King heraus. Dieses Ambivalente erstreckt sich dabei auf die temporale Logik des Alltags, der durch die neuen Möglichkeiten der Medien- und Kommunikationstechnologien auf der einen Seite eigentlich entspannter organisiert werden könnte, da man sich bestimmte Wege sparen kann; auf der anderen Seite kommt es aber zu heftigen Beschleunigungsspiralen, weil man mehr Tätigkeiten in eine Zeiteinheit zu packen bemüht ist. Aber auch die temporale Logik der frühen Lebensphasen ist höchst widersprüchlich: Einerseits verkürzen Medien und deren Inhalte das Kindsein, andererseits verbleiben junge Menschen länger im Elternhaus. Auf dieser Basis, unterfüttert durch eine eigene empirische Untersuchung, arbeitet die Autorin subtil die möglichen Implikationen dieser zweifachen neuen Zeitordnungen auf der Mikro- wie Makroebene heraus und leitet daraus bedenkenswerte Aufgabenfelder für die Medienbildung ab; vor allem das Einüben der spielerischen Distanzierung und Reflexivität dürfte sich lohnen.
Auf der Basis einer ‚dichten Beschreibung‘ des spätmodernen Alltags zwischen Familien- und Berufsverpflichtungen, die ohne Medien kaum mehr zeitlich zu integrieren und synchronisieren wären, sowie einer Phänomenologie moderner medialer Anforderungen entwickelt Frank Orthey ein Tableau notwendiger Zeit Kompetenzen zu deren Bewältigung. Insbesondere hinsichtlich der „Transversalitätskompetenzen“ gibt er Einblick in ein fruchtbares Feld nicht nur medienpädagogischer Arbeit jenseits der eingespielten Zuständigkeiten und Hoheitsgebiete. Die spezifischen Zeiten sozialer Netzwerke untersucht Alexander Klier und erinnert dabei an die aus dem Bildungsbürgertum stammende Auffassung, wonach Freizeit nicht eigentlich freie Zeit ist, sondern mindestens in einigen Anteilen auch der Selbstfindung, Selbstveredelung zu dienen habe. Auf der Basis der Theorie sozialer Praktiken wird überzeugend aufgezeigt, dass auch die Nutzung sozialer Netzwerke nicht einfach vorherige Praktiken und Technologien verdrängt, sondern es vielmehr zu differenziellen Verwendungsweisen der Newcomer kommt. Und dazu gehört bei den sozialen Netzwerken ihre ‚praktische‘ Abkoppelbarkeit von physischer und temporaler Ko-Präsenz, sprich: Man kann sich ein- und ausklinken, wie es einem passt.
Die Beiträge zeigen trotz ihrer durchaus unterschiedlichen Annäherung und ihrer unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Basis: Die medienpädagogische und allgemeine Herausforderung besteht zusammengenommen darin, erstens die temporalen ‚Facetten‘ und ‚Seiteneffekte‘ des Mediengebrauchs in der Forschung angemessen zu berücksichtigen, die Medien ausdrücklich hinsichtlich ihrer zeitstrukturierenden Implikationen in der Medienpädagogik zu thematisieren und den Heranwachsenden Möglichkeiten und Wege in den unterschiedlichsten pädagogischen und außerpädagogischen Settings aufzuzeigen, wie sie die vielfältigen Medien dazu nutzen können, ihre zeitliche Autonomie und Souveränität zu steigern, was letztlich einen Beitrag zur Alltagstauglichkeit und Identitätsbildung darstellt.
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Vor dem Hintergrund der Wiederentdeckung der Lernpotenziale des Bildungsortes Familie werden Thesen und Befunde zu einer möglichst effektiven „Ko-Produktion“ von Bildung im Spannungsfeld der sozialen Institutionen Familie und Medien zusammengetragen. Dabei ist auch den sinnlichen, ambivalenten und emotional teilweise höchst aufgeladenen Komponenten der individuellen wie gemeinsamen Medienrezeptionsepisoden im gelebten Alltag von Familie Beachtung zu schenken. Damit wird dezidiert gegen eine abgehobene Wertedebatte, in welcher Medien- und Familienschelte Hand in Hand gehen und Medien pauschal für den Verlust familialen Zusammenseins verantwortlich gemacht werden, plädiert und für eine nüchterne Analyse dessen, was in Familien mit und durch die Medien geschieht.
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Andreas Lange: Neues Wissen - neue Gesellschaft?
Gendolla, Peter / Schäfer, Jürgen (Hg.) (2005). Wissensprozesse in der Mediengesellschaft. Bielefeld: Transcript, 26,80 €
Gleich zwei schwergewichtige soziologische Kernbegriffe spannen den diskursiven Raum des Bandes auf. Zum einen geht es um eine Auseinandersetzung mit dem Stellenwert, den Wissen in der gegenwärtigen Gesellschaft einnimmt. Zum andern wird reflektiert, was es bedeutet, dass gesellschaftliche Prozesse zunehmend Netzwerkcharakter annehmen. In vier thematischen Blöcken – Netzwerke, Wissensmanagement und Bildungsprozesse, ökonomische und schließlich ästhetische Prozesse – wird eine Annäherung an eine fundierte Analyse der Konsequenzen der vernetzten Wissensprozesse für die Gestalt und Prägnanz des sozialen Wandels gesucht. Die gemeinsame Leitfrage, die eine Bündelung der ansonsten thematisch sehr breit streuenden Aufsätze leisten soll, lautet: Überwiegt die Kontinuität oder haben wir es mit einem Bruch zu tun? Peter Gendolla und Jürgen Schäfer als Herausgeber skizzieren in ihrer Einleitung dazu eine sehr dezidierte Position. Ihrer Ansicht nach haben wir es in der Tat mit einem fundamentalen Umbruch und nicht mit einer einfachen Addition neuer Medien und Technologien zu tun. Begründet wird diese These anhand medienwissenschaftlicher sowie semiotischer Überlegungen. Basis des Bruchs ist demnach die Digitalisierung, die zwar alte Medien nicht einfach auslöscht, aber qualitativ entscheidende Neuerungen beinhaltet. Neben der Schnelligkeit, mit der beliebige Daten transferiert werden können, und der universellen Transformierbarkeit ist es die Ergebnisoffenheit netzwerkorganisierter Wissensprozesse, die beispielsweise massive Umformungen des Vertrauensbegriffes implizieren. Auch der Anschlussbeitrag arbeitet sich an der Frage der Form des sozialen Wandels ab.
Coy spricht von einem radikal experimentellen Stadium von Gesellschaft und mobilisiert hierzu das Bild der Betaversionen eines Betriebssystems. Prognosen sowie Szenarien haben sich damit auseinanderzusetzen, dass die Gesellschaft wie ihre technische Infrastruktur einschließlich des Mediensystems durch eine Spannweite vorhersehbar geplanter bis hin zu unerwarteten Entwicklungen geprägt sein wird. Eine empirische Detailunterfütterung erfährt das Unterfangen des Bandes durch Gisela Hüsers und Manfred Grauers detailreichen Überblick zur Verbreitung von Internet und Mobilfunktelefon, der die Diffusionsrate beider Technologien betrachtet. Quintessenz: Die Vernetzung des Wissens ist hochgradig selektiv und die Diffusionsgeschwindigkeit der neuen Medien ist wesentlich höher als die von Radio und Fernsehen. MedienbruchBesonders anschaulich indes werden die Thesen eines Medienbruchs mit gesellschafts- wie individuentransformierendem Charakter in Rolf Grossmanns „Audioarchive im Wandel“: Er zeigt anhand ausgewählter Etappen der Aufzeichnung von Musik, wie sich eine Entkoppelung des ästhetischen Mehrwerts von den Trägermaterialien vollzieht und schließlich im individualisierten Sampling von Tonbruchstücken mündet, und wie dann die letzten Schranken möglicher Rekombinationen aufgelöst werden. Damit entsteht eine neue kulturelle Praxis in der Netzwerkgesellschaft, die die anspruchsvollen Aufgaben andeutet, Die auch in anderen Feldern bevorstehen: die Mitgestaltung von inhalt-lichen und ökonomischen Konzepten einzelner Akteure im Produktionsprozess.
Der Band ist all denjenigen zu empfehlen, die sich über die Sprechblasen des öffentlichen Diskurses hinaus vertiefend mit den Umbrüchen von Produzieren, Konsumieren und Lernen durch neue Medientechnologien auseinandersetzen wollen. Eintrittskarte in den Band ist, dass man auch vor Sätzen, die länger als fünf Druckzeilen sind, nicht zurückschreckt.
Andreas Lange: Kompetenzentgrenzung – Ein Einspruch
Jüngst hat der bayerische Ministerpräsident seinen Wirkungsort verlassen und wird demnächst in Brüssel die Bürokratie entschlacken. In einem Interview sprach er davon, dass es ihm darum geht, die Kompetenzkompetenzen zwischen Brüssel und Berlin und den anderen EU-Staaten wieder neu zu ordnen. Ups – noch eine Kompetenz, die sich da anheischt, als notwendiger Bestandteil des Portfolios eines Politikers Eingang zu finden. Nicht nur in der Politik, nein allenthalben schießen die Anforderungen an zu bewältigende Sachverhalte aus dem Boden: Die Welt wird unsicher und ambivalent, also brauchen wir eine Unsicherheits-/Ambiguitäts-/ Ambivalenzkompetenz.
Die Gefühle am Arbeitsplatz, in der Familie und im Freundeskreis dürfen auch nicht mehr naturwüchsig gezeigt und ausgelebt werden – man hat sich gefälligst des ausdifferenzierten Tableaus emotionaler Kompetenzen zu bedienen. Medienforscher werden nicht müde, mit derselben Verve Medienkompetenzen zu fordern – das kleine noch zu lösende Problem dabei liegt nur in dem kaum zu entwirrenden Gestrüpp von Vorschlägen hierzu … Und nicht zu vergessen – in Zeiten der auf allen Ebenen betriebenen Umbauten, Renovierungen und Innovationen im Feld der Beziehungen zwischen den Geschlechtern brauche ich ein ganzes Bündel von „Genderkompetenzen“, will ich nicht als hoffnungslos veralteter Zeitgenosse und Macho gelten.
Überhaupt – damit mein Leben fortan in geordneten Bahnen verläuft und ich sinnvoll mit meiner begrenzten Lebenszeit umgehe, diese richtig bewirtschafte, auch noch im Alter produktiv bin – wie im neuesten Altenbericht gefordert – auch immer gut vorbereitet in meine Meetings komme, da brauche ich – richtig geraten! – Zeitkompetenzen. Eine vollständige Liste weiterer unbedingt notwendiger und vor allem auch durch Forschungsprogramme summativ oder auch formativ zu evaluierender Fertigkeiten zu erstellen, liegt außerhalb meiner Kompetenzlistenerstellungskompetenz, würde aber offenbaren, dass die Kompetenzschürfer bis in die feinsten Poren des Alltags vorgedrungen sind. Dort lassen sie nicht locker, bis sie auch das letzte Quäntchen an Humanressourcen absaugen und der uns alle glücklich machenden Verwertung zuführen können. Sind sie beispielsweise derzeit „nur“ Hausfrau und fragen sich, ob Sie auch etwas können?
Keine Bange, auch hierfür gibt es mittlerweile eine sogar von Arbeitsämtern anerkannte Familienkompetenzbilanz. Das Leben des lernbereiten Mitteleuropäers besteht also immer mehr aus einer Anreihung von Kompetenzaneignungsphasen, Kompetenzbeweisepisoden (Prüfungen!) und schließlich Kompetenzperformanzevents (wenn’s dann richtig ernst wird in der Lebenswelt und man seine Kompetenzen beweisen soll und rhetorisch in Szene muss). Irgendwie erinnert mich das als eifrigen Sciencefictionleser (noch eine Kompetenz??) an abschreckende utopische Visionen im Stile von 1984. Ich glaube, als einzig wirklich wahres Gegenmittel hilft da nur die Pflege der „Kompetenzvernachlässigungskompetenz“ – nicht zuletzt der expansiv-regressive Medienkonsum, einfach so also eine Soap gucken (ohne deren Familienbilder für die nächste Vorlesung aufzubereiten), meine Lieblingsmusik hören (ohne gleich auf die positiven Auswirkungen auf meine Gehirnstrukturen zu spekulieren) …
Helga Theunert, Andreas Lange und Kathrin Demmler: Editorial
Familie und Medien: Es ist keine Frage, dass diese Verbindung dauerhaft im Fokus der Medienpädagogik steht. Familie konstituiert in vielfacher und einflussreicher Weise den soziokulturellen und sozioökonomischen Bezugsrahmen für das Heranwachsen. In der Familie werden Kinder zuerst und nachhaltig in Wertesysteme und Lebensstile eingeführt, hier erhalten ihr Menschenbild und Weltverständnis Konturen, werden Bildungschancen und Bildungshemmnisse grundgelegt und vieles mehr. In diesen Bezugsrahmen sind die Prozesse der Medienaneignung in Kindheit und Jugend untrennbar eingebettet.
Die Familienmitglieder bieten dem Kind die ersten und wiederum nachhaltigen Vorbilder für den Gebrauch von Medien, es erfährt mediale Beschäftigungen als anregende, strukturierende, dominierende oder konfliktträchtige Größen des alltäglichen Familienlebens, lernt Medien als Unterhaltungs- und Wissensquelle, als Kommunikations- und Artikulationsmittel oder auch als Flucht- und Suchtmittel kennen. Doch die beiden Pole des Verhältnisses Familie und Medien sind keine stabilen Größen, beide unterliegen Wandlungsprozessen, die mit Veränderungen in gesellschaftlichen Strukturen, seien diese ökonomischer oder ideologischer Art, und mit medialen Entwicklungen, seien diese technischer oder inhaltlicher Natur, zusammenhängen. So ist Familie heute ein vielgestaltiger Sozialraum, der sehr unterschiedliche Konstellationen aufweist, in dem Brüche und Umbrüche zunehmend üblicher werden und in dem vielfältige Erwartungen und Belastungen zu bewältigen sind, die von außen, vor allem von der Arbeitswelt und dem Bildungssystem an den Sozialraum Familie und an seine Mitglieder herangetragen werden: Alleinerziehende, Lebenspartnerschaften, Patchwork-Familien, die Generationen und Zwischengenerationen umfassen, multilokal lebende Familien sind nur einige Stichworte, die auf spezifische Bewältigungsanforderungen im Alltag vieler Erwachsener und Heranwachsender verweisen. Das „Doing Family“ ist eine konstante Aufgabe und eine mit sehr unterschiedlichen Leistungen verbundene Größe heutigen Familienlebens. Als integrierter Bestandteil der Lebensvollzüge und des alltäglichen Gemeinschaftslebens spielen Medien in das „Doing Family“ hinein, in vielfältigen Funktionen und mit konstruktiven ebenso wie destruktiven Anteilen. Im Zuge der Digitalisierung hat die Medienwelt tiefgreifende Veränderungen erfahren: Der aneinandergereihte oder aufgeschichtete Konsum von Einzelmedien ist ergänzt und erweitert um den vernetzten multimedialen und multifunktionalen Zugang zu medialen Inhaltsuniversen und damit verbundenen oder separat in Dienst zu nehmenden Artikulations- und Interaktionsmöglichkeiten mit medialen Mitteln und in medialen Räumen. Das Subjekt ist nicht mehr beschränkt auf den Konsum von Medienangeboten, es kann sich selbsttätig medial zur Geltung bringen. Im Sozialraum Familie geht es entsprechend mittlerweile um weit mehr als um gemeinschaftsstiftende oder konfliktauslösende Medienrezeption. Die Vielzahl und Vielfalt der Angebote evozieren vielerlei divergente Vorlieben. Vorrangig dort, wo Artikulation und Interaktion in medialen Räumen möglich und gefordert sind, ist einerseits ein Auseinanderdriften des Medienhandelns der Generationen zu beobachten, das familiäre Medienerziehung behindern kann. Andererseits erlauben gerade die medialen Artikulations- und Interaktionsformen, räumliche Distanzen zu überwinden und medienbasierte Nähe zu schaffen. Sie können so beispielsweise für multilokal lebende Familien neue Möglichkeiten eröffnen, Familie zu leben. Den Veränderungen im Verhältnis Familie und Medien widmet sich der einführende Artikel von Helga Theunert und Andreas Lange. Im ersten Teil werden zentrale Wandlungslinien im Sozialsystem Familie und in den Strukturen der heutigen Medienwelt skizziert. Auf dieser Grundlage wird ein Thesentableau zum Verhältnis Familie und Medien entwickelt, das die Fragen, was leisten Familien in Medienaneignungsprozessen und umgekehrt, was leisten Medien in familiären Lebenswelten unter den veränderten Gegebenheit betrachtet, auf der Basis vorhandenen empirischen Wissens und – da dieses als lückenhaft zu qualifizieren ist – in Form von Fragestellungen, Problemaufrissen und Handlungsanforderungen.Christian Alt und Markus Teubner beleuchten einen oftmals in der Debatte vernachlässigten Aspekt von Familien – die Rede ist von den Geschwistern. Die über die Generationenachse in Familien hinausreichenden geschwisterlichen Einflüsse sind schon deshalb von Interesse, weil davon ausgegangen werden kann, dass sie eventuell die generationsbedingten Defizite von Vätern und Müttern kompensieren können. Empirisch gestützt kann der Autor unter anderem nachweisen, dass ältere Geschwister in der Tat in der Familie hinsichtlich der PC- und vor allem Internetkenntnisse förderlich für ihre jüngeren Geschwister sein können.Der Artikel von Simone Bahr und Dorothee Falkenreck greift ein altes, aber unverändert relevantes ‚Familienmedium‘ auf: Das Fernsehen. An einem Fallbeispiel aus der pädagogischen Familienforschung wird die soziale Praxis des gemeinsamen Fernsehens anschaulich beschrieben.
Dabei geht es nicht alleine um die Details im Umgang mit dem Medium, wie beispielsweise der Zentralität des Themas Zeit, sondern der Fokus liegt überdies auf dem Vergemeinschaftungsprozess, der im Kontext der gemeinsamen Fernsehsituation durch Interaktion und Kommunikation, über inhaltliche und formale Elemente des Gesehenen, realisiert wird.Kathrin Demmler nimmt die pädagogischen Handlungsnotwendigkeiten in den Blick. Aufbauend auf der Erkenntnis, dass Familie heute als vielschichtiges Sozialsystem ebenso vielschichtige pädagogische Konzeptionen benötigt, betrachtet sie vorhandene Projekte und Erfahrungen und stellt Überlegungen für eine gelingende, ganzheitliche medienpädagogische Familienbildung an.Eingestreut in den Thementeil finden sich Kästen zu einem Aspekt, der im Verhältnis Familie und Medien zweifellos eine Rolle spielt, aber hier in keinem eigenen Text behandelt ist: Bilder und Vorstellungen von Familie in den Medien, die gerade von der heranwachsenden Generation vielfach als Vorbilder und Folie für die Entwicklung von Zukunftsperspektiven herangezogen werden. Michael Gurt hat solche aktuell für Heranwachsende und Eltern relevanten Vorstellungen von Familie in unterschiedlichen Medien zusammengestellt und knapp beschrieben.
Andreas Lange: Emotionen als Wirtschaftsgut
Die allgemeine Aufwertung von Emotionalität in Wirtschaft und Familie, in Corporate Identities, in den Reality-Formaten der TV-Sender, in emotionalisierenden Werbekampagnen hat Folgen: Ein neuer Sozialcharakter wächst heran, das „Kalte Herz“.
Das ist eine Herausforderung für eine reflexive Medienpädagogik – aber auch eine Chance: Auf einen neuen Zugang zur jugendlichen Gefühlskultur.
(merz 2005-03, S.56-59)
Andreas Lange / Kurt Lüscher: Kinder und ihre Medienökologie in „postmodernen“ Zeiten
Soziologische Anmerkungen zur Medienpädagogik
(merz 2000-01, S. 41-50)
Ekkehard Sander, Andreas Lange: „Die Jungs habe ich über die Lokalisten kennen gelernt“
Elektronisch basierte „Soziale Netzwerke“ boomen. Damit rücken in den öffentlichen Diskussionen die Fragen nach der ökonomischen Verwertung ebenso in den Vordergrund wie die damit verbundenen Probleme des Datenschutzes. Unter einer medienpädagogischen und jugendsoziologischen Perspektive geht es um die Risiken und Chancen für die Jugendlichen. Der Beitrag rekonstruiert, wie heranwachsende Jungen und Mädchen die neuen Möglichkeiten der elektronisch lancierten lokalen Netzwerke in ihren sozialen Beziehungen nutzen und wie sie diese einschätzen.
Literatur:
Büchner, Peter/Fuhs, Burkhard/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.) (1996). Vom Teddybär zum ersten Kuss. Wege aus der Kindheit in Ost- und Westdeutschland. Opladen: Leske & Budrich
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Wellman, Barry/Haythornthwaite, Caroline (Hg.) (2002). The Internet in Everyday Life. Oxford: Blackwell(merz 2008-3, S. 24-31)
Friedrich Krotz und Andreas Lange: Leistung und Stigmatisierung als Inszenierung im Fernsehen
So sehr das Fernsehen zum Massenmedium geworden ist, so sehr unterscheiden sich dennoch die Herangehensweisen und Umgangsformen seiner verschiedenen Zielgruppen damit. Gerade Reality-TV und Casting-Shows treten oft als Ratgebersendungen auf, die Regeln und Normen präsentieren, die von manchen belächelt, von anderen kritiklos übernommenwerden – vor allem aber immer wieder gesellschaftliche Strukturen und Schichtendenken spiegeln, zementieren und noch verstärken.
Literatur
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Krok, Isabelle/Lange, Andreas (2008). Defamilialisierungoder smarte Ko-Produktion? Zum Verhältnis familialer undöffentlicher Erziehung. Vorgänge, 47, 3, S. 23-31.
Krotz, Friedrich (2007). Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag.
Lessenich, Stephan (2008). Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript.
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Rosa, Hartmut (2009). Jedes Ding hat keine Zeit? FlexibleMenschen in rasenden Verhältnissen. In: King, Vera/Gerisch, Benigna (Hrsg.), Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung. Frankfurt am Main: Campus, S. 21-39.
Thomas, Tanja (2010). Wissensordnungen im Alltag: Offerten eines populären Genres. Alltag in den Medien – Medien im Alltag. Wiesbaden: VS Verlag, S. 25-47.
von Osten, Marion (2009). Dancing the Class Away. Zum Erziehungscharakter postfordistischer Tanzfilmprojekte. In: Baxmann, Inge/Göschel, Sebastian/Gruß, Melanie/Lauf, Vera (Hrsg.). Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel. München: Fink, S. 147-168.
Friedrich Krotz und Andreas Lange: Editorial
Ein konventioneller Strang der Medienkritik arbeitet sich daran ab, dass den Medien vorgeworfen wird, ihre Darstellungen verlören zusehends den Bezug zur Realität und zeichneten daher ein irreführendes Bild der Verhältnisse. Im vorliegenden Heft geht es um das diametral entgegengesetzte Phänomen, indem mediale Formate behandelt werden, die Aspekte ausgewählter gesellschaftlicher Verhaltenserwartung und stärker noch, Verhaltenszumutungen, mehr oder wenigerdirekt spiegeln und zu den Rezipientinnen und Rezipienten transportieren. In den Fokus rücken solche Sendungen, die den Rezipientinnen und Rezipienten, zumeist vermittelt über die gezielte Auswahl und Platzierung von nichtprominenten Akteurinnen und Akteuren, „Menschen wie du und ich“, Verhaltenscodes und Werte näher bringen; nicht um des reinen Vergnügens willen. Vielmehr besteht die Überzeugung darin, dass in den Sendungsinhalten solche Codes vermittelt werden, die für den sozialen und insbesondere beruflichen Erfolg in der Marktgesellschaft unerlässlich sind. Zugespitzt formuliert werden Vorformatierungen für die alltägliche Lebensführung vorgeführt und dementsprechend evaluiert.
Eine erste explorierende Standortbestimmung dieses Komplexes ist das Ziel des vorliegenden Schwerpunktheftes.Friedrich Krotz und Andreas Lange spannen als Grundlage hierfür einen gesellschaftstheoretischen Rahmen auf, um in diesen die generelle Bedeutung des Fernsehens und speziell derjenigen Formate einzuordnen, die dezidiert Leistungsmaßstäbe und ihr Pendant, kritikwürdiges Versagen und dessen Stigmatisierung, zur Schau stellen. Dazu begreifen sie diese Sendungen als ‚Ratgeber’, trotz ihres auch unterhaltenden Charakters. Mit dieser Zuschreibung ist die Vermutung verbunden, dass ein nicht unerheblicher normativer Druck von den Inszenierungsformaten und ihren neoliberalen Subtexten ausgeht. Als primäre Adressatinnen und Adressaten werden spezielle Segmente in der Sozialstruktur ausgemacht, die eher am unteren, wenn auch nicht am untersten Rand der Gesellschaft zu finden sind. Ferner setzen sie das Funktionieren des Bildungs- und Mediensystems zueinander in Beziehung und deuten schließlich die Grenze subversiver Lesarten der Casting- undanderer Formate an.Danach entfaltet Katrin Döveling plastisch und empirisch unterfüttert das Argument, dass der Erfolg dieser Formate zu einem nicht unerheblichen Ausmaß dadurch mit bedingt ist, dass es ihnen gelingt, Emotionen zu mobilisieren. Kurzgefasst: Medienmacht ist Emotionsmacht. Zentraler Punkt für die hohe Attraktivität insbesondere der Castingshows ist, dass die Dramaturgie weniger darauf abzielt, sich kognitiv abwägend mit den Qualitäten der Bewerberinnen und Bewerber auseinanderzusetzen, als vielmehr die Zuseherinnen und Zuseher in den Zustand des Miterlebens und Mitfühlens zu versetzen.
Hierfür wiederum kommt dem Publikum vor Ort eine wichtige Funktion zu – es agiert in seiner gesamten Mimik und Gestik stellvertretend und vorführend. Für den Verlauf der emotionalen ‚Ansteckung’ wegweisend ist dabei, wie die Autorin herausarbeitet, dass Casting-Shows wenige Leerstellen enthalten. ‚Sehnsuchtsofferten’, die aufgrund des ‚teledarwinistischen’ Schemas generiert werden, betreffen die vermeintlich schnelle Chance auf Aufmerksamkeit sowie das kollektive Begehren nach Überschreiten der Grenzen. Aber auch die Kehrseiten, das Scheitern an den Maßstäben und der damit einhergehende Prozess der Stigmatisierung, werden emotional aufgeladen und bewirken bei den Rezipierenden eine Bejahung der vorgeführten Leistungsideologie.Miriam Stehling und Tanja Thomas sondieren die Fruchtbarkeit einer transkulturellen Perspektive für das Verständnis des Erfolgs der Leistungsratgeber. Sie betten diese Rekonstruktion ein in den allgemeinen Trend der Zunahme der global gehandelten Fernsehformate, in dessen Verlauf insbesondere das Lifestyle-Fernsehen zu einem internationalen Markenartikel wurde. Konkret untersucht werden die Mechanismen und Zusammenhänge am Beispiel von Germany‘s Next Topmodel, das auf der Ebene der Produktion als Resultat strategischer Transkulturalität zu verorten ist. Für das Argument der transkulturellen Anschlussfähigkeit liefern die Autorinnen lehrreiches indirektes Material aus einer Studie mit Medizinstudentinnen und Berufsschülerinnen. Dabei erweist sich zum einen durch angeeignetes Genrewissen ein kritisch-reflektierendes Vergnügen an der Machart der Shows, beispielsweise mit Blick auf Techniken der Montage und der Dramatisierung. Andererseits offenbart sich ein unreflektiertes Akzeptieren der Terms of Trade des Modelgeschäfts. Diese widersprüchliche Gemengelage verweist auf einen wichtigen Forschungsbedarf für die Zukunft.
Paula-Irene Villa schließlich setzt sich mit der (Selbst-)pornografisierung in Jugendkulturen auseinander. Dabei rückt sie aber nicht die Pornografie in den Mittelpunkt, sondern die damit verbundenen und angesprochenen Kontexte: Einerseits begreift sie Pornografie als eine umkämpfte Arena geschlechtertheoretischer und -politischer Codes, die die allgemeinen Grundlagen des Verhältnisses von Mann und Frau mit thematisiert, andererseits analysiert sie die Selbstpornografisierung der Jugendszenen im Hinblick auf das unternehmerische Selbst, das zunehmend zum gesellschaftlichen Ideal stilisiert wird. Über die Notwendigkeit weiterer Forschung hinaus unterstreichen die Beiträge insgesamt, welche große pädagogische Bedeutung – nicht nur für die Medienpädagogik – dem hier aufgerissenen Themenfeld zukommt. Die eben auch medial platzierten Neuverhandlungen des Leistungsprinzips sind umso notwendiger, desto stärker manmit Neckel (2008) von einer Ausweitung des sozialen Wettbewerbs sprechen kann, der sich über die Wirtschaft hinaus verallgemeinert hat. Ideen kooperativer Sozialbeziehungen und die Solidarnormen verlieren an Bedeutung, um Platz zu machen für die Gewinner/Verlierer-Unterscheidung, welche die öffentliche und auch die private Wahrnehmung sozialer Beziehungen prägt.
Literatur
Neckel, Sighard (2008). Einleitung: Fluchtpunkte von ‚Erfolg‘. In: ders. (Hrsg.). Flucht nach vorn: Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft. S. Neckel. Frankfurt, Campus, S. 7-17.
Andreas Lange und Dagmar Hoffmann: Populärkultur und Medienökonomie
Der Beitrag untersucht die Strukturen des popkulturellen und medialen Konglomerats, das heute ein nicht weg zu definierender Bestandteil des Aufwachsens geworden ist. Hierzu erfolgt einerseits eine Abgrenzung zu den gängigen Kulturkritiken. Andererseits wird davor gewarnt, vom Normalfall der souveränen Aneignung durch Kinder und Jugendliche auszugehen – zum einen aufgrund der neuen ‚Qualitäten‘ des popkulturellen Konglomerats und dessen kulturökonomischer Hintergründe; zum anderen aufgrund der sozial höchst ungleich verteilten personalen und strukturellen Voraussetzungen, die Angebote eigensinnig subversiv, spielerisch und persönlich bereichernd nutzen zu können. Abschließend werden medienpädagogische Konsequenzen umrissen.
Literatur
Altmeppen, Klaus-Dieter (2011). Strategisch geplante Sozialisation. Strukturen der Unterhaltungsbeschaffung und –produktion. merz, 56, Heft 1, S.XX
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Andreas Lange und Dagmar Hoffmann: Editorial
Spielt man rhetorisch Kultur auf der einen Seite und Geld bzw. Ökonomie auf der anderen Seite gegeneinander aus, dann ist das gegenwärtig eine fast so sichere Strategie, Beifall beim geneigten Publikum zu erheischen wie der unsägliche Rekurs auf „die Werte“. Hinter dieser Zusammenhangsvermutung, nach der „das Geld“ „die Kultur“ korrumpiert und insbesondere ökonomische Faktoren eigentlich zu einem massiven Verfall von Kreativität und Authentizität bei den Produzenten von Kinderkulturprodukten und zu passiver und eskapistischer Rezeption beim Publikum führen müssen, steht erstens eine wirkungsmächtige sozialwissenschaftliche Denkrichtung – die kritische Theorie der Frankfurter Schule, die in der „Kulturindustrie“ vor allem auch einen Apparat zur Unterdrückung der arbeitenden Klassen sah.
Auf der anderen Seite wurzelt die Gleichsetzung von ökonomischen Aspekten von Kultur mit Qualitätsverlust in einer mittlerweile überholten Sicht der Rolle medialer und künstlerischer Prozesse für die Entwicklung westlicher Gesellschaften. In Form der Kreativwirtschaft sind diese nämlich längst von einem ‚Sahnehäubchen‘ zu einem wichtigen und lukrativen Feld des Produzierens geworden. Erwerbsmotivation, betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten sowie Marktgesetzlichkeiten können, müssen aber nicht per se zu materiellen wie immateriellen Produkten führen, die den Heranwachsenden wenig eigene Spielräume zur Aneignung lassen oder die sie einseitig beeinflussen und mit schädlichen Verhaltenshabitualisierungen einhergehen. Das Spannende und Herausfordernde an der auch, aber nicht nur von makroökonomischen Verflechtungen mitbestimmten Wechselwirkung zwischen wirtschaftlicher Dynamik im Feld der Populärkultur, gerade derjenigen, die auf Kinder und Jugendliche zielt, und den künstlerischen sowie deutenden Prozessen der Interpretation und Nutzung der Produkte in und für die alltägliche Lebensführung, sind aus unserer Sicht die jeweiligen konkreten Anteile von Kommerzialisierung, Ökonomisierung, Standardisierung versus Eigensinnigkeit, Vielfalt und Nützlichkeit für die individuelle Subjektbildung und Alltagsgestaltung.
Vor dieser Folie geht das vorliegende Themenheft in ausgewählten Ausschnitten dem „Konglomerat“ von Populärkultur und Medien nach. „Konglomerationen“ ist ein Konzept, das von den Innsbrucker Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Maria Wolf, Bernhard Rathmayr und Helga Peskoller in die zeitdiagnostische Debatte geworfen worden ist. Es umschreibt ein Gefüge der von Individuen erlebten Erfahrungen in spätmodernen Gesellschaften, die trotz ihrer partiellen Widersprüchlichkeit und des vielfältigen Drucks im Alltagsleben so angeeignet werden, dass eine Handlungsfähigkeit im Alltag und Formen der Identität bewerkstelligt werden können „die nicht mehr aus dem Granit traditionaler Rollenbilder gefügt sind, sich aber auch nicht im Geröll moderner Beliebigkeit verlieren, sondern Vielfältiges zu temporären und alltäglichen Festigkeiten zusammenfügen“ (Wolf/Rathmayr/Peskoller 2009).
Im einführenden Beitrag geben Andreas Lange und Dagmar Hoffmann einen Überblick zu wesentlichen Linien des Diskurses um das Spannungsverhältnis von Populärkultur und Medien. Neben Überlegungen zur sozialisatorischen Bedeutsamkeit des „Konglomerats“ befasst sich der Artikel mit den möglicherweise sozialstrukturell bedingten Formen der Aneignung populärkultureller Produkte, die dann entweder zu einer souveränen oder zu einer instrumentalisierenden Subjektivierung sowie zu unterschiedlichen Bildungserfolgen von Kindern und Jugendlichen führen können.
Klaus-Dieter Altmeppen erörtert in seinem Artikel die ökonomischen Mechanismen der modernen Kulturindustrie am Beispiel des Fernsehens. Er expliziert die Strukturen von organisationalen Handlungsfeldern der Unterhaltungsproduktion und klärt darüber auf, unter welchen ökonomischen und kommunikationsstrategischen Voraussetzungen Unterhaltung heute „beschafft“ wird. Aus seiner Sicht werden die Marktmechanismen in sozialwissenschaftlichen Kontexten und in Modellen der Mediensozialisation zu wenig berücksichtigt. Seiner Ansicht nach sollten die häufig subtilen Programmstrategien sowie die damit verbundenen komplexen Marketingaktionen bei der Entwicklung von Mediensozialisationstheorien stärker problematisiert werden. Medienaneignung und Medienproduktion sind für Altmeppen rekursive Prozesse, deren Verständnis als aufeinander bezogenes Medienhandeln nicht allein Marketingfachleuten überlassen werden sollte.
Burkhard Fuhs möchte den Unterhaltungsmarkt differenziert betrachtet wissen. Er plädiert dafür, eine weniger wertende Perspektive auf populäre Kultur einzunehmen, da es den Individuen freigestellt ist, Phänomene populärer Kultur in ihre Lebensführung einzubauen. Eine Akteursperspektive, die nach dem Doing Culture fragt und die die performative Aneignung und Umdeutung massenkultureller Muster in konkreten sozialen Situationen in den Blick nimmt, kann am ehesten die konkrete Sozialisationsrelevanz populärer Kulturphänomene erfassen. „Kinderkultur“ entsteht heute im Spannungsfeld von industriellem Markt, eigenständigen kindlichen Interessen in der Peerkultur und elterlichen (pädagogischen) Bildungs- und Erziehungsnormen. Ziel sollte es sein, eben dieses Spannungsverhältnis von industriellem Markt der Dinge, öffentlicher Diskussion um die Kindheit, elterlichen Bildungs- und Erziehungsnormen und die individuelle sowie peerbezogene Gestaltung der Kindheit durch Kinder selbst in den Blick zu nehmen.
Die Ambivalenzen des Populärkulturellen werden im Beitrag von Anna Seidel sehr deutlich, die sich mit den Potenzialen nicht-kommerzieller Medienproduktionen und deren Aneignung beschäftigt. Sie stellt die im Jahre 2008 gegründete ‚alternative‘ Frauenzeitschrift Missy Magazine vor, die „Popkultur für Frauen“ darstellen und vor allem mit einer emanzipierten Haltung und feministischen Orientierung verbinden möchte. Im Missy Magazine wird über Themenbereiche wie Medien, Mode, Sexualität und Politik in einer Art und Weise berichtet, die es erlaubt, die Ideologien, Diktate und Normvorgaben konventioneller Frauenzeitschriften zu dekonstruieren.
Das Missy Magazine ist als gegenöffentliches Angebot auf dem bestehenden Zeitschriftenmarkt zu betrachten. Welche Potenziale, welche Reichweiten und kulturelle Einflüsse widerständige, gegenöffentliche Angebote haben bzw. haben können, werden im Interview mit einer der Herausgeberinnen des Missy Magazines, Chris Köver, veranschaulicht. Wie diese komplexen Einsichten und Positionen zum Konglomerat Populärkultur und Medien ohne den pädagogischen Zeigefinger zu überdehnen umgesetzt werden können, skizziert Sabine Sonnenschein anhand des Onlinemagazins für junge Medienkritik des Projekts Spinxx. Hier wird eine bemerkenswerte Kombination aus kritisch-analytischer, auch auf medienökonomische Fakten eingehender Medienarbeit und produktiver Medienarbeit praktiziert.
Zudem realisiert das Projekt eine Maxime der neueren Kindheitsforschung beispielhaft – die Perspektiven der Kinder durch unterschiedlichste Beteiligungsmodelle ‚sprechen‘ zu lassen.
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Andreas Lange: Glück und Medien in der spätmodernen Kindheit
Dass Medien integraler Teil der kindlichen und jugendlichen Lebenswelten und Lebensführungen darstellen, ist wenig umstritten. Wesentlich kontroverser sind die Debatten über die Implikationen dieses Sachverhalts. Im vorliegenden Aufsatz wird vorgeschlagen, die ‚Wirkungen‘ von Medien nicht mehr alleine in Begriffen von pathologischem Gebrauch einerseits und Lernen und Informationsverhalten andererseits zu modellieren, sondern ausdrücklich die ‚abhängigen Variablen‘ Lebensqualität, Wohlbefinden und Glück als Resultat der Auseinandersetzung mit Medien und Medieninhalten zu berücksichtigen. Dazu erfolgt ein Brückenschlag zur neuen Soziologie der Kindheit und es wird ein heuristisches, integratives Modell des Zusammenhangs von Medien und Wohlbefinden entwickelt. Selbstkritische Anmerkungen zur möglichen Instrumentalisierung des postulierten Zusammenhangs für Zwecke der neoliberalen Selbstoptimierung beenden den Aufsatz.
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Andreas Lange: Beobachten, anerkennen und unterstützen
Schlör, Katrin (2016). Medienkulturen in Familien in belasteten Lebenslagen. Eine Langzeitstudie zu medienbezogenem Doing Family als Bewältigungsressource. München: kopaed. 375 S., 22,80 €.
Derzeit ist an mehreren Adressen des sozialwissenschaftlichen Theoretisierens und der empirischen Arbeit der Vormarsch im weitesten Sinne praxeologischer bzw. praxistheoretischer Ansätze zu vermerken. Diese richten sich zum einen gegen einseitig kausalitätsorientierte Forschungsphilosophien und andererseits kritisieren sie hermeneutische und phänomenologische Ansätze wegen deren vermeintlichen Bedeutungslastigkeit und der Vernachlässigung des konkreten Tuns, nicht zuletzt auch im Medium des Körpers. Im Feld der Medien- und Kommunikationswissenschaften sind diese Ansätze ebenfalls angekommen. An diesen Theoriediskurs setzt die Arbeit von Katrin Schlör konzeptionell an. Insbesondere greift sie eine Reihe von Thesen und Operationalisierungen des Konstrukts des „Doing Family“ auf, die am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München entwickelt wurden.
Thematisch betrachtet reiht sie sich ein in eine länger werdende Kette von Arbeiten, die den Medienumgang von Individuen und Familien von im weitesten Sinn deprivierten Milieus beschreiben. Während diese Auseinandersetzungen oftmals mit dem Gestus von Belehrung und unreflektierter normativer „Mittelschichtkulturtheorie“ (Stichwort „Unterschichtenfernsehen“) geschehen, geht die Autorin den mühsameren Weg einer akribischen Auseinandersetzung mit den Medienkulturen in solchen familialen Konstellationen. Weitere theoretische Leitplanken, entlang derer Schlör ihre empirischen Sondierungen und Analysen fährt, sind unter anderem Bourdieus Habitus-und Kapitalientheorie sowie sozialwissenschaftliche und psychologische Coping- und Bewältigungstheorien. Wissenschaftstheorie tische Basis ihrer Ausführungen ist eine nicht dogmatische und zielführende Orientierung an der Grounded Theory und eine explizit reflexive Haltung zum eigenen Vorgehen. „Die geforderte Reflexion der Forschung wirft einen Metablick auf das eigene Denken und Wirken der Wissenschaftler“ (S. 39).
Ebenfalls kennzeichnend für das empirische Vorgehen ist, dass sehr viel Wert auf die Schaffung von Zugängen zu sozial benachteiligten Familien gelegt wurde. Damit wird die Monographie auch relevant für Diskurse um niedrigschwellige Familienbildung in der Sozialen Arbeit. In die Felderschließung wurde viel Zeit und Gedankenarbeit investiert, was sich letztlich auch in der Tiefe der Forschungsergebnisse widerspiegelt, die nur durch ein vertrauensvolles Klima in den Feldzugängen ermöglicht werden konnten. Das gesamte Forschungsprocedere wird luzide, regelrecht zur Nachahmung anregend, dargestellt und umfasst alle Phasen des Forschungsprozesses bis hin zu den Details der Kodierung. Kernstück der Arbeit sind sowohl subtile Fallanalysen der medialen Praktiken von Familien in belasteten Lebenslagen als auch die Ableitung von Dimensionen des Familienumgangs mit Medien. Als eine Haupterkenntnis in diesem Sinne kann dabei gelten, dass jenseits einer Vielzahl von spezifischen Funktionen, die Medien bezogen auf Individuen und Familien potenziell einnehmen können, als wichtigste Meta-Funktion gewissermaßen, die Alltags- und Lebensbewältigung in und durch Medien herausgearbeitet wird (vgl. S. 239 ff.).
Einbezogen sind dabei ausdrücklich auch Formen der Bewältigung krisenhafter Arrangements und Situationen. Und hier sind es insbesondere die Auseinandersetzung und Moderation mit innerfamilialen sozialen Belastungen, in denen Medien eine gewichtige Rolle einnehmen können. In diesem Zusammenhang erweist sich das Fotografieren und gemeinschaftliche Betrachten der Fotos via unterschiedlicher Medien als identitäts- und gemeinschaftsstiftend (vgl. S. 249). Heuristisch weiterführend sind weitere Einzelbefunde zu medienbezogenen Doing Family-Praktiken wie die Unterscheidung in segregative und exklusive Spielarten des Medienbezugs, die Ausdruck von Familiendynamiken und Autonomiebestrebungen der Kinder darstellen. Die Autorin belässt es nicht bei einer medienwissenschaftlichen Anwendung der praxeologischen Familienkonzeption, sondern entwickelt diese in doppelter Weise weiter: zum einen durch eine Ausdifferenzierung und Verfeinerung der analytischen Dimensionen und Prozesse des Doing Family, zum anderen durch eine Synthese und Integration dieser praxeologischen Sichtweise in und mit weiteren Ansätzen hin zu einer Theorie einer familialen Medienkultur.
Schließlich leitet die Autorin eine Reihe von Impulsen für die lebenslagesensible Bildungsarbeit mit Familien ab: Erwähnt seien hier die Forderung nach mehr intergenerationeller Medienbildungsarbeit; die Forderung nach verstärkt handlungsorientierten und produktiven Methoden; das Plädoyer für die verstärkte Akzeptanz unterschiedlicher familialer Medienkulturen – weil es eben nicht mehr argumentativ begründbar ist, ideale, anderen an den eigenen Normen orientierte Gebrauchsweisen vorzuschreiben.All diese wohl durchdachten Impulse können aber nur greifen, wenn der Familienbildung insgesamt mehr Ressourcen zeitlicher und finanzieller Art zur Verfügung gestellt werden. Eine auf abstrakte Werte abzielende Rhetorik und nicht erreichbare Idealbilder von Familie wirken demgegenüber für die familiale Alltagsbewältigung in schwierigen Lebenslagen, nicht nur was deren Medienumgang betrifft, demotivierend und stigmatisierend zugleich.
Andreas Lange und Susanne Eggert: Stimmungsregulation durch Medien
Lange Zeit wurden Medienwirkungen sowie die Aneignung von Medien durch die Rezipientinnen und Rezipienten vor allem unter Bezug auf Kognition und Verhalten diskutiert. Im Schlepptau der breiten Hinwendung der Soziologie wie der Psychologie zum Feld der Emotionen begeben sich auch Kommunikations- und Medienwissenschaften ins Gefühlsgefilde. Medien sind aus der Perspektive der Grundlagenforschung wiederum für die Emotionsforschung interessant, weil sie einer-seits eine wichtige Instanz der Sozialisation von Emotionalität darstellen und andererseits, weil sie in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie Gefühle und Stimmungen instrumentalisieren – teilweise auch kommerzialisieren. Nicht nur die dafür klassisch in Haftung genommene Werbung ist hier an-zuführen, auch ein weites Spektrum von anderen Formaten und Genres spielt dabei eine große Rolle. Das Wiederaufleben einer kritischen Theorie der Gesellschaft hat zu dieser Betrachtungsweise beigetragen – an allererster Stelle sind hier die Arbeiten von Eva Illouz (2006) zu nennen. Sie vertritt die These, dass die Herausbildung des Kapitalismus nicht zu verstehen ist, ohne die parallele Entwicklung einer stark spezialisierten, intensiven emotionalen Kultur. Männer und Frauen werden im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts immer mehr dazu angehalten, sich nicht nur in der Familie, sondern auch am Arbeitsplatz intensiv mit ihren Emotionen auseinander zu setzen. Gespiegelt und verstärkt wird diese Tendenz dann im gesamten Spektrum von Medieninhalten. Anhand eines normalen Tagesablaufes lässt sich die Spannbreite der Stimmungsregulierung durch Medien, also der Erwartungen hinsichtlich ihrer emotionalen Nutzbarkeit und ihrer partiellen Habitualisierung, veranschaulichen. Die morgendliche Antriebslosigkeit wird durch den Radiowecker vertrieben, die frustrierende Schulbusfahrt durch die persönliche Sammlung von Songs auf dem iPod erträglicher gestaltet.
Das Abchecken der SMS dient dem Selbstwertgefühl und der nachmittägliche Besuch des Netzes dem Ausagieren angestauter Aggressionspotenziale, während die abendliche Soap eine Bühne für das spielerische Ausleben romantischer Gefühlsentwürfe darstellt. Auch die sozialen Kontexte, in denen sich Heranwachsende bewegen, sind teilweise stark mit Stimmungen und Gefühlen aufgeladen, die dann wiederum durch Medieneinsatz orchestriert oder in-tensiviert werden – man denke an den sprichwörtlichen „Ghettoblaster“, den jugendliche Gruppenmitglieder zur Inszenierung ihrer territorialen Ansprüche und ihrer Identität einsetzen oder aber an die konstitutive Bedeutung, welche die gemeinsame Rezeption von Horrorvideos zur sozialen Konstruktion eines gemeinsamen Gruselgefühls einnehmen. Neben den bewusst vorgenommenen, gewissermaßen strategischen Regulierungen der Emotionen durch die Rezipientinnen und Rezipienten selbst dürfen allerdings die emotionalen Auswirkungen nicht außer Acht gelassen werden, die durch die Medienberichterstattung insgesamt ausgelöst werden können. Dies trifft insbesondere für die mediale Repräsentation von Schicksalsschlägen, Unglücksfällen, Kriegen, Terroranschlägen oder Katastrophen zu. Hier sind starke Emotionen bis hin zur Übererregung denkbar. In einem solchen Fall stellen Medieninhalte regelrechte Belastungen und Stressoren dar, wie Knieper (2006) anhand seiner Untersuchung zu den Auswirkungen der Tsunami-Berichterstattung ansatzweise nachweisen kann. Und auch Theunert und Schorb (1995) haben in einer Untersuchung zum Umgang von Acht-bis 13-Jährigen mit Fernsehinformation festgestellt, dass diese bei den Kindern vor allem dann starke Emotionen hervorruft, wenn sie einen Bezug zum eigenen Erleben herstellen können. Schon dies alleine regt dazu an, die medienpädagogischen Konsequenzen der intensiven Emotionalisierung von Medien näher auszubuchstabieren. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, der Frage, wie sich generell die Fähigkeit entwickelt, Emotionen zu regulieren, etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Dies leistet Heinz Kindler, indem er erst ein Vorverständnis von Emotionen erarbeitet, unterschiedliche Ebenen der Emotionsregulation unterscheidet und dann systematisch die Stufen vorstellt, entlang derer sich die Kompetenz, die eigenen Emotionen zu steuern, entwickelt. Wichtig für zukünftige medienwissenschaftliche und medienpädagogische Vertiefungen ist dabei sein Hinweis, dass neben allgemeinen Entwicklungsverläufen auch interindividuelle Unterschiede festzustellen sind. Holger Schramm und Werner Wirth liefern einen Überblick über den Stand der einschlägigen Diskussion in der Medienforschung. Besondere Aufmerksamkeit widmen sie dabei der Mood-Management-Theorie und ihren aktuellen Erweiterungen. Abschließend zeigen sie, wie Kinder mit angsterregenden Medieninhalten umgehen, und leiten daraus pädagogische Folgerungen ab. In zwei weiteren Artikeln stehen jugendrelevante Medien und ihre Bedeutung für Emotionsentwicklung und -regulierung im Zentrum. Anja Hartung und Wolfgang Reißmann erläutern die Bedeutung von Musik in der Adoleszenz. Sie machen deutlich, dass Musik nicht nur die momentane Gefühlsarbeit beeinflusst, sondern auch dazu dient, das eigene Lebensgefühl zum Aus-druck zu bringen und soziale Atmosphären zu gestalten. Ingrid Möller wendet sich in ihrem Beitrag dem Bereich der Bildschirmspiele zu und stellt zunächst fest, dass die Beliebtheit von Computer- und Videospielen eng mit dem Erleben positiver Gefühle beim Spielen zusammenhängt.
Davon aus-gehend zeigt sie, inwiefern Bildschirmspiele gezielt zur Stimmungsregulierung bzw. Emotionsmanipulation eingesetzt werden. Im Zusammenhang mit den möglichen Effekten, die das Spielen auf den affektiven Zustand der Spielenden haben kann, geht sie besonders auf die möglichen Auswirkungen von Gewaltspielen ein.
Literatur
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Theunert, Helga/Schorb, Bernd (1995). ‚Mordsbilder’: Kinder und Fernsehinformation. Berlin: Vistas
Andreas Lange und Susanne Eggert: Medienaneignung und Aufwachsen im ersten Lebensjahrzehnt
„Die aktuelle Ausgabe von merzWissenschaft nimmt die Wechselbeziehungen zwischen den Bedingungen des Aufwachsens und aktuellen medialen Entwicklungen in den Blick. Im Fokus stehen dabei Prozesse der Medienaneignung im ersten Lebensjahrzehnt.“ So steht es im Call for Papers für die vorliegende Fachpublikation. Die Bedeutung der Medien und medialen Entwicklungen im Aufwachsen der jüngsten Mitglieder der Gesellschaft beschäftigt die Medienpädagogik und benachbarte Disziplinen schon seit einiger Zeit. Dennoch gibt es zu diesem Thema bislang noch wenig gesichertes Wissen. Angela Tillmann, Sandra Fleischer und Kai-Uwe Hugger haben mit dem 2014 erschienen Handbuch Kinder und Medien einen strukturellen Überblick über den aktuellen theoretischen und empirischen Forschungsstand herausgegeben. Aber auch hier ist die jüngste Zielgruppe nur sehr schwach vertreten. merz hat mit der zweiten Ausgabe in diesem Jahr den Versuch unternommen, die Altersspanne der frühen und mittleren Kindheit aus medienpädagogischer Perspektive in den Fokus zu nehmen (merz 2/2015 Medien und Kindheit) und zeigt verschiedene Ansatzpunkte in der medienpädagogischen Forschung und Praxis. Mit merzWissenschaft wurde das Spektrum noch einmal geöffnet für den Blick anderer Forschungsdisziplinen auf das Feld Medienaneignung und Aufwachsen im ersten Lebensjahrzehnt. Die zügig voranschreitende Mediatisierung der Lebenswelten hält sowohl die davon betroffenen Akteurinnen und Akteure als auch die Forschung und die Theoriebildung auf Trab. Diese Beschleunigung und das permanente Gefühl hinterher zu hecheln dürfen aber nicht dazu verführen, den Kopf in den Sand zu stecken und die Entwicklungen als solche zu notieren, ohne sie zu analysieren und zu evaluieren. Das breite Spektrum der Beiträge zu dieser Ausgabe von merzWissenschaft qualifiziert sich dadurch, dass einerseits aktuelle mediale Entwicklungen aufgegriffen und andererseits konzeptionelle und theoretische Deutungsversuche vorgelegt werden.
Von Mediennutzung bis Kinderglück
In ihrer Auswertung des Medienzusatzmoduls im Rahmen des DJI-Surveys Aufwachsen in Deutschland konzentrieren sich Alexander Grobbin und Christine Feil auf die Eltern von Kindern im Klein-, Vorschul- und Grundschulalter. In ihrem Beitrag Informationsbedarf von Müttern und Vätern im Kontext der Internetnutzung von Klein-, Vor- und Grundschulkindern wird deutlich, dass Eltern heute herausgefordert sind, die mit den technologischen Innovationen einhergehenden sozialen und persönlichen Implikationen praktisch im Alltag zu bearbeiten, was insbesondere auch heißt, sich mit Fragen des Kinder- und Jugendschutzes auseinanderzusetzen. Aus den Daten geht hervor, dass Eltern auch der Jüngsten die digitalen und mobilen Medien selbstverständlich in ihren Alltag einbinden. Aber sie sind in großem Ausmaß bemüht, die Kinder im genannten Altersbereich im Internet persönlich zu begleiten. Auch in Haushalten Alleinerziehender gehen Kinder selten oder nie alleine ins Internet. Dabei werden in der überwiegenden Anzahl der Familien Regeln betreffend der Inhalte und der Nutzungsdauer festgelegt. Bemerkenswert ist die größere Offenheit der Väter, das Internet als Erziehungsthema anzusehen, was auf eine stärker eingeschätzte eigene Internetkompetenz zurückgeführt werden kann. Die Relation familialer und institutioneller Medienerziehung ist dadurch geprägt, dass die Eltern die Kindertagesstätten nicht als Ort der zusätzlichen Einführung in den Mediengebrauch und der entsprechenden Begleitung ansehen. Das ändert sich entscheidend mit dem Schuleintritt. Schule soll aus Sicht der Eltern ihren Beitrag zum Bildungsbereich Medien leisten. Darüber hinaus wünschen sich Eltern insgesamt vor allem direkt umsetzbare Informationen zu den Kinderschutzeinstellungen. Etwas weniger ausgeprägt ist das Informationsbedürfnis bezüglich kindgerechter Internetseiten und Apps. Die neuen Möglichkeiten des Internets und der Internetapplikationen stellen ein Werkzeug zur Selbstermächtigung dar. In der frühen Kindheit werden beispielsweise mit einem Wischen über oder Tippen auf das Tablet Bilder und andere Kreationen möglich. Dass aus dieser Selbstermächtigung auch eine Förderung der positiven Eltern-Kind-Interaktionen entstehen kann, thematisiert Sandra Michaelis in ihrem Artikel Welchen Einfluss haben Mobile Apps auf die frühe Eltern-Kind-Beziehung? Dazu benennt sie die anthropologisch-entwicklungspsychologischen Voraussetzungen unter Rekurs auf die Arbeiten von Tomasello (2010). Auf diese Weise gewinnt die Medientheorie eine veränderte Perspektive auf die Art der Nutzung unterschiedlicher Medien mit besonderem Fokus auf den sozialinteraktiven Aspekt, der auf geteilte Intentionen und geteilte Aufmerksamkeit angewiesen ist. Plastisch gemacht wird ebenso, dass die Identifizierung von Elementen einzelner Apps für Kinder aufgrund ihrer Zweidimensionalität und kindgerechten Nutzungsmöglichkeiten einen hohen kognitiven Aufwand erfordert. Ein weiteres Fundament der Erörterungen bilden Aspekte der Gebrauchsforschung aus der Medieninformatik. Nur in einem solchen interdisziplinären Zugriff wird es gelingen, Apps zu entwickeln, die produktiv von Eltern und Kindern genutzt werden können.
Während hierzu noch so gut wie keine Forschung existiert, werden im Beitrag von Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann und Inka Fürtig Medienpraxis in der (frühen) Kindheit Ethnografische Exploration des familiären Smartphonegebrauchs erste eigene explorative Daten und Auswertungen für das multifunktionale, polymediale Smartphone und seine Einbettung in familiale Praktiken vorlegen. Dazu wurden drei Orte systematisch unter die Lupe genommen: Sondiert wurde daheim in den Familienwohnungen, an den Übergängen zu institutionellen Zusammenhängen und an öffentlichen Orten, an denen die Familien als Familien präsent sind (Gaststätten, Spielplätze). Berichtet werden Situationsanalysen aus dem öffentlichen Raum – Situationen, in denen durch das Smartphone präsente Dritte die Interaktion von Eltern und Kind beeinflussen. Als neue Sozialisationskonstellation wird hier eine, durch Präsenzerfordernisse mitbedingte, quasi-symbiotische Inkorporation des Handys in die Eltern-Kind-Interaktion herausgearbeitet.Diese ist zwar störungsanfällig, besticht aber gleichzeitig durch ihre Kreativität. Das Smartphone ‚wirkt‘ also nicht linear-kausal auf die Familieninteraktionen, sondern wird eingewoben in den Teppich der Herstellung von Familie und verändert gleichzeitig in noch zu erforschendem Ausmaß die Textur des Teppichs. Während das Öffentliche bei Wiesemann et al. als Forschungssetting vorausgesetzt ist, begibt sich Michael Viertel auf die Spuren der Entstehung der Differenz des Öffentlichen zum Privaten durch die Medien am Beispiel von Hörmedien in der mittleren Kindheit. Seine Schlussfolgerungen entwickelt er in dem Text Vom Beginn des Privaten und Öffentlichen. Zum Phänomen eines öffentlichen und privaten Sprechens von Kindern am Beispiel der Aneignung von Hörkassetten und Hör-CDs in der mittleren Kindheit. Das Private gilt seit der bürgerlichen Moderne als bevorzugter Raum der Persönlichkeitsentwicklung. In der Ontogenese etabliert sich das Verständnis der Differenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit nicht zuletzt auch in Gestalt der Nutzung von Medien. Nach einer historischen Skizze, welche die relative Neuheit eines Verständnisses privater Kindheit unterstreicht, berichtet der Autor über sein Forschungsprojekt. Dessen Datenbasis bilden Gruppendiskussionen und Einzelinterviews. Hörgeschichten entpuppen sich durch diesen doppelten Zugriff einerseits als Praxis der Entlastung im Rahmen des Einschlafens, welches in der mittleren Kindheit nicht mehr so stark von den Eltern begleitet wird wie im Kleinkindalter. Ferner dienen die Hörgeschichten zum ‚Runterkommen‘ nach der Schule. Andererseits stellen sie die Zielscheibe einer Stigmatisierung des öffentlich bekundeten Hörens von bestimmten Geschichtengenres dar. Diese werden als dem schon erreichten Alter nicht mehr angemessen abgewertet, und damit der Hörer oder die Hörerin ebenfalls. Zusammengebracht bedeutet dies, dass Hörgeschichten einerseits private Kontinuität sichern, andererseits man sich öffentlich, in kindspezifischen Öffentlichkeiten allemal, unter Umständen vehement davon distanziert. Eine noch selten bedachte Facette der Mediatisierung von Familie und Kindheit besteht darin, wie Helen Knauf in ihrem Beitrag Soziale Netzwerke als Instrument der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien in Kindertageseinrichtungen unter Bezug auf deutsche und amerikanische Daten darlegt, dass Kindertagesstätten den Austausch mit Eltern über die unmittelbare Face-to-Face-Situation bei Elternabenden hinaus durch den Einbezug sozialer Medien wie Facebook und Twitter ergänzen. Diese Überlegung resultiert aus den in der Literatur breit abgehandelten Barrieren der Kooperation zwischen Fachkräften und Eltern, die in der unterschiedlichen Auffassung von Kooperationsformat und Kooperationsinhalt sowie in dem ohnehin schon dicht getakteten Alltag der Familien gesehen werden. Ins Visier der empirischen Erhebung nahm die Autorin dabei ausgewählte Posts der Einrichtungen und unterzog sie einer inhaltsanalytischen Auswertung. Drei Hauptfunktionen schälten sich heraus: Dokumentieren, Informieren und Verbinden, jeweils noch differenziert in Unterkategorien. Im Vordergrund steht dabei, im Unterschied zu anderen Organisationen, das Dokumentieren als Vehikel der Demonstration von Transparenz, vor allem über den Tagesablauf der Kinder.Zudem ergeben sich nach Ansicht der Autorin neue Möglichkeiten der neutralen Bildungsdokumentation.
Die Erschütterung der ontologischen Gewissheiten im Sinne der selbstverständlich unterstellten Ko-Präsenz als Grundlage des Familienlebens ist eine weitere mögliche Konsequenz der Mediatisierung, wie Heike Greschkes Artikel „Mama, bist Du da?“ Zum prekären Status von Anwesenheit in mediatisierten familialen Lebenswelten zeigt. So wird das Familienleben im Normalfall, unter stationären Bedingungen, von Medien mitgestaltet und durchdrungen. Im Falle multilokaler und transnationaler Familien haben sie aber einen ungleich höheren Stellenwert. Sie können als ein Katalysator und Stifter sozialer Kontakte der Familienmitglieder untereinander gelten und eventuell in bestimmten Fällen als erleichternder oder gar ausschlaggebender Impuls, ‚zerstreute‘ Formen der Familie überhaupt einzugehen oder zu etablieren. Überdies liefert die Autorin Argumente dafür, Abschied zu nehmen von einer normativ-kulturpessimistischen Bevorzugung der leiblichen Kopräsenz als „besserer Form der Interaktion“ und sich zu öffnen für die Hybridkonstellationen von leiblich und medial vermittelten Formen von Präsenz. Typisch für die späte Moderne sind dann Grade von Anwesenheit, die in differenzierter Art und Weise von Medien mitreguliert werden und die in neuer Form immer wieder auszuhandeln sind. Ebenfalls eine mehrkulturelle Note weist der Beitrag von Ilka Goetz, Habib Güneşli und Gudrun Marci-Boehncke auf, überschrieben mit Migration und Gender: Medienaneignung in der frühen Bildung in intersektionaler Perspektive. Auseinandersetzungen mit der Bildungsgerechtigkeit sind im Feld des Medienzugangs und der Medienrezeption heute in theoretisch anspruchsvoller Weise bevorzugt als intersektionale Analyse zu betreiben: Es geht den Autorinnen und dem Autor konkret um das Zusammenwirken der Faktoren Soziales Milieu, Kultureller Hintergrund und Geschlecht in einem ersten Zugriff auf Daten zur Benachteiligung im Bildungssystem, danach in einer Darstellung eines eigenen, interventionsorientierten Forschungsprojektes. Hier zeigen sich markante Unterschiede der Einschätzung eines Medienkompetenzzuwachses entlang der Beurteilungsposition Eltern versus Erzieherinnen, der erst dann deutlich wird, wenn der kulturelle Hintergrund und das Geschlecht des Zielkindes betrachtet werden. Daraus ergeben sich Notwendigkeiten der unterschiedssensiblen medienpädagogischen Arbeit in Kitas. Für einen engeren Dialog mit der neuen Kindheitssoziologie plädiert Andreas Lange im abschließenden Aufsatz Glück und Medien in der spätmodernen Kindheit. Dort hat sich in jüngerer Zeit vor allem die Auseinandersetzung mit den Bedingungen des kindlichen Wohlbefindens, kindlicher Lebensqualität und kindlichen Glücks als ein Schwerpunkt der Forschung und der praktischen Umsetzung etabliert. Überträgt man dieses Ansinnen der Dechiffrierung der Bedingungen des Kinderglücks auf die Medien, öffnen sich interessante neue Perspektiven auf Fragen der Medienwissenschaft und der Medienpädagogik.
Wirkung und soziale Praxis beachten
Die Zusammenschau der Artikel erlaubt einige übergreifende Trends zu identifizieren und Aufgaben für die Forschung und praktische Arbeit zu formulieren. Hervorgehoben werden soll an erster Stelle, dass die Artikel nicht alleine für den medienpädagogischen und medienwissenschaftlichen Diskurs neue Einsichten bergen, sondern vor Augen führen, dass wir Zeugen der Umstellung basaler Formen von Sozialität in der späten Moderne werden. Medien und Medienartefakte fädeln sich in den Strom der alltäglichen Praktiken in Familie, Schule, Kita und öffentlichen Settings ein und weben gemeinsam mit den menschlichen Akteurinnen und Akteuren ein dichtes, gleichwohl sich permanent veränderndes Netz der graduellen Kopräsenz und Konnektivität. Übergreifende Herausforderungen an den Umgang damit sind darin zu sehen, dass an den elterlichen Haushalt oder andere ‚stationäre‘ Settings gebundene Mediennutzungsmodi ergänzt werden durch solche, die im öffentlichen Raum, abseits von Familie und Bildungsinstitutionen, genutzt werden können und damit einem autonomen Gebrauch durch die Kinder in die Hände spielen. Auf einer forschungsstrategischen Ebene kristallisiert sich bei der Lektüre die Botschaft heraus, dass die komplexe Medienwelt und die subtilen Aneignungspraktiken sich nur angemessen in einer interdisziplinären und multimethodischen Allianz verstehen und erklären lassen. Hierbei sollte das gesamte Spektrum an Methoden, insbesondere auch non-verbaler Datenerhebungen, ausgeschöpft werden. Ein zweiter Punkt, der hier genannt werden soll, nimmt die Vielfalt der Medien, die damit verbundenen zahllosen situations- und bedürfnisspezifischen Funktionen, die diese zu erfüllen versprechen und dies zum Teil auch tun sowie ihre Präsenz in unterschiedlichsten Nutzungssettings in den Blick. Damit verbunden sind nicht nur Fragen nach der immanenten Mediatisierung des familiären Alltags, sondern auch die Forderung nach einer Methodenvielfalt, um die Bedeutung dieser Mediatisierung zu erforschen und sie dadurch in ihren verschiedenen Facetten zu verstehen. Es genügt nicht, einen klassischen Survey zu Nutzung und Umgang durchzuführen. Ein solcher kann nur einen ersten Anhaltspunkt für tiefergehende Fragen nach Motiven und Gründen geben, hat damit aber in jedem Fall seine Berechtigung. Ergänzt werden muss so ein quantitativer Überblick durch weitere Methoden und interdisziplinäre Kooperationen entsprechend der Fragen, die es zu beantworten gilt. Auch wenn die Medienpädagogik im ersten Moment vielleicht wenig Anknüpfungspunkte mit der Medieninformatik aufweist, so sind die Erkenntnisse aus medieninformatischen Gebrauchsstudien doch hilfreich und notwendig, wenn es darum geht, einerseits Medien und Medienangebote in Kinderhänden kritisch einzuschätzen und das Medienverhalten von Kindern zu verstehen. Andererseits können basierend auf diesen Erkenntnissen gekoppelt mit Ergebnissen aus eigenen medienpädagogischen Untersuchungen Forderungen zur Weiterentwicklung medialer Produkte formuliert werden, die sich an altersentsprechenden Fähigkeiten und Herangehensweisen orientieren und somit die kindliche Aneignung im Hinblick auf einen souveränen Medienumgang unterstützen können. Einen ganz anderen Weg als die Usability-Forschung verfolgen Studien, die einem ethnografischen Vorgehen folgen und deren Ziel es ist, Medienaneignung eingebettet in den je individuellen Kontext zu erfassen. Diese Beispiele – und das zeigen auch die Beiträge in diesem Heft – machen den Wert deutlich, den eine Methodenvielfalt sowie ein interdisziplinärer Austausch haben, wenn es um das Verstehen und die Unterstützung der kindlichen Medienaneignung geht.
Eine Frage, der bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die aber in künftigen Forschungen zur Medienaneignung jüngerer Kinder mit berücksichtigt werden muss, ist die Bedeutung von zeitdiskreten und zeitkontinuierlichen Medien, die in unterschiedlicher Weise Zuwendung fordern und Aufmerksamkeit binden. Die Rezeption des zeitdiskreten Mediums Buch verlangt keine durchgängige Aufmerksamkeit. Die Zuwendung zum Text und – beispielsweise bei einem Bilderbuch – zu den Bildern kann jederzeit unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden, ohne dass die Leserin oder der Leser etwas vom Inhalt verpasst oder sich dieser ändert. In der Zeit der Unterbrechung kann die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet werden. So können Vater oder Mutter während der gemeinsamen Rezeption von Eltern und Kind jederzeit auf das Kind eingehen, sie können Fragen beantworten, auf emotionale Äußerungen des Kindes reagieren oder die Rezeption unterbrechen, weil das Kind müde und nicht mehr aufnahmefähig ist, also die Reaktionen des Kindes interpretieren. Die Rezeption des Buches kann zu einem beliebigen Zeitpunkt wieder aufgenommen werden. Eine App dagegen ist ein zeitkontinuierliches Medium. Durch verschiedene fortlaufende und aufeinander aufbauende Reize wie Videos, Audios, animierte Szenen und Geschichten, in eine Geschichte integrierte Rätsel und Aufgaben, die zur Interaktion anregen, bindet es die Aufmerksamkeit der Rezipierenden stärker. Es ist schwieriger, während der Rezeption die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten als auf das mediale Angebot. Auch eine Unterbrechung fällt schwerer, weil es oft nicht möglich ist, dort weiterzumachen, wo aufgehört wurde. Schon jetzt spielen Apps bei jüngeren Kindern eine wichtige Rolle. Daran schließt sich die Frage an, was diese medienimmanenten Merkmale aber für die Aneignung von Medieninhalten gerade jüngerer Kinder bedeuten? Ein letzter Komplex von Herausforderungen, der hier aufgegriffen werden soll, zentriert sich um Begriffe wie Absorption, Immersion; jüngst ist auch die Rede von ‚POPC‘ , also vom Trend "permanent online und permanent connected" zu sein, was eine neue Form der Lebensführung konstituiert (Vorderer 2015). Hier stellt sich beispielsweise die Frage, was es für die Bewältigung sozialer Situationen sowie interpersonelle Kommunikation und Beziehung, insbesondere zwischen Eltern und Kindern bedeutet, wenn diese sich kaum mehr aus ihren Spiel- und Kommunikationswelten lösen können und diese aufgrund von Aufgaben, die in einem bestimmten Zeitraum erledigt werden müssen, der Notwendigkeit, jederzeit auf Nachrichten von Freunden reagieren zu müssen, eine übermächtige Bedeutung im Alltag erhalten. Zusammengefasst sind die Artikel als eine erste, sicherlich sehr selektive Zwischenbilanz der Umbrüche des Aufwachsens im ersten Lebensjahrzehnt in Zeiten der Mediatisierung zu verstehen, die begleitet sind von Umwälzungen der Formen des Zusammenlebens und der Formen der institutionalisierten Betreuung und Bildung. Sie präsentieren wichtige Einblicke in dieses Feld, verweisen aber gleichzeitig auf einen immensen Forschungs- und Theoriebildungsbedarf, der letztlich auch der Steigerung der Lebensqualität der Heranwachsenden dienen soll.
Literatur
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Ausgehend von den Entgrenzungs- und Verflüssigungsphänomenen von Jugend als Generationsgestalt durch den früheren Zugriff der Logik der Qualifizierung und der Arbeitsmarktkonkurrenz stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Medien für die Definition von Jugendlichkeit.
Einerseits sind sie wesentliche Transporteure der neuen Zumutungen und Unsicherheiten, andererseits tragen Medien und Medienpraktiken dazu bei, dass Jugend als eigenständige Lebensphase sichtbar bleibt
. In diesem Rahmen bieten sie auch vielfältige Identitätsangebote. Nicht vergessen werden darf dabei aber, dass die Chancen zur Nutzung dieser Angebote sozial strukturiert, das heißt, sozial ungleich verteilt sind.
(merz 2006-04, S. 8-14)
Helga Theunert und Andreas Lange: „Doing Family“ im Zeitalter von Mediatisierung und Pluralisierung
Bedingt durch Veränderungen in der Medienwelt und im Sozialsystem Familie ist auch das Verhältnis der beiden Instanzen zueinander ein anderes geworden. Dieses zu verstehen ist eine Herausforderung, der sich die medienpädagogische Forschung gemeinsam mit anderen Disziplinen wie der Jugend- oder Familienforschung stellen muss. Die Erkenntnisse können dazu beitragen, Familien dabei zu unterstützen, einen souveränen Medienumgang auszubilden.
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