Markus Achatz
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- Markus Achatz/Michael Bloech: Genre-Crossover und spannende Kinogeschichten aus Fernost
Markus Achatz/Michael Bloech: Genre-Crossover und spannende Kinogeschichten aus Fernost
Vier aktuelle Filme aus Fernost bieten spannende Einblicke in gesellschaftliche Veränderungsprozesse und zeigen frische Crossover-Qualität mit vielfältigen Genremischungen. Alle Neuerscheinungen liefen als Weltpremieren auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin 2017 und stellen heranwachsende Protagonistinnen und Protagonisten ins Zentrum ihrer unterschiedlichen Geschichten: Die internationale Großproduktion Mr. Long spielt mit Genres und überwindet mühelos die Grenzen zwischen Action-Thriller und Gefühlskino. Den Kern bilden dabei ein untergetauchter Profikiller, ein achtjähriger Junge, dessen drogenabhängige Mutter sowie eine Handvoll merkwürdiger Nachbarn. Neben zwei einsamen jungen Menschen spielt in The Tokyo Night Sky is Always the Densest Shade of Blue die Großstadt eine weitere Hauptrolle. Der chinesische Independent-Film Ben Niao (The Foolish Bird) schildert die verzweifelte Suche einer 16-Jährigen nach Glück und eigener Identität. Ein Coming-of-Age-Film mit einem nüchternen Blick auf Perspektivlosigkeit und Isolation im heutigen China. Karera ga Honki de Amu toki wa (Close-Knit) führt eine ungewöhnliche Patchwork-Familie zusammen und ist ein warmherziges Plädoyer für Toleranz.
Strick-Kurs für neue Familienformen
Grob übersetzt heißt der Originaltitel des japanischen Films Karera ga Honki de Amu toki wa (Close-Knit) von Naoko Ogigami in etwa ‚Wenn sie anfangen, ernsthaft zu stricken‘. Die elfjährige Tomo ist laufend allein. Nach der Schule isst sie jeden Tag abgepackte Reisbällchen aus dem Supermarkt. Ihre Mutter kümmert sich kaum um das Kind und kommt häufig spätnachts betrunken nach Hause. Als sie – nicht zum ersten Mal – längere Zeit wegbleibt, kontaktiert Tomo ihren Onkel Makio. Der nimmt sie bei sich auf, allerdings unter neuen Vorzeichen: Er lebt inzwischen mit seiner Freundin Rinko zusammen. Nach anfänglicher Überraschung, dass Rinko eine Transgenderfrau ist, wird bald klar, mit welch großer Fürsorge und Liebe sich alle um Tomo kümmern. Das Mädchen fühlt sich schnell wohl und die drei wachsen zu einer kleinen Familie zusammen. Doch diese Idylle wird von der Außenwelt nicht mitgetragen. Beispielsweise zeigt die Mutter eines Klassenkameraden Tomos offen ihre Abneigung gegenüber Rinko und ihrer Transsexualität. Dabei geht Rinko in ihrer Aufgabe als Ersatzmutter völlig auf und genießt auch als Altenpflegerin im Beruf Anerkennung. Dennoch muss sie immer wieder neuen Mut fassen. Die Zweifel an ihrer sexuellen Identität kanalisiert Rinko durch permanentes Stricken. Der Griff zu den Stricknadeln verleiht der Geschichte eine beinahe meditative Atmosphäre, die an asiatische Filme ganz anderer Genres anknüpft. Auch Tomo lernt hierdurch mit ihren Verunsicherungen umzugehen. In einer ungemein entspannten Sequenz sitzen Rinko, Tomo und Makio strickend unter Kirschblüten an einem Flussufer. So gewinnen glückliche Momente die Überhand gegen gesellschaftliche Normen und Repressalien. Regisseurin Naoko Ogigami setzt dabei nicht auf zu viel Melodramatik, vielmehr webt sie leichtfüßigen und auch skurrilen Humor in die Geschichte. Rinko strickt nämlich nicht irgendetwas, sondern exakt 108 wollene Penisse. Diese sollen sie auf dem Weg bis zur offiziellen Änderung des Geschlechts in ihrem Pass begleiten, um dann – in Anlehnung an 108 Glieder einer buddhistischen Gebetskette – feierlich verbrannt zu werden.
Der Film idealisiert einerseits ein eher klassisch-konservatives Familienbild, konterkariert dieses aber durch eine eigene Dynamik aus Rinkos Transsexualität und ihrem Wunsch nach einer stereotypen Frauenrolle sowie ihrer Beziehung zu Makio und Tomo: Makio mit seiner vorbehaltlosen Zuneigung und beeindruckenden Besonnenheit, Tomo mit ihrem kindlichen Gemüt und Bedürfnis nach Geborgenheit. Wie kompliziert die Welt in Wahrheit ist, verdeutlicht die ungeschnittene Schlussszene, als Tomos Mutter zurückkehrt, um ihr Kind wieder abzuholen.
Close-Knit nähert sich einem Tabu-Thema auf sensible Weise und verknüpft dies mit einer Coming-of-Age Geschichte, die mit Tomo sowie (anhand von Rückblenden) mit Rinko gleich zwei starke Hauptfiguren hat. Bereits mit dem Debütfilm Barber Yoshino (Yoshinos Frisörsalon), der 2004 auf dem Kinderfilmfest der Berlinale lief, bewies Ogigami viel Gespür für feinen Humor und die Welt von Heranwachsenden. Zuletzt kam ihre bunte Komödie Rentaneko (Rent-a-Cat; Berlinale Panorama 2012) über eine junge Frau, die Katzen an einsame Menschen vermietet, in die Kinos. Close-Knit spiegelt die Torheit von Vorurteilen und ist ein empathisches Plädoyer für Menschlichkeit und Mitgefühl.
Perspektivlosigkeit in einer chinesischen Kleinstadt
Deutlich düsterer und drastischer geht es im Alltag der jungen Hauptprotagonistin Lynn im chinesischen Film Ben Niao (The Foolish Bird) zu. Die 16-Jährige ist ebenfalls von ihrer Mutter verlassen, allerdings aufgrund der in vielen Regionen Chinas weit verbreiteten Arbeitsmigration. Das Mädchen und ihre kleinen Geschwister leben bei den Großeltern während Lynns Mutter in einer weit entfernten Großstadt arbeitet. Auf Druck der Mutter bewirbt sich Lynn an der örtlichen Polizeiakademie. Sie ist eine fleißige Schülerin, verstrickt sich aber mit ihrer Freundin May in gefährliche Geschäfte mit geklauten Handys. Die Mädchen verkaufen Smartphones, die Mitschülerinnen an ihrer Schule abgenommen wurden und dort lagerten. Dabei geraten die beiden Mädchen an einen korrupten Hehler und in ein Netz aus Kriminalität und sexueller Gewalt. Als May eines Tages nicht mehr auf Lynns Nachrichten antwortet, muss sie das Schlimmste befürchten.
Regisseurin Huang Ji hat Ben Niao gemeinsam mit Kameramann Ryuji Otsuka inszeniert, der auch für ihren Debütfilm Jidan he Shitou (Egg and Stone, 2012) hinter der Kamera stand. Beide Filme porträtieren zurückgelassene Kinder. Im Interview betont Huang Ji die starken autobiografischen Züge der Geschichte. Sie hätte viele Ereignisse, die der Film zeigt, selbst erlebt – bis hin zur Isolation und negativen ersten sexuellen Erfahrungen. Sie sei eines von diesen Tausenden jungen Mädchen gewesen, die sich alle ähneln und im immer gleichen Trainingsanzug herumlaufen. Der Film spielt in der Stadt Meiching (Provinz Hunan), in der Huang Ji viele Jahre gelebt hat. Mit etwa 100.000 Einwohnern eine typische Kleinstadt, in der heute immer mehr Kinder und Jugendliche ohne Eltern aufwachsen, weil diese fernab in den Metropolen arbeiten. Huang Ji und Ryuji Otsuka haben die Story in die Jetztzeit verlagert. Das Streben der Heranwachsenden nach materiellem Glück mündet im Verkauf der gestohlenen Smartphones, was aber nur wenige hundert Yuan einbringt. Social Media-Kommunikation und die Anonymität der virtuellen Welt sind omnipräsent im Leben der Teenager – im Film wunderbar konterkariert durch Lynns lange Fahrradfahrten durch die Stadt, ein Sinnbild ihrer verlorenen Suche nach Individualität, Zuneigung und Wärme. Bis heute ist unklar, ob und wann der Film in China gezeigt werden kann. Die Zensurbehörden haben noch keine Freigabe erteilt. Vielleicht nützt es, dass Ben Niao eine ‚Lobende Erwähnung‘ der internationalen Jury in der Sektion Generation 14plus der Berlinale 2017 erhalten hat.
Einsame Herzen in Tokios Großstadtdschungel
Yozora ha itsu demo saikou mitsudo no aoiro da (The Tokyo Night Sky is Always the Densest Shade of Blue) – der poetische Titel passt gut zur Geschichte dieses Films, die inspiriert wurde von der Melancholie junger Erwachsener und vom ‚Sich-Verlieren‘ im Puls der Großstadt. Das Protagonisten-Duo Mika und Shinji braucht eine ganze Weile bis es sich gegenseitig wahrnimmt und erkennt, dass das Leben und die Liebe kein Zufall sind. Mika geht zwei Jobs nach und arbeitet tagsüber als Krankenschwester, nachts als Bardame. Shinji jobbt als Bauarbeiter. Beide begegnen sich auf wundersame Weise immer wieder, wohl wissend, dass die Einsamkeit ebenso Bestandteil ihres Lebens ist wie ihre Überzeugung, seltsame Außenseiter zu sein. Mika leidet unter der Leere nach dem Tod ihrer Mutter und einer gescheiterten Beziehung. Shinji fühlt sich als Freak, auch weil er auf einem Auge blind ist. Dennoch glaubt er, dass er gerade deswegen viele Dinge anders sehen kann. In Szenen mit Shinji und drei seiner Kollegen auf der Großbaustelle für die Olympischen Spiele 2020 entstehen immer wieder tragikomische Momente. Regisseur und Drehbuchautor Yuya Ishii verweist auf Gedichte über Tokio als eine wichtige Vorlage für den Film und schildert beinahe zärtlich die Verlorenheit inmitten der Riesenmetropole, die von verunsicherten Menschen bevölkert wird. Am Ende steht die Frage, ob man nicht auch gemeinsam einsam sein kann. Mit Poesie und märchenhaften Stimmungsbildern begleitet Ishii seine Figuren durch eine Stadt, dessen Nachthimmel so blaue Nuancen hat wie sie nur zwei sehen können, die die Liebe gefunden haben.
SABUs Genre-Mix über einen kochenden Samurai
Der japanische Regisseur Hiroyuki Tanaka, der nur unter seinem Künstlernamen SABU firmiert, ist ein gern gesehener Gast auf der Berlinale. Bereits 1997 wurde er in die Sektion Panorama mit D.A.N.G.A.N Runner eingeladen. Anschließend tauchte er in loser Folge immer wieder mit Filmen im Programmblock Forum oder im Panorama auf. So gewann er im Jahr 2000 mit seinem Film Monday den renommierten FIPRESCI Award, den Preis der internationalen Filmkritik. Im Zentrum seiner Filme stehen oft gebrochene Heldinnen und Helden, sympathische Außenseiterinnen und Außenseiter, die in abstruse Situationen geworfen werden und ihre Probleme meistern müssen. Herausragendes Moment der Erzählkunst von SABU ist dabei der kühne Genre-Mix aus Martial Arts, Film Noir, Slapstick, Liebesfilm und dieses Mal in seinem neuen Werk Mr. Long zusätzlich aus Elementen des ‚Koch-Films‘. Gekonnt stürzt SABU die Zusehenden dabei in eine permanente Achterbahn der Gefühle, auf harte Action folgen Szenen skurriler Komik oder Augenblicke anrührender Emotionen.
Zu Beginn von Mr. Long erleben wir eine Szene, die den Helden bei seiner anstrengenden Arbeit zeigt. Emotionslos und nahezu wortlos verrichtet Long, wie schon zuvor in den 1970er-Jahren Jeff (Alain Delon) in Melvilles Klassiker Le samouraï (Der eiskalte Engel), seine Arbeit als Auftragskiller. Dabei gerät Mr. Long – wie auch Jeff – anschließend in eine schier ausweglose Situation. Nach einem Mordauftrag in seiner Heimat Taiwan wird Long nach Japan geschickt, allerdings misslingt sein Auftrag und er muss sich schwer verletzt, ohne Sprachkenntnisse und völlig mittellos in einer Abbruchszenerie am Rande von Tokio zurechtfinden. Ein kleiner Junge und auch nette, aber naive Menschen aus der Nachbarschaft kümmern sich hingebungsvoll um ihn. Sie basteln sogar eine kleine fahrbare Suppenküche, mit der Long nun seinen Lebensunterhalt kochend bestreitet. Dann tritt Lily, eine drogenabhängige Prostituierte, in sein Leben und er findet mit ihr eine neue, schwere Aufgabe. Mit Entschlossenheit kümmert er sich um sie und ihren Sohn, die beiden verlieben sich, doch das scheinbare Glück währt nicht lange.
Im Gegensatz zu Melville verlässt SABU dabei das strenge ästhetische Korsett des Film Noir und spielt kühn und gekonnt mit unterschiedlichsten Stilelementen. Er bringt zusammen, was eigentlich nicht zusammen passt. Dennoch besitzt gerade diese Mixtur etwas magisches, sie überhöht die Wirkung der einzelnen Elemente. So bleibt einem beispielsweise die drastische Szene, in der Lily von einem Zuhälter in die Drogenabhängigkeit gezwungen wird, besonders nachhaltig im Bewusstsein, da sie eingebettet wurde in emotional kontroverse Szenen. SABU ist mit Mr. Long nicht nur der Sprung in das erlauchte Programm des Wettbewerbs der Berlinale geglückt, sondern ihm ist tatsächlich ein berührendes, kleines Kunstwerk gelungen. Ein Kunstwerk insofern, als dass es bei Mr. Long nicht um das nackte Abbilden oder Bebildern von Wirklichkeiten oder der Präsentation von Fantastischem geht, sondern vielmehr um eine unterhaltsame Fabel. Das ‚Fabelhafte‘, die moralische Komponente, erschließt sich dabei vollends in der unerwarteten Schlusssequenz, die hier natürlich nicht verraten werden soll. Der Film Mr. Long kommt am 14. September in die deutschen Kinos.
- Michael Bloech und Markus Achatz: Perspektiven des Aufwachsens
Michael Bloech und Markus Achatz: Perspektiven des Aufwachsens
Die unterschiedlichen Facetten des Heranwachsens, die Suche nach Identität und Orientierung, das Erleben von Sehnsüchten und ersten Enttäuschungen – in allen Programmsparten der 64. Internationalen Filmfestspiele Berlin fanden sich herausragende Produktionen mit Hauptfiguren in dieser Lebensphase. Im Wettbewerb beispielsweise Richard Linklaters Langzeitstudie Boyhood oder der österreichische Beitrag Macondo von Sudabeh Mortezai. Zwölf Jahre hat Linklater an Boyhood gearbeitet und dabei jedes Jahr einige Sequenzen gedreht, so dass die zunächst kindlichen Hauptprotagonisten real beim Aufwachsen begleitet werden.
Ein gewagtes und in dieser Form einzigartiges Unterfangen. Im Zentrum der Familiengeschichte stehen der Junge Mason – anfangs sechs Jahre alt, am Schluss ist er mit der High-School fertig – sowie seine Schwester Samantha und die Eltern (dargestellt von Patricia Arquette und Ethan Hawke). Linklaters Experiment ist gelungen, denn der 164-Minuten-Film ist nicht nur kurzweilig und humorvoll, sondern auch eine feinsinnige Sozialstudie über das Leben der texanischen Mittelschicht. Die Auffangsiedlung Macondo liegt zwischen Autobahn, Flughafen und Donauufer im Wiener Stadtbezirk Simmering. Regisseurin Sudabeh Mortezai, geboren in Ludwigsburg, aufgewachsen in Teheran und Wien, portraitiert anhand des elfjährigen tschetschenischen Flüchtlingsjungen Ramasan das Leben in dieser eigenen Welt hinter Blechzäunen und Kasernenmauern. Etwa 3.000 Asylsuchende aus 22 Ländern sind hier untergebracht. Überfordert von der Aufgabe, den fehlenden Vater in der Familie zu ersetzen und im Konflikt zwischen den Idealen und der Realität, befindet sich der muslimische Junge auf der Suche nach Antworten für seine komplizierte Lebenssituation. Die Kamera bleibt dabei konsequent auf Augenhöhe des Kindes.
Kinderfilme bei Generation: Eine Frage der Perspektive
Im Programmbereich GENERATION hat diese Perspektive bereits Tradition und die Sektion hat sich inzwischen zu einem echten Geheimtipp für Berlinale-Besucherinnen und -Besucher entwickelt. In diesem Jahr traten zwölf abendfüllende Kinderfilme bei Generation Kplus und 17 Jugendfilme bei 14plus in den Wettstreit um die Gläsernen Bären. Mit dem neu renovierten Zoo-Palast stand auch wieder eine renommierte und repräsentative Spielstätte zur Verfügung. Also konnte in den insgesamt gut besuchten Veranstaltungen gespannt darauf geblickt werden, was die Festival-Leitung um Maryanne Redpath diesmal aus aller Welt ausgewählt hatte. In Kplus war es zunächst ein wenig bedauerlich, dass sich das Programm mit seiner Auswahl teilweise vom kognitiven Entwicklungsniveau vor allem jüngerer Kinder entfernte. Das ästhetische Niveau der Filme war dagegen erfreulich hoch, aber in der Summe waren es leider eher Filme über Kinder und für Erwachsene. Mögen die fünf gezeigten Animationsfilme zunächst formal den Genre-Geschmack der Kinder getroffen haben, die Mehrzahl dieser Produktionen war jedoch sowohl von der Machart als auch vom Thema nicht für Kinder angemessen, teilweise sogar emotional überfordernd. Symptomatisch dafür war bereits der Eröffnungsfilm Lolou, l’incroyable secret (Loulou, das unglaubliche Geheimnis), der in der Exposition seine Protagonisten, einen coolen Wolf und ein lustiges Kaninchen, für kleine Kinder passend einführt, aber dann in der szenischen Folge mit einer überflüssigen Härte aufwartet. Auch das Grundthema von Loulou, ob es Kindern gelingt, die genetisch geprägten Determinanten durch eine positive Sozialisation zu überwinden, ist durchaus relevant, kann aber in der bedrohlich präsentierten Art und Weise für kleinere Kinder verstörend wirken. Leider setzt sich dieser Trend bei den Realfilmen teilweise fort. Finn, eine holländisch belgische Produktion über einen Jungen, der in Kontakt mit seinem verstorbenen Großvater tritt, behandelt damit ein Thema, von dem viele Kinder betroffen sind. Die Geschichte wird hier jedoch für Kinder nur schwer nachvollziehbar, da Traumwelt und Realität so miteinander verschmolzen werden, dass Kinder die Ebenen kaum differenzieren können. Die türkisch-deutschfranzösische Produktion Were Dengê Min (Folge meiner Stimme) kämpft mit ähnlichen Rezeptions-Problemen. Konkret geht es um ein kleines Mädchen aus einem einsamen Dorf in der Bergwelt Kurdistans, die eine Schusswaffe für ihren inhaftierten Vater bei seinen Verwandten in der weit entfernten Stadt organisieren möchte, um ihn aus dem Gefängnis auszulösen. Das komplexe politische Geschehen im türkischen Teil Kurdistans bleibt dabei nicht nur für Kinder unverständlich und die Oma des kleinen Mädchens gerät im Verlauf der Geschichte zunehmend in den Fokus der Story, das Kind wird zusehends zum schmückenden Beiwerk.
Kamera in Augenhöhe – Die Welt aus den Augen von Kindern
Dass es auch anders geht, beweist der indische Film Killa (Das Fort) von Regisseur Avinash Arun. Zu Recht gewann er als erster indischer Feature-Film überhaupt den Gläsernen Bären für den besten Film im Generation Kplus-Wettbewerb. Killa erzählt die Geschichte des elfjährigen Chinu, der mit seiner Mutter an einen neuen Wohnort in der Provinz Maharashtra ziehen muss. Nachdem Chinus Vater gestorben war und die Mutter beruflich versetzt wurde, müssen die beiden einen Neuanfang machen. Andere Umgebung, neue Schule, fremde Mitschülerinnen und Mitschüler – alles Herausforderungen, die der Junge zu meistern hat. Chinu geht die Aufgabe mit großer Neugier und ohne Vorbehalte an. Er trifft dabei auf eine Gruppe Jungen, die für den einen oder anderen Streich aufgeschlossen sind. In der Schule wird der Neue als begabter Schüler vorgestellt, was ihm unter den Gleichaltrigen den Spitznamen Stipendium einbringt. Avinash Arun hat Regie und Kamera geführt sowie das Buch geschrieben. Die Story basiert auf seinen realen Erfahrungen, denn auch seine Familie zog häufiger um. Kaum hatte er sich an den neuen Ort gewöhnt und Freundschaften geschlossen, kam der nächste Umzug. Die Berlinale Kinderjury war vor allem von den Kameraeinstellungen und der Leistung der jungen Schauspielerinnen und Schauspieler beeindruckt. Ebenfalls stark auf die Perspektive von Kindern fokussiert war auch der deutsche Wettbewerbsbeitrag Jack, der in der Cross-Section von Generation Kplus lief. Die Produktion weist aus, was möglich ist, wenn sich Geschichte und Kamera ganz auf die Erlebniswelt eines Kindes konzentrieren. Regisseur Edward Berger wagt sich an ein radikales Experiment, so präsentiert er mit vehementer Geradlinigkeit ausschließlich die Geschehnisse seiner Hauptperson Jack, einem zehnjährigen Jungen, der sich um seinen kleineren Bruder Manuel kümmern muss, da die alleinerziehende Mutter auf Grund von Beziehungsproblemen und ihrer Arbeitssituation hoffnungslos überfordert ist. Nachdem das Gericht der Mutter das Sorgerecht entzogen hat und Jack in einem Jugendheim landet, verschwindet die Mutter und lässt Manuel das Wochenende über bei einer Freundin. Als die Mutter dann jedoch nicht mehr auftaucht und Jack im Jugendheim zudem eine Dummheit begeht, reißt Jack aus und macht sich zusammen mit Manuel auf die Suche nach der geliebten Mutter. Der Film schildert auf sehr ernste Weise ihre Suche nach Liebe und Geborgenheit. Dass all dies letztlich zum Scheitern verurteilt ist, aber nicht unbedingt das unversöhnliche Ende darstellen muss, zeigt Jacks Entscheidung am Schluss. Er übernimmt mit einem mutigen Schritt nicht nur die Verantwortung für seinen Bruder, sondern auch für seine gänzlich überforderte Mutter. Den beeindruckenden, erfreulich unsentimentalen Film trägt nicht nur die besondere schauspielerische Leistung von Ivo Pietzcker in der Rolle des in der Großstadthölle taumelnden Jack sondern auch die teilweise entfesselte Hand-Kameraarbeit von Jens Marant, der einen ohne Betroffenheitsheischerei mitnimmt auf eine alptraumhafte Odyssee durch ein hartes Stück Berliner Realität und dies ausschließlich aus dem Blickwinkel eines Kindes. Was damit insgesamt nach einfältiger Rührseligkeitsdramaturgie aus der Sichtweise von abgeklärten Erwachsenen anmutet, dokumentiert vielmehr eine Verschiebung der Perspektive auf die Wahrnehmung eines zehnjährigen Jungen. So gesehen war es vielleicht sogar bezogen auf die Adressaten des Films ein wenig unpassend, Jack im ‚Erwachsenen‘-Wettbewerb zu präsentieren, da er sich ausschließlich auf die Gedankenwelt und Gefühle eines Kindes konzentriert.
Coming of Age – Einfühlsame Geschichten bei 14plus
Eine komplexe, schwierige Mutter-Kind Beziehung steht auch im Vordergrund des prämierten Generation 14plus-Beitrags 52 Tuesdays von Sophie Hyde. Was als rein formale Idee der Dokumentarfilmemacherin Sophie Hyde begann, nämlich ein Jahr lang jeden Dienstag mit Laiendarstellerinnen und -darstellern nachmittags bis in die späten Abendstunden zu filmen, gewinnt durch den von ihr erst anschließend gewählten Inhalt eine sehr gefühlvoll packende Wendung und Dichte. Erzählt werden emotionale Brüche und Entwicklungen im Verlauf eines Jahres aus der Sicht des Teenagers Billie, die mit einer komplexen und für sie überraschenden Situation konfrontiert wird. Konkret geraten die Beziehungsstrukturen innerhalb Billies Familie völlig durcheinander, als die Mutter ihre geplante Geschlechtsumwandlung eröffnet. Ihr Leben im falschen Körper möchte sie durch massive medizinische Eingriffe und Manipulationen in neue Bahnen lenken. Damit jedoch verändert sich nicht nur die Körperlichkeit der Mutter, sondern wandeln sich auch die Entwicklungsprozesse der Tochter und die emotionalen Bindungen untereinander. Nach der Aussprache über die Entscheidung der Mutter entschließt sich das Mädchen, ein Jahr lang nur noch jeden Dienstagnachmittag ihre Mutter zu besuchen, um aus der Distanz heraus die Entwicklung zu beobachten. Erzählt wird daher nicht nur die dramatische Geschichte einer Gender-Transformation sondern auch die exzessive Suche nach Identität und sexueller Orientierung der 16-jährigen Tochter mit allen Tiefen und Höhen. Der anrührende und formal eigenwillige Film erhielt damit zu Recht als bester Film den Gläsernen Bären der Jugendjury bei der Sektion Generation 14plus. Eher sachte und ruhig hat die 34-jährige Regisseurin Inés María Barrionuevo ihren Film Atlántida (ebenfalls 14plus) inszeniert und dabei die Themen jugendlicher Identitätsfindung und vorsichtiger sexueller Orientierung an einen kleinen Ort irgendwo im ländlichen Argentinien verlegt. Die Geschichte spielt an einem einzigen heißen Sommertag im Jahr 1987. Die Hitze gibt das schleppende Tempo vor. Lucía ist schon früh unterwegs, um im Schwimmbad ihre Bahnen zu ziehen, später sitzt sie zu Hause in der Küche schwitzend über ihren Büchern, denn sie möchte unbedingt nach Buenos Aires auf die Universität gehen. Das wäre schon anstrengend genug, doch ihre jüngere Schwester Elena liegt mit Gipsbein im Bett und kommandiert sie permanent herum. Alle anderen treffen sich am Pool und reden nur darüber, wer wen geknutscht hat. Fast alle, denn es gibt noch Ana, die gerne Bücher liest und eigentlich bei Elena zu Besuch ist. Als Lucía genug von allem hat, schnappt sie sich das Auto ihrer Eltern und fährt mit Ana ins Grüne. Die beiden lassen sich treiben und wissen, dass sie Außenseiterinnen sind, aber gleichzeitig – jede für sich – etwas Besonderes. Eben nicht wie all die anderen. Atlántida ist geprägt von der Lethargie und Last eines heißen Sommers, öffnet dabei aber Räume für Sehnsüchte und sanfte Leidenschaft. Obwohl nicht jede Figur ausgefeilt und jeder Handlungsstrang schlüssig erscheint, wird das Publikum in den zähen Rhythmus des Tages mitgenommen und durch kleine Begebenheiten in die Sehnsüchte der Charaktere gezogen. Ausgefallene Perspektiven sowie fantastische Lichtstimmungen machen Atlántida zu einem besonderen Film.
Beeindruckende Bildästhetik, bedrückende Geschichten
Den großen Preis der Internationalen Jury 14plus erhielt die belgisch-niederländische Produktion Violet. Ein Film, der in seiner Intensität auffiel. Im dokumentarischen 4:3-Format und in einer stilsicher an Videoclips und Kunstfotos erinnernden Ästhetik inszenierte Regisseur und Autor Bas Devos ein eindringliches Drama, das gleichermaßen fasziniert und beklemmt. Der 15-jährige Jesse muss miterleben, wie in einer verlassenen Einkaufspassage sein bester Freund erstochen wird. Der Schock des Mordes lähmt Jesse vollends. Er kann nicht eingreifen, nicht die fliehenden Täter verfolgen, seinem Freund nicht sofort zu Hilfe eilen. Dieser Augenblick verändert für Jesse alles. Der Film begleitet den Jungen beim Versuch, zu verarbeiten und am restlichen Leben ansatzweise teilzunehmen. Doch er bleibt mit seinen Schuldgefühlen und seiner Einsamkeit allein, auch wenn die BMX-Clique wieder vor der Türe steht und Jesse mitfährt. Die aufgeräumte Vorortsiedlung liegt unter einem erdrückenden Teppich des Schweigens. Weder Jesses Eltern noch die BMX-Gruppe können mit der Tragödie umgehen. Am ehesten behält Jesses Vater noch Anschluss zu seinem Sohn. Regisseur Bas Devos spielt mit den Elementen: Die Kamera zeigt Unschärfen, dunkle Felder, einzelne Sequenzen fließen ineinander oder sind wie Farbspiele, die manchmal wie in einem Rätsel in einer Totalen oder Halbtotalen aufgelöst werden. In einer festen Einstellung sehen wir Bäume in einem Wald. Immer wieder springen die BMX-Biker von unten ins Bild und verschwinden wieder. Einer nach dem anderen. Monotonie und Flow, Routine und Nervenkitzel. Die Loops der Biker laufen immer weiter. Die Tonspur des Films spielt eine eigene Hauptrolle, mal mit purem Lärm, mal durch erdrückende Stille. Den Beginn der Mordszene am Anfang sehen wir nur über die Überwachungsmonitore des Einkaufszentrums. Rein akustisch nehmen wir wahr, dass der Wachmann den Raum verlässt, worauf das Drama tonlos seinen Lauf nimmt. Als später Jesse mit der Clique ein Black-Metal-Konzert besucht, hören wir einen kompletten Track in voller Lautstärke, sehen aber nur die wogende Menge des Publikums. In den Gesichtern spiegelt sich die Lightshow der Bühne und entgegen des rasenden Tempos der Drums fährt die Kamera langsam an die Menschen heran bis ganz nah in Jesses Gesicht.
Nichtsehen und gesehen werden
Aus dem Programm der Sektion PANORAMA ragte der brasilianische Film Hoje eu Quero Voltar Sozinho (The Way He Looks) heraus. Der jugendliche Drang nach Unabhängigkeit steht hier im Zentrum. Im Falle von Leonardo ist damit aber eine ganz besondere Komponente verbunden, denn er ist von Geburt an blind. Mit seinen 15 Jahren möchte er endlich selbständiger sein und leidet zunehmend unter dem Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis seiner Mutter. Ganz entgegen der Bedenken der Eltern bemüht sich Leonardo um Informationen für einen Schüleraufenthalt in den USA. Nur seine Klassenkameradin und Freundin Giovana unterstützt ihn in diesen Bestrebungen. Beide sind seit vielen Jahren ein eingespieltes Team und hängen wie zwei beste Freunde ständig zusammen. Der neue Mitschüler Gabriel bringt in der Beziehung von Leonardo und Giovana einiges durcheinander. Leonardo ist von Gabriel auf ungewohnte Art fasziniert. Schließlich vertraut Leonardo Giovana an, dass er sich in Gabriel verliebt hat. Daniel Ribeiro hat einen behutsamen Film gemacht, der ganz nah an Leonardos Alltag bleibt, mit den ganz speziellen Sorgen und Schwierigkeiten des Jungen, jedoch in keinem Moment auf Mitleid abzielend. Die Hauptfigur wird als facettenreicher Charakter gezeigt, auf dem Weg zur Selbstfindung und beim Entdecken seiner Gefühle. Unaufdringlich, aber dennoch intensiv setzt Ribeiro die Tonspur ein, mit leisen Geräuschen oder dem Atem der Protagonisten. Wir treten als Zuschauer im wahrsten Sinne zurück, wenn in einer Sequenz Leonardo spät nachts auf einer Decke im Freien sitzt. Die Kamera entfernt sich von der Szene, als Giovana den Platz verlässt und Leo allein auf einer Wiese zurückbleibt, während die Geräusche der umliegenden Partyaktivitäten unverändert präsent bleiben. In einer emotionalen Szene bringt Gabriel Leonardo zu einem Song der schottischen Band Belle & Sebastian das Tanzen bei. „I feel like dancing on my own, where no one knows me, and where I can cause offence just by the way I look” heißt es da.
- Michael Bloech, Markus Achatz, Nicole Lohfink: Berlinale 2018 – Politik und Filmkunst
Michael Bloech, Markus Achatz, Nicole Lohfink: Berlinale 2018 – Politik und Filmkunst
Die Berlinale hat seit Jahren einen ausgesprochen politischen Anspruch. In diesem Jahr waren hier die Erwartungen allerdings besonders hoch: Ausgelöst durch die #MeToo-Debatte und aufgrund der geringen Frauenquote in nahezu allen Bereichen der Filmindustrie, wurde gespannt darauf gewartet, welche Schwerpunkte das Festival setzen würde. Doch vielleicht war die Berlinale von der Dynamik dieses Themas überrascht worden, denn es kam nur zu einzelnen, wichtigen Aktivitäten. Aus dem riesigen Programmangebot sind Michael Bloech, Markus Achatz und Nicole Lohfink einige bemerkenswerte Geschichten in Erinnerung geblie¬ben, die sie innerhalb von drei Schwerpunkten reflektieren.
Unterhaltung darf sein!
Neben der Setzung von relevanten Schwerpunkten möchte die Berlinale unbedingt ein attraktives Angebot für das breite Publikum bieten und bekanntlich ein Publikumsfestival sein. Zwar hat in punkto verkaufter Tickets das Filmfestival im kanadischen Toronto inzwischen die Nase vorne, doch das gesamte Filmangebot mit seinen vielfältigen Programmblöcken bedient auch auf der Berlinale ein sehr breites Publikum. Gewisse Zugeständnisse an das Unterhaltungsbedürfnis waren damit für eine positive Annahme des Angebots unumgänglich. Grund genug, sich unter dem Aspekt des Unterhaltungswertes die jeweiligen Eröffnungsfilme des Wettbewerbs und der Jugend- und Kinderfilm-Sektionen 14plus und Kplus anzuschauen.
Besonders „fabelhafte“ Eröffnung des Wettbewerbs
Eröffnet wurde der diesjährige Wettbewerb mit dem Puppentrick-Animationsfilm Isle of Dogs (Ataris Reise) von Wes Anderson, der seit 2001 bereits zum fünften Mal als Filmemacher bei einer Berlinale vertreten war. In der wunderbaren, moralischen Fabel geht es laut Wes Anderson in erster Linie um den Hund und erst in zweiter Linie um eine postmoderne, moralische Parabel: „Ich wollte unbedingt einen Film über Hunde machen“. Herausgekommen ist eine Dystopie über die Megacity Megasaki, die von dem omnipotenten, tyrannischen Bürgermeister Kobayashi regiert wird. Alle Hunde werden per Gesetz, wegen vorgeblich nicht behandelbarer Seuchengefahr, auf eine Insel deportiert. Die ferne Insel mit ihrer gigantischen Müllkippe und den monströsen Industrieruinen ist Heimat der streunenden, zotteligen Hunde, die zunehmend verwildern und vom Hungertod bedroht sind. Als sich Atari, der Pflegesohn des Despoten, auf den gefährlichen Weg dorthin macht, um seinen geliebten Hund Spots zu suchen, beginnt eine klassische Heldenreise. Allerdings ist es nicht Atari, der im Mittelpunkt der Geschichte steht, sondern die struppige und ungeheuer liebenswerte Hundemeute rund um Chief, Rex, King, Duke und Boss. Wes Anderson nimmt dabei Jung und Alt mit auf eine wunderbar altmodisch animierte Reise und transportiert dabei ganz nebenbei die wichtige Message, dass es im Leben immer Sinn macht, schier Unmögliches zu wagen, um gegen Missstände solidarisch organisierten Widerstand zu leisten. Anderson konnte mit Isle of Dogs, für einen Animationsfilm etwas überraschend, den Silbernen Bären für die Beste Regie gewinnen.
„Endlich erwachsen?“: Wiederkehrende Kernfrage im Eröffnungsfilm bei 14plus
Um eine Reise geht es auch in 303 von Hans Weingartner, dem Eröffnungsfilm der Jugendfilm- Sektion 14plus der Berlinale. Halb Europa bildet dabei den Hintergrund der gefühlsbetonten Geschichte zweier sehr unterschiedlicher, junger Menschen, die beide noch nicht zu sich selbst gefunden haben. Schon nach wenigen Minuten erinnert 303 an Richard Linklaters Independent- Filmklassiker Before Sunrise. Weingarnter hat 1995 bei dieser Produktion seine ersten Filmerfahrungen, sowohl als Nebendarsteller als auch Produktionsassistent gemacht. Hier wie dort sind es vor allem die pointierten, natürlich wirkenden Dialoge, die ein Zusehen spannend machen. Eine junge Frau und ein junger Mann treffen durch einen Zufall aufeinander und schon beginnt das spannende Sprachduell um Anziehung, Auseinandersetzung und Zurückweisung. Ort der Handlung bildet ein mehr als betagtes Mercedes Wohnmobil, dessen modifiziertes Typenschild für den Filmtitel verantwortlich zeichnet. Die Kombination von romantisch gefärbtem Dialogfilm und ästhetisch ansprechendem Roadmovie unterhält bestens, zumal dabei Themen diskutiert werden, die über den Austausch von Banalitäten weit hinausgehen.
Fantasievoll bunte Eröffnung des Kinderfilmprogramms bei Kplus
Das populäre Kinderbuch Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne von Jakob Martin Strid bildete die Vorlage für den gleichnamigen Auftaktfilm der Sektion Kplus: Den utrolige historie om den kæmpestore pære der Filmemacher Philip Einstein Lipski, Amalie Næsby Fick und Jørgen Lerdam. In diesem farbenfroh animierten Film wird die abenteuerliche Reise der wasserscheuen Katze Mika, dem ängstlichen Elefanten Sebastian und dem verschrobenen Professor Glykose erzählt. Gemeinsam machen sie sich, in einer als Boot umfunktionierten Riesenbirne, auf eine abenteuerliche Suche nach ihrem verschwundenen Bürgermeister. Dabei müssen sie auf hoher See mit diversen Widrigkeiten kämpfen, treffen auf vermeintlich böse Piraten und Seeungeheuer, bevor sie schließlich im Showdown auf den verbrecherischen, größenwahnsinnigen Stellvertreter des entführten Bürgermeisters treffen. Zwar mangelt es der Dramaturgie ein wenig an Eleganz, aber insgesamt wird die Geschichte für junge Zusehende durchaus fantasievoll und unterhaltsam präsentiert.
Michael Bloech arbeitete als Medienpädagoge am Medienzentrum München des JFF mit den Schwerpunkten Videoarbeit, Kinder- und Jugendfilm.
Das Gewicht von Verantwortung: Filme bei GENERATION der 68. Berlinale - Von den Sorgen um andere und den Grenzen des Lebens
Aus dem Programm der Berlinale-Sektion GENERATION ragten Filme heraus, die die jungen Hauptfiguren mit einer widersprüchlichen Welt und schwer verstehbaren Realitäten konfrontieren. Häufig ging es um die Übernahme von Verantwortung für andere und Fragen nach den Grenzen des Lebens.
Wenn Superhelden sterben
Ein berührendes Highlight im diesjährigen Berlinale-Programm der Sektion GENERATIONKplus war die kenianisch-deutsche Koproduktion Supa Modo. Die neunjährige Jo ist unheilbar an Krebs erkrankt. Jos Mutter Kathryn beschließt, ihr Kind für die verbleibende Zeit mit nach Hause zu nehmen. Kathryn ist eine starke Persönlichkeit, doch mit dem Wissen um das unaufhaltbare Sterben ihrer Tochter kann sie ihrer Arbeit als Hebamme nicht mehr nachkommen. In dieser Konstellation übernimmt Mwix, Jos ältere Schwester, mehr und mehr Verantwortung. Jo liebt Superhelden-Geschichten und Mwix erkennt in Jos Fantasie einen Schlüssel für glückliche Momente. Sie bestärkt das kranke Kind in der Vorstellung, selbst magische Superkräfte entwickeln zu können. Dabei gewinnt sie immer mehr Dorfbewohner, sich an dem Spiel zu beteiligen und gemeinsam erfüllen sie Jo den sehnlichen Wunsch, Superheldin in einem eigenen Film zu werden. Neben der herausragenden Darstellerleistung der drei Protagonistinnen liegt die Stärke von Supa Modo darin, aus dem todtraurigen Plot auch hoffnungsvolle Botschaften zu ziehen. Durch die Film-im-Film-Story schafft Regisseur Likarion Wainaina ein Element der Distanz, das Jos Familie (und letztlich auch den Zuschauenden) hilft, mit der Tragödie umzugehen. Supa Modo wurde durch das deutsch-kenianische Produktionskollektiv One Fine Day (gegründet von Marie Steinmann Tykwer und Tom Tykwer) realisiert und ist mit einem rein afrikanischen Team entstanden. Auf der Webseite von One Fine Day findet sich das mit Jugendlichen aus dem Kibera-Slum Nairobi gedrehte Tanzvideo „Ping“. Begrüßenswert wäre es, wenn es künftig mehr afrikanische Filme nach Europa schaffen würden. Supa Moda wurde unter anderem mit Zuschüssen der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit gefördert. Über Bilder und Geschichten Emotionen zu wecken und den jungen Zuschauerinnen und Zuschauern Wege zu mehr Empathie aufzuzeigen, sind gut angelegte Mittel zur Förderung der internationalen Gemeinschaft. Die Kplus-Kinderjury sprach dem Film eine Lobende Erwähnung aus.
Poetische Wege des Abschieds
Eine ungewöhnliche und bewegende Geschichte über das Abschiednehmen erzählt auch der balinesische Film Sekala Niskala (The Seen and Unseen). Auch hier bestimmt eine unheilvolle Diagnose den Verlauf des Geschehens. Tantris Zwillingsbruder Tantra wird schwerkrank. Im Hospiz wagt sich die zehnjährige Tantri nicht ans Krankenbett ihres Zwillingsbruders – außer, wenn sie völlig in magische Zwischenwelten abgleitet, in denen sie mit Tantra spielt und tanzt. Das Mädchen nutzt alles Mystische und Symbolhafte, was sich ihrer kindlichen Welt erschließt, um mit dem nahenden Verlust umzugehen. Mit Kostümen und Körperbemalungen beginnt sie der Trennung zu begegnen. Sekala Niskala – das Sichtbare und das Unsichtbare – spielt dabei auf einer hoch stilisierten Ebene mit langen Traumsequenzen, in denen sich Tantri mit der jenseitigen Welt befasst. Obwohl sie dies alles nicht wirklich begreifen kann, möchte sie mehr Verantwortung übernehmen. Sie äußert einmal, wie gerne sie mit Tantra tauschen würde, damit er weiterleben könnte. Eine Rückblende zeigt, wie sich die Kinder gekochte Eier teilen: Tantri das Eiweiß und Tantra das Eigelb. Eines Tages öffnet Tantri ein Ei, darin fehlt das Eigelb, so wie Tantra. Die indonesische Regisseurin Kamila Andini hat ebenso das Buch zum Film geschrieben. Ihr Regiedebüt The Mirror Never Lies lief 2012 bei Berlinale GENERATION. Mit Sekala Niskala hat sie 2018 den Großen Preis der Internationalen Jury Kplus gewonnen.
Fortuna – Moral und Verantwortung
Fortuna vom Schweizer Regisseur Germinal Roaux hat gleichzeitig den Gläsernen Bären der Jugendjury 14plus und den Großen Preis der Internationalen Jury 14plus erhalten. Die 14-jährige Fortuna ist als Flüchtling aus Äthiopien in einem Kloster in den Schweizer Bergen gestrandet. Seit der Überquerung des Meeres in einem Boot fehlt von Fortunas Eltern jede Spur. Die Abgeschiedenheit und das rauhe Klima verstärken ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach Geborgenheit. Auch andere Flüchtlinge haben vorübergehend im Kloster Zuflucht gefunden und dennoch kann sie nur mit den Tieren des Hofes über alles reden. Vor allem fürchtet sich Fortuna davor, Kabir die Wahrheit zu sagen: Sie ist schwanger von dem 26-Jährigen, der ebenfalls aus Äthiopien kommt. Als sie allen Mut zusammennimmt und es ihm erzählt, reagiert er schroff und gibt dem Mädchen die Schuld. Zunächst hofft das Mädchen auf eine gemeinsame Zukunft, doch bei einer unerwarteten Polizei-Razzia im Kloster verschwindet Kabir spurlos. Der Film besticht vor allem durch seine ästhetische Schärfe. In klaren Schwarz-Weiß-Bildern (im Format 4:3) erhält die Bergwelt eine eigene Hauptrolle. In den Rückblenden der Flucht fließen die tosenden Wellen des Meeres auf imposante Weise mit den Wolkenbewegungen über dem Gebirge ineinander. Fortunas Schwangerschaft kommt allmählich ans Licht und der Film wechselt den Blickwinkel auf andere Instanzen: Einerseits die Politik und Einwanderungsbehörden – repräsentiert in der Figur des Herrn Blanchet –, die auf Basis von Paragraphen Entscheidungen fällen. Er versucht, unbegleitete Minderjährige an Familien zu vermitteln und sieht in einer Abtreibung den einzigen Ausweg. Andererseits die Mönche des Klosters – allen voran Bruder Jean (dargestellt von Bruno Ganz) –, die ihr Haus als Zufluchtsort zur Verfügung stellen. Verantwortung richtet sich hier nach dem Prinzip von Nächstenliebe und göttlicher Weisung. Und es gibt noch eine dritte Ebene – in deren Perspektive wir am Ende zurückkehren: Was wünscht sich Fortuna selbst? Es ist ein Film über ein ergreifendes persönliches Schicksal vor dem Hintergrund der humanitären Katastrophe. Anhand von Fortunas jungem Leben stehen alle, die sich darauf einlassen, vor der Frage nach der Verantwortung. Roaux liefert am Ende keine Antwort, aber viele neue Fragen, die weit über das eine Leben hinausgehen.
Markus Achatz ist Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge, Leiter des Bereichs Bildung im Deutschen Jugendherbergswerk und nebenbei als freier Journalist, Filmrezensent, Musiker und DJ aktiv.
Die ‚persönliche‘ Seite der Berlinale - Die Attraktivität des Autobiographischen
Mit eindrücklichen Filmen quer durch die Sektionen rückten persönliche Lebensgeschichten in den Blickpunkt und verbanden zwei klassische Wahrheiten miteinander. Das Leben schreibt die interessantesten Geschichten – und Kunst, ob auf der Bühne, im Bild oder Film, bildet Leben ab, manchmal auch ‚larger than life'. Besonders beeindruckt dies, wenn es gelingt, diese Realität ganz nah an die Zuschauerin bzw. den Zuschauer heranzurücken. So erzählten folgende drei Beispiele aus dem diesjährigen Programm persönliche Geschichten von realen Menschen und schlagen eine Brücke zu anderen Lebenswelten, aber auch zu universalen Themen wie tiefe Freundschaft, der eigenen Verwundbarkeit und Stolpersteinen des Erwachsenwerdens.
Mut zur eigenen Schwäche – vom äußeren und inneren Terror
Ein bestechender Film aus der Sektion Panorama Special heißt Profile, ein Film von Timur Bekmambetov. Im Mittelpunkt steht die britische Journalistin Amy Whittaker und ihre Recherche über die Rekrutierung junger europäischer Frauen durch den IS. Die Journalistin nimmt über ein gefälschtes Facebook-Profil Kontakt zu einem IS-Kämpfer auf und gibt sich als junge Konvertitin aus. Hierauf folgt ein Katz-und-Maus-Spiel zweier Jäger. Der Film beginnt als Einblick in die Struktur des Terrors, legt aber später zunehmend Gewicht auf die verschwimmende Grenze zwischen sich einlassen und Distanz wahren, Zerbrechlichkeit der eigenen Persönlichkeit und emotionale Manipulationsmechanismen. Der gesamte Film verläuft dabei nur auf der Computer-Bildschirm-Oberfläche, auch das alltägliche Leben der Protagonistin wird über online geführte Unterhaltungen via diversen Web-Diensten gezeigt. Der Zuschauende wechselt zwischen Identifikation mit der Protagonistin und der Beobachterposition. Trotz Eile in der Erzählung, welche die Genauigkeit bestimmter Abläufe überholt, wird die gesamte Tragweite offenbar, wenn Protagonistin – und Zuschauende – mit den Konsequenzen der eigenen Handlungen konfrontiert werden: Die französische Journalistin, auf deren Geschichte der Film basiert, lebt heute unter anderem Namen. Die Veröffentlichung ihres Berichts führte zu mehreren Verhaftungen und einer Todesdrohung durch den IS-Staat. Profile gewann den Publikums-Preis in der Sektion Panorama.
Spirituelle Begegnung mit einem Ausnahme-Musiker
Aus der Reihe Berlinale Special bewies der Dokumentarfilm Gurrumul aus down under erneut die verbindende Wirkung von Musik und macht mit der Persönlichkeit und Musiker Geoffrey Gurrumul Yunupingu, einem Aboriginal aus dem australischen Arnhemland, vertraut. Bewiesen als ein außerordentlich begabter Musiker von Kindheit an, aber blind geboren, bietet Gurrumuls Leben schon genug Stoff, um erzählt zu werden. Aber die Geschichte erlaubt der Zuschauerin bzw. dem Zuschauer einen Einblick in die Würde einer Kultur mit deren Werten einer uns zunächst unvertrauten Gesellschaft. In persönlichen Bildern und Interviews erzählt Regisseur Paul Williams von der frühen Begabung des Musikers – der sich vier Instrumente selbst beibrachte –, von seinem Stammesleben, den Ängsten seiner Verwandten, dass er als blinder Mann keine Unabhängigkeit leben kann, aber auch von der Wertschätzung, die er in seinem Stamm erfährt. Der Zuschauende erfährt von der Begegnung Gurrumuls mit seinem langjährigen engen Freund und Wegbegleiter Michael Hohnen, einem Musiker und ‚baladan‘, das heißt ‚weißer Typ‘ auf Yolngu Matha. Hohnen wird zum Sprachrohr und Übersetzer für den extrem scheuen Musiker, der dennoch Konzerte vor vielen tausenden Menschen gibt. Vor dieser Hintergrundgeschichte schafft es der Film Gurrumul eine Geschichte von persönlicher Freiheit zu erzählen. Dazu kommen Momente, in denen mündlich überlieferte Lieder die Traditionen und Geschichten der früheren Generationen vermitteln und somit den kulturellen Reichtum erlebbar machen. Die Suche nach einer visuellen Entsprechung der Tiefgründigkeit der Musik gelingt durch intime Einblicke, die der Film in die Lebensumstände des Künstlers gewährt – Einblicke, die das enge freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden Musikern Michael und Gurrumul erst ermöglichen und welche so zwischen einem ‚baladan‘ und einem ‚yolnu‘ (schwarzer Typ) selten vorkommen. So findet sich der eigentliche Schatz des Films darin, dass ein ungewollter Star nicht nur Wissen über das kulturelle Erbe Australiens vermittelt, sondern auch die Universalität dieser Traditionen enthüllt. Geoffrey Gurrumul Yunupingu starb kurz vor Veröffentlichung des Films.
Erwachsenwerden – die Suche nach der Identität in turbulenten Bildern animiert
Der Animationsfilm Virus Tropical von Regisseur Santiago Caicedo ist die autobiographische Geschichte der kolumbianisch-ecuadorianischen Cartoonistin Paola Gaviria, basierend auf ihrem gleichnamigen Comic von 2014. Mit der eigenen Existenz als Ergebnis eines tropischen Virus startet der Film in eine humorvolle und bildgewaltige Reise zum Thema Stolpersteine der Kindheit und Jugend im Programm von GENERATION 14plus. Dabei geht es vordergründig um das Mädchen Paola und die Entwicklung ihrer Familienbeziehungen – insbesondere zur Mutter und zu den beiden Geschwistern. Es geht um den Umgang mit Veränderungen, den Umzug in eine andere Stadt, Zugehörigkeitsgefühle der Protagonistin und die eigene Definition. Es ist die Inventur eines Lebens und Konstruktion des eigenen Selbst, inklusive aller Elemente und Orte des Aufwachsens, die eine wichtige Rolle in der Kindheit und Jugendzeit der Autorin gespielt haben. Der Zuschauerin bzw. dem Zuschauer bietet sich dadurch ein Spiegel der Erinnerung, während der Film mit Augenzwinkern und Rasanz die verschiedenen Stationen anläuft. Die Bedeutung von Familie, Erkundung von Sexualität und auch, was es bedeutet, eine Frau zu sein, samt der Entwicklung der persönlichen Identität als zentrale Themen des Erwachsenwerdens werden sowohl inhaltlich als auch stilistisch erfahrbar gemacht. Die turbulenten Wechsel der Kindheit und die Auseinandersetzung mit der Außenwelt spiegeln sich unentwegt in diversen graphischen Spielarten wider. Der Haupt-Charakter ist immer im Entwicklungszustand. Auch musikalisch wird handlungsorientiert gearbeitet – die Liedtexte stehen für die jeweilige Situation in Paolas Leben. Entstanden ist ein sehr ansprechendes und persönliches Werk, dem die Cartoonistin insgesamt neun Jahre ihres Lebens gewidmet hat. Vier Jahre für die Erarbeitung der Novelle und fünf Jahre für die Gestaltung des Films, für den sie über 1.000 Zeichnungen erstellt hat. Real existierende Menschen im Fokus der Filme schaffen so eine gelungene persönliche Begegnung zwischen Fremden und bieten in ihrer Vielseitigkeit noch lange Stoff zum Nachdenken und Nachspüren – und damit sicherlich eine Leistung von gesellschaftlicher Relevanz durch die Berlinale.
Nicole Lohfink ist freie Journalistin, Film- und Theaterkünstlerin und medienpädagogische Referentin.Beitrag aus Heft »2018/02 Kita digital: Frühe Medienerziehung«
Autor: Michael Bloech
Beitrag als PDF - Markus Achatz und Michael Bloech: Starke Kinder – Schwache Eltern
Markus Achatz und Michael Bloech: Starke Kinder – Schwache Eltern
Einen inhaltlichen Schwerpunkt der Filme in der Sektion GENERATION der diesjährigen Internationalen Filmfestspiele in Berlin bildete häufig ein aus den Fugen geratenes Verhältnis zwischen Kindern und Eltern. Konkret wurde in vielen Produktionen das Versagen der Eltern in den Vordergrund gestellt, auf das im Gegenzug die Kinder mit Stärke, Mut und anarchischer Selbstständigkeit reagieren mussten. In einigen Produktionen fehlten die Eltern sogar gänzlich, wie in der amerikanischen Produktion Golden Kingdomvon Brian Perkins, der das Leben von vier kleinen Jungen erzählt, die als burmesische Mönche eine Zeit lang völlig auf sich allein gestellt sind. Oder Im Spinnwebhaus von Mara Eibl-Eibesfeldt (gezeigt in der Berlinale Cross-Section), die Geschichte dreier Kinder, die nach dem Weggang ihrer Mutter ebenfalls ganz ohne Erwachsene ihren Alltag meistern müssen. Maryanne Redpath, die Leiterin der Berlinale Sektion GENERATION Kplus, also des Kinderfilmprogramms, hat Jahr für Jahr bei der Zusammenstellung der Filme mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Das Dilemma besteht zum einen darin, dem Unterhaltungsbedürfnis des jungen Kinopublikums gerecht zu werden und zum anderen anspruchsvolle Kinokost zu präsentieren, das heißt Kinder zur Rezeption differenzierter ästhetischer Formen, komplexer und oft eher emotional belastender Handlungsstränge zu animieren. Daneben gilt es, das gesamte Altersspektrum der Zielgruppe zu berücksichtigen. Kein leichtes Unterfangen, zumal viele Produktionsfirmen sich bei der Terminsetzung der Filmstarts nicht nach dem Terminplan der Berlinale richten beziehungsweise richten können. Einige deutsche Filme, die im Laufe des Jahres 2015 starteten, wie Rico, Oskar und das Herzgebreche von Wolfgang Groos oder Rettet Raffi!, der neue Film von Arend Agthe, waren daher schon allein aus diesem Grund nicht im Programm von Kplus. So hat Maryanne Redpath 2015 den Schwerpunkt auf formal anspruchsvolle Filme gelegt, ältere Kinder stärker in den Fokus gerückt und inhaltlich den Blick auf eher Bedrückendes gelegt.
Die Leichtigkeit eines Papierfliegers
Fulminant eröffnet wurde das Programm mit der farbenfrohen, australischen Produktion Paper Planes (Papierflieger) von Robert Conolly, einem warmherzigen, humorvollen, unterhaltsamen Film für die ganze Familie. Der elfjährige Dylon lebt nach dem Tod seiner Mutter zusammen mit dem depressiven Vater in einer Baracke im australischen Outback. Allerdings ist der Junge das genaue Gegenteil seines Vaters, er ist engagiert, optimistisch, mutig und auch überaus geschickt, wenn es darum geht Papierflieger zu basteln und diese über eine enorme Distanz segeln zu lassen. Mit seiner ausgeklügelten Papierfalttechnik, seiner enormen Beharrlichkeit und vielem Training gelingt es dem Jungen sogar, an den Weltmeisterschaften in Tokio teilzunehmen. Selbst den in völlige Lethargie versunkenen Vater kann er mit seiner ansteckenden Euphorie ein wenig aus der depressiven Situation reißen. Der wunderbare Film vermag gut zu unterhalten und ein angenehmes Gefühl von Leichtigkeit zu vermitteln. Die Grundaussage, wonach es nur darauf ankommt etwas Wunderbares zu schaffen, unabhängig vom Erreichen eines Sieges, verfolgtder Film allerdings ein wenig halbherzig, was zwar schade, insgesamt aber zu verschmerzen ist.
Schneepiraten – Kindheit im eisigen Faschismus
Wesentlich bedrückender ist die Situation der Kinder im türkisch/kurdischen Film Kar Korsanları (Schneepiraten) von Faruk Hacıhafızoğlu. Die Freunde Serhat, Gurbuz und Ibrahim erleben 1981 in der türkischen Kleinstadt Kars im armen Nordosten Anatoliens einen der grimmigsten Winter. Gemeinsam sausen sie tagsüber auf ihren Schlitten durch die bitterkalte Schneelandschaft, immer auch auf der Suche nach etwas Brennbarem, den Kohleresten aus achtlos entsorgten Aschenhaufen. Ihre Väter sind nicht präsent, arbeiten zumeist fern der Heimat im Ausland. Die totalitären Auswirkungen der Militärdiktatur erleben die Kinder dabei mehr und mehr, insbesondere als ihr älterer Freund entführt und schließlich gefoltert wird. Neben all diesem Grauen merken die Kinder, wie wichtig Freundschaft und Mut in einer solch beklemmenden Situation sind, um bestehen zu können. Mit der handlungsarmen Geschichte, den überaus ruhigen, sorgfältig gewählten Einstellungen und dem radikal zurückgenommenen Musikeinsatz, steht der Film den Rezeptionsgewohnheiten heutiger Kinder entgegen. Vielleicht ist aber gerade dies der Reiz der Schneepiraten, denn der Film zeigt aus dem unverstellten Blick von Kindern ein Stück aktueller Geschichte um Ohnmacht und Willkür.
So wie ich bin – You‘re Ugly Too
Ohne ihre Eltern muss auch die elfjährige Stacey im Film You’re Ugly Too (So wie ich bin) (Irland 2014) auskommen. Nachdem sie beide Eltern verloren hat, ist ihr Onkel Will der einzige nahe Verwandte und soll sich um das Mädchen kümmern. Stacey kennt ihn gar nicht richtig und bleibt ihm gegenüber skeptisch. Will möchte partout nicht erzählen, warum er im Gefängnis war. Die beiden ziehen in eine Trailerparksiedlung in den Midlands. Obwohl Staceys Mutter erst vor sechs Wochen gestorben ist und die Lebensbedingungen schwierig bleiben, bemüht sich Will, dass die Dinge möglichst normal laufen. Er muss sich bewähren, denn sonst droht die Rückkehr in den Knast. Stacey leidet überdies an Narkolepsie und schläft manchmal unvermittelt ein. Als sie schließlich herausfindet, warum Will im Gefängnis war, wird alles noch schwieriger. Das Langfilmdebüt von Mark Noonan ist ein lakonischer Film, der mit wunderbaren Dialogen und irischem Humor gleichermaßen anrührend und charmant wirkt. Stacey und Will sind zwei starke Figuren, deren Persönlichkeiten zwar aufgrund der schicksalhaften Erlebnisse Risse bekommen haben, sich aber dennoch ihrer jeweiligen Verantwortung stellen. Noonan, von dem auch das Drehbuch stammt, gelingt es dabei hervorragend, der Protagonistin und dem Protagonisten intelligente und witzige Texte auf den Leib zu schreiben. Das anfangs spröde Duo Stacey und Will – grandios dargestellt von Nachwuchstalent Lauren Kinsella und dem vor allem in Irland bekannten Aidan Gillen (u. a. Game of Thrones) – wächst dabei behutsam zusammen, obwohl die Zukunft der beiden alles andere als rosig erscheint. Mit seinem relativ offenen Ende gibt der Film keine eindeutige Auflösung, wie es mit Stacey und Will weitergehen wird, bietet aber auf berührende Weise eine hoffnungsvolle Perspektive zwischen feinsinnigem Humor und Pragmatik.
"Iss doch was" – Ess-Störung und Leistungssport
Mit dem Thema Ess-Störung greift der schwedisch/deutsche Beitrag Min Lilla Syster (Stella) von Sanna Lenken ebenfalls ein sehr ernstes und wichtiges Problem auf. Die etwas pummelige Stella merkt allmählich, wie ihre große Schwester Katja immer größere Schwierigkeiten hat, Essen zu sich zu nehmen. Schließlich überrascht sie bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch ihre Schwester, als diese sich in der Toilette den Finger in den Hals steckt, um sich zu übergeben. Zu all dem trainiert Katja mehr als hart, um eine erfolgreiche Eiskunstläuferin zu werden und bewegt sich durch die Nahrungsverweigerung mehr und mehr in eine katastrophale, lebensbedrohliche Krise. Stella will helfen, muss aber versprechen, den zunächst unwissenden Eltern nichts zu erzählen. Schließlich eskaliert die Lage, Stella bricht ihr Schweigen und informiert die Eltern, die von dieser Situation allerdings völlig überfordert sind. Mit den Stilmitteln des klassischen Fernsehspiels gibt der Film einen realistischen und oft sehr deprimierenden Blick in das Krankheitsbild von Ess-Störungen, die lebensbedrohliche Formen annehmen können und die ohne fremde, klinische Hilfe kaum zu bewältigen sind. Der Film ist ein Plädoyer dafür, Kindern Mut zu machen, Probleme mit ihren Eltern zu besprechen, aber auch dafür, dass Eltern sich im Umgang mit ihren Kindern Zeit nehmen und genau hinschauen sollten. Vor allem sollten sie den Mut haben, professionelle Hilfe anzunehmen. Die pädagogische Altersempfehlung im Rahmen der Berlinale ist daher mit der Eignung ab 12 Jahren passend. Der mit einem Gläsernen Bären der Kinderjury und einer lobenden Erwähnung der internationalen Jury prämierte Film kann eine gute Gesprächsgrundlage bilden, um eine Diskussion über den Umgang mit diesem Krankheitsbild zu beginnen.
Hermetisch abgeriegelte Welten Berlinale Filme in der Sektion GENERATION 14plus
In zahlreichen Filmen der 14plus-Reihe müssen sich die heranwachsenden Protagonistinnen und Protagonisten in hermetisch abgeriegelten Welten zurechtfinden oder sind in ihrer jeweiligen Umgebung stark auf sich alleine gestellt. Manchmal sind sie abgeschottet innerhalb von isolierten Dorfgemeinschaften oder Familien, werden Opfer religiöser oder kulturell motivierter Ausgrenzung oder leben mehr in virtuellen als realen Welten. Häufig sind sie Außenseiterinnen oder Außenseiter – von anderen ausgeschlossen, Verbannte, Flüchtlinge oder schlichtweg Gefangene.
Auf sich alleine gestellt – El Gurί
Der zehnjährige Gonzalo lebt in einem abgeschiedenen Dorf im Nirgendwo Argentiniens. Wer hier landet, heißt es einmal im Film, kommt nur schwer wieder weg. Der Junge muss sich alleine um seine kleine Schwester kümmern, die noch ein Baby ist und lebt in einem Haus mit der senilen Großmutter, die ebenfalls auf seine Hilfe angewiesen ist. Gonzalos Mutter ist vor einigen Tagen fortgegangen und er glaubt, dass sie schon bald zurück sein wird. Dennoch muss er immer wieder über die drei Dinge nachdenken, die ihm seine Mutter zuletzt gesagt hatte: "Dass sie mich sehr lieb hat, dass ich erwachsen werden soll und dass ich mich um meine Schwester kümmern muss." Erst nach und nach wird Gonzalo klar, was die anderen im Dorf längst wissen: Seine Mutter wird nicht zurückkehren. Doch wer wird sich um ihn und vor allem um seine kleine Schwester kümmern? Julio, der Tierarzt, der kinderlos mit seiner Frau in der Nähe wohnt, oder die junge Lorena, die zufällig aufgrund eines defekten Autos im Dorf gestrandet ist und nicht weiß, wann sie wieder wegkommt? El Gurί ist ein langsamer, ruhiger Film. Die Lethargie des Dorfes bestimmt das Tempo der Geschichte. Regisseur Sergio Mazza hat dies in einer verschachtelten und dadurch fesselnden Erzählweise inszeniert. Wie einzelne Puzzleteile fügt sich die Story nach und nach zusammen und wir erkennen stückweise die Verstrickungen der Dorfbewohner, erhalten Hinweise auf die Vergangenheit der Mutter und das Schicksal Gonzalos und seiner Familie. Die Programmierung von El Gurί in Generation 14plus könnte in Frage gestellt werden und einzelne junge Zuschauerinnen und Zuschauer waren mit diesem Film möglicherweise überfordert. Ein Eindruck, der sich verstärkte, als der zehnjährige Darsteller Maximiliano Garcίa am Ende der Vorführung mit Tränen in den Augen neben dem Regisseur auf die Bühne trat, nachdem er den Film in Berlin zum ersten Mal gesehen hatte. Wie seine Filmfigur Gonzalo erfuhr er erst allmählich die ganze Wahrheit der Geschichte und war davon tief ergriffen. Andererseits ist dies aber auch eine Bestätigung dafür, dass El Gurί in der Tat zu den bemerkenswertesten und beeindruckendsten Beiträgen des diesjährigen Festivals zählte.
Bruder und Schwester – Märchensymbolik mit Fantasy
Im US-amerikanischen Film One & Two ist das Modell der hermetisch abgeriegelten Welt wohl am drastischsten und plakativsten zu finden. Die Geschwister Eva und Zac leben mit ihren Eltern auf einem isolierten Bauernhof ohne Strom, Maschinen und moderne Technik. Alles mutet zuerst wie eine historische Geschichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts an. Die Familie bewirtschaftet Hof und Felder per Handarbeit, die Wägen werden von Pferden gezogen. Dass hier etwas nicht stimmt, wird nur langsam deutlicher: Hoch oben am Himmel fliegen Jets vorüber und der Vater versucht verbissen, permanent alles unter Kontrolle zu halten. Das naturalistische Ambiente wird zudem durch eine mystische Komponente durchbrochen, denn Eva und Zac haben die übernatürliche Fähigkeit, sich kurzzeitig in Staub zu verwandeln und in Sekundenbruchteilen an anderer Stelle wieder zu erscheinen. Von dieser Eigenschaft machen die beiden vor allem nachts Gebrauch, wenn sie heimlich das Elternhaus verlassen, um in der Natur zu toben oder in den Himmel zu schauen. Die Landschaft, in der die Familie lebt, ist von einer hohen, unüberwindbaren Holzmauer umgeben. Niemand scheint zu wissen, was sich hinter der mysteriösen Grenze verbirgt. Der vermeintlich romantische Ort wird zum Schauplatz dramatischer Ereignisse und zunehmender Tyrannei des Vaters. Die Situation eskaliert weiter, als der Vater hinter Evas und Zacs nächtliche Ausflüge kommt. Strenge Strafen für die beiden Kinder sind die Folge. Gleichzeitig leidet die Mutter an einer unerklärlichen Krankheit. Das bisherige Leben der Familie gerät völlig aus den Fugen, als die Mutter stirbt. Streckenweise hochspannend hat Regisseur Andrew Droz Palermo die Geschichte inszeniert. Die Story changiert dabei zwischen der ländlichen Idylle, den Gewaltexzessen des Vaters gegen die Kinder und der Fantasy-Ebene. Allerdings zeigt die Dramaturgie deutliche Schwächen, indem angedeutete Erzählstränge nicht hinreichend durchdacht sind, offene Fragen unbeantwortet bleiben und selbst die Märchensymbolik schablonenhaft bleibt. Umso mehr wirken die teils gewalthaltigen Szenen, in denen der Vater die Kinder bestraft, übertrieben und für das junge Publikum möglicherweise belastend. Als eine Botschaft des Films könnte gelten, dass vieles im Leben durch Zufall und Schicksal entschieden wird. Doch dies ist bei der komplexen Exposition der Geschichte am Ende zu wenig. Durchaus schade, denn es gibt zahlreiche Szenen, die visuell und akustisch ausgesprochen gelungen sind. Vor allem die Kamera von Autumn Cheyenne Durald und der Score von Nathan Halpern wissen insgesamt zu überzeugen. Leider zerfällt die Klimax im Showdown durch den Einsatz eines völlig aus dem Rahmen fallenden Popsongs.
Tristesse der Vororte – perfekte Kulisse für ein schrilles Jugenddrama
Eröffnet wurde die Jugendfilmreihe GENERATION 14plus mit Prins (Prinz), dem beeindruckenden Spielfilmdebüt des Niederländers Sam de Jong. In einem sich mehr und mehr beschleunigenden Erzähltempo und grellen, teilweise in Visionen eines beklemmenden Drogenrausches getauchten Bildern, wirft der Autor und Regisseur de Jong ein verstörendes Bild der Situationheutiger Jugendlicher in den vom Wohlstand abgekoppelten Vorstädten westlicher Industrienationen. Genauer gesagt, bilden die tristen Wohnfabriken am Ortsrand von Amsterdam die ideale Kulisse für seine mit Laiendarstellerinnen und -darstellern inszenierte Leidens- und Heldengeschichte des Jugendlichen Ayoub. Hier lebt er zusammen mit seiner Halbschwester Demi und seiner frustrierten, depressiven Mutter in einer kleinen Wohnung. Mit seinen halbwüchsigen Freunden hängt er oft im Viertel ab und besucht hin und wieder seinen drogenabhängigen, obdachlosen Vater, der ihn um Geld anbettelt. Die Situation eskaliert, als sich Ayoub mehr und mehr in die hübsche Laura verliebt, die jedoch mit dem älteren, gewalttätigen Franky liiert ist. Um aus der Geschichte heil herauszukommen, sucht Ayoub fatalerweise den Kontakt zu dem bizarren Schwerverbrecher Kalpa. Zwar streift der Film ironisch mit all diesen teils klischeehaften Story-Zutaten die Grenze zum Sozialkitsch, aber dennoch vermag de Jong durch die unsentimentale und packende, immer dichter und drastischer werdende Erzählweise zu fesseln und zunehmend Spannung zu erzeugen. Vielleicht gelingt es dem Film damit sogar, Verständnis für die soziale, finanzielle und emotionale Situation dieser Jugendlichen zu erzeugen, die aus den Verhaltensmustern behüteter Mittelschichtsjugendlicher herausfallen. Zu Recht erhielt Prins eine lobende Erwähnung der Jugendjury.
Paper Planes (Papierflieger)
Australien 2014, 97 Min.
Regie und Buch: Robert Connolly
Darsteller: Ed Oxenbould (Dylan), Sam Worthington
(Jack), Ena Imai (Kimi), Nicholas Bakopoulos-Cooke
(Jason), Julian Dennison (Kevin)
Produktion: Arenamedia (Melbourne), Weltvertrieb:
Arclight (Los Angeles)
Kar Korsanları (Schneepiraten)
Türkei 2014, 83 Min.
Regie und Buch: Faruk Hacıhafızoğlu
Darsteller: Taha Tegin Özdemir (Serhat), Yakup
Özgür Kurtaal (Gürbüz), Ömer Uluç (İbo), Yücel Can
(Deli Durdağı), Isa Mastar (Cesur Cello)
Produktion: Kars Film (Istanbul), Weltvertrieb: noch
offen
You’re Ugly Too (So wie ich bin)
Irland 2014, 81 Min.
Regie und Buch: Mark Noonan
Darsteller: Lauren Kinsella (Stacey), Aidan Gillen
(Will), Erika Sainte (Emilie), George Pistereanu
(Tibor)
Produktion: Savage Production (Dublin), Weltvertrieb:
Picture Tree International (Berlin)
Min Lilla Syster (Stella)
Schweden/Deutschland 2015, 95 Min.
Regie und Buch: Sanna Lenken
Darsteller: Rebecka Josephson (Stella), Amy Deasismont
(Katja), Annika Hallin (Karin), Henrik Norlén (Lasse),
Maxim Mehmet (Jacob), Ellen Lindbom (Iga)
Produktion: Tangy (Stockholm), Weltvertrieb: Wide
(Paris)
El Gurί (The Kid)
Argentinien 2015, 88 Min.
Regie und Buch: Sergio Mazza
Darsteller: Maximiliano Garcίa (Gonzalo), Sofίa Gala
Castiglione (Lorena), Daniel Aráoz (Julio), Susana
Hornos (Alicia)
Produktion: Masa Latina (Victoria, Entre Rίos),
Weltvertrieb: Fandango (Rom)
One & Two
USA 2015, 91 Min.
Regie und Buch: Andrew Droz Palermo
Darsteller: Kiernan Shipka (Eva), Timothée Chalamet
(Zac), Grant Bowler (Vater), Elizabeth Reaser
(Mutter)
Produktion: One & Two / Bow & Arrow (Los Angeles),
Weltvertrieb: Protagonist Pictures (London)
Prins (Prinz)
Niederlande 2015, 78 Min.
Regie und Buch: Sam de Jong
Darsteller: Ayoub Elasri (Ayoub), Jorik Scholten
(Franky), Achraf Meziani (Achraf ), Oussama Addi
(Oussama), Elsie De Brauw (Ayoubs Mutter), Sigrid
Ten Napel (Laura), Olivia Lonsdale (Demi), Chaib
Massaoudi (Ayoubs Vater)
Produktion: 100% Halal (Amsterdam), Weltvertrieb:
Mongrel International (Toronto) - Markus Achatz/Michael Bloech: Annäherung an die Wirklichkeit
Markus Achatz/Michael Bloech: Annäherung an die Wirklichkeit
Die diesjährige Berlinale hatte ein stark von deutschen Filmen geprägtes Profil. Immerhin waren gleich vier deutsche Produktionen im Wettbewerbsprogramm vertreten, darunter die vom Fachpublikum erstaunlich wohlwollend aufgenommene filmische Adaption des Michel Houllebecq Romans „Elementarteilchen“ von Oskar Roehler. Das mit überraschend viel Fördermitteln ausgestattete Werk verliert sich, trotz exquisitem Staraufgebot, in effekthascherischer Oberflächlich- und Belanglosigkeit. Ebenfalls hohe Beachtung fand „Der freie Wille“ von Matthias Glaser, der sich mit der bedrückenden Biografie eines Sexualstraftäters befasst. Hier beeindruckt und erschreckt vor allem das intensive Spiel von Jürgen Vogel in der Rolle des monströsen Gewaltverbrechers Theo, der die Zuschauenden ständig auf dem schmalen Grat zwischen Identifikation, Mitleid und Verachtung wandeln lässt.
Daneben gab es aber auch wesentlich „leisere“ Filme, die dafür aber einen intensiveren Blick in den aktuellen, bundesrepublikanischen Alltag gewährten, so zum Beispiel der Film „Sehnsucht“ von Valeska Grisebach. Nahezu dokumentarisch erzählt der Film eine bekannte und dennoch interessante, melodramatische Liebesgeschichte aus der Provinz. Unaufgeregt und in ruhigen, streng durchkomponierten Bildern erzählt der Film die Geschichte einer ganz normalen, durchschnittlichen Handwerkerfamilie in dem kleinen 200-Seelendorf Zühlen in Brandenburg. Von den Nachbarn beneidet und ebenso misstrauisch beäugt, entspricht das junge Paar äußerlich dem Idealbild einer liebevollen Beziehung, ihr privates Glück scheint unerschütterlich. Ella arbeitet tagsüber als Haushaltshilfe und singt abends im Gemeindechor, Markus betreibt einen kleinen Schlossereibetrieb und engagiert sich in seiner Freizeit im Dorf bei der freiwilligen Feuerwehr. In kleinen, unwillkürlich anmutenden Gesten spürt man die ungeheuere Nähe zwischen Markus und Ella. Hier wird nichts zerredet, die Kommunikation zwischen den beiden erschließt sich aus ihren Blicken oder sanften Berührungen. Als Markus jedoch mit seinen Freunden zu einer Weiterbildung der freiwilligen Feuerwehr in den nächsten größeren Ort fährt, nimmt die Tragödie ihren Lauf. Der junge Mann geht in einer, durch Alkohol geprägten Nacht, eine Affäre mit der Kellnerin Rose ein und bewegt sich danach zwischen beiden Frauen. Getrieben von Schuldgefühlen und in grenzloser Verzweiflung und Einsamkeit richtet Markus schließlich seine Schrotflinte auf seine Brust. Die mit Laiendarstellern besetzte Geschichte bezieht dabei ihre Stärke und emotionale Tiefe aus den glaubwürdigen Figuren und der spröden, dörflichen Umgebung, die eben nicht einer verkrampften Künstlichkeit oder einem hochglanzpolierten Setting entspringt. Valeska Grisebach scheint die Story direkt aus der Wirklichkeit Brandenburgs gerissen zu haben.
Mit einem ähnlich ästhetischen Anspruch zeigt der 37-jährige Regisseur Henner Winckler in „Lucy“ das Leben der 18-jährigen Berlinerin Maggy. Sie hat die Schule geschmissen und sich von dem Vater ihrer 8 Monate alten Tochter Lucy getrennt. In einer Disco lernt Maggy Gordon kennen, dem sie zunächst verschweigt, dass sie eine Tochter hat. Nach einem Streit mit ihrer Mutter, zieht Maggy samt Lucy zu Gordon, doch der kommt mit der kleinen „Familie“ nicht zurecht. Der Film ist langsam und in tristen Bildern erzählt. Wie auch im Leben von Maggy bleibt vieles fahl und selbst wenn die Sonne scheint, gibt es kaum Farben im Alltag. Mit dokumentarischem Auge führt Winckler einen unspektakulären aber authentischen Ausschnitt im Leben der 18-jährigen Mutter vor. Mittendrin steigen wir in das Portrait ein und ebenso abrupt endet der Film auch wieder. Doch wir wissen, da draußen geht alles genauso weiter. Ebenfalls durch Berlin, jedoch mit mehr Kinoeffekten, schickt uns Detlev Buck in „Knallhart“. Den 15-jährigen Michael und seine Mutter verschlägt es von Zehlendorf nach Neukölln, wo er die Härte des Lebens erfahren muss. Er wird von seinem Mitschüler Erol und dessen Gang abgezockt und schikaniert, bis ihn Drogenboss Hamal als Kurier anheuert und unter seinen Schutz stellt. „Opfer“ ist das schlimmste Schimpfwort der Gegend, doch das trifft im Laufe der Geschichte auch Erol selbst. Wie hoch das Risiko war, sich unter die Fittiche von Hamal zu begeben, wird Michael erst später klar. Detlev Buck hat den Film bestens recherchiert und zeigt eine Inszenierung, die sich nahe an seine Charaktere heranwagt. Trotzdem wird fleißig mit Klischees gespielt und einem ganzen Stadtteil der Ghetto-Stempel aufgedrückt. „Knallhart“ bleibt am Ende für das Publikum unbequem – und das ist vielleicht seine größte Leistung. Sei es dadurch, dass sich Bucks Hang zu Gags und der Anspruch „knallharte“ Kleinkriminellen-Reality darzubieten aneinander reiben oder sei es, weil nicht klar wird, warum er Jenny Elvers-Elbertzhagen als gar nicht mal schlecht gespielte Problemmutter besetzt hat. Der Blick des Intellektuellen auf die unbarmherzige Seite der Gesellschaft oder das Spiel mit der Lust am permanenten „Unterschätzt-Sein-Wollen“ derjenigen, die unterschätzt werden?
Elementarteilchen
Deutschland, 2005, 105 min
Regie: Oskar Roehler
Darsteller: Moritz Bleibtreu (Bruno), Christian Ulmen (Michael), Martina Gedeck (Christiane), Franka Potente (Anabelle), Nina Hoss (Jane), Uwe Ochsenknecht (Brunos Vater), Corinna Harfouch (Dr. Schäfer), Jasmin Tabatabai (Yogini)
Freier Wille
Deutschland, 2006, 163 min
Regie: Matthias Glasner
Darsteller: Jürgen Vogel (Theo), Sabine Timoteo (Nettie), André Hennicke (Sascha)
Sehnsucht
Deutschland, 2005, 90 min
Regie: Valeska Grisebach
Darsteller: Ilka Welz (Ella) , Annett Dornbusch (Rose), Andreas Müller (Markus)
Lucy
Deutschland 2006, 82 min
Regie: Henner Winckler
Darsteller: Kim Schnitzer (Maggy), Gordon Schmidt (Gordon), Feo Aladag (Maggys Mutter)
Knallhart
Deuschland 2005, 98 min
Regie: Detlef Buck
Darsteller: David Kross (Michael Polischka), Jenny Elvers-Elbertzhagen (Miriam Polischka), Erhan Emre (Hamal), Oktay Özdemir (Erol)
Beitrag aus Heft »2006/02: Medien in Familien - Familie in den Medien«
Autor: Markus Achatz
Beitrag als PDF - Markus Achatz: Das Kinderfilmfest der Berlinale
Markus Achatz: Das Kinderfilmfest der Berlinale
Die 50. Internationalen Filmfestspiele standen anlässlich des Jubiläums und des Umzugs zum neuen Austragungsort am Potsdamer Platz ganz im Zeichen eines Neuanfangs. Auch das Kinderfilmfest schwamm mit der Wahl des Zoo-Palasts als Erstaufführungskino für die Kinderfilme auf einer leichten Welle der Erneuerung. Dies erwies sich als gute Entscheidung und das Kinderfilmfest gelangte zu einer längst verdienten, erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit. Die chinesische Präsidentin der Wettbewerbs-Jury Gong Li eröffnete neben Berlinale-Chef Moritz de Hadeln das Kinderfilmfest und Bundestagspräsident Thierse lud zur Gala des Kinderhilfswerks ins Reichstagsgebäude.
Die zwölf abend-, besser „nachmittagfüllenden“ Spielfilme, sechs Kurzfilme und fünf Animationsfilme des Kinderfilmfests bestachen wieder durch eine einzigartige Vorführ-Atmosphäre. Die Erstaufführungen wurden vom zahlreich erschienenen Kinder-Publikum gerne angenommen.Im stimmungsvollen Premierenkino lieferte bereits der Eröffnungsfilm „Tzatziki, Mama und der Polizist“ nicht nur beste Unterhaltung für Kinder und Erwachsene, sondern bot gleich von Anfang an hohes cineastisches Niveau.
Die Preischancen des Films standen von der ersten Minute an im Raum, denn der Humor und die Cleverness des achtjährigen Tsatsiki brachten das Publikum sogleich auf seine Seite. Situationskomik reihte sich an nicht weniger mitreißende Gefühlsmomente und wurde stellenweise mit stürmischem Szenenapplaus honoriert. Nicht mal Milos Formans Komödie „Man on the Moon“ im Wettbewerb konnte mit vergleichbaren Publikumsreaktionen aufwarten.
Von der Leichtigkeit des Werdens
Als schwedisch-norwegisch-dänische Co-Produktion konnte bei Ella Lemhagens „Tzatziki“ schon mit traditionell gutem Kinderkino gerechnet werden. Dass der Film die Erwartungen noch übertraf, war um so erfreulicher. Tobias wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Alle nennen ihn Tsatsiki, worauf der Junge großen Wert legt, da sein Vater, den er niemals kennengelernt hat, Grieche ist. Tsatsiki wünscht sich sehnlichst mit seiner Mutter Tina einmal nach Griechenland zu fahren, um den Vater zu suchen. Tina und Tsatsiki verbindet eine liebevolle Mutter-Sohn-Beziehung. Die unkonventionelle Mutter spielt in einer Rockband Gitarre und stürmt schon mal mit ihrer energischen Art das Büro des Schuldirektors, weil ihr Sohn von einem älteren Mitschüler bedroht wurde. Tsatsiki freundet sich mit dem Motorradstreifen-Polizisten Göran an und da Tina aus finanziellen Gründen ein Zimmer vermieten will, zieht Göran kurzerhand bei Tsatsiki und seiner Mutter ein. Göran verliebt sich in Tina, und obwohl Tsatsiki lieber möchte, dass seine Mutter mit Göran als mit dem Bassisten der Band zusammen ist, hat er anfänglich Schwierigkeiten damit, seinen Freund mit seiner Mutter zu teilen. Tsatsiki als ein pfiffiger kleiner Bursche weiß sich im Großen und Ganzen durchzusetzen.
Als Tinas Träume, ein Livekonzert und ein Plattenvertrag, mit ihrer Band in Erfüllung gehen, gelingt es auch Tsatsiki sie von seinem Traum, der Reise nach Griechenland, zu überzeugen. Doch die Wirklichkeit ist anders als das idealisierte Vaterbild, das der Junge immer mit sich trug. Tsatsiki hat herausgefunden, daß er und Tina nicht mit dem Vater leben wollen, er ihn jedoch jederzeit besuchen kann. Sich seine Träume zu erfüllen kann manchmal sehr wichtig sein – vielleicht auch nur, um der Wahrheit ein bisschen mehr auf die Spur zu kommen.„Tsatsiki“ endet mit dieser stimmungsvollen Botschaft, die aber nicht mühelos erreicht werden konnte. Der Film strahlt trotz der Darstellung seiner realen, manchmal problembehafteten Alltagswelt in der Summe eine lebensfrohe Leichtigkeit aus, in der es auch in Zeiten neuerer Familien- und Lebenskonstellationen Raum für eine kindgemäße Umwelt gibt. Die Geschichte des achtjährigen Hauptprotagonisten rankt sich um verschiedene Stränge und Figuren seines kleinen Lebens und liefert den Zuschauerinnen und Zuschauern einen überschaubaren und dennoch verzweigten Mikrokosmos. Die Regisseurin beschränkt sich auf sparsame Bilder und gibt der Erzählung Zeit sich zu entwickeln. Die Filmlänge gibt dem Jungen Gelegenheit neben seinen Bindungen zur Mutter und zu Göran solche zu seinem Schulfreund, zur neuen Lehrerin, zu einer ihn umschwärmenden Klassenkameradin und letztlich zum fremden griechischen Vater aufzubauen, die alle auf ihre Weise den Zuschauer anrühren. Außer der Frische in der Darstellung wartet der Film mit Protagonisten auf, die ohne Anbiederung und ohne Klischeehaftigkeit als Menschen aus Fleisch und Blut auf ihre Weise mit den Nöten und Sorgen des Alltags konfrontiert und streckenweise bestens damit fertig werden. Ella Lemhagen ist es gelungen, auf der Basis des großartigen Drehbuchs von Ulf Stark gleichzeitig mehrere Facetten aus dem Leben eines achtjährigen Jungen in jeweils eigene Handlungsstränge einzubinden, die in außerordentlicher Weise zum Gesamtbild des Films beitragen. Die Filmemacherin beweist zudem Mut, die Geschichte mit unkonventionellen Protagonisten auszustatten, die bei aller Individualität keine Helden sein müssen, um etwas Besonderes sein zu können. Neben dem quirligen Samuel Haus in der Hauptrolle, spielt die wunderbare Alexandra Rapaport die Rolle der jungen Mutter. Beide transportieren glaubhaft die Freuden und Schlamassel einer „modernen“ Familie.
Im Gesamtfeld der Kinderfilmfest-Beiträge war die Überraschung nicht allzu groß, dass „Tsatsiki, Mama und der Polizist“ neben dem Gläsernen Bären der Kinderjury auch den großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks erhielt. Letzterer wurde ex aequo auch an den belgischen Kinderfilm „Mann aus Stahl“ vergeben.
Zeit zur Reife
Die belgische Produktion „Der Mann aus Stahl“ von Vincent Bal gehört zu den Filmen des Kinderfestivals, die sich – empfohlen ab 12 Jahren – eher an das jugendliche Publikum wenden. Victor ist 13 Jahre alt. Vor kurzem ist sein Vater gestorben und er fährt in den Ferien zu seinem Onkel und seiner Tante, die am Meer ein kleines Strandhotel führen. Der Aufenthalt dort erweist sich zur Überraschung Victors zunehmend als kurzweilig. Insbesondere die gleichaltrige Fania fasziniert ihn auf eine für ihn ganz neue Art und Weise. Victor weiß nicht so recht, wie er sich gegenüber dem sehr direkten Mädchen verhalten soll. In seinen tagtraumhaften Fantasien bewegt sich Victor als unverwundbarer „Mann aus Stahl“ durch eine imaginäre Weltraumwelt, in der er als Held allerlei Abenteuer besteht. Sein verstorbener Vater ist als Raumschiff-Commander stets an seiner Seite. Auch Fania taucht in den Träumen immer wieder auf. Der nahtlose Wechsel zwischen der Wirklichkeit und dem fantasierten Universum hilft Victor über den Tod seines Vaters ein wenig hinweg. Doch muss er auch feststellen, dass sich Probleme letztlich nicht durch Hinwegträumen lösen lassen. So beschließt er tatkräftig, seinem Onkel aus der Patsche zu helfen, der bei zwielichten Gangstern hohe Wettschulden hat. Und was er in der Realität herausfinden muss, kann Victor nur mit Fania zusammen durchführen: Wie es ist, wenn sich ein Junge und ein Mädchen küssen...Die Ästhetik der Fantasieabenteuer erinnert an alte Science Fiction-Serien. Die Kostüme und Gerätschaften wirken wie aus einer kindlichen Plastik-, Spiel- und Verkleidungswelt.
In Zeiten nahezu unbegrenzter tricktechnischer Möglichkeiten müssten die Abenteuervisionen des Jungen nicht unbedingt so simpel dargestellt sein. Doch zeigt sich im Verlauf des Films dieses scheinbare Manko als durchaus nachvollziehbares, dramaturgisches Mittel. Victor muss sich durch sein Heranreifen mehr und mehr aus dieser naiven, einfach gestrickten Spielzeugwelt lösen. Wie auch immer diese Darstellungsform entstanden sein mag, als Geniestreich oder aus einer Kompromissentscheidung heraus, wären die technischen Effekte zeitgemäß perfekt, sie würden - wie allzu häufig im Kino zu erleben ist - nur vom Fortgang der Erzählung ablenken.Der Film endet mit einer der schönsten Szenen des diesjährigen Kinderfilmfests: Fania und Victor stehen sich auf dem Bahnsteig gegenüber. Aus der Ferne werden sie vom Onkel und von Fanias Vater beobachtet. Schmunzelnd vereinbaren die beiden Erwachsenen eine Wette: Wer wird wen zuerst küssen?
Leben, Sterben und Magie
Kinderfilme, die sich mit Tod und Sterben beschäftigen, finden sich in den letzten Jahren insbesondere auf Festivals immer wieder. In diese Tradition - „Der ganze Mond“ (Kanada, Neuseeland 1995) von Ian Mune, „Ponette“ (Frankreich 1996) von Jacques Doillon oder „Danny’s Mutprobe“ (Frankreich, Neuseeland 1997) von Bob Swaim - lässt sich auch „Das Geheimnis des Mr. Rice“ von Nicholas Kendall einreihen. Der zwölfjährige Owen ist krebskrank und leidet stark unter der Angst vor dem Sterben. Die Freundschaft zu seinem geheimnisvollen Nachbarn Mr.Rice ist ihm eine große Hilfe, um gegen seine Ängste und die aufkommende Mutlosigkeit anzukämpfen. Als Mr.Rice (gespielt von Popstar David Bowie) plötzlich stirbt, fühlt sich Owen verlassen und verraten. Mr.Rice hatte viel von der Zukunft gesprochen und jetzt Aussagen wie „It’s what you do in life that counts“ eine positive Bedeutung zuzumessen, fällt dem Jungen nun schwerer denn je. Als Owen mit seinen Freunden heimlich Nachts im Haus von Mr.Rice stöbert, findet er einen an ihn gerichteten versiegelten Brief. Mit dieser verschlüsselten Botschaft beginnt ein spannendes und schwieriges Rätsel, dessen Lösung mit Owens Leben zu tun haben muss.
Mit Hilfe eines geheimnisvollen Zauberrings, den er vom Nachbarn einmal bekommen hatte und dem Videoband, das Owen von Mr. Rices Beerdigung gemacht hat, lüftet der Junge das „Geheimnis des Mr. Rice“. Dieser wurde dank eines rätselhaften Lebenselixiers (ein dampfender phosphoreszierender Zaubertrank) um die vierhundert Jahre alt. Dieser Heiltrunk steht nun Owen zur Verfügung. Doch wird dieser nicht unmittelbar zum Zaubermittel gegen die Krankheit. Die Tatsache, um die Wirkung der Flüssigkeit zu wissen, weckt in Owen den Lebensmut und er fühlt sich so gut wie nie zuvor. Allein dadurch werden seine Blut-Werte stetig besser und er verabreicht den Trank einem gleichaltrigen Leidensgenossen, dessen Kampf gegen die Krankheit verloren scheint.
Bei aller Realitätsbezogenheit von Owens schicksalhafter Krankheit überrascht der im Verlauf der Geschichte zunehmende Einsatz von Märchen- und Fantasy-Elementen. Mr.Rice scheint Owen mit seinem Rätselrennen mehr zu schikanieren als ihm wirklich eine Hilfestellung zu bieten. Und, dass Owen voller Selbstzweifel immer und immer wieder zu Mr.Rices Grab läuft und mit seinem Schicksal hadert ist zwar nachvollziehbar, aber lässt die Geschichte doch sehr auf der Stelle treten.
Nicholas Kendall hat sich mit seinem Film auf eine Gratwanderung begeben. Dabei rutscht sein Bild der Realität doch gelegentlich zu sehr ins Klischeehafte ab. Dennoch scheint er am Ende noch die Kurve zu kriegen und fängt den aus der Geschichte abdriftenden Zuschauer gerade nochmal auf. Er entlässt sein Publikum mit dem Gefühl, einen anrührenden und hoffnungsfrohen Film gesehen zu haben. Das Gelingen dieser Gratwanderung ist wohl der Grund, dass die elfköpfige Kinderjury den Film mit einer lobenden Erwähnung bedacht hat. Der Film ist demnach „eine ungewöhnliche und spannende Geschichte mit sehr guten Schauspielern, toller Musik und faszinierenden Schnitten“. Einen beträchtlichen Anteil an der Qualität des Films hat mit Sicherheit der junge Bill Switzer, der als Owen eine bewundernswerte schauspielerische Leistung abliefert und problemlos neben David Bowie besteht.
Das Geheimnis des Mr. Rice(Mr. Rice’s Secret)
Regie: Nicholas Kendall - Buch: J.H. Wyman - Kamera: Gregory Middleton - Musik: Simon Kendall, Al Rodger - Darsteller: David Bowie (Mr. Rice), Bill Switzer (Owen) - Produktion: Kanada (New City Productions) 1999 - Länge: 92 Minuten
Der Mann aus Stahl (Man van Staal)
Regie und Buch: Vincent Bal - Kamera: Glynn Speeckaert - Musik: Wim De Wilde - Darsteller: Ides Meire (Victor), Charlotte De Ruytter (Fania), Peter Gorissen (Onkel Rick), Katelijne Damen (Tante Jeanne) - Produktion: Belgien (Favourite Films) 1999 - Länge: 85 Minuten
Tzatziki, Mama und der Polizist (Tsatski, Morsan och Polisen)
Regie: Ella Lemhagen - Buch: Ulf Stark - Kamera: Anders Bohman - Musik: Popsicle - Darsteller: Samuel Haus (Tsatsiki), Alexandra Rapaport (Tina), Jacob Ericksson (Göran), George Nakas (Vater) - Produktion: Schweden, Norwegen, Dänemark (Felicia Film AB) 1999 - Länge: 91 Minuten
Beitrag aus Heft »2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Markus Achatz
Beitrag als PDF - Markus Achatz: Fragen nach dem wahren Sein
Markus Achatz: Fragen nach dem wahren Sein
Das 29. Kinderfilmfest der Berliner Filmfestspiele 2006 fand zurecht große Beachtung bei Publikum, Fachpresse und Filmschaffenden. Zwölf Spielfilme und 21 Kurzfilme aus 26 Ländern bildeten ein internationales, qualitativ zum Teil sehr hochwertiges Programm. Thomas Hailer, Leiter des Kinderfilmfests, bewies bei der Auswahl der Filme in diesem Jahr wiederum Mut zu nachdenklichen Stoffen. Der polnische Beitrag „Jestem“ („Ich bin“) von Dorota Kędzierzawska ist ruhiges und trauriges, jedoch großartiges Kinder- und Jugendkino. Die Filmemacherin und ihr brillanter Kameramann Arthur Reinhart begeisterten bereits 1995 auf der Berlinale mit dem Film „Wrony“ („Krähen“). Die anrührende Geschichte eines Mädchens, das ein jüngeres Mädchen entführt und mit diesem umherzieht, war in fantastischen Farben und Bildern erzählt und erhielt unzählige Preise. Mit „Jestem“ kommt ein neues Meisterwerk. Artur Reinhart hat den Film auch produziert. Der 11-jährige Kundel ist aus dem Kinderheim abgehauen. „Bist wieder zurück?“ wird er wie nebenbei in seinem Heimatort gefragt. „Ja, bin ich“, antwortet der Junge und doch interessiert sich niemand wirklich dafür. Am wenigsten seine Mutter, die stößt ihn umso weiter weg, je näher er ihr kommt. Irgendwo am Flussufer kommt Kundel auf einem alten Schiff unter – zwar zurück in seiner Heimatumgebung, aber nicht dort, wo er Liebe findet oder sich zu Hause fühlen kann. Allmählich freundet er sich mit der gleichaltrigen Tochter einer reichen Familie an, die nahe des alten Kahns wohnt. Das Mädchen kann sich selbst und das Leben nicht gut leiden, aber beide verbindet die Suche nach Zuneigung, Glück und einem festen Platz im Leben. Allmählich entwickelt sich eine behutsame Beziehung zwischen den Kindern. Es gelingt nur sehr selten, dass kindlichen Protagonisten in Filmen so viel Empathie entgegen gebracht wird wie in den Werken von Dorota Kędzierzawska. In „Wrony“ und in „Jestem“ handeln die Kinder ganz aus sich heraus. Sie äußern sich manchmal unkonventionell und treffen Entscheidungen, die sich aus kindlicher Denkweise ergeben. Nur in der völligen Absenz der Erwachsenenwelt finden sich Momente voller Harmonie und Frieden. Von den Erwachsenen gehen Bedrohungen und Enttäuschungen aus. Die diskriminierende Frage eines Polizisten, warum Kundel überhaupt leben würde, rahmt den Film ein. Im Zentrum von allem steht die Antwort des Jungen: „Weil ICH BIN!“
Auf den Internetseiten www.jungejournalisten.berlinale.de hatten junge Zuschauer die Möglichkeit, tagesaktuell über die Berlinale zu berichten. Die 13-jährige Sophie Merrison schrieb dort über „Jestem“: „Einer der besten Filme, die ich jemals gesehen habe. Er basiert auch auf einer wahren Geschichte, was ihn noch echter wirken lässt. Ein Film zum Weinen und zum Nachdenken, der einem tief ins Herz geht.“Die dänisch-britische Co-Produktion „Drømmen“ („Der Traum“) gewann den Gläsernen Bären der 11-köpfigen Kinderjury des Kinderfilmfests. Der Film führt uns an die Küste Dänemarks im Sommer 1969. Der Bauernsohn Frits ist wie alle seine Mitschüler der Tyrannei des diktatorischen Schulleiters ausgesetzt. Als Frits vom Direktor beinahe ein Ohr abgerissen wird, verändert sich für den Jungen vieles. Mit Hilfe seiner Eltern versucht er gegen den Despoten anzugehen. Auch vom neuen und so andersartigen Lehrer Freddie, der das aufgeknöpfte Hemd lässig über der Hose trägt, bekommt Frits Unterstützung. Martin Luther Kings berühmte Rede, in der er seinen großen Traum erzählt, ist der Motor für seine Energie, denn auch der Junge hat Träume, in denen die Welt gerechter werden soll. Doch der Direktor hat viel Macht und Personen, die ihm den Rücken stärken. Auch Freddie merkt, dass es nicht leicht ist, gegen Autorität und alte Strukturen anzukommen. „Drømmen“ ist ein Film über das bewusste Empfinden von Unrecht und die Kraft, sich dagegen aufzulehnen, auch wenn es aussichtslos erscheint. Die Botschaft des Films geht dabei weit über eine Romantisierung der Hippiezeit hinaus. Die sehr persönliche Geschichte von Frits, der sich große Sorgen um seinen kranken Vater macht, der nicht ertragen kann, wenn am Hof die Schweine zum Schlachten abgeholt werden oder den seine Gefühle für Iben verwirren, wird auch zu einer Geschichte über das Aufbrechen verhärteter gesellschaftlicher Strukturen und damit über Politik und Zivilcourage. Bei allem Idealismus müssen die Hauptfiguren in „Drømmen“ manche Träume aber auch aufgegeben und erleben die Grenzen des Machbaren. Regisseur Niels Arden Oplev versteht sich hervorragend auf das Wechselspiel von Spannung und Entspannung. Dankbar beteiligten sich die jungen Zuschauer mit ihren Emotionen und honorierten die Geschehnisse mit Szenenapplaus.
Jestem (Ich bin)
Polen 2005, 97 min
Regie: Dorota Kędzierzawska
Darsteller: Piotr Jagielski (Kundel), Agnieszka Nagorzycka (Marble), Edyta Jungowska (Kundels Mutter), Basia Szkaluba (Marbles Schwester). Empfohlen ab 12 Jahren#
Drømmen (Der Traum)
Dänemark, Großbritannien 2005, 105 min
Regie: Niels Arden Oplev
Darsteller: Janus Dissing Rathke (Frits), Anders W. Berthelsen (Freddie)Bent Mejding (Direktor Lindum-Svendsen), Sarah Juel Werner (Iben). Empfohlen ab 10 Jahren
Beitrag aus Heft »2006/02: Medien in Familien - Familie in den Medien«
Autor: Markus Achatz
Beitrag als PDF - Markus Achatz: Glamour und Qualität auf der Berlinale 2003
Markus Achatz: Glamour und Qualität auf der Berlinale 2003
Auffällig viele Beiträge der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2003 beschäftigten sich mit den tragischen und komplizierten Momenten des alltäglichen Zusammenle-bens der Menschen. Studien der Zerrissenheit von Beziehungen und der Suche nach Glück – insbesondere unter den Bedingungen von Ein-Eltern-Familien – waren in den unterschiedlichsten Sparten zu finden. Viele der filmischen Erzählungen sind im Alltag angekommen und stellen sich stärker denn je realistischen Problemen und deren Lösungsversuchen. Jeweils zwei Filme beeindruckten in den ambitionierten Programmbereichen Panorama und Kinderfilmfest ganz besonders. Gebrochene Flügel und kalte HerzenDer israelische Film „Knafayim Shvurot“ („Broken Wings“) aus dem Panorama ge-wann nicht nur zahlreiche Wettbewerbe im eigenen Land und den Grand Prix des International Film Festivals Tokio, sondern auch drei Preise auf der Berlinale. Neben dem begehrten Panorama-Publikumspreis erhielt das Portrait einer israelischen Mittelschichtsfamilie noch den Preis des Internationalen Verbandes der Filmkunsttheater (C.I.C.A.E.) sowie den Preis der Kirchen der ökumenischen Jury. Dafna Ulmann lebt mit ihren vier Kindern in der israelischen Hafenstadt Haifa.
Vor kurzem ist ihr Mann gestorben und die Familie steht noch unter dem Einfluss des Schocks und der ökonomischen Nöte, die der Tod des Vaters mit sich brachte. Die 17-jährige Maya ist die Älteste und muss zur Entlastung der Mutter die Verantwor-tung für ihre drei Geschwister mit übernehmen. Auf ihren Bruder Yair, der nur wenig jünger ist, kann sie sich derzeit überhaupt nicht verlassen. Er hat die Schule hinge-schmissen und jobbt als Verteiler von Werbeprospekten. In der Anfangssequenz ist Maya im Bühnen-Outfit für den langerwarteten Auftritt mit ihrer Rockband gekleidet. Auf ihrem Rücken sind Engelsflügel befestigt. Den Song, den sie mit ihren Freunden auf einem Festival vortragen soll, hat sie selbst geschrieben. Doch ein Anruf der Mut-ter zwingt sie, noch vor dem Auftritt nach Hause zu fahren. Sie muss auf die 5-jährige Schwester Bar und den 10-jährigen Bruder Ido aufpassen. Maya wird zur Hauptpro-tagonistin der Geschichte und der Familie. Sie hasst die Mutter für die Notanrufe, obwohl sie weiß, dass sie ihr in der Überforderung beistehen muss. Yair scheint aus-schließlich mit sich selbst beschäftigt zu sein, die kleine Bar fürchtet sich vor der Schule und Ido denkt sich ständig neue Mutproben aus. Wie weit die Familie vom normalen Alltag entfernt ist, wird deutlich, als Ido sich in einen leeren Swimmingpool stürzt. Anhand der zunächst episodischen Inszenierung entwickelt Regisseur Nir Bergman ein realistisches und bewegendes Drama einer plötzlich entwurzelten Fami-lie. Die Schilderung des traumatisierten Alltags der einzelnen Familienmitglieder er-gibt ein in sich stimmiges und eindringliches Gesamtwerk.
Bergman bringt uns die wachsende Isolierung der einzelnen Familienmitglieder nahe und verdeutlicht damit umso mehr das Bedürfnis und die Notwendigkeit familiärer Geborgenheit. Noch rigoroser als in „Broken Wings“ wird im kanadischen Film „Flower & Garnet“ die ältere Tochter in eine Mutterrolle gedrängt. Flower ist 16, ihr Bruder Garnet ist 8 Jah-re alt. Bei Garnets Geburt ist die Mutter gestorben und Vater Ed hat ihren Tod nie verkraftet. Die Beziehung zu seinen Kindern ist von diesem Drama geprägt und Ed ist kaum in der Lage sich auch emotional um die Kinder zu kümmern. Flower hat zu-nehmend das Gefühl, in ihrer Rolle als Garnets Ersatzmutter vom Vater ausgenützt zu werden. Als sie von ihrem ersten Freund schwanger wird, verlässt sie nach einem heftigen Streit das Haus. Eds gestörte Beziehung zu Garnet vermag er einzig da-durch zu verbessern, dass er dem 8-Jährigen ein Luftgewehr schenkt. Der Junge lernt schnell mit der Waffe zu treffen und bekommt dadurch die ungewohnte Aner-kennung seines Vaters. Als Garnet eines Tages mit Eds Pistole verschwunden ist, scheint sich eine Tragödie anzubahnen. Der 39-jährige Regisseur Keith Behrman schafft in seinem Spielfilmdebüt eine be-klemmende Atmosphäre. Der Vater tritt seinen Kindern gegenüber autoritär, aber nicht tyrannisch auf. Vielmehr ist er verbittert und mürrisch, Garnet gegenüber nahe-zu ignorant. Alles was an emotionaler Fürsorge im familiären Haushalt stattfindet, läuft über Flower. Mehr und mehr merkt die 16-Jährige aber, dass sie sich auch um ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen kümmern muss, womit Garnet nicht ohne weiteres zurecht kommt. Er fühlt sich für den Tod der Mutter während seiner Geburt verantwortlich und wird nun auch von Flower verlassen, die ein Kind erwartet.
Für Garnet ist sein Leben wie ein aussichtsloser Kampf gegen eine kalte Welt. Der Schauplatz des öden, wolkenverhangenen kanadischen Hinterlands unterstützt diese Perspektive und ermöglicht dem Film die Gratwanderung zwischen bedrohlichen und zarten Stimmungen. Vom Irrsinn des Krieges am Rande des Krieges Zwei Filme an der Grenze der Zuordenbarkeit zum Bereich „Kinderfilm“, die aber dennoch die Themen des diesjährigen Kinderfilmfests widerspiegeln, sind „Carols Reise“ und „Miss Entebbe“. Auch im Kinderfilm überwiegten dieses Jahr die ernste-ren Stoffe. Thomas Hailer, der neue Leiter des Kinderfilmfests, betont, „dass Filme rund um den Globus verstärkt den realen Alltag der Kinder als Thema aufgreifen Der Trend zu phantastischen Stoffen bleibt ungebrochen, sie stehen aber immer mehr in realen Bezügen“. Die Bedrohungen und Schwierigkeiten, die Heranwachsende im Alltag zu meistern haben, sind zwar keine speziellen Phänomene unserer Zeit, aber in der Form ihrer Inszenierung brisant und erschütternd aktuell. Das thematische Gewicht liegt deutlich auf Filmen, die Kinder in Situationen des „Auf-sich-selbst-gestellt-seins“ zeigen oder sie mit der Abwesenheit der Eltern und Verlassensängs-ten konfrontieren. „Carols Reise“ spielt Ende der 30er Jahre am Rande des spanischen Bürgerkriegs und schildert in drastischen Momenten das Hineinreichen politischer Konflikte und Krisen in Familienstrukturen. Die 12-jährige Carol reist zum ersten Mal in ihrem Le-ben mit ihrer Mutter in deren spanischen Geburtsort. Die Familie hat in New York gelebt und Carols amerikanischer Vater kämpft als Pilot bei den internationalen Bri-gaden. Das Mädchen steckt voller Energie und lässt sich auch von den frechen Dorf-jungen nicht unterkriegen. Im Gegenteil: mit ihrem starken Willen und ihrer cleveren Art verschafft sich Carol deren Bewunderung. Zum gleichaltrigen Tomiche entwickelt sich eine zarte und tiefe Freundschaft. Als Carols Mutter an den Folgen einer lange verborgenen Krankheit stirbt, überredet das Mädchen ihren Großvater, den Tod ge-genüber dem Vater zu verschweigen, um diesem nicht die Kraft für den Krieg zu rau-ben. Auf dem Land ist Carol zwar vor dem Krieg sicher, nicht jedoch vor den damit verbundenen Kontroversen. Zunehmend fanatisch steht die gutbürgerliche Familie auf Seiten Francos – mit Ausnahme des Großvaters, der deshalb zahlreichen Be-schimpfungen ausgesetzt ist. In einer anrührenden Szene überfliegt der Vater unter Lebensgefahr das Dorf mit seiner Militärmaschine und wirft zu Carols Geburtstag ein Geschenkpaket ab.
Als die Republikaner den Krieg verlieren, ist Carols Vater auf der Flucht und findet Unterschlupf im Dorf. Beim Versuch den Vater zu retten, wird irrtümlich Tomiche von einer Verfolgerkugel getroffen und stirbt. Für Carol ist die Reise damit noch nicht zu Ende. „El Viaje de Carol“ ist ein Beispiel für Filme, die sich nicht vor der radikalen Darstellung von Tragödien scheuen. Trotzdem findet das Publikum immer wieder zu hoffnungsvollen Augenblicken zurück und nährt sich an der behutsam optimistischen Energie der Hauptfigur. Die spanisch-portugiesische Koproduktion erinnert in der verhalten lebensbejahenden Botschaft ein wenig an Roberto Benignis „Das Leben ist schön“. Möglicherweise spielt es auch eine Rolle, dass Regisseur Imanol Uribe aus El Salvador stammt und dadurch zum einen die besondere Sensibilität in der Inszenierung der Reise Carols nach Spanien aufbringt, zum anderen auch die individuellen Schicksale eines (Bürger-)Kriegs darzustellen vermag. Etwas zeitnäher, jedoch ebenso voller Tragik und Authentizität, begegnet uns „Miss Entebbe“, der erste abendfüllende Spielfilm des israelischen Regisseurs Omri Levy. Levy war Studienkollege von Nir Bergman an der Sam Spiegel Film and Television School in Jerusalem. Wie Imanol Uribe (den spanischen Bürgerkrieg) nutzt auch der israelische Regisseur bei „Miss Entebbe“ ein historisches Ereignis als Exposition sei-ner Geschichte. 1976 wird ein Passagierflugzeug von Palästinensern nach Enteb-be/Uganda entführt. An Bord befindet sich auch die Mutter eines Jungen aus der Nachbarschaft. Das Teenagermädchen Noa und ihre Freunde Yoav und Dany fühlen sich aufgerufen, selbst aktiv zu werden. Mit einer Maschinenpistole, die Yoav seinem Vater entwendet, entführen die drei einen palästinensischen Nachbarjungen. Sie machen Erpresserfotos von dem geknebelten Kind und übermitteln diese an die Presse.
Während das Ultimatum der Flugzeugentführer näher rückt und nichts über das Verschwinden des Jungen in den Nachrichten kommt, stellt Noa allmählich fest, dass sie diesen eigentlich sehr nett findet. In einer Schlüsselszene stürzt Noa mit ihrer Geisel in ein Kellerloch. Die beiden müssen sich nun gegenseitig helfen. Der arabische Junge reicht seiner Entführerin die Hand, um sie heraus zu ziehen. In die-ser Geste konzentriert der Filmemacher den Wahnsinn alltäglicher Gewalt und zeigt, wie stark diese mit dem täglichen Leben in Israel verknüpft ist. Alle diese Filme zeigen auf unterschiedliche Weise eine radikale und schonungslose Welt, in der sich die Heranwachsenden zurecht finden müssen. Die kindlichen und jugendlichen Protagonisten werden dabei jedoch nicht zu passiven Opfern degra-diert, sondern kommen durch das Festhalten an eigenen Werten in die Lage sich selbst, aber auch anderen weiter zu helfen. Filme sollen und dürfen das Publikum unterhalten. Filme, die aber zusätzlich etwas zu sagen haben, die Plädoyers sind für Freundschaft und Zusammenhalt, die starke Mädchenfiguren zeigen – wie Maya, Flower, Carol oder Noa – sind leider selten. Auf sie kann man nie genug aufmerksam machen. (den vollständigen Artikel finden Sie in merz 2003/02, S. 99-105)
- Markus Achatz: Herausragende Filme beim Berlinale-Kinderfilmfest
Markus Achatz: Herausragende Filme beim Berlinale-Kinderfilmfest
Bei den 52. Internationalen Filmfestspielen Berlin gab es ein Jubiläum zu feiern: Das 25. Kinderfilmfest ging über die Filmbühne, mit elf Spielfilmen und 15 Kurzfilmen. „Kino für Leute ab sechs“ lautete der Titel der ersten Programmreihe im Rahmen der Berlinale 1978. Zu den wichtigen Konstanten zählt bis heute sicher die Internationalität des Programms. Beiträge aus 16 verschiedenen Nationen gewährleisteten auch 2002 – zusätzlich zur breiten Palette an Genres – wieder spannende Einblicke in zahlreiche Kulturen. Eine weitere Tradition – und dies gilt über das Berliner Filmfest hinaus für den gesamten Bereich des Kinos für Kinder – sind die immer wieder hervorragenden Filme aus Skandinavien. Gefühl und SpannungEine dänisch-schwedisch-norwegische Koproduktion ist dieser Debütfilm des 34-jährigen Hans Fabian Wullenweber. Mit „Klatretøsen“ brachte der Filmemacher die gewohnt einfühlsame und auf die kindliche Perspektive bezogene Erzählweise des skandinavischen Kinderfilms mit Elementen des klassischen Actionkinos zusammen. Das Publikum kam mit dieser Kombination bestens zurecht. „Kletter-Ida“ überholte in Dänemark Harry Potter an den Kinokassen!Die 12-jährige Ida gerät ganz nach ihrem Vater – zumindest was die Leidenschaft zum Klettern betrifft. Sie geht heimlich dem gefährlichen Hobby nach und besteigt regelmäßig die hohen Wassertürme eines Fabrikgeländes in der Nachbarschaft. Idas Vater war früher ein bekannter Bergsteiger, bis er bei einer Tour im Himalaya einen schweren Unfall hatte.
Inzwischen betreibt er eine Gokart-Bahn. Dort treffen sich Sebastian und Jonas, um Rennen zu fahren, an ihren heißen Kisten zu basteln und natürlich, um Ida zu treffen, von der sie ziemlich begeistert sind. Idas Vater erkrankt sehr schwer und nur eine teure Operation in den USA kann sein Leben retten. Mit aller Energie versucht Idas Mutter Kredite zu bekommen – ein aussichtsloses Unterfangen. Die Zeit drängt, denn der Zustand des Vaters verschlechtert sich zusehend. Für Ida gibt es nur einen Ausweg, um an die nötigen 1,5 Millionen Kronen für die Operation zu gelangen: den Tresor der CCT Bank knacken. Der Tresor der modernen Bank ist in einem 30 Meter hohen Turm aufgehängt, bewacht von Kameras, einem Sicherheitsdienst und scharfen Hunden. Ida ist auf die Mithilfe von Jonas und Sebastian angewiesen. Die beiden sind zunächst nicht begeistert von Idas verrückter Idee. Da aber jeder von beiden bei Ida die „Nummer Eins“ sein will und es um das Leben von Idas Vater geht, lassen sie sich zum spektakulärsten Bankraub in der Geschichte Dänemarks überreden.Alles was auch im spannenden „Erwachsenen“-Kino zu sehen ist, wird in „Kletter-Ida“ aufgeboten. Verfolgungsjagden, Stunts und Action, aber auch Freundschaft, Liebe und Enttäuschungen finden ihren Platz in der Geschichte. Zudem wartet der Film mit einer Mädchenfigur auf, die mit Durchsetzungsvermögen und Raffinesse ihr Ziel im Auge behält und ihre Umgebung für sich zu gewinnen vermag. Regisseur Wullenweber ist es gelungen die Technik und Dramaturgie actionreicher Filme mit einer guten Story zu verbinden. Den Kindern im Publikum hat es auf jeden Fall Spaß gemacht und der junge Regisseur scheint den Bogen nicht überspannt zu haben.
Beim Verlassen des Kinos äußerte ein Zehnjähriger gegenüber seiner erwachsenen Begleiterin, dass es an manchen Stellen ruhig noch etwas spannender hätte sein können. Die elfköpfige Kinderjury zwischen elf und vierzehn Jahren sprach „Kletter-Ida“ eine Lobende Erwähnung aus. Zuneigung und TrauerZum Abräumer der Preise avancierte der norwegisch-schwedische Film „Glasskår“. Er gewann sowohl den Gläsernen Bären für den besten Film der Berliner Kinderjury als auch den Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerkes, der jährlich von einer internationalen Fachjury ausgelobt wird. Regisseur Lars Berg war bereits 1997 Gast beim Kinderfilmfest mit „Maya Steingesicht“. Mit „Einschnitte“ hat Berg einen ernsten, anrührenden Film inszeniert. Viktor ist 13 Jahre alt, sein größeren Bruder Ole Kristian ist nicht nur ein fantastischer Eishockey-Keeper, sondern auch ein großes Vorbild für ihn. Schon früher hatte Viktor, immer wenn jemand gefragt hatte, was er mal werden wollte, geantwortet: „Wie mein Bruder“. Viktor steckt am liebsten mit seinen beiden Freunden Arnor und Roger zusammen. Viele Dinge treiben die drei um. Sie wollen irgendetwas „Cooles“ auf die Beine stellen. Und so haben sie beschlossen, eine Band zu gründen, obwohl keiner ein Instrument spielen kann. Aber die Jungs sind sich sicher, dass die Mädchen trotzdem auf eine Band abfahren. Weil die drei Freunde so mit ihren eigenen Plänen beschäftigt sind, merkt Viktor zunächst gar nicht, dass mit seinem Bruder etwas nicht stimmt und dass sich alle zunehmend merkwürdig benehmen. Eines Tages erzählt Ole, dass er gar nicht Viktors leiblicher Bruder sei, denn Onkel Reidar ist der echte Vater. Ole Kristian ist an Krebs erkrankt und muss immer häufiger in die Klinik. Erst allmählich wird Viktor klar, was sein Bruder meinte, als er sagte, dass vielleicht einmal Viktor der Stärkere der beiden sein würde.
Nadine, Viktors gleichaltrige Freundin, deren Zuneigung ihn noch recht verwirrt, spricht aus, was niemand zu sagen wagt: Ole Kristian hat Leukämie. Ole geht es immer schlechter und er stirbt. Für Viktor bleibt eine schwere Aufgabe zu erfüllen, denn nur er weiß, dass Oles heimliche Freundin Car von seinem verstorbenen Bruder ein Kind erwartet. Viktor muss dafür sorgen, dass das ewige Schweigen in der Familie ein Ende hat. Der Film erzählt von der ersten Einstellung an konsequent vom Hauptprotagonisten aus. Viktor stößt im Laufe der Geschichte auf viele Fragen, die zum Teil wie Lappalien erscheinen, die aber plötzlich wichtig werden. Die Zuschauer können sich mit Viktor identifizieren - mit seinen Erfahrungen und mit den Entscheidungen, die er fällen muss. Gefördert durch die dichte Inszenierung Lars Bergs und das eindringliche Spiel von Hauptdarsteller Eirik Evjen. Dabei schafft dieser Film bei aller Tragik des Themas auch unterhaltende und hoffnungsfrohe Momente. „Einschnitte“ handelt auch von Teenagerpartys, Schülerstreichen, Freundschaften und – ähnlich wie „Kletter-Ida“ – von den überwältigenden Gefühlen der ersten Liebe. Selbst einer der traurigen Höhepunkte des Films, als Viktor nach Oles Tod auf dem Schoß seines Vaters im Gartenstuhl sitzt, während im Haus die Beerdigungsgesellschaft versammelt ist, vermittelt eine melancholische Leichtigkeit, die nicht nur den beiden über die Trauer hinweg hilft. Viktor kann seiner Trauer auch freien Lauf lassen, weil er weiß, dass Nadine zu ihm hält. Er merkt, dass es ihm in diesem Augenblick auch ein kleines bisschen gut geht. Träume und FantasienIm Programm fiel besonders noch ein Kurzfilm auf: „Ballett ist ausgefallen“ von Anne Wild.
Die 34-jährige Regisseurin und Drehbuchautorin hat einen behutsamen und melancholischen Film inszeniert, der durch die kleine Hauptdarstellerin Henriette Confurius und durch die Gesamtchoreographie beeindruckte. Elisa geht diesmal nicht zum Ballettunterricht. Ihre Mitschülerinnen kommen ihr heute besonders doof und kindisch vor. Viel lieber verbringt sie den ganzen Nachmittag am schönsten Ort, den sie kennt: im Eiscafé Dolomiti. Dort arbeitet Holger aus der 12a als Aushilfskellner und der hat schließlich das süßeste Lächeln der ganzen Schule. Elisa traut sich nicht, ihn anzusprechen, aber ihr Horoskop hat gesagt, dass heute etwas Wunderbares passieren würde. Obwohl im Dolomiti nicht besonders viel los ist – für Elisa ist es ein äußerst spannender Nachmittag, denn ihre Fantasie und geheimen Tagebucheinträge lassen tolle Dinge geschehen.Der Film taucht ohne Moralisieren in Elisas Gedankenwelt ein und will keine spektakulären Geschehnisse porträtieren, sondern beweist Gespür für Details. Die Geschichte lässt den Tagträumen einfach freien Lauf. Die internationale Jury verlieh an „Ballett ist ausgefallen“ den Spezialpreis des Deutschen Kinderhilfswerkes für den besten Kurzfilm. Derzeit stellt Anne Wild den TV-Film „Königskinder“ fertig, bei dem Henriette Confurius die Hauptrolle spielt.
Wir dürfen gespannt sein.Klatretøsen(Kletter-Ida)Regie: Hans Fabian Wullenweber – Buch: Nicolai Arcel, nach einer Idee von Hans Fabian Wullenweber, Nicolai Arcel und Erland Loe – Darsteller: Julie Zangenberg (Ida), Stefan Pagels Andersen (Sebastian), Mads Ravn (Jonas), Lars Born (Idas Vater), Nastja Arcel (Idas Mutter) – Produktion: Dänemark, Schweden, Norwegen (Nimbus Film) 2001. – Länge: 89 MinutenGlasskår(Einschnitte)Regie: Lars Berg – Buch: Harald Rosenløw Eeg, Lars Berg, nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Harald Rosenløw Eeg – Darsteller: Eirik Evjen (Viktor), Martin Jonny Raaen Eidissen (Roger), Eirik Stigar (Arnor), Ine M. Eide (Nadine), Jonas Lauritzsen (Ole Kristian), Lasse Kolsrud (Viktors Vater), Janne Kokkin (Viktors Mutter), Robert Skjaerstad (Onkel Reidar) – Produktion: Norwegen, Schweden (Paradox Produksion AS) 2001 – Länge: 76 MinutenBallett ist ausgefallen (Ballet was cancelled)Regie: Anne Wild – Buch: Anne Wild – Darsteller: Henriette Confurius (Elisa), Matthias Schweighöfer (Holger), Maria Petz (Laura), Lena Stolze (Frau mit Cellokasten) – Produktion: Deutschland (Jost Hering Filmproduktion) 2001 – Länge: 14 Minuten
- Markus Achatz: Unterhaltung mit Tiefgang
Markus Achatz: Unterhaltung mit Tiefgang
Das Kinderfilmfest der 54. Internationalen Filmfestspiele Berlin setzte in diesem Jahr deutliche Akzente gegen den Mainstream. Es zeichnete sich ein deutlicher Trend zu eher realen und alltagsbezogenen Geschichten ab. Thomas Hailer, seit 2003 Leiter des Kinderfilmfests, schätzt am diesjährigen Programm vor allem, dass ein „lebendi-ges Bild davon vermittelt wird, wie Kinder und junge Leute hier und auf anderen Kon-tinenten leben, wovon sie träumen und wie sie ihren Alltag meistern“. Vielfach wer-den die Geschichten mit nachdenklichen Botschaften und in ernsten Tönen erzählt. Die Vergabe der Preise macht deutlich, dass bewegende Momente im Kino von Er-wachsenen und von Kindern gleichermaßen geschätzt werden. Die 11- bis 13-jährigen Mitglieder der Kinderjury (Gläserner Bär) und die Erwachse-nen der Internationalen Jury (Großer Preis des Deutschen Kinderhilfswerks) zeichne-ten jeweils den philippinischen Film „Magnifico“ als besten Spielfilm aus. Regisseur Maryo J. Delos Reyes erzählt die berührende Geschichte des 9-jährigen Magnifico. Der Junge begegnet den schicksalhaften Ereignissen, von denen seine Familie ge-troffen wird, mit Warmherzigkeit und Tatendrang.
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Familie zerschlägt sich, als Magnificos älterer Bruder Miong die Schulaus-bildung in Manila abbricht. Die Lage ist ohnehin angespannt, denn die behinderte jüngere Schwester der beiden benötigt sehr viel Pflege. Als schließlich noch die Großmutter schwer erkrankt, erkennt Magnifico, dass er Verantwortung übernehmen muss. Die Sorge der Großmutter steigt, denn wenn sie stirbt, fallen erhebliche Be-gräbniskosten an, lebt sie weiter, werden teure Medikamente benötigt. Mit Hilfe eines Freundes organisiert Magnifico Holz, um einen Sarg für die Großmutter zu zimmern. Zudem setzt er alles daran, seiner Schwester den sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, einmal den weit entfernten Jahrmarkt zu besuchen. Das Einfühlungsvermögen, mit dem sich der Junge den schwierigen Situationen stellt, wirkt sich zunehmend positiv auf das Lebensgefühl der ganzen Familie aus. Die Energie des 9-jährigen überträgt sich nachhaltig auf seine Umgebung und vermag selbst den Tod zu überdauern. Der philippinische Filmemacher hat mit „Magnifico“ eine Parabel auf das Gute im Menschen kreiert. Die Rolle des Jungen gleicht einer Erlöserfigur oder zumindest einem Hoffnungsträger, der vorübergehend auf die Erde kommt, um den Menschen Zuneigung und Hilfe zu bringen.
Insofern ist es vielleicht gar nicht so überraschend, dass auch die Mitglieder der Kinderjury „Magnifico“ auszeichneten, obwohl der Film über zwei Stunden dauert und sich die Geschichte äußerst langsam entwickelt. Re-gisseur Delos Reyes verlangt dem Zuschauer einiges ab, indem er der Geschichte einen tragischen Verlauf gibt. Mit einer authentischen Inszenierung des philippini-schen Alltags, der intensiven Darstellung realistischer Personen und der emotionalen Tiefe geht der Film unter die Haut. In seiner Feinfühligkeit vergleichbar, doch von der Erzählweise völlig anders, ist der französische Film „Moi, César 10 ans ½, 1m39“ („Ich, César“) von Richard Berry. Die sehr unterhaltsame Geschichte wird konsequent aus der Perspektive des kleinen César erzählt und kam beim kindlichen Kinopublikum sehr gut an. César ist genau 1,39 Meter groß, zehneinhalb Jahre alt und beginnt sich über das Leben und die Welt Gedanken zu machen. Die Erwachsenen sind dabei nicht unbe-dingt hilfreich. César liebt seine Eltern und findet auch seine Lehrerin ausgesprochen attraktiv, doch was seine Mitschülerin Sarah in seiner Gefühlswelt verursacht, ist oh-ne Beispiel. Sarah ist das schönste Mädchen von Paris. Wenn sie gemeinsam von der Schule nach Hause gehen, beschränkt sich Césars Sprechfähigkeit auf die Wörter „mh“, „ja“ und „mhja“.
Im Gegensatz zu seinem besten Freund Morgan ist César eher schüchtern und unauffällig. Das ändert sich schlagartig, als sein Vater eines Tages Besuch von einem ominösen Fremden bekommt und daraufhin plötzlich verreist. Für César liegt der Fall klar: Sein Vater muss ins Gefängnis. Das Gerücht spricht sich wie ein Lauffeuer herum. César wird zum Star in der Schule. Fatalerweise stellt sich heraus, dass Césars Vater nur auf Dienstreise war. Sarah und Morgan halten zu ihm und er weiß, wer seine wahren Freunde sind. Morgan wiederum hat eigene Sorgen: Er kennt seinen Vater nicht und wünscht sich nichts mehr, als ihn im fernen London zu suchen. César, Sarah und Morgan machen sich auf den Weg in ein Land, in dem sie noch nie gewesen sind und dessen Sprache sie nicht sprechen. „Moi, César“ nähert sich sehr behutsam der Gedanken- und Gefühlswelt des Prota-gonisten. Der Film ist die zweite Regiearbeit des Schauspielers Richard Berry. Seine besondere Leistung besteht in der großen Empathie, die er seinen Figuren entge-genbringt. Dabei gelingt eine überzeugende, kurzweilige Mischung aus Humor und Tiefsinn. Die 13 Spielfilme und 25 Kurzfilme des Kinderfilmfests ermöglichten bewegende und erheiternde Einblicke in hochwertige Geschichten aus 20 Ländern. Weitere Empfeh-lungen: Im deutschen Beitrag „Blindgänger“ (Lobende Erwähnungen von beiden Ju-rys) erzählt Regisseur Bernd Sahling von der Freundschaft der blinden Marie mit dem kasachischen Jungen Herbert und bringt den Zuschauerinnen und Zuschauern eine Welt nahe, in der ganz eigene Bedingungen herrschen.
Aus Japan kommt die kleine, ausgefallene Filmerzählung „Yoshinos Frisörsalon“ der jungen Filmemacherin Naoko Ogigami. Eine Freundesclique lehnt sich gegen eine alte Tradition auf, nach der alle Jungen des Dorfes den gleichen „Topf-Haarschnitt“ zu tragen hätten. Im Hin-blick auf den Erfolg beim kindlichen Publikum gelang der schwedischen Regisseurin Ella Lemhagen („Tsatsiki, Mama und der Polizist“, 1999) mit ihrem neuen Film „Tur och Retur“ („Hin und Her“) wieder ein großer Wurf. Diesmal mit einer klassischen, aber ideenreichen Verwechslungskomödie. Julia und Martin lernen sich zufällig am Flughafen kennen, stellen fest, dass sie sich sehr ähnlich sehen und tauschen kur-zerhand die Rollen. Stabangaben zu den Filmen:Magnifico (Magnifico)Regie: Maryo J. Delos Reyes – Buch: Michiko Yamamoto – Darsteller: Jiro Manio (Magnifico), Danilo Barrios (Miong), Isabella De Leon (Helen), Gloria Romero (Lola Magda, die Großmutter) – Produktion: Philippinen (Violett Films) 2003 – Länge: 123 MinutenMoi, César 10 ans 1/2 , 1 m 39 (Ich, César)Regie: Richard Berry – Buch: Eric Assous, Richard Berry – Darsteller: Jules Sitruk (César), Mabo Kouyaté (Morgan), Joséphine Berry (Sarah), Maria de Medeiros (Césars Mutter), Jean-Philippe Ecoffes (Césars Vater), Anna Karina (Gloria) – Produktion: Frankreich (Europacorp) 2003 – Länge: 91 Minuten
- Markus Achatz: Unterwegssein und am Leben
Markus Achatz: Unterwegssein und am Leben
Porträts von Menschen, Persönlichkeitsprofile, Kulturgeschichten, Reisebilder. Das 19. Internationale Dokumentarfilmfestival München im Mai 2004 bot eine Programmvielfalt, die sich sehen lassen konnte und betrieb auf eindrückliche und anregende Weise Eigenwerbung für das dokumentarische Filmformat. Halb Shiva, halb ShaktiNicht immer stößt ein Filmemacher oder eine Filmemacherin auf Menschen, welche von sich aus schon interessant, außerordentlich und dabei ausgesprochen unterhaltsam sind. Im indischen Film Manjuben Truck Driver (2002) ist dies Regisseurin Sherna Dastur gelungen, indem sie Manjusha fand, die Lastwagenfahrerin,– eine Frau in einer reinen Männerwelt. Sie arbeitet als Truckerin und fährt mit ihrem großen Lastwagen durch Indiens marodes und überlastetes Straßennetz. Im strikten indischen System der Geschlechterrollenstereotype erscheint dies noch geheimnisvoller und schwieriger als woanders. Miss Manju trägt Männerkleider und eine Männerfrisur. Sie macht keinen Hehl daraus, gerne der Boss zu sein und den „Macho“ zu spielen. Die Männer, die ihren Lastwagen reparieren oder beladen, scheinen damit zurecht zu kommen, von einer Frau herumkommandiert zu werden. Beim Fahren ist Manju eine Draufgängerin. „Ich fahre wie ein Bastard“ sagt sie stolz, denn sie liebt die Straße und lässt sich weder dort noch im ganzen Leben etwas gefallen. Sie ist geschieden und hat eine Freundin. Als Feministin sieht sich Manjusha dennoch nicht.
Für sie scheint ihre Rolle ganz normal zu sein, wenngleich sie stolz darauf ist, akzeptiert zu werden, und dennoch weiß, dass andere sagen, sie sei ein Mann ohne Schnauzbart. Manju lacht: „Halb Shiva, halb Shakti – das bin ich. Die männlichen und die weiblichen Stärken – beide sind in mir.“ Der Film nähert sich im Verlaufe der zahlreichen Meilen und der Abenteuer auf den engen, chaotischen und dennoch endlosen Landstraßen behutsam an die Hauptperson an. Manju ist eine starke Persönlichkeit, doch zeigt sie bei aller vordergründigen Rauheit auch ihre sensiblen Seiten. Der Film wird dank der großartigen Protagonistin und der intensiven Bilder zu einem gleichsam poetischen wie abenteuerlichen Portrait. Dabei zielt die Dokumentation kritisch auf gesellschaftliche Rollenstereotype, auf die Kontroverse zwischen sozialer Konformität und persönlicher Identität – wie sie nicht charaktervoller sein könnte als bei Miss Manju. „Einfach immer unterwegs sein“, sagt die Truckerin, sie sei eben nicht der Typ zum Daheimbleiben. Das hätte sie auch ihrem Ehemann gesagt, als sie sich scheiden ließ. Und schließlich: „Frauen fliegen Flugzeuge heutzutage, oder etwa nicht? Was also, wenn ich einen Truck fahre?“ Manjuben Truck Driver lief im Programmbereich „Aspects of Future“, Indien war eines der Schwerpunktländer in diesem Jahr. Was für die Menschen gut istZur Sektion „Internationales Programm – Point of View“ zählte die 110-minütige Dokumentation Ässhäk – Geschichten aus der Sahara (2003). Regisseurin Ulrike Koch und Kameramann Pio Corradi waren längere Zeit im Niger unterwegs und begleiteten eine Tuareg-Familie zwischen Aïr und Ténéré durch Wüste, Wind und Trockenheit.
Auch in diesem Film sind Frauen die eigentlichen Protagonisten. Die Frauen des Clans erledigen einen Großteil der Arbeiten im Nomadenlager. Die Männer sind mit ihren Kamel-Karawanen unterwegs. Mit den traditionellen Turbanen und den verhüllten Gesichtern erscheinen die Männer wie die Schatten der Bäume, die in der Nacht kommen und am Tag unsichtbar sind. Die Frauen bauen die Zelte auf und ab, eine schwere und langwierige Arbeit – beinahe meditativ wie die Landschaft und wie das Spiel der einsaitigen Imzâd-Geige. Im Klang der Musik und der Stille der Natur findet sich „Ässhäk“ – die Geisteshaltung der Tuareg, die auf Respekt vor allen Lebewesen, eigener Zurückhaltung und würdevollem Miteinander basiert. Die Geschichten aus der Sahara kommen gänzlich ohne Erzählerkommentar aus. In einem Tempo, das bestimmt wird durch Natur und Tradition, begleitet die Kamera mit elegischen und stillen Bildern einen harten und faszinierenden Lebensalltag – fernab unserer romantisierenden Vorstellungen über die Wüste. Ulrike Koch lässt den Alltag erzählen, von den Ritualen und Bräuchen, von der Suche nach einem verschwundenen Kamel, der Geburt eines Kindes, dem Ziegenhüten und dem Umgang mit kostbarem Wasser. Schilen, die Imzâd-Spielerin erklärt: „Das, was für die Menschen gut ist, das ist Ässhäk“. Ässhäk – Geschichten aus der Sahara läuft seit 24. Juni im Kino.
Mir und die drei JahreszeitenDas dritte Faszinosum des 19. Dokumentarfilmfestivals führt nach Afghanistan zu den Ärmsten und Vergessenen. The Boy Who Plays on the Buddhas of Bamiyan (2003) von Phil Grabsky zeigt das blanke Überleben in den Felshöhlen von Bamiyan, seit vielen Jahren Fluchtpunkt und Versteck für vertriebene und heimatlose Menschen. Die Buddhas von Bamiyan, das ehemalige Weltkulturerbe, wurden im März 2001 von den Taliban zerstört und sind zum Symbol von Vernichtung und Krieg geworden. Neun Autostunden nordwestlich von Kabul, im Herzen des Hindu Kush, liegt das Tal von Bamiyan. Auf einer Höhe von 2500 Metern thronten bis vor drei Jahren noch die monumentalen Sandsteinbuddhas. Die beiden größten waren 55 und 38 Meter hoch. Phil Grabsky traf dort auf den achtjährigen Mir und begleitete ihn und seine Familie über drei Jahreszeiten hinweg inmitten von Schutt und Armut. Wie die etwa einhundert anderen Familien kämpfen sie um das tägliche Überleben. Jeden Tag klettert Mir ins Tal hinunter zu einer Wasserstelle, sammelt Brennholz oder erbettelt Gemüseabfälle und Fleischreste von Händlern in der Nähe. Weiter unten befinden sich auf einer trockenen Sand ebene Rohbauten von Häusern. Die Familie hofft auf einen Platz in der von der UNO finanzierten Siedlung. Die Fertigstellung ist jedoch unterbrochen, denn niemand weiß, woher die Wasserversorgung kommen soll.
Am Horizont öffnet sich ein weites, grünes Tal zwischen den hohen Gebirgszügen. Die Landschaft wirkt beklemmend angesichts der kargen Felsbehausungen. Zahlreiche Gebiete sind noch von Minen durchsetzt. Die Narben der Gewalt sind an den Menschen zu erkennen und dennoch – bei allem Staub und Schutt, dem schlechten Wasser, dem mangelnden Essen – sind Mir und seine Altersgenossen frech, übermütig und finden ihr Glück beim Fußballspiel oder dem Herumstreunen in den Trümmern. In den Erzählungen seines Vaters Abdul, seines Halbbruders Khoshdel und der anderen erfahren wir, was die Menschen in Bamiyan bewegt. Sie setzen alle Hoffnung in ihre Kinder und darauf, dass sie es schaffen, eines Tages aus der Armut zu entkommen. Durch die Augen von Mir sehen wir die täglichen Konflikte und die Not, die Präsenz des Militärs, die Anwesenheit der Amerikaner. Aber wir erkennen auch seine Unbekümmertheit, denn er ist ein achtjähriger Junge, der weiß, wie man lacht, und der Spaß haben kann in den Ruinen von Bamiyan.Phil Grabskys Film ist eine Gratwanderung zwischen den bewegenden, intensiven und auch einfühlsamen Bildern und einer manchmal beinahe peinlichen Authentizität, die die Frage aufwirft, ob man sich so weit hineintrauen darf in die Welt der Armut. Grabsky stieß auch nach Fertigstellung des Films auf Schwierigkeiten. Man sprach ihm die öffentliche Aufmerksamkeit ab und er musste sich der Bemerkung aussetzen, dass sich niemand mehr für Afghanistan interessiere. Man möchte ihm und diesem Film wünschen, dass sich möglichst viele Menschen den eindringlichen Bildern aussetzen, damit das Leben von Mir und seiner Familie neben den steinernen Ruinen der Buddhas von Bamiyan als Plädoyer gegen Radikalität und Ideologie wirken kann.
Stabangaben:
Manjuben Truck Driver (Indien 2002)
Regie: Sherna Dastur – Kamera: Mohanan – Produktion: Sherna Dastur, New Delhi – Länge: 52 MinutenÄsshäk – Geschichten aus der Sahara(Schweiz, Deutschland, Niederlande 2003)
Regie: Ulrike Koch – Kamera: Pio Corradi – Produktion: Catpics Coproductions, Zürich – Länge: 110 MinutenThe Boy Who Plays on the Buddhas of Bamiyan(Großbritannien 2003)
Regie, Buch, Kamera, Ton: Phil Grabsky – Produktion: Amanda Wilkie, Brighton – Länge: 96 Minuten(merz 2004-04, S. 78-80)
- Markus Achatz: „Life is a Miracle“
Markus Achatz: „Life is a Miracle“
Das Motto des diesjährigen Kinderfilmfests lautete „Life is a Miracle“ - und in einem Großteil der 14 Spielfilme und 12 Kurzfilme fanden sich auch Momente, in denen die Protagonisten mit Wundern, Magie und Zauberei in Berührung kamen. Im weiteren Sinne sollte es, wie Renate Zylla, die Leiterin des Kinderfilmfests, betonte, auch darum gehen, welche Wunder kindlicher Glaube bewirke – bis hin zur Erkenntnis, dass die jungen Filmfiguren letztlich am weitesten kommen, wenn sie das Vertrauen in ihre eigene Kraft entdecken. Vielleicht trifft das auch ein klein wenig auf die elf Berliner Jungen und Mädchen zu, die sich dem gesamten Kinderfilmfest-Programm stellen mussten, um ganz auf das eigene Urteil bauend den Gläsernen Bären an den besten Film zu vergeben.
Diese Kinderjury wählte „There’s only one Jimmy Grimble“ von John Hay und begründete dies so: „Die Geschichte erzählt von einem Jungen, der lernt, an sich selbst zu glauben. Die überzeugende Darstellerleistung, die klasse Kameraführung und die guten Spezialeffekte haben uns sehr beeindruckt. Die geniale Mischung von Humor, Sensibilität und Spannung hat uns sehr gut gefallen.“Es gibt nur einen Jimmy GrimbleJimmy Grimble (Lewis McKenzie) ist 15 und träumt davon, sein eigenes Leben zu leben. Er wünscht sich mehr Respekt von seinen Klassenkameraden und er liebt Fußball über alles. Aber immer wenn er vor anderen Leuten spielen muss, versagt sein eigentlich grosses Spieltalent. Zu seiner allein erziehenden Mutter Donna (Gina McKee) hat er ein gutes Verhältnis, jedoch macht sich Jimmy Sorgen um sie, weil ihr neuer Freund – ein selbstverliebter Harley-Davidson-Fahrer – auch noch bei ihnen einzieht. Mit Donnas vorherigem Partner Harry (Ray Winstone) hat sich Jimmy weitaus besser verstanden.
Tragischerweise stellte sich eines Tages heraus, dass Harry bereits verheiratet ist.Dann ist da noch Sara (Samia Ghadie), eine neue Mitschülerin, die ähnlich wie Jimmy in der Schule eine Außenseiterrolle spielt. Die beiden mögen sich sehr, aber Jimmy ist in ihrer Anwesenheit zu aufgeregt, um seine Gefühle zeigen zu können. In einer Schule voller „Manchester United“-Anhänger hat es ein „City“-Fan nicht gerade leicht. Jimmy wird zu einem beliebten Angriffs-Ziel. Eines Tages hetzen Gorgeous Gordon und seine Gang Jimmy durch ein Abrissviertel, wo eine sonderbare alte Frau ihm zu Hilfe kommt. Sie versteckt Jimmy in ihrer Abbruchwohnung und schenkt dem Jungen ein paar alte Fußballschuhe, die einem angeblich legendären Spieler namens Robby Brewer gehört haben sollen. Den alten Kicker-Latschen misst Jimmy zunächst keine weitere Bedeutung zu, bis er, der Reservespieler der Schulmannschaft, eines Tages von Trainer Eric Wirral (Robert Carlyle) eingewechselt wird. Er trägt die alten Schuhe und zu aller – vor allem seiner eigenen – Verwunderung schießt er bei der ersten Ballberührung ein grandioses Tor. Ab diesem Zeitpunkt kann Jimmy auch in der Mannschaft und vor Publikum seine spielerischen Fähigkeiten voll entfalten.Auf der Suche nach dem rätselhaften Vorbesitzer seiner Schuhe erfährt Jimmy immer mehr über Trainer Wirral. Der scheint kein großes Interesse an seiner Schulmannschaft zu haben, aber er hat bereits früh an Jimmy geglaubt.
Die Mannschaft schafft es bis ins große Finale der Schulmeisterschaft. Alle kommen zum großen Spiel ins Stadion von Manchester City an der Maine Road. Jimmys Mutter, Sara und auch Harry. Gorgeous sieht in Jimmy seinen großen Rivalen im Team und lässt die magischen Schuhe verschwinden. Das Endspiel wird zur Tortur.Mit Hilfe von Harry und Eric aber wird sich Jimmy darüber klar, dass es im Leben wie auf dem Fußballfeld darauf ankommt, sich auf sich selbst und seine eigenen Gefühle zu verlassen. Er ist nämlich derjenige, der den Ball führt und was mindestens genauso wichtig ist – er ist sich jetzt ganz sicher, dass er Sara küssen möchte. Die Hauptfigur in John Hays Spielfilm ist wirklich einzigartig. John Hay hat für die Hauptrolle des 15-Jährigen insgesamt 3000 Jungen gecastet und in Lewis seine Idealbesetzung gefunden. Vor allem Lewis’ Lächeln und seine Ohren hätten es ihm gleich angetan, sagt der Regisseur. Angesichts der weiteren Besetzung wird die darstellerische Präsenz des Jungen noch beachtlicher. Mit Robert Carlyle, Gina McKee und Ray Winstone spielen gleich drei der aktuellen Top-Actors des britischen Films in Hauptrollen.„There’s only one Jimmy Grimble“ ist ein bisschen wie ein Märchen, wartet aber dennoch mit sehr authentischen realen Figuren auf. Es ist ein Film, der sich über den Fußball hinaus den Themen heutigen Heranwachsens nähert. Es geht um Außenseitertum und Bullying in der Schule, um Ein-Eltern-Familien und um die Suche nach Liebe und einen Platz im Leben. So bezeichnet John Hay seinen Film als eine moderne, urbane Fabel, die davon handelt, wie ein Junge all die Eigenartigkeiten in seinem Leben zu meistern sucht und lernt, an sich selbst zu glauben. „Jimmy Grimble“ ist auch Familienkino: eine Geschichte, die Raum für Humor und Emotionen lässt. Umso mehr erfreulicher, dass dieser Film vom kindlichen und jugendlichen Publikum verstanden und angenommen wurde.Die Auswahl der Musik macht den Film zudem zu einer Ode an England, zu einer Reminiszenz an Manchester und seine Popmusik, die Anfang der 90er als „Manchester Rave“ die Charts eroberte. Der geneigte Pophörer freut sich an Klassikern von Bands wie Charlatans, Inspiral Carpets oder Stone Roses, aber auch neuere Songs aus Manchester von Underworld und Badly Drawn Boy sind im Film zu hören.Nagisa Weibliche Hauptcharaktere hielten sich mit männlichen als zentrale Figuren in etwa die Waage. Ganz besonders in Erinnerung bleibt jedoch Nagisa aus dem gleichnamigen Film von Masaru Konuma.
Der japanische Spielfilm ist eine Adaption eines Comics von Musakami Motoka. Allerdings hat die Inszenierung des 63-jährigen Regisseurs keineswegs die kurzatmige, oberflächliche Ästhetik eines Cartoon-Heftes. Masaru Konuma hat seit seinem Debüt 1972 rund 50 Filme gedreht. Er lässt der Geschichte und damit dem Mädchen Nagisa viel Zeit, sich weiterzuentwickeln. Nagisa (Madoka Matsuda) ist zwölf Jahre alt und lebt zusammen mit ihrer Mutter (Yuko Katagiri) in Enoshima, einem Badeort in der Nähe von Tokio. Es ist ein Sommer in den 60-er Jahren und Nagisa verbringt die meiste Zeit an einem von Touristen unentdeckten Strand. Die Kinderfreundschaft zu ihrer gleichaltrigen Nachbarin Noriko langweilt sie und Nagisa beginnt sich für andere Dinge zu interessieren. Um sich ihren größten Wunsch, ein eigener Schallplattenspieler, erfüllen zu können, jobbt sie im Strandrestaurant ihrer Tante. In jeder freien Minute findet man sie aber in ihrer kleinen Bucht am Meer. Eines Tages trifft sie dort auf Hiroshi, einen gleichaltrigen Jungen aus Tokio, der seine Ferien damit verbringt, Angeschwemmtes zu sammeln. Jeden Tag behält er ein Fundstück, das ihm wichtig erscheint. Nagisa trifft sich nun regelmäßig mit Hiroshi und bringt ihm das Schwimmen bei. Der Junge stoppt mit seiner Uhr die Schwimmrunden von Nagisa und hat sich dafür einen Kuss verdient. Im Restaurant ihrer Tante taucht gelegentlich Nagisas etwas ältere Cousine Reiko auf. Sie hat schon einen richtigen Freund, der sie in einem extravaganten Cabrio abholt. Nagisa darf aber auch bei Ausflügen mitfahren und erlebt dabei eine ausgelassene Strandparty. Ihr Drang nach Abenteuern steigt und das Mädchen saugt förmlich die Erlebnisse in sich auf. Voller Neugier lässt sie sich auf Anraten von Reiko eine Dauerwelle legen.
Aber Hiroshi möchte sie damit doch nicht begegnen und sie verschiebt ihr nächstes Strandrendezvous mit ihm auf den nächsten Tag. Nochmals beim Friseur, möchte sie die Haare kurz haben, so wie es ihr selbst gefällt. Das Mädchen wagt einen weiteren Schritt hin zum Abschied von der Kindheit. Als Nagisa zum Strand eilt, um Hiroshi zu treffen, muss sie erfahren, dass er ertrunken ist.Masaru Konuma erzählt eine Geschichte, die sich trotz denkwürdiger und trauriger Momente außerordentlich elegant, auch humorig und freudig gibt. Konuma wird nie sentimental, sondern vermittelt eher ein melancholisches Gefühl. Die Geschichte wird dabei konsequent aus der Sicht des Mädchens erzählt und spiegelt dessen Gedanken und Empfindungen. Madoka Matsuda spielt entspannt und unaufdringlich und gewährleistet dadurch die besondere Atmosphäre des gesamten Films. Die Sonne glitzert im Wasser und der Sand im seichten Gewässer – wo Nagisa so gerne sitzt – wirkt warm und weich. Sogar die Gerichte im Strandlokal, die das Mädchen oder die Tante servieren, dampfen und duften förmlich von der Leinwand. Verstärkt wird diese Wirkung durch eine subtile und intensive Schnitt-Rhythmik. Diese wechselt die Tempi und Einstellungslängen auf sehr organische Weise.An das Bunte und Punktuelle der Comic-Vorlage erinnert in unterhaltsamen Momenten die quirlige Tante, wenn sie theatralisch und in höchstem Tempo ihre Gäste im Lokal bedient, die farbig-schrille Cousine Reiko in ihrer lauten und aufdringlichen Art sowie ihr cooler Verehrer mit Haartolle, riesiger Sonnenbrille und pastellfarbenem Cabrio. Diese Sequenzen fügen sich dennoch sehr kunstfertig in die sehnsuchtsvolle Gefühlswelt Nagisas ein. Mehr als verdient hat die Internationale Jury des Kinderfilmfests – bestehend aus fünf Filmfachleuten – den Preis des Deutschen Kinderhilfswerkes 2001 an „Nagisa“ verliehen.
- Markus Achatz: Die Schule und das Leben
Markus Achatz: Die Schule und das Leben
Das Filmfest München befindet sich im Wandel. Höheres Budget, wachsende Ansprüche, ein zusätzlicher Wettbewerb und die Diskussion um größere Ambitionen für die Zukunft. Dieses Jahr wurden 180 Filme in mehr als 500 Screenings gezeigt. Das internationale Filmfest ist also in einer Phase der Veränderung. Es scheint manchmal so, als wisse es noch nicht so genau, was es werden soll, wenn es groß ist. Das parallel laufende Kinderfilmfest fristet eher ein Schattendasein. Im Vergleich zum neuen Wettbewerb Cinecopro-Award (mit 100.000 Euro dotiert) erhält der Kinderfilmfest-Publikumspreis gerade einmal 1.000 Euro. Insgesamt präsentierte das Filmfest München wieder eine Reihe an spannenden Erzählungen, die vom Heranwachsen in unsicheren Zeiten handeln, von der Suche nach Identität, Freundschaft und Zuneigung und in mehreren erwähnenswerten neuen Produktionen ging es auch um die Schule. Im Kinderfilmfest-Programm sind zwei Produktionen aus den Niederlanden herausgestochen, die jeweils auf erfolgreiche Jugendbuchvorlagen zurückgehen.
Erinnerungen im Küstensand: Meine wunderbar seltsame Woche mit TessVon einer außergewöhnlichen Ferienbegegnung zweier Heranwachsender handelt Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess. Das gleichnamige Buch hat Anna Woltz geschrieben, Regie führte Steven Wouterlood. Die Geschichte wird aus der Perspektive des elfjährigen Sam erzählt, der mit seiner Familie auf der Insel Terschelling Urlaub macht. Gleich am ersten Tag bricht sich Sams älterer Bruder Jore ein Bein. Er ist in ein tiefes Sandloch gestolpert, das Sam zuvor gegraben hatte, um sich wie in ein Grab hineinzulegen. Sam beschäftigt vor allem der Gedanke als Jüngster alleine übrig zu bleiben, wenn alle anderen vor ihm sterben. Seine eigene Seltsamkeit relativiert sich, als er die quirlige Tess kennenlernt. Sie scheint eine verrückte Idee nach der anderen zu haben. Sam ist sogleich fasziniert von Tess, doch muss er im Laufe der folgenden Tage mehrfach erfahren, dass Tess schwer einzuschätzen ist und ihn auch mal in den Dünen stehen lässt. Eigentlich wollte Sam während der Ferien üben, wie es ist allein zu sein. Doch sein ‚Alleinheitstraining‘ wird durchkreuzt, da er am liebsten jede freie Minute mit Tess verbringen will. Und es gibt noch ein weiteres Problem: Tess hat ihren leiblichen Vater, von dessen Identität sie eigentlich gar nichts wissen soll, heimlich auf die Insel gelenkt. Sie möchte nun herausfinden, ob er es wert ist, zu erfahren, dass er eine Tochter hat.
Der Film hält eine feinsinnige Balance zwischen Humor und Nachdenklichkeit und fängt dabei die faszinierende Insellandschaft ein. Die Figuren handeln so, dass auch die damit verbundenen Konsequenzen – positive wie negative – deutlich werden. Im Verlauf der Geschichte schimmern immer wieder unterschiedliche Möglichkeiten ihres Ausgangs auf. Das hält die Spannung, wenngleich sich am Ende – dies kann man den Machern vielleicht vorwerfen – einige der angerissenen Probleme relativ glatt lösen. Dennoch ist die Moral der Geschichte eine durchaus schöne: denn Sam hat gelernt, wie wichtig es ist, möglichst viele Erinnerungen zu sammeln, in denen man das Leben mit anderen teilt.
Junge Lehrerin mit Superkräften: Superjuffie
Vom Produktionsteam der beliebten Mister Twister-Filme aus den Niederlanden stammt Super Miss (Superjuffie). Darin gerät die Grundschullehrerin Josie kurz nach Ankunft an der neuen Schule in große Turbulenzen. Die junge ‚Miss‘ (niederländ. ‚Juffie‘ übliche Anrede für Lehrerinnen in Holland) zieht ins alte Haus ihrer Tante und findet dort eine geheimnisvolle Statue. Von dieser übertragen sich Superkräfte auf die junge Frau und plötzlich hört sie Tiere, die um Hilfe rufen. Ihre Mission: Tiere retten. Zunächst muss sie lernen, die neuen Superkräfte zu beherrschen, was sich als Lehrerin nicht ganz einfach erweist. Als vier Schülerinnen und Schüler beobachten, wie sich ihre Lehrerin in eine Superheldin verwandelt, lassen sie sich nicht davon abhalten, beim nächsten Abenteuer dabei zu sein.
Der Film basiert auf den Kinderbüchern von Janneke Schotveld. Ähnlich wie bei Mister Twister ist der hauptsächliche Handlungsort eine Grundschule mit einer jungen Lehrkraft als Hauptfigur. Dieser wird eine kuriose Schulleitung entgegengesetzt. Neu sind bei Super Miss die fantastischen Elemente und eine sich entspinnende Krimigeschichte. Leider bleiben aufgrund der vielen Spezialeffekte die meisten Figuren eher blass. Insbesondere die Schülerinnen und Schüler sind nicht viel mehr als namenlose Begleiterinnen bzw. Begleiter, wodurch die Filmemacher die Chance vergeben, den jungen Zuschauerinnen und Zuschauern – abseits einer harmlosen Superheldin und süßen, sprechenden Tieren – weitere Identifikationsfiguren zu bieten. Trotzdem ist Super Miss unterhaltsames Familienkino mit Hauptfiguren wie der Super Miss oder dem trotteligen Schuldirektor Herr Schnauz, die auch jüngeren Kindern Spaß machen.
Schule als Herzenswunsch: Chuskit
Einen ganz anderen Blick auf Schule wirft der indische Film Chuskit. Die zehnjährige Chuskit lebt in einem Himalayadorf in Ladakh und wünscht sich nichts mehr, als gemeinsam mit ihren Freundinnen zur Schule zu gehen. Nach einem Unfall in den Bergen erleidet Chuskit eine Querschnittslähmung. Vor allem der konservative Großvater versucht das Mädchen davon zu überzeugen, sich das Hirngespinst ‚Schule‘ aus dem Kopf zu schlagen, doch sie will nicht aufgeben.
Der Film von Regisseurin Priya Ramasubban basiert teils auf wahren Begebenheiten und zeichnet Chuskits Charakter in unterschiedlichen Facetten. Das Kind hadert mit ihrem Schicksal, kommandiert die Familie herum und projiziert ihre Frustration auf den Großvater, der das Sagen hat. Gleichzeitig kann sie sich aber auch über Kleinigkeiten freuen, hat einen starken Willen und hält an ihrem großen Traum fest. Chuskit muss im Laufe der Geschichte lernen, mit ihrer Situation umzugehen, ohne ihre Träume und Ziele aufzugeben und ohne gegenüber den anderen ungerecht zu sein. Der Film macht deutlich, wie schwer diese Aufgabe ist und blendet auch nicht aus, wie Chuskit leidet. Die Stärke der Geschichte liegt auch darin, sich auf die Dynamik des Verhältnisses zwischen Chuskit und ihrem Großvater zu fokussieren. Mit jungen Protagonistinnen und Protagonisten auf Identitätssuche befassten sich auch mehrere Beiträge außerhalb des Kinderfilmfest.
Mitten im Übergang: Eighth Grade
Im Film Eighth Grade des US-Amerikaners Bo Burnham (Filmfestreihe Spotlight) dreht sich alles um die 13-jährige Kayla und ihre letzte Woche in der Middleschool. Sie ist mittendrin im Strudel der Veränderungen. Regisseur Bo Burnham ist als Comedian, Sänger und YouTuber bekannt und sagt, dass er viel von seinen eigenen
Unsicherheiten und Ängsten in die Figur von Kayla gepackt hat. Dabei setzt er seine Hauptprotagonistin in teils extremen Close-Ups in Szene. Dadurch nehmen Zuschauende an Kaylas Blick auf die Welt sehr intensiv Anteil. Im Übergang der Middleschool zur Highschool sehnt sie sich nach wahren Freunden und versucht mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Dabei macht Kayla ihre Sache eigentlich ganz gut. Sie traut sich beispielsweise auf YouTube über sich zu sprechen, darüber, was sie beschäftigt. Auch wenn sich kaum jemand dafür interessiert. Hauptdarstellerin Elsie Fisher spielt die Rolle unglaublich gut. Kaylas Charakter wächst im Laufe der Geschichte und hinterlässt uns – wie auch ihren Vater – mit der Überzeugung, dass sie das alles schon schaffen wird.
Täglicher Terror durch Mitschüler: The Pig
Ganz anders sieht das beim 13-jährigen Rumen in der bulgarisch-rumänischen Produktion The Pig (Filmfestreihe International Independents) aus. Hier steht ein absoluter Außenseiter im Mittelpunkt der Story. Rumen ist dick und unbeholfen und wird aufs Extremste in seiner Schule schikaniert. Auf dem Weg zur Schule steckt er schon die erste Tracht Prügel ein. Zunächst erträgt er all das mit bemerkenswertem Gleichmut, bis eines Tages ein neuer Mitschüler in die Klasse kommt und für Rumen das Fass überläuft. Danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Rumen muss abtauchen. Aber wo soll er denn hin? Mit seinem ersten Feature-Film Shelter (2010) hat der bulgarische Regisseur Dragomir Sholev weltweit mehr als 20 Preise gewonnen. Zuvor hat er mehrere Kurzfilme und eine Dokumentation gedreht. In The Pig gelingt es Sholev auf intensive Weise, die Gewalt und die Anspannung förmlich spürbar zu machen. Dabei hat er viel mit der Spontaneität seines Hauptdarstellers Rumen Georgiev gearbeitet, der sich bis zu einem gewissen Grad selbst gespielt und seine eigenen Erfahrungen als Mobbing- und Gewaltopfer eingebracht hat. Die beinahe dokumentarische Form macht den Film zu einem kontroversen, aber auch sehr eindringlichen Werk, das mit den Grenzen von Fiktion und Realität provokant zu spielen vermag.
- Markus Achatz: Keine Zeit für gewöhnliches Kino
Markus Achatz: Keine Zeit für gewöhnliches Kino
Die Jubiläumsausgabe der Berlinale: neue Leitung, leichte Änderungen der Programmsektionen, ein durchschnittlicher WettbewerB und gute Filmen in GENERATION, der Schiene mit Filmen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (Kplus und 14plus). Viele Diskussionen und Berichterstattungen drehten sich dieses Mal um das neue Berlinale Leitungs-Duo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, wie beinahe in jedem Jahr wurde viel über die Qualität der Wettbewerbsfilme gesprochen und die Frage, welche Stars nach Berlin kämen. An dieser Stelle soll es jedoch um die Filme gehen.
Bei den 70. Internationalen Filmfestspielen 2020 konnte durchaus wieder die Vielfalt der Kunstform Kino gefeiert werden. Die Vorführungen waren bestens besucht und das Publikum hat sich den gesellschaftlichen und politischen Themen vieler Filmbeiträge gestellt. Insbesondere in der Sektion GENERATION war es ein guter Jahrgang, in dem die Zuschauer*innen manche Filme frenetisch bejubelt haben, aber auch die Q&A-Runden für kritische und unbequeme Fragen nutzten. Es gab formal wie inhaltlich anspruchsvolle Filmerzählungen, die auch das junge Publikum herausforderten und bewiesen, dass Kino nach wie vor ein politischer Raum sein kann. GENERATION-Leiterin Maryanne Redpath fasste treffend zusammen: „Dies ist keine Zeit für gewöhnliches Kino“.
Starke Filme von Regisseurinnen
Im Generation Programm liefen insgesamt 59 Filme (ca. die Hälfte davon Langfilme) aus 34 Nationen. 29 Filme waren Weltpremieren und bei knapp 60 Prozent führten Frauen Regie. Eine verstärkt weibliche Perspektive sorgte im Hinblick auf die Themen und Inhalte für spannende Beiträge. Zahlreiche Geschichten stellten Protagonistinnen ins Zentrum und zeigten facettenreiche jugendliche Hauptfiguren: heldenhaft, rebellisch, mutig und provokant, aber auch fragend, offen, verletzlich und einzigartig.
Mädchen, die nicht aufgeben
Drei der Filme für Jüngere in GENERATION Kplus zeichneten sich durch starke Ensembleleistungen aus. Las Niñas (Schoolgirls) handelt von einer Gruppe Schülerinnen in einer katholischen Mädchenschule im Spanien der 1990er Jahre. Nachdem eine neue Mitschülerin in die Klassen gekommen ist, beginnt die eher zurückhaltende Celia (Andrea Fandos) gegen die strengen Regeln aufzubegehren. Zunächst in eher kleinen Gesten, bestärkt durch Texte aus Popsongs und die Dynamik ihrer Peergroup wird die Elfjährige rebellisch und stellt für die Erwachsenen unangenehme Fragen. Nicht zuletzt an die Mutter (Natalia de Molina), die Celias Herkunft bislang hinter einer Fassade aus Lügen verstecken konnte. Regisseurin Pilar Palomero hat in Sarajevo Regie studiert und zeigt mit Las Niñas ihr Spielfilmdebüt.
Zwischen Zugehörigkeit und Abrenzung
Der französische Film Mignonnes (Die Süßen) von Maïmouna Doucouré hat eine thematische Parallelität zu Las Niñas. Auch hier prallen konservative, religiös-motivierte Traditionen der Elterngeneration mit den aufkeimenden Wünschen der Heranwachsenden aufeinander. Amy ist elf und mit ihrer Familie aus dem Senegal nach Paris gezogen. Das Mädchen ist fasziniert von einer Gruppe Mädchen, die für sie ungewohnt freizügig gekleidet sind und jede freie Minute nutzen, um Tanzübungen zu machen. Amys Mutter erfährt, dass der Vater eine Zweitfrau heiraten und sie mit nach Paris bringen wird. Die Mutter ist entsetzt und traurig und ahnt nicht, dass Amy alles mitgehört hat. Unter den wachsamen Augen der streng konservativen Tante muss Amy zur muslimischen Betstunde gehen und helfen, die Zweithochzeit des Vaters vorzubereiten. Sie will aber unbedingt bei der Tanzgruppe dabei sein und auch so modern und sexy aussehen, wie die anderen Mädchen. Das familiäre Drama verdrängend, setzt sie alles daran, zu Tanzen, in der Clique dazu zu gehören – und überschreitet dabei immer mehr die Grenzen. Mignonnes ist bunt und musikalisch. Die ausschweifenden Tanzperformances, in denen sich die Teenies lasziv tanzend zur Schau stellen, irritieren im Verlauf der Geschichte jedoch mehr und mehr. Gegen den Eindruck, dass der Film selbst mit stereotypen Geschlechtsrollen spielt, helfen die Auskünfte der Regisseurin beim Q&A nach dem Screening: Maïmouna Doucouré wollte das Extreme am Zwiespalt der heranwachsen Mädchen zeigen, wenn sie auf der Suche nach ihrer weiblichen Identität sind und sich mit tradierten Rollenbildern auseinandersetzen müssen. Doucourés eigene Erfahrungen sind in die Geschichte eingeflossen. Wirklich stark machen den Film letztlich vor allem die Nachwuchsdarstellerinnen – allen voran Fathia Youssouf (Amy) und Médina El Aidi-Azouni (Angelica).
Trauma des Verlusts
Nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera, bestand das komplette Team im argentinischen Film Mamá, Mamá, Mamá ausschließlich aus weiblichen Akteurinnen. Wie auch in den anderen beiden genannten Filmen, ist auch hier die Regisseurin gleichzeitig die Autorin. Sol Berruezo Pichon-Rivières Debütfilm hat eine starke Exposition: Cleo ist 12 Jahre alt und soeben ist ihre kleine Schwester Erin im familieneigenen Pool hinter dem Haus ertrunken. Das Haus wird nun von Cleos Tante und ihren Töchtern bevölkert, während sich ihre Mutter in ihr Schlafzimmer zurückzieht und nicht mehr ansprechbar ist. Hieraus entwickelt sich ein Kammerspiel, das Cleos nun völlig auf den Kopf gestellte Welt in Bruchstücken aus Gesprächen mit und zwischen ihren Cousinen zeigt, die durch Trauer und Erinnerungsfetzen durchbrochen werden. Nichts wird mehr so sein wie zuvor. Zäh und wie in Trance geht das Leben weiter.
In diesem Jahr hat sich die Internationale Jury von Generation Kplus entschieden, zwei „Lobende Erwähnungen“ auszusprechen, die gleichermaßen an Mignonnes und Mamá, Mamá, Mamá gingen. Den Großen Preis in Kplus hat der Film Los Lobos erhalten.
Wölfe weinen nicht
Gemeinsam mit ihrer Mutter Lucía haben der achtjährige Max und sein drei Jahre jüngerer Bruder Leo ihre mexikanische Heimat verlassen und es in die USA geschafft. In Albuquerque/New Mexico kommen sie in einem kahlen 1-Zimmer-Appartement unter. Die völlig verdreckte Wohnung lässt einem den Atem stocken und alles ist ganz anders, als es sich Max und Leo vorgestellt haben. Sie wollten nach Disneyland und nun müssen sie jeden Tag allein in der notdürftigen Unterkunft bleiben, während ihre Mutter auf Arbeitssuche ist.
Der Film Los Lobos (Die Wölfe) des mexikanischen Filmemachers Samuel Kishi Leopo stellt die Perspektive der beiden Jungs zentral in den Mittelpunkt und rückt dabei stets sehr nah an sie heran. Auf dem mitgebrachten Kassettenrecorder hat Lucía Regeln für die Kinder aufgenommen: Nur mit Schuhen auf den verdreckten Teppich gehen, nicht weinen, sich nach einem Streit umarmen, das Zimmer aufräumen, auf gar keinen Fall jemals das Appartement verlassen. Lucía findet Arbeit, während für die beiden Jungen die Tage allein endlos werden. Die Situation wird zunehmend schwieriger. Sie erhalten die Aufgabe, mit Hilfe des Kassettenrecorders Englisch zu üben. „We want to go Disney. A ticket please.“ Die kahlen Wände des Zimmers werden zu einer Projektionsfläche für Max und Leo, sie zeichnen dort Heldenfiguren, die sie mit ihrer Fantasie zum Leben erwecken. Kishi Leopo webt dazu animierte Szenen in den Film ein. Die Jungen wissen, sie müssen starke Wölfe sein, um zu überleben. „Wölfe weinen nicht. Wölfe beißen. Sie heulen. Und beschützen ihr Zuhause.“
Migrationserfahrung
Los Lobos ist ein Highlight der Berlinale 2020: eindrücklich wie schonungslos, gleichermaßen authentisch und poetisch – der Film fesselt und berührt. Samuel Kishi Leopo erzählt darin seine eigene Geschichte – und die seines jüngeren Bruders. Sie sind in den 1980er Jahren mit ihrer Mutter aus Mexiko in die USA emigriert. Samuels Bruder Kenji Kishi Leopo hat die Musik für den Film komponiert. Sie verstärkt die Intensität der Story noch, indem den einzelnen Hauptfiguren Instrumente und Melodielinien zugeordnet werden. Besonders hervorzuheben sind zudem die außerordentliche Kameraarbeit von Octavio Arauz und die schauspielerische Leistung. Martha Reyes Arias spielt Lucía liebevoll und bestimmt. Die beiden Jungen Maximiliano Nájar Márquez und Leonardo Nájar Márquez sind auch in Wirklichkeit ein Brüderpaar, deren Besetzung sich als wahrer Glücksfall erwiesen hat.
Es sind tiefgehende Szenen, die Los Lobos unvergesslich machen. Beispielsweise wie Max hadert, wenn er zu den im Hof spielenden Kindern gehen möchte, aber weiß, dass er die Wohnung nicht verlassen darf oder wenn die alte chinesische Vermieterin mit den als Ninjas verkleideten Kindern zu Halloween durch die Nachbarschaft zieht.
Die autobiographischen Züge machen Los Lobos zu Samuel Kishi Leopos bislang wichtigsten Film. Vier Jahre hat er am Buch gearbeitet und bei der Recherche für den Dreh im heutigen Albuquerque die Stimmung vorgefunden, die ihn an die eigenen Erlebnisse der 1980er in Santa Ana (Kalifornien) erinnert haben. Angesichts der heutigen Lage an der Grenze zwischen Mexiko und den USA sowie den weltweiten Flüchtlingsbewegungen ist die Geschichte von Max, Leo und Lucía top aktuell und politisch. Bei seinen Vorarbeiten ist Samuel Kishi Leopo auf den Roman Archiv der verlorenen Kinder der mexikanischen Autorin Valeria Luiselli gestoßen. Das Buch schildert ebenfalls sehr empathisch und leidenschaftlich individuelle Schicksale von Flucht anhand von biographischen Elementen vor dem Hintergrund globaler humanitärer Tragödien (erschienen 2019 im Verlag Antje Kunstmann).
Wähle das Leben!
Im 14plus-Beitrag Kaze No Denwa (Voices in the Wind) nimmt der renommierte japanische Autorenfilmer Nobuhiro Suwa uns und seine Hauptfigur, die 17-jährige Schülerin Haru (Serena Motola) auf eine Reise durch Japan mit. Die Eingangssequenz des Films zeigt eine Texttafel, die erläutert, dass Haru beim Tsunami des Jahres 2011 ihre Eltern und ihren Bruder verloren hat. Wie viele andere Opfer, sind sie bis heute vermisst. Damals war Haru neun Jahre alt. Seit der Katastrophe lebt sie bei ihrer Tante Hiroko (Makiko Watanabe) in der Präfektur Hiroshima. Als beide zum Essen zusammensitzen, überlegt die Tante, bald nach Ōtsuchi zu reisen. Dem Ort, an dem Haru und ihre Familie bis zum Tōhoku-Erdbeben gelebt haben. Haru murmelt nur etwas. Sie redet ohnehin wenig, was sich durch die gesamte Geschichte zieht. Mit einigen wenigen Ausnahmen, wenn sie ihren Schmerz und ihre Trauer in die Welt hinausschreit. Der Verlust lastet schwer auf Haru, aber mindestens genauso stark bedrückt sie die Tatsache, die einzige Überlebende ihrer näheren Familie zu sein. Für das Mädchen wird die Lage noch prekärer, als sie die Tante ohne Bewusstsein im Haus findet. Wartend verbringt sie die Nacht im Krankenhausflur. Die Tante lebt, ist aber nicht ansprechbar. Haru macht sich auf den Weg, um Antworten auf ihre vielen offenen Fragen zu suchen. Die Reise führt sie durch ganz Japan von Hiroshima über Tokio nach Fukushima und weiter bis Ōtsuchi. Dort wartet ein Ziel auf sie, von dem sie zunächst nichts ahnt.
Der 60-jährige Regisseur Nobuhiro Suwa thematisiert in seinen Filmen häufig Reisen und Aufbrüche, lässt seine Protagonist*innen Streunen und Suchen. Er war bereits vor zehn Jahren mit der Filmparabel Yuki & Nina (2009) bei Generation auf der Berlinale vertreten (Rezension in merz 3-2010) und drehte für Paris, je t’aime (2006) die Episode „Place des Victoires“ (mit Juliette Binoche und Willem Dafoe). Auch in Kaze No Denwa verläuft der Roadtrip in Etappen. Das Mädchen trifft auf unterschiedliche Menschen, die für eigene Episoden stehen und jeweils auf empathische Weise Haru auf ihrer Reise weiterhelfen. In den kurzen, aber intensiven Begegnungen lassen sie Haru an ihrem eigenen Schicksal teilhaben und die schweigsame 17-Jährige lernt, dass sie mit ihrem Verlust nicht allein ist. Gleichzeitig nimmt das Mädchen, wenn es weiterzieht, stets ein kleines bisschen von der Last der Menschen mit. Da ist zum Beispiel Kohei (Tomokazu Miura), der Haru weinend auffindet und zu seinem Haus mitnimmt, das durch Zufall von einem Erdrutsch verschont geblieben ist. Hier lebt er mit seiner dementen Mutter. Diese hält Haru zunächst für ihre Tochter, die wie sich herausstellt, vor Jahren Selbstmord begangen hat. In ihren lichten Momenten hat die alte Frau noch gute Erinnerungen an die Atombombe auf Hiroshima. Nach weiteren Episoden trifft Haru auf den ebenfalls stillen Morio (Hidetoshi Nishijima) aus Fukushima, der in seinem Van wohnt, aber ruhelos umherfährt. Morio beschließt Haru bis nach Ōtsuchi zu bringen. Unterwegs halten sie in Fukushima an Morios Haus, das er und seine Familie vor acht Jahren verlassenen haben. Haru erfährt, dass Morio im Atomkraftwerk von Fukushima tätig war und bei der Katastrophe seine Frau und seine Tochter verloren hat. Schließlich erreicht Haru nach rund 1.300 km Ōtsuchi und findet bei den letzten Fundamenten ihres ehemaligen Zuhauses nichts weiter als eine unendliche Einsamkeit. Sie kann jedoch hier ihre Trauer zulassen und hat auf der Reise erkannt, dass es Viele gibt, die Grund zum Verzweifeln haben, aber dennoch nicht aufgeben.
Telefonanschluss ins Jenseits
Harus Weg führt sie noch an ein weiteres Ziel: im Hinterland von Ōtsuchi steht in einem blühenden Garten ein weißes Telefonhäuschen mit einem alten Wählscheibenapparat. Dieser hat keinen Anschluss, kann aber genutzt werden, um mit jenen zu sprechen, die anders nicht mehr zu erreichen sind. Haru hat noch so viele Fragen an ihre Eltern, die sie über das „Wind-Telefon“ stellen kann und die ihr helfen, das zu bewältigen, was noch kommen wird. Haru spricht die längsten Sätze des gesamten Films und aus ihnen klingt nicht nur die unermessliche Trauer, sondern auch ein bisschen Hoffnung: „Ich werde am Leben bleiben. Wenn ich zu euch komme, werde ich eine richtig alte Dame sein. Ich freue mich darauf."
Kaze No Denwa (Voices in the Wind) beruht auf der realen Erdbeben- und Nuklear-Katastrophe vom März 2011 und der wahren Geschichte des „Wind-Telefons“, das sich tatsächlich in diesem idyllischen Garten über dem Meer befindet. Nobuhiro Suwa hat seinen Spielfilm Itaru Sasaki gewidmet, der bereits 2010 – zunächst nur für sich – den Garten und das Telefonhäuschen errichtet hat, um mit seinem verstorbenen Cousin in Kontakt bleiben zu können. Nach dem Tōhoku-Erdbeben und Tsunami, der die Region hart getroffen hat, wurde der magische Ort immer bekannter. Bis heute haben um die 30.000 Menschen Itaru Sasakis Telefon benutzt, das an keine Leitung angeschlossen ist, aber mit dem dennoch eine Verbindung aufgebaut werden kann. Der Film erhielt die „Lobende Erwähnung“ der Internationalen Jury Generation 14plus.
Diversität und Politik
Der Große Preis der Internationalen Jury 14plus wurde an den brasilianischen Film Meu Nome é Bagdá (My Name is Baghdad) vergeben. Ein originelles und engagiertes Plädoyer für Gleichberechtigung und eine offene, tolerante Gesellschaft. Regisseurin Caru Alves de Souza stellt die 17-jährige Skaterin Bagdá ins Zentrum der Geschichte. Sie ist ein selbstbewusstes Mädchen, das Ungerechtigkeit anmahnt und vor allem von ihren männlichen Skater-Kollegen mehr Respekt einfordert. Hauptdarstellerin Grace Orsato stammt selbst aus der riesigen Skaterszene von São Paulo. Sie engagiert sich für bessere Bedingungen der weiblichen Skaterinnen und für einen offeneren Umgang in der brasilianischen Gesellschaft. Der Film macht auf Diskriminierung, Gewalt und Sexismus aufmerksam und zeigt sehr authentisch – auch durch die eingesetzten Laiendarsteller –Anderssein und Vielfalt als Werte des Zusammenlebens. Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Brasilien ein hoch politisches Statement.
- Markus Achatz: Väterrollen und Kinderschicksale
Markus Achatz: Väterrollen und Kinderschicksale
Jedes Jahr wird nach zehn Tagen Berlinale und einem rappelvollen Filmprogramm Resümee gezogen, über die Qualität der Beiträge, die Stimmung, den Promifaktor und das Festival an sich. Die Bilanzen für die 62. Internationalen Filmfestspiele fielen positiv aus. Ein guter Wettbewerb und viele Highlights in allen Programmsparten. Zahlreiche Filme näherten sich gesellschaftlichen und politischen Themen, zeigten ergreifende Schicksale, machten auch Hoffnung und weiteten den Blick über den eigenen Ausschnitt der Welt hinaus. Sektionenübergreifend wurden immer wieder unterschiedliche Familienkonstellationen in den Fokus gestellt: Familien oder Teile von Familien, die sich auf neue Situationen, veränderte Voraussetzungen, andere Bedingungen einstellen müssen.
Der Weg als Ziel: Arcadia
Der US-Independent Film Arcadia handelt vom Umzug einer Familie im Auto quer durch die Vereinigten Staaten, von New England nach Kalifornien. Der Zielort Arcadia, eine 50.000 Einwohner-Stadt, ist künftiger Wohnort der Familie und für den Vater Tom der neue Arbeitsplatz. Mit seinen drei Kindern – der zwölfjährigen Greta, dem sechsjährigen Nat und der 16-jährigen Caroline – macht sich Tom auf die lange Reise im vollgepackten alten Kombi. Die Mutter würde später nachkommen. Während vieler Stopps führt Tom aufgeregte Telefonate, angeblich geschäftlich. Wenn die Kinder die Mutter anrufen möchten, wiegelt Tom ab oder sie erreichen nur den Anrufbeantworter. Tom bemüht sich unterwegs um gute Stimmung, doch die Fahrt zieht sich hin und allmählich zehren die Strapazen an den Nerven aller. Als aufgrund des teuren Eintritts der Grand Canyon kurzfristig von der Route weichen muss, ist die Laune im Wagen am Tiefpunkt. Greta wird immer klarer, dass hier etwas von Grund auf nicht stimmt und sie ist sich sicher, dass Tom die ganze Wahrheit vor ihnen verbirgt. Was ist mit ihrer Mutter wirklich los? Diese Tour ist auch Gretas Reise in ein neues Leben. Eine Coming of Age-Geschichte, in der Greta allmählich reifer wird, und gleichzeitig eine Entwicklungsgeschichte für den Vater und die gesamte Familie. Tom muss erkennen, dass auch Greta kein Kind mehr ist. Arcadia ist ein bemerkenswertes Roadmovie, das die Geschichte über die Zerrissenheit einer Familie in ein Auto sperrt und sie auf eine 2.800 Meilen weite Reise schickt. Die Handlung spielt die meiste Zeit unterwegs im Fahrzeug, an Raststätten, Tankstellen und in Motels. Die abwesende Mutter ist ständig präsent. Die Kinder haben Sehnsucht nach ihr, eine Kontaktaufnahme misslingt jedoch. Der Vater verschließt sich zunehmend. Erst spät wird klar, was tatsächlich geschehen ist: Die Mutter ist nach einem Nervenzusammenbruch in psychiatrischer Behandlung und wird auf absehbare Zeit nicht nach Kalifornien nachkommen. Greta ist einerseits tief verletzt, dass man ihr nicht von vornherein die Wahrheit gesagt hat, lernt aber auch zu verstehen, warum ihr Vater sie zunächst vor der Realität schützen wollte. Eine Szene verdeutlicht den Entwicklungsprozess, als Greta vor einem Abgrund steht und ihren Stoffhasen Harrison, den sie immer bei sich hatte, hinunterwirft. John Hawkes (Tom) wurde 2011 für seine Rolle des Teardrop in Winter’s Bone für den Oscar nominiert. In Deutschland ist er etwa durch Auftritte in From Dusk Till Dawn (1996), Rush Hour (1998) und zuletzt in der TV-Serie Lost (als Lennon) bekannt. Brillant besetzt sind auch die Kinder – etwa mit Ryan Simpkins als Greta, A Single Man, 2009, Unter Kontrolle, 2008 und Twixt, 2011 (Regie: Francis Ford Coppola), Ty Simpkins als Nat und Kendall Toole als Caroline. Der Soundtrack wurde von der US-Indiefolk-Band The Low Anthem eingespielt, die 2011 mit Boing 737 einen kleinen Hit hatten. Die sparsam instrumentierten Stücke lassen den Originaltönen, dem Highwaylärm, aber auch dem Wind und nächtlichen Zikaden, genügend Raum. Die Kinderjury der 62. Berlinale verlieh an Arcadia den Gläsernen Bären als besten Langfilm im Programm der Sektion Generation Kplus. Aus der Begründung: „Eine Familie merkt, dass man seinen Problemen nicht davonfahren kann. Diese authentische Geschichte und die ganz natürlich wirkenden Schauspieler haben uns tief berührt. Eine große Reise und ein in jeder Hinsicht bewegender Film!“
Krisenreise: Orchim Lerega
Auch in diesem Jahr war wieder ein besonderer Film aus Israel im Generation-Programm zu sehen. Als Beitrag bei 14plus lief der erste Langfilm der 32-jährigen Regisseurin Maya Kenig. Orchim Lerega (Off White Lies) ist ebenfalls ein Roadmovie, in dessen Mittelpunkt eine Tochter-Vater-Beziehung steht. Die 13-jährige Libby und ihr Vater Shaul reisen durch Israel, allerdings im Gegensatz zu Arcadia ohne festes Ziel. Es ist eher eine Tour aus Verlegenheit. Zu Beginn kommt Libby mit Koffer, Topfpflanze und gemischten Gefühlen nach Israel. Eigentlich lebt sie mit ihrer Mutter in Los Angeles und soll nun mit ihrem Vater Zeit verbringen, den sie aber eigentlich gar nicht kennt, denn die Eltern haben sich getrennt als Libby drei Jahre alt war. Shaul holt seine Tochter mit dem Auto am Flughafen ab. Anstatt wie erwartet, zu Shauls Haus zu fahren, machen sie sich auf eine Reise durch Israel. Wie sich nach und nach herausstellt, ist der erfolglose Erfinder völlig pleite und hat keine Wohnung mehr. Zunächst kommen die beiden bei verschiedenen Bekannten von Shaul unter. Im Norden geraten sie in die Bombenangriffe des zweiten Libanonkriegs und reisen wieder in den Süden. Dort geben sie sich als Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet zum Libanon aus und kommen bei wohlhabenden Fremden unter. Shaul tischt immer mehr Lügengeschichten auf. Libby findet langsam Vergnügen an der Komplizenrolle. Trotzdem muss sie ihren eigenen Platz im Leben finden, sich eine Meinung bilden und eigene Entscheidungen fällen. Mit der falschen Identität und den Lügen werden sie auf Dauer nicht durchkommen. Maya Kenig gelingt es überzeugend, die konfliktbeladene politische Lage Israels mit der Reise ihrer Figuren zu verflechten. Die brisante Lage des Landes korrespondiert mit dem Ausnahmezustand, in dem sich Vater und Tochter befinden. Wie auch Olivia Silver in Arcadia schildert Maya Kenig auf ungewöhnliche Weise die Entwicklung einer unvollständigen Familie und wählt das Motiv einer symbolhaften Reise. Väter, die in ihrer Rolle an Grenzen geraten sind, stehen im Mittelpunkt. Ihre Kinder reifen an und mit den ungewöhnlichen Situationen und eröffnen dabei ihren Eltern neue Sicht- und Denkweisen.
Kindlicher Vogelvater: Kauwboy
Ebenfalls einer Vater-Kind-Beziehung widmet sich der niederländische Kplus-Beitrag Kauwboy. Der zehnjährige Jojo lebt allein mit seinem Vater Ronald, der als Wachmann arbeitet und nach außen streng und unzugänglich wirkt. Dennoch wird von Beginn an klar, dass Vater und Sohn eine besondere Beziehung zueinander haben, die mit der Absenz der Mutter verwoben ist. Der Tag beginnt mit einem Vater-Sohn-Ritual: Ronald fährt mit dem Auto zur Arbeit, gleichzeitig sprintet Jojo los und rennt so schnell er kann über Treppen, Wiesen und Abkürzungen bis zu einer Brücke, unter der der Vater hindurchfährt. Wer schneller dort ist, hat gewonnen. Eines Tages findet Jojo auf Streifzügen durch die Gegend eine junge Dohle, die aus dem Nest gefallen ist. Er kümmert sich um den Vogel und versteckt ihn heimlich. Sein unbeherrschter Vater hat ihm verboten ein Haustier zu haben, denn die würden immer sterben. Ronald verbietet alles, was auf die Mutter hinweist, auch dass Jojo für sie einen Geburtstagskuchen bäckt, obwohl sie nicht da ist. Der Vogel gibt Jojo Halt und eine Aufgabe. Zum Glück gibt es aber auch noch Yenthe aus Jojos Wasserballmannschaft, mit der sich Jojo anfreundet. Die Zeit mit Yenthe und der jungen Dohle ist für Jojo entscheidend, denn er muss die Wahrheit akzeptieren, dass nämlich seine Mutter nicht auf einer Konzertreise mit ihrer Band ist. Regisseur Boudewijn Koole hat einen berührenden Film gemacht, der eindringlich den sorgenvollen Alltag der Protagonisten schildert, gleichzeitig aber – wie seine Hauptfigur Jojo – immer Kauwboy: Jojo (Rick Lens) findet Halt und Freundschaft bei Yenthe (Susan Radder) wieder auf die Freude an den schönen Momenten abzielt. Es ist die intensive Geschichte über die dunklen und lichten Momente zwischen einem Vater und seinem Sohn, an dessen Ende sich beide wieder neu zusammenfinden müssen, um an einen neuen Anfang denken zu können. Ein Film über Verlust und Hoffnung. Die Geschichte wird getragen durch das intensive Spiel der Hauptfiguren. Kauwboy erhielt den sektionenübergreifenden Preis für den besten Erstlingsfilm der gesamten Berlinale 2012 sowie den Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks für den besten Spielfilm in Generation Kplus. Aus der Jurybegründung Kplus: „Mit seiner klaren und tiefgreifenden Art hat uns der Film schnell gepackt, und in dem Kummer, mit dem der kleine Junge kämpft, auch sehr bewegt. Wunderschöne visuelle Momente, ein kleiner schwarzer Vogel und ein blauer Kaugummi sind weitere Zutaten dieses besonders originellen Films.“
Kind von Traurigkeit: Kid-Thing
„Hast Du schon einmal etwas ganz Merkwürdiges gesehen?“ Die Frage der zehnjährigen Annie an ihren Vater im Film Kid-Thing bleibt unbeantwortet. In dem Independent Film aus der Berlinale-Sektion FORUM werden Vater und Tochter nicht mehr zueinander finden. Auch in dieser Geschichte gibt es keine Mutter. Der Vater hat die Beziehung zu seiner Tochter mehr oder weniger abgebrochen. Er kommuniziert kaum mit ihr und Annies Welt wirkt durch und durch sonderbar. Vater Marvin (verstörend dargestellt von Co-Regisseur/Produzent Nathan Zellner) kümmert sich entweder nur um seine Ziegen und Hühner oder bastelt mit seinem ebenfalls zweifelhaften Kumpel an Feuerwerkskörpern. Der Ort, an dem sie leben, hat eine Tristesse, die es mit jener in Debra Graniks Winter’s Bone locker aufnehmen kann. Annie streunt ziellos durch die Gegend und zerstört alles, was ihr in die Quere kommt. Im Wald hört sie eines Tages eine unheimliche Stimme aus einem dunklen Erdloch. Eine Frau ruft verzweifelt um Hilfe und bittet Annie, einen Erwachsenen zu verständigen. Doch Annies Weltsicht ist nicht auf die Unterstützung durch Erwachsene ausgerichtet. Obwohl Annie davon überzeugt ist, sich vor nichts zu fürchten, wird sie durch die merkwürdige Stimme aus dem Dunkel verunsichert. Doch – wie sonst auch – geht Annie auf ihre eigene Weise damit um. Immer wieder geht sie zu der Stelle im Wald, spricht mit Esther, der Frau in der Grube, und bringt ihr selbst geschmierte Brote mit Erdnussbutter. Dazwischen zieht sie weiter durch die Gegend, stiehlt tiefgekühlte Teigdosen im Minimarkt, wirft Teig auf Autos oder sprengt Bananen in die Luft. In einer Sequenz, die auf den ersten Blick so etwas wie Orchim Lerega: Mit ihrem Vater Shaul (Gur Bentwich) hat es Libby (Elya Inbar) nicht immer leicht „Normalität“ in Annies Leben andeutet, sieht man sie mit gleichaltrigen Mädchen in einem Fußballverein. Doch selbst dies führt ins Groteske: Zum einen als Marvin erwähnt, es habe jemand vom Fußballverein angerufen und er wüsste gar nicht, dass Annie Fußball spiele, zum anderen als klar wird, dass Annie aus dem Club geworfen wird, weil sie in jedem Spiel wegen groben Foulspiels eine rote Karte sieht. Kid-Thing blickt ins dunkle Herz des trostlosen amerikanischen Hinterlands. Der Film der Zwillinge David und Nathan Zellner ist eine Fabel, die sich in eine abstruse, trostlose Welt einklinkt und diese dabei nahezu dokumentarisch beobachtet. Nichts scheint den zermürbenden, trägen Rhythmus des Lebens zu durchbrechen. Weder als Marvin nach einer Herzattacke zwischen seinen Ziegen liegenbleibt, noch als Esthers Hilferufe aus dem Erdloch verstummen. Am Ende springt Annie selbst in die unergründliche, schwarze Grube. Die Zellner Brothers moralisieren nicht, sie überlassen das Kind ihren Entscheidungen. Die Protagonistin kann auf eine Unterstützung durch die Erwachsenenwelt nicht bauen und agiert mit den eigenen, limitierten Wertvorstellungen. Annies Schicksal wird in keiner Weise pädagogisiert. Die Kamera begleitet sie durch bizarre Begebenheiten bis zum fatalen Sprung ins Unbekannte.
Große Belastungen, extreme Höhen
Ein schweres Los tragen die kindlichen Hauptfiguren auch in weiteren sehenswerten Beiträgen dieser Berlinale. Der Umgang des neunjährigen Oskar mit dem tragischen Tod seines Vaters steht im Mittelpunkt von Jonathan Safran Foers faszinierendem Roman Extremely Loud and Incredibly Close. Regisseur Stephen Daldry (u. a. Billy Elliott, 2000, Der Vorleser, 2008) hat hieraus unter gleichem Titel (dt. Extrem Laut und Unglaublich Nah) ein intensives und bildgewaltiges Kinodrama inszeniert. Oskar Schell erlebt unmittelbar den 11. September 2001 in New York, sein Vater stirbt bei dem Terrorangriff. In einem Schlüssel, den der Junge findet, vermutet er ein Rätsel, hinter dessen Lösung sich eine letzte Botschaft seines Vaters verbirgt. Mit allen verfügbaren Kräften macht er sich daran, diese Aufgabe zu lösen. Neben den Hollywoodgrößen Tom Hanks (Oskars Vater) und Sandra Bullock (Oskars Mutter) stechen zwei Darsteller besonders hervor: Nachwuchstalent Thomas Horn als Oskar und „Grandseigneur“ Max von Sydow als „Mieter“. Eine bewegende und tiefsinnige Geschichte, ohne Scheu vor großen Kinobildern. (Dt. Kinostart war am 16.2.2012, DVD im Sommer). Der Film lief im Berlinale-Wettbewerb außer Konkurrenz. In ihrem zweiten Langfilm L’Enfant d‘en Haut (Sister) erzählt die Schweizer Regisseurin Ursula Meier (Home, 2008) die Geschichte des zwölfjährigen Simon. Der Film spielt in einem beliebten Wintersportgebiet. Hoch oben am Berg gastieren die Reichen und Schönen inmitten der weißen Pracht, unten flankieren graue Gewerbeparks und einzelne marode Hochhäuser die Talsohle. Die Umgebung wirkt noch öder, wenn das Frühjahr schon den Schnee im Tal getilgt hat. Simon haust gemeinsam mit einer jungen Frau – seiner älteren Schwester Louise – unten in einem Sozialbaublock und sorgt durch regelmäßige Diebeszüge, für die er mit der Bahn nach oben fährt, für den Lebensunterhalt. Die geklauten Skier und Wintersportartikel verkauft er an Saisonarbeiter, Mitschüler und Durchreisende. Louise ist meist mit zwielichtigen Typen unterwegs und taucht nur ab und zu bei Simon auf. Im Laufe des Films gewinnt die Figur der Louise zunehmend an Gewicht und die Geschichte kreist immer mehr um die eigentümliche Beziehung der beiden. Léa Seydoux (Mission Impossible 4, 2011, Leb wohl, meine Königin, 2012), deren Louise teils skizzenhaft und unberechenbar bleibt, und Kacey Mottet Klein (Home, 2008, Gainsbourg, 2010) als Simon, sind bestechende Darsteller. Ihre gegenseitige Abhängigkeit erhält im Verlauf der Geschichte eine neue Dimension und die Zuschauer müssen für die Situation, in der sich Simon und Louise befinden, neue Koordinaten festlegen. Ursula Meiers sensibles Drama zeigt einen Jungen in der „Versorgerrolle“, der das Kindsein nicht wirklich gelernt hat, die Fürsorge einer Mutter aber schmerzlich vermisst. Alles hat in dieser Geschichte seinen Preis – selbst die Liebe – und sei es nur die zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Meier findet beunruhigende Momente, um das zu verdeutlichen. L’Enfant d’en Haut erhielt als „Sonderpreis der Jury“ einen Silbernen Bären. „Papa?“ Das erste Wort im indonesischen Wettbewerbsbeitrag Kebun Binatang (Postcards from the Zoo) wird ein halbes Dutzend Mal wiederholt. Ein kleines Mädchen läuft allein durch den Zoo von Jakarta und ruft nach seinem Vater. Es bleibt offen, ob es ausgesetzt oder zunächst nur verloren wurde, jedenfalls bleibt Lana in diesem Zoo bis sie eine junge Frau geworden ist. Sie schläft auf dem Gelände und wächst mit den Tieren auf. Zur einzigen Giraffe entwickelt sie eine besondere Bindung. Die Tierpfleger und die Tiere sind Lanas Familie. Erst ein märchenhafter Cowboy mit Zauberkräften, der plötzlich wie eine Sehnsuchtsfigur auf der Bildfläche erscheint, lockt Lana in ein Leben außerhalb des begrenzten Terrains und holt sie aus dieser wundersamen Welt. Der Zoo als bislang einziger magischer Ort in den Augen des Mädchens bekommt Konkurrenz.
- Markus Achatz/Michael Bloech: Auf der Suche nach einem Platz
Markus Achatz/Michael Bloech: Auf der Suche nach einem Platz
Mehr als 400 Filme liefen dieses Jahr auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin. Allein in der Sektion GENERATION für Kinder (Kplus) und Jugendliche (14plus) waren es 66 Filme aus 43 Nationen. In der 40. Ausgabe von GENERATION wurden 2017 mehr Dokumentarfilme ins Programm aufgenommen, was auch auf die anderen Berlinale-Sektionen zutraf. Ein Indiz dafür, dass viele Filmemacherinnen und -macher versuchen, näher an der Realität anzudocken. Die Berlinale versteht sich seit vielen Jahren auch als ein Anker für politische und gesellschaftliche Themen im Kino. Dokumentarischen Formen kommt an dieser Stelle eine besondere Bedeutung zu, aber auch Fiktionales vermag den Blick auf gesellschaftliche und politische Prozesse zu schärfen und den Diskurs darüber zu befördern. Sowohl in den Filmen und ihren Storys als auch in den Kommentaren und Statements im Rahmen der Berlinale zeigte sich dieses Jahr politische Verunsicherung. Große Utopien sind gescheitert, die globalisierte Welt ist entzaubert. Festivaldirektor Dieter Kosslick bemerkte dazu, dass viele Filmkünstlerinnen und -künstler „versuchen, die verunsichernde Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte zu verstehen. Vielleicht sind es ja die Geschichten von starken Individuen und die Ideen herausragender Künstlerinnen und Künstler, die an die Stelle der großen Utopien treten.“
Leben im und nach dem Krieg
Im Dokumentarfilm Shkola nomer 3 (School Number 3) aus der Ukraine begegnen wir gleich 13 bemerkenswerten Persönlichkeiten: Es sind Jugendliche aus Mykolaivka (Slowjansk/Donbas), einer im Konflikt mit Russland 2014 zerstörten und teils wieder aufgebauten Stadt. Die Schülerinnen und Schüler berichten vor der Kamera jeweils eine persönliche Erinnerung aus ihrem jungen Leben. Mit Mut und deutlicher Emotion erzählen sie von ihren Gefühlen, von Erlebnissen, von Ängsten und Hoffnungen. Die Kamera bleibt während des Erzählens meist statisch. In Zwischenszenen sehen wir die Jugendlichen von einer bewegten Kamera begleitet, wie sie beispielsweise auf einer Anhöhe über der Stadt vor den Schornsteinen einer großen Fabrik herumstreunen oder mit dem geliebten Hund spielen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Jugendlichen sind geprägt von den Erlebnissen aus einem aktuellen Krieg. 13 Leben in einem Zwischenraum. Nicht mehr Krieg und auch kein Frieden, keine Resignation und keine reine Hoffnung, aber auf der Suche nach einem Platz in der Welt. Entstanden als Fortsetzung eines Theaterprojekts und erweitert mit den ästhetischen Mitteln eines Films erhielt Shkola nomer 3 den Großen Preis der Internationalen Jury in der Sektion GENERATION 14plus für den besten Film. Bemerkenswert am Gesamtkonzept ist vor allem die Intensität, mit der das Regie- Team einen Raum des Vertrauens zwischen der Kamerafrau und den jugendlichen Protagonistinnen und Protagonisten erzeugt hat. Zitat der Preisjury: „Dieser Film lässt dem Narrativ des Krieges keine Überhand gegenüber der emotionalen Welt seiner jungen Charaktere gewinnen, die uns erlauben, Zugang zu den innigsten und intimsten Details ihres Lebens zu erhalten.“
Vom Tod lernen
Innig und intensiv sind auch die Annäherungen an die Protagonistinnen und Protagonisten im ungewöhnlichen Dokumentarfilm Almost Heaven der britischen Regisseurin Carol Salter. Sie begleitet die 17-jährige Ying Ling bei ihrer Ausbildung zur Bestatterin in einem der größten Bestattungsunternehmen Chinas. Die Lehrlinge arbeiten in 24-Stunden-Schichten und kommen häufig aus weit entfernten Orten. Für Ying Ling ist der Umgang mit Toten anfangs schwierig und mit den anderen Lehrlingen gemeinsam übt sie zunächst an Puppen oder untereinander, bevor die Reinigungen an den Verstorbenen durchgeführt werden. Nach vorgebebenen Ritualen werden die Toten für das Begräbnis vorbereitet. Was Ying Ling erlebt, reicht von der Angst vor den Geistern der Toten in den kalten Gängen des Krematoriums bis zu den kindlichen Scherzen mit ihrem Teamkollegen. Zwischen ihr und dem gleichaltrigen Kollegen bahnt sich eine behutsame Freundschaft an. Carol Salter hat sich auf die Portraits besonderer Menschen in unterschiedlichen Kulturkreisen und auf ungewöhnliche Geschichten spezialisiert und nähert sich auch diesem Thema mit viel Sensibilität. Ein interessanter Einblick in eine uns sonst eher verborgene Welt.
Väter und Söhne auf Reisen
Jorge fährt mit seinem achtjährigen Sohn Valentino auf das Land. Primero enero (Anfang Januar) handelt im argentinischen Calamuchita-Tal, wo die Familie ein Ferienhaus besitzt, das aufgrund der Trennung der Eltern verkauft werden soll. In alter Tradition soll Valentino als Heranwachsender dort einige Aufgaben erfüllen: auf einen Berg wandern, einen Baum fällen, Fischen gehen oder im eiskalten Fluss tauchen. Der Junge beginnt zunehmend, den Sinn der Riten anzuzweifeln. Der Vater zeigt dafür aber wenig Verständnis. Das Spielfilmdebüt des 29-jährigen Regisseurs Darío Mascambroni, der in der Sektion GENERATION Kplus gezeigt wurde, ist ein schweigsamer Film und eine zähe Angelegenheit. Über weite Strecken bleibt das Zusammenspiel der beiden Figuren uninspiriert. Die Inszenierung ist hölzern und die Zuschauenden werden auf Distanz gehalten. In seltenen Augenblicken kommt die schöne Landschaft zur Geltung, wobei die Protagonistinnen und Protagonisten eher teilnahmslos bleiben. Bereits in der endlos wirkenden Eingangsszene blickt die Kamera in einer dialogfreien Autofahrt entweder von hinten starr auf Vater und Sohn, die durch das Gegenlicht der Windschutzscheibe unkenntlich bleiben, oder durch ein trübes Heckfenster, das die Umgebung kaum sichtbar macht. Das junge Publikum im Kino verhält sich mit Ausnahme einzelner Unmutsäußerungen überraschend ruhig, bis zu einer Szene, in der Valentino wohl erfahren muss, wie ein Lamm geschlachtet wird. Die Kamera rückt so nahe ans Geschehen, wie während der gesamten Zeit zuvor nicht, und zeigt das Abtrennen des Lammkopfes mit einem großen Messer. Wie die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer im Kino bleibt auch der kleine Valentino in der Geschichte nicht unbeeindruckt und verweigert am Abend den gegrillten Braten. Im Publikumsgespräch räumt der auf die Szene angesprochene Regisseur ein, dass das Lamm wirklich getötet wurde, und hinterlässt dennoch viele Fragen. Ein merkwürdiger Höhepunkt in einem Film, der das kindliche Publikum ‚ab 9 Jahren‘ irritiert und den erwachsenen Kinderfilmrezensenten ärgert.
Deutlich mehr Nähe zu seinen Hauptfiguren schafft Thomas Arslan im deutschen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag Helle Nächte. Auch hier wird die Reise eines Vaters mit seinem Sohn in die abgeschiedene Natur thematisiert: Der in Berlin lebende Österreicher Michael fährt zur Beerdigung seines Vaters nach Norwegen. Er nimmt seinen 15-jährigen Sohn Luis mit, zu dem er seit vielen Jahren kaum Kontakt hatte. So wie Michael mit seinem Vater jahrelang nicht gesprochen hatte, sind sich auch er und Luis fremd. Für Michael wird die Reise zu einem Versuch, Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten und an Luis wieder enger heranzurücken. Für Luis ist das Reiseziel Nordnorwegen zwar interessant, er weiß aber selbst nicht, was das alles überhaupt soll. Dem Vater gegenüber bleibt er reserviert bis ablehnend. Helle Nächte ist ebenfalls ausgesprochen langsam, beinahe träge. Nichtsdestotrotz ist Arslan ein emotional intensives Zusammenspiel von Vater und Sohn gelungen, das mit einigen dramaturgischen Finessen aufwartet. Die weite und karge Landschaft in der nordnorwegischen Provinz Troms trägt wesentlich zur Geschichte bei. Es gibt längere Passagen, die im Auto spielen. Für Vater und Sohn einerseits ein Schutzraum vor Wetter und Naturgewalt, andererseits ein Gefängnis, in dem sie zusammen eingepfercht sind – gleichsam in der Begrenzung des eigenen emotionalen Raums. Georg Friedrich hat den Silbernen Bären als bester Darsteller erhalten. Wenngleich sich die Art, wie er die Rolle des Vaters spielt, nicht so sehr von seinen anderen Auftritten unterscheidet, wirkt Friedrichs larmoyante, teils enervierende Sprechweise in diesem Film authentisch und macht das Unverständnis und die steigenden Aggressionen des Sohnes umso nachvollziehbarer. Tristan Göbel meistert dies in seiner Rolle als Luis ganz hervorragend und verleiht der Aura des schweigsamen, zuweilen geheimnisvollen Jungen, die er in Winnetous Sohn (2015) oder in den Rico und Oskar-Filmen zeigte, eine neue Facette. Im Verlauf der Geschichte tauchen die beiden Protagonisten immer tiefer in die Berg- und Nebelwelt ein. Das Tempo der Reise wird abermals gedrosselt und Worte werden gänzlich überflüssig. Am Ende steht eine große Offenheit für die Suche nach einem Platz in der Welt und vielleicht sogar für neue Utopien.
Das ‚schwache Geschlecht‘ auf der Berlinale ganz stark!
Generell glänzen im filmischen Mainstream primär männliche Helden, die ihre Probleme auch oft durch maskuline Autorität lösen. Daher scheint es legitim, Filme einmal genauer zu betrachten, die Heldinnen in den Mittelpunkt rücken.
Ein Mädchen im Kampf mit ihrer Krankheit
In der Sektion Kplus lief die turbulente deutschitalienische Produktion Amelie rennt von Tobias Wiemann, die den Kampf eines 13-jährigen Berliner Mädchens gegen ihre Asthmaerkrankung schildert. Eindringlich, aber ohne Betroffenheitsmelancholie, legt der humorvolle Film seinen Blick auf das Problem von Heranwachsenden, die vermeintlich keine eigenen Schwächen zeigen dürfen. Wie eine Drogenabhängige hängt das Mädchen an ihrem Asthmaspray, verheimlicht die ständige Benutzung und lehnt zunächst die für sie so dringend notwendige Behandlung in einer Südtiroler Klinik ab. All dies zeigt ihre innere Wut auf eine Krankheit, die ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Atem abschnürt. Amelie isoliert sich immer mehr und verweigert alle Maßnahmen des Klinikteams. Schließlich reißt sie aus und muss dabei schmerzhaft lernen, sich ihren Dämonen zu stellen. So wird deutlich, wie wichtig es ist, Hilfe anzunehmen und aktiv der Krankheit entgegen zu treten. Damit zeigt der sympathische Kinderfilm, dass es auch Chancen gibt, über sich selber hinaus zu wachsen.
Indigene Mystik
Wesentlich härter geht es in dem brasilianischen Beitrag Não devore meu coração! (Don‘t Swallow My Heart, Alligator Girl!) in der Sektion 14plus des Regisseurs Felipe Bragança zu. An der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay toben seit Jahrhunderten Konflikte zwischen der indigenen Landbevölkerung Paraguays und den weißen Farmern Brasiliens. Immer wieder treiben im Grenzfluss Apa Leichen und in mörderischen Straßenrennen bekämpfen sich Motorradgangs. Zwischen diesem Chaos müssen Kinder aus beiden Ländern ihren Alltag meistern und ihre kulturelle Identität sichern. Zunächst steht der kleine Junge Joca im Mittelpunkt, doch die wahre Heldin der Geschichte ist das starke Indio Mädchen Basano, das tätowierte ‚Alligator Girl‘, in das sich der Junge unsterblich verliebt hat. Das Alligator Girl hat durch ihre indigene Herkunft Macht, all diese Konflikte für einen Augenblick zu mildern. Doch der Preis dafür ist hoch, denn sie soll dafür die Liebe von Joca zu ihr opfern. Auf der Brücke über dem Apa kommt es schließlich zu einem dramatischen Showdown. Mittels symbolisch aufgeheizten Bildern wird eine ungeheure Spannung erzeugt, in der das Alligator Girl souverän ihre Entscheidung trifft. Zwar verfolgt der Film zu viele Handlungsstränge, präsentiert aber dennoch eine magische Persönlichkeit, die Zuschauende noch lange nach dem Kinobesuch beschäftigen wird.
Im Mumblecore-Märchen prügelnd durch Berlin
Noch drastischer erweist sich der deutsche Panorama- Beitrag Tiger Girl von Jakob Lass. In grellen Bildern wird die Freundschaft zwischen zwei sehr unterschiedlichen Frauen, der strebsamen Vanilla und der Nonkonformistin Tiger Girl geschildert. Schon in einer der ersten Szenen wird deutlich, dass hier ein etwas unübliches Frauenbild vorgestellt wird. Nachts im einsamen U-Bahnhof wird Vanilla von drei Halbstarken sexuell belästigt. Tiger Girl kommt hinzu, entwendet den Jungs den Baseballschläger und verdrischt sie: Der Beginn einer innigen Freundschaft zwischen den Frauen, die dann prügelnd ihren Alltag meistern. Was so alptraumhaft beginnt, wird leider nicht konsequent im Film durchgehalten. Immer mehr schleicht sich düstere Realität in die fiktionale Handlung. Improvisierte Dialoge, originelle Laiendarstellerinnen und -darsteller sowie eine Handkamera, die stets dicht am Geschehen ist, gaukeln Realitätsnähe vor. Diese Art des Filmemachens, quasi als Indie Subgenre, wird oft als Mumblecore bezeichnet und rückt dadurch den handelnden Personen ausgesprochen nah. Dennoch hält sich der Film nicht damit auf, psychologische Hintergründe für Handlungsmuster zu bemühen. Die beiden Frauen agieren aus sich heraus, das Ganze bleibt somit vornehmlich eine Situationsbeschreibung. Insgesamt büßt der Film damit leider ein wenig von seiner anarchistischen Haltung ein. Dennoch ist es interessant, wie traditionelle Rollenbilder systematisch im wahrsten Sinne gebrochen werden und Frauen sich in die männliche Domäne körperlicher Hoheit drängen.
Markus Achatz ist Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge, Leiter des Bereichs Bildung im Deutschen Jugendherbergswerk und nebenbei als freier Journalist, Filmrezensent, Musiker und DJ aktiv.
Michael Bloech war medienpädagogischer Referent am Medienzentrum München des JFF mit den Schwerpunkten Videoarbeit, Kinderfilm und Technik.
Beitrag aus Heft »2017/02 Postfaktisch: Journalismus im medialen Wandel«
Autor: Markus Achatz
Beitrag als PDF - Döbeli Honegger, Beat (2016). Mehr als 0 und 1. Schule in einer digitalisierten Welt. Bern: hep. 120 S., 24,00 €.
Döbeli Honegger, Beat (2016). Mehr als 0 und 1. Schule in einer digitalisierten Welt. Bern: hep. 120 S., 24,00 €.
Schon vor mehr als 30 Jahren wurde festgestellt, dass die Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) Auslöser von großen Veränderungen beim Lehren und Lernen ist. Dennoch wird sich im alltäglichen Unterricht meist noch immer altbewährter und altehrwürdiger Methoden bedient. Das Bedürfnis nach Langlebigkeit unter den Lehrenden ist zwar bei der stetigen Konfrontation mit überwiegend schnelllebigen Entwicklungen verständlich. Aber wann kommt die digitale Revolution auch in der Schule an? Unter dem Credo „Computer hat das Buch als Leitmedium abgelöst“ und der provokanten Forderung nach dem „Ende der Kreidezeit“ analysiert Döbeli Honegger in Mehr als 0 und 1 den Wandel in der Schule und begründet nachvollziehbar die dortige Relevanz des Digitalen.
Unterteilt in zehn Kapitel gibt er knapp, allgemeinverständlich und fundiert den aktuellen Wissens- und Diskussionsstand zur Schule in einer digitalisierten Welt wieder. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den Veränderungen der Gesellschaft durch Computer und Internet sowie den dadurch gewonnenen Kompetenzen angesichts des Leitmedienwechsels hin zum Internet. Anschließend wird der Umgang mit dem Digitalen sowie der Infrastruktur in der Schule vertieft. Auf Aussagen zur Hochschulbildung oder mediendidaktischen Hinweisen zum Unterricht wird dabei weitgehend verzichtet. Im Schlussteil bietet Döbeli Honegger konkrete Vorschläge für den schulischen Einsatz von Hard- und Software. Obwohl die sprachliche Aufbereitung etwas sehr sachlich erscheint, um insbesondere fachfremde Lehrende anzusprechen, besticht das Werk mit seiner besonderen visuellen Aufbereitung.
So kommen, neben vielen Beispielen und Zitaten namhafter Persönlichkeiten, zahlreiche (Info-)Grafiken zum Einsatz, die die Heranführung an die informatische Bildung erleichtern. Einen ganz neuen Ansatz zur Nutzung des Mediums Buch stellt darüber hinaus die Verwendung ungewohnter Kürzel zum Verweis auf Begriffe, Fragen oder Thesen in einem per QR-Code online zugänglichen und ständig erweiterten Beats Biblionetz, das der Autor seit 1996 aufbaut. Die Publikation beeindruckt dadurch mit einer gelungenen Verbindung zwischen klassischer Ehrerbietung an die Konventionen des Printmediums und der zukunftsgerichteten Informationssicherung in Form von stetig gepflegten und aktualisierten „Memen“. am
- Markus Achatz: Kinder, wie die Zeit vergeht …
Markus Achatz: Kinder, wie die Zeit vergeht …
Regisseur Richard Linklater hat sich auf ein monumentales Projekt eingelassen, um im Kino etwas zu zeigen, was es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Über einen Zeitraum von zwölf Jahren begleitet der Film Boyhood das Heranwachsen von Mason (Ellar Coltrane) sowie seiner Schwester Samantha (gespielt von Lorelei Linklater, der Tochter des Regisseurs). Das außerordentliche Experiment ist gelungen und nimmt das Publikum mit ins Leben einer Patchworkfamilie aus der texanischen Mittelschicht. Patricia Arquette spielt die alleinerziehende Mutter Olivia und Ethan Hawke den getrennt lebenden Vater Mason Sr. „Wir haben uns jedes Jahr ein paar Tage zum Dreh getroffen“, so Linklater – insgesamt 39 Drehtage verteilt auf sage und schreibe zwölf Jahre. Der Begriff „Coming-of-Age“ hat durch diesen Film eine neue Dimension erhalten. Als der Filmemacher seinen ‚Hauptdarsteller‘ Ellar Coltrane findet, ist dieser sechs Jahre alt, am Ende 18 und hat als Mason gerade ein Stipendium fürs College bekommen. Das Phänomen Boyhood ist schwer zu greifen. Im Grunde bleibt die Story stets nah dran am richtigen Leben. Es geht um kleine und große Sehnsüchte, um Sorgen, Hoffnungen und alltägliche Bedürfnisse nach Glück und Zufriedenheit. Es gibt wenig, was nicht schon in vielen anderen Filmen zu sehen war.
Linklater konstruiert keine großen Dramen, sondern zieht Exzerpteaus den Biografien seiner Figuren, die berühren und eigene Erfahrungen und Gedanken wecken. Heraus gekommen ist eine ausgesprochen kurzweilige und flüssig erzählte Studie des Lebens und von vergehender Zeit, die stets eine unvergleichliche Leichtigkeit in sich trägt und das Publikum zu bannen vermag. Mason und Samantha wachsen bei ihrer Mutter auf. Der Vater war irgendwann nach Alaska abgehauen, taucht aber eines Tages wieder auf und kümmert sich zeitweise wieder um die Kinder. Für kurze Zeit scheint alles gut zu laufen, doch Olivia kommt letztlich nicht mit der Situation zurecht. Sie geht zurück an die Uni, um ihren Abschluss nachzuholen und mehr Geld zu verdienen. Dort begegnet sie dem Dozenten Bill Wellbrock. Beide heiraten und Olivia, Samantha und Mason ziehen mit Bill und dessen beiden Kindern zusammen. Bill beginnt immer mehr Alkohol zu trinken und als seine Gewalt gegen die Familie eskaliert, flieht Olivia mit ihren Kindern an einen anderen Ort. Olivias nächster Partner ist ein Irak-Kriegsveteran und diese Beziehung hält auch nur eine Weile. Mason weiß sich inzwischen mehr zu behaupten, muss aber parallel seine eigene Gefühlswelt koordinieren.
Auf einzigartige Weise sieht man in Boyhood wie die Zeit vergeht. Nicht nur bei Mason, der sich vom sechsjährigen Kind zum 18-jähringen jungen Erwachsenen mit Bart verändert, sondern auch bei Patricia Arquette und Ethan Hawke. Ihre Rollen verändern sich mit ihnen, ihre Ansichten und Lebensweisheiten erhalten neue Komponenten. Beispielsweise die Szene, als Mason gegen Ende von zu Hause auszieht, um aufs College zu gehen, wird für Olivia zu einem emotionalen Moment, der ihr den Lauf der Dinge vor Augen führt. Das Publikum hat miterlebt, was Olivia erlebt hat. Ein sentimentaler, aber authentischer Rückblick auf die Jahre. Fiktives und Reales verwischen wie sonst kaum in einer fiktionalen Kinogeschichte. Knapp drei Stunden dauert Boyhood und obwohl ich kein großer Freund der Überlänge bin, hat mich Linklaters Inszenierung überzeugt. Bei der Premiere von Boyhood im Wettbewerb der Berlinale 2014 (vgl. merz 2-2014 Perspektiven des Aufwachsens) war die Resonanz überwältigend. Der Film lief am vorletzten Festivaltag, wenn die Journalistinnen und Journalisten teilweise schon am Rande des ‚Kino-Overkills‘ sind und schon mal im Dunkeln wegschnarchen.
Doch am Ende der voll besetzten Pressevorführung brandete eine selten erlebte Applauswelle über den Abspann. Als ‚Bären‘-Gewinner hoch gehandelt, erhielt Richard Linklater für Boyhood schließlich den Silbernen Bären für die beste Regie. Mit dem Phänomen Zeit hat er sich auch schon in seiner Beziehungsgeschichte von Céline und Jesse (Julie Delpy und Ethan Hawke) auf ganz eigene Weise beschäftigt. 18 Jahre verbinden die Trilogie Before Sunrise (1995), Before Sunset (2004) und Before Midnight (2013). Hier liegt die Relevanz der Zeit zum einen in der Exposition der Geschichte, indem die gemeinsame Zeit für beide Hauptfiguren begrenzt bleibt, zum anderen im großen Abstand der erzählten Begegnungen von jeweils neun Jahren. Mit dem ersten Filmder Reihe hatte Linklater 1995 ebenfalls den Silbernen Bären gewonnen, für das Drehbuch zu Before Sunset war er für einen Oscar nominiert. Boyhood setzt nun mit seiner neuen Form der Langzeitstudie wiederum Maßstäbe. Linklater wollte gezielt die Phase des Heranwachsens über einen längeren Zeitraum zeigen. Der Prozess selbst rückt mehr in den Vordergrund als die einzelnen Meilensteine und einschneidende Erlebnisse. Letztere kommen zwar in der Geschichte von Mason und seiner Familie durchaus vor, drängen sich dabei aber nicht als dramaturgische Höhepunkte nach vorne.
Alltäglichkeiten, Nebensätze und beiläufige Begebenheiten stehen gleichberechtigt neben den größeren Dramen und Übergangsriten. Das ist raffiniert und unkonventionell. Insofern ist diese Geschichte, dieser Film weit mehr als die Summe seiner einzelnen Teile. Für den 54-jährigen Regisseur war das Risiko stets groß, ob alle dabei bleiben, und es war vor allem schwierig, die Finanzierung dieses Monsterprojekts zu stemmen – angesichts der Länge des Zeitplans nicht weiter verwunderlich. Für Ellar und sein Umfeld war es sicher ebenfalls nicht einfach, die Hauptrolle im Film eines berühmten Regisseurs zu spielen, dessen Szenen – geschweige denn das gesamte Werk – auf absehbare Zeit niemand zu sehen bekommen würde. In einem Interview antwortet Ellar auf die Frage, ob er nicht irgendwann einmal überlegt habe, nicht mehr weitermachen zu wollen: „Nicht wirklich“ und ergänzt, dass er jedoch erst mit 13/14 Jahren angefangen habe, es zu mögen. Im Lauf der Zeit war er mehr in den Prozess eingebunden und konnte an der Ausgestaltung seines Charakters mitwirken. Linklater berichtet, dass sich seine Tochter mit etwa elf Jahren einmal gewünscht hatte, er solle ihre Rolle sterben lassen.
Die besondere Leistung Linklaters steckt darin, die Geschichte so weiterentwickelt zu haben, dass am Ende alles flüssig, ohne künstliche Übergänge ineinander greift. Zeitsprünge werden über die Gesichter, Styles und Frisuren und in Details wie den Modellen von Mobiltelefonen oder Spielzeug gezeigt. Daneben werden Ausschnitte aus dem gesellschaftlichen Leben in der Handlung angedockt, wie beispielsweise der Präsidentschaftswahlkampf 2012, in dem Mason Sr. mit seinen Kindern Wahlplakate für Obama in der Nachbarschaft verteilt. Ein wesentliches weiteres Stilelement Linklaters ist in Boyhood – wie in den meisten seiner Filme – die Musik. Songs aus den verschiedenen Jahren werden zum Chronometer und zur Orientierungshilfe. Der Bogen spannt sich von Coldplay („Yellow“) und The Hives („Hate To Say I Told You So”) im Jahr 2000 über Weezer („Island in the Sun“), Flaming Lips („Do you Realize“), Family of the Year („Hero“) bis Yo La Tengo, Arcade Fire und Daft Punk („Get Lucky“) 2013. Mit der engen Verknüpfung von Songs und Plot knüpft Linklater an seine früheren Filme Slacker (1991), Dazed & Confused (1993) oder Suburbia (1996) an. Wenn Mason gegen Ende des Films mit einer neuen Studienkollegin im Abendlicht sitzt und über den Sinn des Lebens nachdenkt, ist auch dies eine kleine Etappe, aber kein Abschluss.
Seine Erkenntnis, dass Augenblicke stets geradejetzt stattfinden, ist keine altersweise Einsicht, sondern eine dokumentierte Momentaufnahme in Masons Leben. Das wirkt beinahe ironisch, ist für ihn aber nun gerade von Bedeutung. Dies geschieht mit Linklaters Magie und Leichtigkeit, die sich zu einem Schmunzeln in den Gesichtern der Zuschauerinnen und Zuschauer verwandeln lässt. Wie nebenbei wird eine neue Facette von Adoleszenz in Kinobildern gespeichert und der Beweis erbracht: Zeit ist relativ. Und: Was sind schon drei Stunden im Vergleich zu zwölf Jahren?
- Markus Achatz: Jugendherbergen als Bildungsorte
Markus Achatz: Jugendherbergen als Bildungsorte
Der Landesverband Bayern im Deutschen Jugendherbergswerk hat ein Konzept für ein neues und bundesweit einzigartiges Bildungsprojekt erarbeitet. Die Jugendherberge Nürnberg ist durch diese Einrichtung als Lernort weiterentwickelt worden. Junge Gäste bekommen dadurch Einblicke in die Geschichte und Kultur Nürnbergs sowie die Möglichkeit, sich damit aktiv auseinanderzusetzen. Diese besondere Lernumgebung stärkt die Gemeinschaft und erweitert die pädagogischen Möglichkeiten der Schule.
Literatur:
Achatz, Markus (2013). Grundkonzept – Lernort Jugendherberge: Profil „Kultur|Jugendherbergen“ im DJH Landesverband Bayern. München: Deutsches Jugendher-bergswerk Landesverband Bayern.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2005). Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. (Drucksache 15/6014). Berlin: BMFSFJ.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2013). 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. (Drucksache 17/12200). Berlin: BMFSFJ.
Deutsches Jugendherbergswerk Hauptverband für Jugendwandern und Jugendherbergen e. V. (Hrsg.) (2002). Qualitätsentwicklungskonzepte für Jugendherbergsprofile – Praxishilfe. Detmold: DJH (= DJH Hvb 2002).
Deutsches Jugendherbergswerk Hauptverband für Jugendwandern und Jugendherbergen e.V. (2004). Abschlusserklärung zur Fachtagung „Ganzheitlichkeit der Lehrerbildung als Voraussetzung für die Schule als ‚Haus des Lernens‘“. (Bundeselternrat, Deutsches Jugendherbergswerk, Verband Deutscher Schullandheime). Hannover (= DJH Hvb 2004). Online: www.fachtagungen-klassenfahrten.de/pd/tagung04_abschlusserklaerung.pdf [Zugriff: 31.07.2013] .
Deutsches Jugendherbergswerk Landesverband Bayern e.V. (2004). Satzung des Deutschen Jugendherbergswerkes Landesverband Bayern. München (= DJH Lvb 2004).
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- Markus Achatz: Nur Buchstabensuppe im Kopf
Markus Achatz: Nur Buchstabensuppe im Kopf
Bernd Sahling hat einen langen Atem – und das ist wichtig und gut. Wichtig, weil die Realisierung eines Kinderfilms in Deutschland – respektive dessen Finanzierung – ein schwieriges Unterfangen ist und große Ausdauer immer wieder mal ganz besondere Filme wie diesen hervorbringt. Und weil Bernd Sahling gerne in seinen Filmen genauer hinschaut und tiefer in individuelle Geschichten eintaucht. Gut, weil er ein hervorragendes Gespür für die Aufarbeitung aktueller Themen hat. In diesem Falle sogar mit großer Vorausschau, denn das Thema ADHS ist heute noch deutlich aktueller als vor zehn Jahren, als er begonnen hat daran zu arbeiten. Vor allem gut, wenn man weiß, dass es die Geschichte des zehnjährigen Sascha beinahe nie gegeben hätte, da der Filmemacher immer wieder auf Ablehnungen gestoßen ist, weil dies kein Thema für Kinder als Publikum sei. Kopfüber ist Bernd Sahlings zweiter langer Spielfilm. Seine Hauptfigur Sascha ist ‚verhaltensauffällig‘ und es wird erzählt, wie ein Betroffener und seine Umwelt darauf reagieren, wenn vieles nicht nach Plan läuft. Letztlich handelt die Geschichte auch davon, wie das Kind an den gesellschaftlichen Erwartungen leidet. Kurz gesagt: in Kopfüber geht es für alle ‚drunter und drüber‘ oder mit Saschas Worten beschrieben „wenn er lesen oder schreiben soll, hat er nur ‚Buchstabensuppe‘ im Kopf“.
Saschas Freundin Elli rät ihm, den Kopf eine Weile nach unten zu halten. Bernd Sahling macht seit Mitte der 1980er Filme, vornehmlich Dokumentationen. Darunter auch die Langzeitstudie über ein von Geburt an blindes Mädchen (Ein Lied für Anne, 1985; Im Nest der Katze, 1991; Gymnasium oder wir werden sehen, 1999) und zuletzt der dokumentarische Kurzfilm Ednas Tag (2009). Die Themenfelder Benachteiligung und schwierige Lebenssituationen im Kindesalter sind sein Hauptmetier. Erst 2004 hatte er mit Die Blindgänger sein viel beachtetes Spielfilmdebut und hierfür zahlreiche Preise gewonnen. Eine enge Verwobenheit von Realität und Fiktion zeichnet auch Kopfüber aus, denn Sahling war selbst mehrere Jahre als Sozialarbeiter und Familienhelfer tätig. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit hat er in Saschas Geschichte verarbeitet und den Hauptdarsteller in einer Betreuungseinrichtung für schwierige Jugendliche gefunden. Entstanden ist ein Film, der sperrig bleibt, sich einem kinderkinoüblichen Happy End verweigert, aber trotzdem unterhält. Vor allem setzt sich Kopfüber intensiv mit seiner Hauptfigur auseinander und fordert das Publikum zum weiteren Nachdenken auf. Sascha macht es sich und seiner Umwelt wirklich nicht leicht. Der Zehnjährige klaut, raucht, lügt und hält sich an keine Abmachungen. Er kann nicht richtig lesen und schreiben und kommt in der Förderschule überhaupt nicht zurecht. Die alleinerziehende Mutter (Inka Friedrich u. a. Sommer vorm Balkon, 2005; Blöde Mütze!, 2007) ist mit ihren drei Kindern völlig überfordert. Für Sascha, den Jüngsten, holt sie sich Hilfe vom Jugendamt. Frank, der Erziehungsbeistand (Claudius von Stolzmann) muss bald erkennen, dass Sascha eine ‚harte Nuss‘ ist.
Es kostet ihn viel Ausdauer und Kreativität, bis er allmählich Saschas Vertrauen gewinnt. Auf Franks Frage, ob Sascha auch mal etwas länger machen könne als zwei Minuten, antwortet der Junge: „Ja, rauchen. Dauert fünf.“ Nur in seiner heimlichen Reparaturwerkstatt für Fahrräder und wenn er mit seiner Freundin Elli (Frieda-Anna Lehmann) unterwegs ist, um Geräusche zu sammeln, fühlt sich der Junge richtig wohl und kann er selbst sein. In diesen Momenten hat er keine Probleme. Ansonsten zieht er den Ärger magisch an. Als eine Ärztin dann bei Sascha ADHS diagnostiziert und ihmTabletten verschreibt, scheint sich allmählich alles zu bessern. Für den Jungen, aber vor allem auch für seine Mutter, wirkt die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung zunächst wie eine Befreiung, denn Sascha ist nicht gestört oder kriminell, sondern hat eine Krankheit gegen die es Mittel gibt. In der Folge wird Sascha immer ruhiger und kann sich in der Schule mehr konzentrieren, doch die Medikamente und der Rhythmus der Einnahme verändern ihn. Elli fällt es besonders auf, dass da etwas nicht stimmt, denn Saschas Laune ist meist schlecht. Sie liest im Beipackzettel Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schlafstörungen und bringt es auf den Punkt: „Weißt Du eigentlich, dass Du nicht mehr lachen kannst?“Bernd Sahling moralisiert in seinem Film nicht, Saschas Verhalten wird nicht bewertet oder verurteilt. Mit dem Hauptprotagonisten bietet sich aber keine einfache Identifikationsfigur für ein junges Publikum an. Der Zugang ist schwer und die Zuschauerinnen und Zuschauer müssen sich erst auf den strapaziösen Sascha einstellen. Aber in der intensiven Freundschaft zwischen Elli und Sascha finden sich viele Anknüpfungspunkte.
Das spannende Hobby des Mädchens, durch Aufnahmegeräte Töne und Geräusche zu sammeln und diese zu Hause am Rechner weiter zu verarbeiten, fesselt und fasziniert. Von daher spielt auch aktive Medienarbeit eine wichtige Rolle in diesem Film. Aus den Geräuschen und Audiosamples entsteht ein einzigartiger Soundtrack, der eine ganz eigene Tonwelt bildet. Was Kopfüber besonders auszeichnet, ist die Tatsache, dass eine Benachteiligung – wie auch in den anderen Filmen Sahlings – nicht als etwas Schicksalhaftes und Unabänderliches gesehen wird, sondern als etwas Gestaltbares und Ausfüllbares. Und dass es für vieles auch Gründe gibt, wie mangelndes Vertrauen, prekäre Verhältnisse oder zu wenig Zeit füreinander zu haben. Wir müssen uns der Frage stellen, ob und wie schnell Kinder, die einer wie auch immer gearteten Norm nicht entsprechen, auf eine Förderschule geschickt werden, oder ab wann sie mit Medikamenten versorgt werden, die die Anpassungsprozesse beschleunigen sollen, aber darüber hinwegtäuschen, was tatsächlich fehlt. Am Ende steht auch im auf den Kopf gestellten Alltag Saschas kein abgeschlossenes oder gar fröhliches Ende, dafür aber eine Botschaft des Aufbruchs und dass man nicht immer alles als gegeben hinnehmen muss. Insofern kein einfacher Film, davon gibt es aber ohnehin genug. In jedem Fall empfehlenswert ist er für alle, die mit Heranwachsenden arbeiten und letztlich auch für Eltern.
Kopfüber startet nach zahlreichen Festivalteilnahmen am 24. Oktober in den Kinos.Kopfüber Deutschland 2012, 90 min Regie: Bernd Sahling Darsteller: Marcel Hoffmann (Sascha), Frieda-Anna Lehmann (Elli), Inka Friedrich (Saschas Mutter), Claudius von Stolzmann (Frank). Produktion: Neue Mediopolis Filmproduktion, Verleih: Alpha Medienkontor, Weltvertrieb: Arri Worldsales.
- Markus Achatz: Romantische Naturinszenierung und dokumentarisch-harte Realität
Markus Achatz: Romantische Naturinszenierung und dokumentarisch-harte Realität
Zehn Jahre GENERATION 14plus. 2004 wurde erstmals eine eigene Programmschiene für Jugendliche und junge Erwachsene in Ergänzung zum bisherigen „Kinderfilmfest“ geschaffen. Anfangs noch mit geringerem Zulauf hat sich das kombinierte Programm aus Kplus und 14plus längst zu einer wichtigen Sektion der Internationalen Filmfestspiele in Berlin etabliert. Jedes Jahr lassen sich Geheimtipps und herausragende Beiträge des gesamten Festivals entdecken. Unter den 2013 größtenteils ausverkauften 25 Lang- und 35 Kurzfilmen bei GENERATION befanden sich zahlreiche Weltpremieren.Kontrovers diskutiert wird häufig, was dem jungen Publikum zuzumuten sei, ob die Filme für die Zielgruppe geeignet oder überhaupt für sie gemacht worden seien. Die Grenzen sind fließend und auch in diesem Jahr fanden sich einige Beiträge im Programm, die die kindlichen oder jugendlichen Zuschauerinnen und Zuschauer stark gefordert – manchmal überfordert – haben. Weit weg vom Mainstreamkino werden Themen wie Krieg, Gewalt, zerrissene Familien, Verlust und Tod bearbeitet. Für das Publikum eröffnen sich intensive und authentische Blickwinkel in andere Welten und Kulturen, die jenseits von Gleichmacherei und Standardisierung individuelle Schicksale und persönliche Geschichten nah und mitfühlbar werden lassen. Das erzeugt auch Reibungen und Unbequemlichkeiten. Doch warum sollten wir dies verhindern wollen? Der Kinder- und Jugendfilm braucht den Mut zu Herausforderungen und zur Auseinandersetzung. Ein sektionenübergreifendes Merkmal vieler Filme im diesjährigen Festival war der Trend zu stark dokumentarischen Zugängen. Sowohl in den Inszenierungen als auch in der technischen Umsetzung und der Wahl filmischer Stilmittel.
Die Grenzen zwischen Fiction und Non-Fiction flossen ineinander.Beeindruckend waren die Filme häufig dann, wenn das Leben und die Gesellschaft konsequent aus dem Blickwinkel der heranwachsenden Hauptfiguren betrachtet wurden. Wobei sich in einer Reihe der Filme die jungen Protagonisten allein durchschlagen mussten. Die Natur – häufig repräsentiert durch tiefe und weite Wälder – spielte eine wesentliche Rolle. Im Sinne eines Jean-Jacques Rousseau sind es einsame „Emiles“, die in der Natur als spirituellem Ort auf sich gestellt sind, ferngehalten von den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft. Ausgestattet mit einer Hoffnung, dass sie erst mit der Natur eins werden mögen, um zu reifen und tatsächlich frei sein zu können.Natur als Beschützer – JînIm GENERATION 14plus-Eröffnungsfilm hält reinste Natur Einzug in den Kinosaal. Es ist eine wilde Landschaft, in die uns der türkische Regisseur Reha Erdem in Jîn hineinversetzt. Faszinierende Berge, endlose Wälder, Natur voller innerer Ruhe und romantischer Abgeschiedenheit. Wir beobachten in den ersten Minuten Insekten in Makroeinstellungen, Schildkröten, Wildtiere und letztlich tritt ein majestätischer Hirsch ins Bild. Doch ehe es sich das Publikum in einem ‚Tierfilm‘ gemütlich machen kann, brechen wie aus dem Nichts Explosionen und Gewehrfeuer in die Landschaft und zerstören das Idyll in wenigen Augenblicken. Eine bewaffnete Gruppe Aufständischer sucht Zuflucht an einer Felskante. Wir sind im Gebirge der östlichen Türkei auf kurdischem Gebiet, seit mehr als 30 Jahren tobt hier ein Krieg. Einer der ‚Kämpfer‘ ist die 17-jährige Jîn. Bewaffnet mit einem Schnellfeuergewehr setzt sich das Mädchen heimlich von der kurdischen Rebellentruppe ab und wird fortan auf der Flucht sein. Vor der türkischen Armee, vor Gewehrschüssen und Angriffen aus der Luft, von denen selten klar wird, welche Seite der Urheber ist. Ein verwunschener Wald als Kriegsschauplatz.
Völlig auf sich allein gestellt wird die Natur zu ihrem wichtigsten Begleiter und Beschützer. Gefahr droht Jîn vor allem, wenn sie Menschen begegnet. Nahezu mythisch wirkt eine Szene, in der das Mädchen auf einen Baum klettert, um aus dem Nest eines Raubvogels Eier zu holen. Der Muttervogel kreist kreischend über ihr, woraufhin sie nur eines der Eier nimmt und die anderen zurücklegt. In diesem Moment kommt eine Gruppe türkischer Soldaten in die Nähe, um zu rasten. Einer der Soldaten beginnt ein trauriges Lied zu singen, der Vogel dreht währenddessen still über den Bäumen seine Runden und Jîn wird nicht entdeckt. In einer anderen Sequenz versteckt sich das Mädchen vor einem Luftangriff in einem Höhleneingang, als ein großer Bär auftaucht und ebenfalls Schutz sucht. In nächster Nähe drücken sich beide gegen die Felsen. Als der Angriff vorbei ist, wirft Jîn dem Bären einen Apfel zu und beide gehen ihrer Wege. Beim Diebstahl von Essen und Kleidung in einem abgelegenen Bauernhof, nimmt das Mädchen auch ein Kinder-Lesebuch mit, wodurch deutlich wird, in welcher Zerrissenheit die Jugendliche zwischen Kriegseinsatz und Heranwachsen steht. Jîn zieht das gestohlene Kleid an und versteckt ihren Kampfanzug und das Gewehr in den Bergen, um sich auf den Weg zu fernen Verwandten im Westen der Türkei zu machen. Doch überall lauern Militärkontrollen und als Kurdin ohne Papiere ist ein Durchkommen aussichtslos. Reha Erdem zeigt einen selten thematisierten Konflikt. Dabei beschäftigt er sich nicht tiefer mit politischen Hintergründen. Er konzentriert die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges auf die Erlebnisse des kurdischen Mädchens. Wir erfahren nichts über Jîns Vorgeschichte, ihre Persönlichkeit bleibt bruchstückhaft und dennoch leiden wir in jedem Moment mit ihr und fürchten die Ausweglosigkeit. Spätestens als die Landschaft wieder bergiger wird und Jîn aus einer Höhle ihr Maschinengewehr und die Kampfkleidung hervorzieht, wissen wir, dass sie nicht weiter im Westen ist, sondern wieder an einen früheren Ausgangspunkt zurückkehren musste. Der Krieg ist noch nicht zu Ende.
Wald als Zuflucht – The Cold LandsWeit zurückgezogen im Wald lebt der elfjährige Atticus mit seiner Mutter Nicole irgendwo im USBundesstaat New York. Ihr Zuhause ist ein abgelegenes Holzhaus und offensichtlich brauchen beide nicht viel mehr zum Leben. Die Mutter versucht, das Leben für sich und ihren Sohn unabhängig und frei von den Zwängen der Konsumgesellschaft zu gestalten. Nicole ist jedoch schwer krank. Die eher aufdringlichen Hilfsangebote einer Nachbarin lehnt sie ab und fürchtet, dass ihr und vor allem Atticus alles weggenommen wird, wenn sie nicht mehr für sich selbst sorgen können. Doch eines Tages ist es zu spät. Als Atticus auf dem Heimweg ist, sieht er wie seine tote Mutter aus dem Haus getragen wird. Sie hatte ihm noch vor einigen Tagen den Auftrag gegeben, keinesfalls mit der Nachbarin mitzugehen. Während Polizisten und Nachbarn am Haus auf Atticus warten, versteckt er sich im Wald, schläft im Moos und ernährt sich von Beeren und Pflanzen. Die Bäume geben ihm Sicherheit. Als die Erwachsenen beginnen, den Jungen zu suchen, verschanzt er sich immer tiefer in den Waldgebieten. Dort machen bedrohliche Waffenübungen und Brandstiftungen auch dieses Versteck für Atticus zunehmend gefährlich. Als er in eine brisante Situation gerät, rettet ihn Carter, ein Fremder. Auch er lebt ohne richtiges Zuhause, hat kaum Geld und lässt sich treiben. Carter fühlt sich aber für Atticus verantwortlich und entgegen seiner ursprünglichen Pläne, bringt er es nicht übers Herz, den Jungen wieder loszuwerden. So wird auch Carter bewusst, dass jeder auf den anderen angewiesen ist.Die Begegnung zwischen Carter und Atticus bildet einen Schnitt in der Geschichte und teilt Atticus’ Leben in die Zeit mit und ohne seine Mutter. Wir ahnen zwar, dass Atticus permanent die Begebenheiten in sich aufsaugt und dadurch lernt, dennoch bleibt er so schweigsam und vermeintlich in sich ruhend, wie von Anfang an. Immer wieder taucht Atticus’ Mutter in Visionen des Jungen auf. In einer Szene, als Atticus zu Carter sagt, „die meisten Leute wollen einfach nur glücklich sein. Das sagt meine Mama“, spürt man nicht nur, dass dies eine Lektion für den erwachsenen Carter ist, sondern auch dass der Junge nun bereit ist, für weitere Kapitel in seinem Leben, mit dem Bewusstsein, dass er es weiterhin ohne seine Mutter führen muss.Regisseur Tom Gilroy stellt Menschen in den Mittelpunkt seines Films, die am Rande der amerikanischen Gesellschaft stehen.
Die Geschichte bleibt trotz erschreckender Erlebnisse für die Protagonisten unspektakulär und ohne Effekthascherei. Dies fesselt den Zuschauer auf eigenwillige, aber dennoch eindringliche Art und Weise. Silas Yelich als Atticus in seiner ersten Filmrolle stammt aus dem Ort, an dem gedreht wurde. Seine Kenntnis der Wälder unterstützte sein Spiel und beförderte den intensiven Bezug zur Natur. Lili Taylor (u. a. Arizona Dream, 1992, I Shot Andy Warhol, 1996, Das Geisterschloss, 1999) ist als Mutter Nicole großartig besetzt. Insgesamt ist The Cold Lands ein dichtes, in sich geschlossenes Drei-Personen-Stück. Beengende Weite – Hide Your Smiling Faces Und wieder Wälder. Weite, dünn besiedelte Landschaften im Nordosten der USA. Im Bundesstaat New Jersey spielt Hide Your Smiling Faces, das Debüt des Regisseurs Daniel Patrick Carbone. Auch bei ihm waren persönliche Bezüge zur Landschaft die Grundlage für die Geschichte und die Wahl der Drehorte.Die beiden Brüder Tommy und Eric stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Mit weiteren Kids aus der Nachbarschaft streunen sie durch die dunstigen Wälder und hängen an abgeschiedenen Seen ab. Es sind Sommerferien und die Zeit scheint stehen geblieben zu sein. Bis die Nachricht des Todes eines der Jungen aus dem Ort die Idylle erschüttert. Ian war gleich alt wie Tommy und wurde unterhalb einer stillgelegten Bahnbrücke gefunden. Das Unglück wirft viele Fragen auf, die es vorher nie gegeben hat. Was ist geschehen? Ist der Junge gesprungen oder war es ein tragischer Unfall? Für Tommy wiegt der Tod schwer, da er einen Freund verloren hat. Doch auch sein älterer Bruder Eric hat große Probleme mit dem Unglück umzugehen, das die gesamte Familie aus dem Lot zu bringen droht. Eric, als der Ältere, ist stets gefordert, vernünftig zu handeln. Er möchte seinem Bruder auch helfen, kann aber die eigenen Gefühle kaum kontrollieren. Schwäche zu zeigen, ist mit seiner Lebensphase nur schwer vereinbar. Eric belasten auch die Andeutungen seines Freundes Tristan, der begonnen hat, das Leben zu hassen. Daniel P. Carbone zeigt uns die Welt der beiden Brüder in Hide Your Smiling Faces als isolierten Mikrokosmos. Die anfänglich weite und wilde Natur wirkt plötzlich bedrohlich und morbide. Die endlose Landschaft wird enger und erdrückender, vor allem Eric merkt, dass er da raus muss. Der Wunsch, irgendwo anders zu sein, bringt eine neue Facette in das bisherige Leben der Familie. Die Eltern sind mit der Frage überfordert, die Eric stellt: „Wünschst du dir nie, woanders zu sein?“ Auch diesen Film zeichnet eine durchgängige, prägnante Stille aus. Für viele im Kino (und auch im Alltag) eine ungewohnte Erfahrung.
Der tolle Titel des Films fügt einen roten Faden hinzu. Im Alter der Jungen steht der Wunsch nach Coolness und Härte dem Zeigen der inneren Befindlichkeit und der wahren Gefühle entgegen. Auf ihren Trips durch die Landschaft, mit dem Ziel, Abenteuer an den Seen oder in verlassenen Häusern zu erleben, steht ‚Lächeln‘ nicht auf dem Plan. Demgegenüber kann gerade in Momenten, in denen etwas anderes erwartet wird, ein Lächeln eine Waffe der Provokation sein, die wohl fast jeder Heranwachsende schon einmal gezogen hat, um sich gegen Konventionen zu stemmen. Eine Interpretation des Titels liefert uns der Filmemacher auch in einer Schlüsselszene, als die Eltern und Eric versuchen, Tommy die schlimme Nachricht vom Tod seines Freundes zu überbringen. Mitten im erschütterten Schweigen muss Eric nach einem Blickkontakt mit seinem Bruder plötzlich lachen. Weder er noch die anderen wissen warum, und so fehl am Platz diese Reaktion auch sein mag, sie könnte kaum emotionaler sein. Von allen verlassen – The Weight of Elephants Seit einigen Jahren bietet die Berlinale für junge Zuschauerinnen und Zuschauer von GENERATIONunter dem Titel „Cross Section“ ausgesuchte Filme aus anderen Sektionen. Ein herausragender Film (im dieses Jahr ohnehin starken FORUM der Berlinale) war die neuseeländischdänisch- schwedische Koproduktion The Weight of Elephants. Sicherlich kein Film für Kinder, sondern eher so wie es der Berlinale-Katalog treffend beschreibt, „eine universelle Geschichte für Erwachsene und solche, die es nie werden wollen.“In seinem ersten abendfüllenden Spielfilm führt uns der aus Dunedin/Neuseeland stammende Regisseurs Daniel Joseph Borgman direkt hinein ins trostlose Leben des zehnjährigen Adrian. Der Junge ist ein Einzelgänger, von seinen Klassenkameraden ausgelacht, von seiner Mutter verlassen. Er lebt isoliert am Rande einer Ortschaft im neuseeländischen Niemandsland im Haus seiner Großmutter. Sie und sein unter schweren Depressionen leidender Onkel Rory sind zunächst Adrians einzige Bezugspunkte. In den TV-Nachrichten wird die Entführung von drei Kindern gemeldet und zeitgleich bekommt Adrian neue Nachbarn.
Er ist fasziniert von der gleichaltrigen Nicole und muss sich fragen, ob sie und ihre jüngere Schwester Joely nicht die verschwundenen Kinder sind. Vorsichtig freunden sich die Kinder an. Auch die beiden Schwestern tragen ein für sie schwer zu verkraftendes Geheimnis mit sich herum. Die jüngere Joely hat eine gewisse Unbeschwertheit bewahrt, mit der sie auf Adrian zugeht und die ihm sichtlich gut tut. Nicole hingegen fühlt sich genauso wie Adrian als Außenseiterin. Wie der Junge selbst wirkt sie mit ihren zehn Jahren als lägen die Facetten einer Kindheit bereits weit hinter ihr. So als hätte sie schon vieles erlebt und erduldet und als sei alles um sie herum einer Gewissheit gewichen, dass nichts im Leben zum Leben taugt. The Weight of Elephants hat eine großartige Ästhetik und die Geschichte wird mit viel Liebe zu Details und zu den Hauptprotagonisten erzählt. Daniel Joseph Borgmans Vorerfahrungen mit Visual Effects und Kolorierung sind spürbar. Behutsam lässt er uns an den Kontrasten zwischen Adrians tristem, teils hartem Alltag und seiner fantasiereichen Traumwelt teilhaben. Vor allem in Adrians Fantasie drückt sich dessen Isolation aus. Beispielsweise wenn er in einem alten, auf dem Trockenen stehenden Ruderboot sitzt und sich in die Wellen des Ozeans träumt. Adrian bleibt gleichzeitig nichts an realen Schicksalsschlägen und Gemeinheiten erspart. Der Hass seiner Schulkameraden scheint dabei sogar noch das Wenigste zu sein, was auf ihn hereinbricht. Seine Frage, warum ihn immer und immer wieder alles und jeder verlässt, ist berechtigt, bleibt aber unbeantwortet.Wenngleich im Film direkt kein Hinweis auf den Titel gegeben wird, so wissen die Zuschauerinnen und Zuschauer am Ende, dass es das Leben selbst ist, an dem wir schwer zu tragen haben. Es ist wie das Gewicht eines Elefanten, das einen tief nach unten ziehen kann. Und nur ganz am Ende, als wir schon gar nicht mehr damit rechnen, zeigt uns Borgman einen Hoffnungsschimmer.Es gibt die Chance, auf jemanden zu treffen, der die Kraft eines Elefanten hat, uns wieder nach oben zu ziehen und uns beweisen kann, dass jeder von uns für sich genommen, ein großer Wert ist. Ein außerordentliches Werk, das durch die großartige Kamera von Sophia Olsson und eine unglaubliche Schauspielleistung von Demos Murphy (Adrian) und Angelina Cottrell (Nicole) besticht. In einer dramatischen Schluss-Sequenz sind Adrian und Nicole nachts allein in einer alten Schwimmhalle.
In Nicoles Augen ist es gleichgültig geworden, zu leben oder zu sterben. Als sie über die Abdeckungen des noch gefüllten Wasserbeckens balanciert und schließlich einbricht, überwindet Adrian seine Versagensängste, taucht hinterher und zieht sie in letzter Sekunde wieder an die Oberfläche. Es ist ein berauschend intensiver Moment, wenn sich die beiden Kinder weinend aneinander klammern. In einem einzigen Satz Nicoles erfährt Adrian all die Zuneigung und Nähe, die ihm sonst die ganze Zeit verwehrt geblieben ist: „Lass mich nicht mehr allein.“
- Markus Achatz, Nicole Lohfink: Seelenverwandtschaften
Markus Achatz, Nicole Lohfink: Seelenverwandtschaften
Cineasten haben das asiatische Kino längst für sich entdeckt. Schon mit dem Hongkong-Kino der 1980er Jahre hat der asiatische Film Einfluss auf die westliche Filmgeschichte genommen, in dem vor allem die technische und erzählerische Seite der Actionsequenzen weiterentwickelt wurde. Aus dem japanischen Kino stechen immer wieder starke Dramen hervor, wie zuletzt beispielsweise der Film Like Father, Like Son (Regie: Hirokazu Koreeda), der den Weg in wenige deutsche Kinos gefunden hat. Doch nicht nur für Cineasten gibt es Perlen zu entdecken. Aktuelle Filme aus dem asiatischen Raum bieten vielfältige und spannende Facetten in einem sehr eigenen Stil. Aus Japan kommen das erfrischende Filmdebüt Amiko sowie das Drama Blue Wind Blows, die Sinnsuche eines 12-Jährigen zwischen Krimi und Poesie. Die tibetische Geschichte Wang zha de yuxue – Wangdraks Regenstiefel erhellt die kindliche Logik, wie seinerzeit eine Astrid Lindgren und der indische Kurzfilm Circle geht so unaufgeregt wie eindrücklich auf vererbte Gewalt ein. Dabei stechen vor allem die heranwachsenden Hauptprotagonistinnen und -protagonisten hervor, deren Themen, Wünsche und Hoffnungen im Zentrum des Geschehens stehen. Allen erwähnten Filmen gemeinsam sind inspirierende Momente, die eine Nähe zur dargestellten Lebenswelt erzeugen und verwandte Seelen in den Akteuren erkennen lassen, unabhängig von ihrem Wohnort. Die einzelnen Filmgeschichten sind jeweils eng mit den Orten verbunden, an denen sie spielen. Die Gefühle und Sehnsüchte ihrer Hauptfiguren sind jedoch global gültig und machen die Welt ein bisschen kleiner.
Gemeinsam gegen den Strom
Amiko ist das Filmdebüt der erst 20-jährigen Japanerin Yoko Yamanaka. Mit ihrem unkonventionellen Spielfilm war sie als eine der jüngsten Regisseurinnen im diesjährigen Berlinale-Programm zu Gast. Die 16-jährige Amiko ist darin die Hauptfigur und befindet sich ständig auf der Suche nach Zuneigung und Sinnhaftigkeit in ihrem Leben. Das Mädchen ist überzeugt, anders zu sein als alle anderen und sehnt sich nach Gleichgesinnten jenseits des Mainstreams. Als sie dem etwas älteren Mitschüler Aomi begegnet, glaubt sie jemanden gefunden zu haben, der denkt und fühlt wie sie. Er ist in Amikos Augen der süßeste Junge der Schule und seit einem langen gemeinsamen Winterspaziergang ist sie davon überzeugt, dass auch Aomi gegen den Strom schwimmt. Das Mädchen projiziert alle ihre Wünsche in Aomi hinein. Ihre Gefühle gehen weit über so etwas „Normales“ wie Liebe hinaus. Aomi ist ihr Seelenverwandter. Schließlich hatte er wie sie selbst den Song „Lotus Flower“ von Radiohead als Favoriten in der Playlist seines Smartphones. Doch nach dem Spaziergang vergeht immer mehr Zeit ohne einen einzigen Kontakt zwischen den beiden. Aomi ist für Amiko nicht mehr greifbar und sie verliert sich völlig darin, über ihn und sein Handeln nachzudenken. So wie in Amikos Gedankenwelt Realität und Fantasie auseinanderdriften, zeigt auch der Film Sequenzen, deren Geschehnisse kaum mehr einzuordnen sind. Eines Tages wird bekannt, dass Aomi aus dem provinziellen Nagano in Richtung Tokioabgehauen sei. Als auch noch das Gerücht umgeht, dass er dort mit Miyako zusammen sei, versteht Amiko die Welt nicht mehr. Ausgerechnet die unfassbar durchschnittliche Miyako – der „Inbegriff der Massenkultur“. Amiko sieht sich in der Pflicht zu handeln. Das rebellische Mädchen fährt nach Tokio, um die Konfrontation mit Aomi zu suchen. Gibt es noch eine Chance für Aomi und Amiko?
Yoko Yamanakas Filmdebüt Amiko sprüht vor Einfallsreichtum. Die Hauptfigur ist unberechenbar, wildromantisch und besitzt eine gewisse Besessenheit. Eigenschaften, die auf die gesamte Story übertragen werden können. So wird plötzlich eine U-Bahn-Station zur Musical-Szenerie oder Amiko schreit sich gemeinsam mit einem schimpfenden Mann auf der Straße in Rage über all die Dummheit in der Welt. Wie Yoko Yamanaka im Interview bestätigt, steckt auch ein Teil von ihr in Amiko. Schon als kleines Kind konnte Yoko nicht aufhören nachzudenken und Dinge zu hinterfragen. Bereits mit knapp 20 Jahren hat sie ein Kunststudium und danach ein Filmstudium abgebrochen – trotz einiger Auszeichnungen für Studienarbeiten. Aus der entstandenen Leere und Einsamkeit heraus, hat sie diesen Film gedreht. Insofern ist Amiko auch ein Statement zur japanischen NEET-Generation und dem verbreiteten Phänomen der Hikikomori – jungen Japanerinnen und Japanern, die sich abkapseln und ihre Wohnungen kaum verlassen. Beides gesellschaftliche Entwicklungen, die auch in aktuellen Mangas häufiger aufgegriffen werden. Yoko Yamanakas Humor tritt zu Tage, wenn sie beispielsweise erzählt, dass ein nicht unwesentlicher Teil des kleinen Filmbudgets für die Reparatur des Autos aufzubringen war, welches sie auf dem Weg zum Dreh nach Nagano kaputt gefahren habe. Amiko erschien in der Sektion FORUM auf der Berlinale 2018 und hat beim japanischen PIA FILM FESTIVAL 2017 den Publikums-Preis sowie den Hikari TV-Award gewonnen.
Stille Vertrautheit
Das Langfilmdebüt Blue Wind Blows (Küstennebel) des japanischen Regisseurs Tetsuya Tomina handelt von der engen Seelenverwandtschaft zwischen den Heranwachsenden Ao und Sayoko. Der zwölfjährige Ao lebt mit seiner Mutter Midori und seiner kleinen Schwester Kii auf der Insel Sado. Ao vermisst seinen vor kurzem spurlos verschwundenen Vater. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist. Als der zurückhaltende Junge der geheimnisvollen Gastschülerin Sayoko begegnet, spüren die beiden Kinder eine enge Vertrautheit. Obwohl auch das Mädchen kaum spricht und noch stärker in sich gekehrt scheint, nähern sich die beiden behutsam an und verstehen sich ohne viele Worte. Die beiden Außenseiter suchen gemeinsam nach Spuren von Aos Vater. Aus früheren Zeiten existiert eine Kinderzeichnung des Vaters. Er hat damals ein Monster gezeichnet, das an der Küste aufgetaucht war und sich zwischen dieser Welt und der nächsten Welt bewegte. Ao erinnert sich an die Erzählungen dazu: Wer das Monster sehen könne, wird von ihm in die nächste Welt mitgenommen. Die Sehnsucht nach dem Vater treibt Ao immer wieder an den Rand der Steilküste. Mit der wachsenden Freundschaft beginnen die beiden Kinder mehr und mehr ihre Sorgen und Nöte zu teilen. Sayoko lebt in einer Pflegefamilie, wo sie von den anderen Kindern schikaniert wird. Nachdem sie begonnen hat, sich zu wehren, ist sie in der Folge auch der offenen Gewalt durch Erwachsene ausgesetzt. Auf der Insel geschehen immer wieder merkwürdige Dinge und eines Tages verschwindet auch Sayoko. Ao muss sich nun auch auf die Suche nach dem Mädchen machen.
Blue Wind Blows ist ein ausgesprochen ruhiger Film, der streckenweise eine triste Atmosphäre erzeugt. Jedoch wird die Geschichte durch die intensiven Bilder vor der eindrucksvollen Kulisse der Küstenlandschaft umso eindringlicher. Es geht um Verlust und Tod, aber auch um Freundschaft und Zusammenhalt. Tetsuya Tomina inszeniert mit viel Gespür für die Erlebnisse der kindlichen Protagonistinnen und Protagonisten. Die Kinder sind trotz des begrenzten Raums auf der Insel ständig unterwegs und machen den Film zu einer poetischen und geheimnisvollen – manchmal gar gespenstischen Reise. Für den Regisseur ist eine wichtige Botschaft, dass alle Dinge einer permanenten Veränderung unterworfen sind. Was sich verändert, wird nie wieder so sein wie zuvor. Etwas, das aus der einen Perspektive betrachtet wird, kann aus einer anderen völlig unterschiedlich aussehen. Tomina vergleicht dies mit dem blinkenden Licht einer Lampe im Wind. Und so bleibt die letzte Begegnung zwischen Ao und Sayoko wie ein kurzes Aufflackern. War sie real oder nur ein Teil von Aos Vorstellung? Hat Sayoko wirklich das Monster gesehen? Blue Wind Blows lief im Februar 2018 als Weltpremiere in der Sektion GENERATION Kplus auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin (mit einer Altersempfehlung ab elf Jahren).
Die Kraft der Sehnsucht des kleinen Kindes
Mit Wang zha de yuxue (Wangdraks Regenstiefel) hat Regisseur Lhapal Gyal ein sensibles und poetisches Portrait einer Kindheit in den Bergen Tibets geschaffen. Der neunjährige Wangdrak hat während der Regenzeit in Tibet nichts zu lachen, denn er besitzt als einziger in dem Bergdorf keine Gummistiefel und muss mit durchnässten Turnschuhen laufen. Damit die Turnschuhe nicht ständig völlig durchweicht sind, trägt ihn seine Freudin Lhamo schon mal auf ihrem Rücken durch Pfützen, doch dafür handelt Wangdrak sich den Spott der anderen Kinder ein. Wangdrak wünscht sich endlich eigene Gummistiefel. Doch die Familie hat kein Geld dafür. Besonders der Vater hat zudem andere Sorgen. Denn die Getreideernte steht an, die Lebensgrundlage der Familie, und es gibt Zwist unter den Bauern. Als die Mutter entscheidet, ein Ziegenfell gegen neue, hellblaue Stiefel für ihn einzutauschen, ist Wangdraks Freude groß. Stolz trägt er sie zur Schule, trotz strahlendem Sonnenschein. Wieder erntet er Spott von den anderen Kindern. So wartet Wangdrak sehnsüchtig auf Regen. Mit Hilfe von Lhamo versucht er sogar, Regenwetter zu ‚organisieren‘, denn dann wäre alles endlich gut. Inmitten dieser weiten Landschaft und ihrer Dorfgemeinschaft, die beherrscht wird von der Holz- und Landwirtschaft und der das ganze Leben bestimmenden Ernte, folgt Regisseur Lhapal Gyal den Wünschen eines kleinen Jungen und weckt die Erinnerung an die eigene Kindheit. Erinnerungen daran, als das kleine Kind, das man war, sich das erste Mal etwas wirklich fest wünschte, egal, was andere davon halten. Und an die kleinen Momente der Freude, wenn die Welt in Ordnung ist. Um das zu erreichen, folgt Gyal dabei konsequent dem Blickwinkel seiner jungen Protagonistinnen bzw. Protagonisten und verweilt innerhalb der Grenzen ihrer Welt, an die sie hier und da stoßen.
Wenn Wangdrak seine nassen Turnschuhe ans Feuer stellt, seine Not demonstrierend, allen Mut zusammennimmt, um mit seinem Vater über sein Bedürfnis zu sprechen und darin scheitert, dann spüren wir mit ihm die Machtlosigkeit, für seine Gefühle Worte zu finden, das Ringen um Verständnis. Nur mit der Mutter findet er ebensolche vertrauten Momente. So können sich die Zuschauenden dem Weltverständnis der Kinder nicht entziehen, denn alles ist aus ihrer Sicht erlebt. Allein in den wenigen Szenen, in denen nur Erwachsene sind, zum Beispiel in einem Gespräch zwischen den Eltern oder einer Versammlung der Dorfbauern, gibt es auch kurze Einblicke in die Welt der Erwachsenen.
Mit diesen Informationen und den Situationen aus der Erlebniswelt von Wangdrak ergibt sich ein Gesamtbild, das anschaulich, aber auch liebevoll die Spannung zeigt, die sich aus der Reibung zwischen den Bedürfnissen der Kinder und denen der Erwachsenen-Welt speist. Dazwischen offenbaren sich die kleinen und größeren Brücken zwischen ihnen. Und so endet der Film versöhnlich mit dem Schwenk über die weite Landschaft, die diese Menschen prägt, und die beiden Kinder, die darin umherlaufen und zuhause sind. Und ganz unverhofft sind wir mit ihnen dort zuhause.Lhapal Gyal selbst stammt aus Hainan, dem autonomen Bezirk der Tibeter in der chinesischen Provinz Qinghai und studierte in Peking an der Filmhochschule. Wang zha de yuxue ist sein erster Langfilm und basiert auf einem Roman des tibetischen Schriftstellers Cai Langdong Zhu. In der Originalfassung wird in tibetischer Sprache gesprochen. Wang zha de yuxue – Wangdraks Regenstiefel lief im Februar in der Sektion GENERATION Kplus auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin (mit einer Altersempfehlung ab sieben Jahren).Die Macht des Ungesagten
Nicht unerwähnt bleiben soll der Dokumentarkurzfilm Circle, von der britisch-indischen Filmemacherin Jayisha Patel. Circle folgt drei Generationen von Frauen in ihrem Lebensumfeld in Indien, blickt dabei hinter die Fassaden und deckt den Kreislauf der Gewalt auf. Dabei fokussiert der Film auf die 13-jährige Khushboo, die sich nach einer Gruppenvergewaltigung mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass ihre eigene Großmutter das organisiert hat und sich schließlich in einer Kinderheirat mit einem Mann, den sie nicht kennt, wiederfindet. Die Regisseurin begegnete Khushboo während sie in Uttar
Pradesh für ein anderes Filmprojekt tätig war. Was folgte, waren drei Jahre, in denen Patel die Familie begleitete und in deren Prozess es möglich war, auf die tieferen Beweggründe für die Gewaltbereitschaft der Großmutter zu blicken – auf die Internalisierung von negativen Sichtweisen, um in Machtstrukturen, die nicht zum eigenen Vorteil sind, zu überleben. In unaufgeregten Bildern und in Alltags-Situationen und Gesprächen zeigt Patel diese Internalisierung von Gewalt und Misogynie, im Sinne von subtil in der Gesellschaft verankerten frauenverachtenden Mustern. Da tauschen sich Mutter und Tochter geradezu distanziert über ihnen widerfahrene Gewalt aus. Die Großmutter beschimpft Tochter und Enkelin und hält sie zum schnelleren Arbeiten an, lässt in ihren Begründungen für diese Handlungsweise aber erkennen, dass sie es schließlich auch nicht anders kennt. So schält sich nach und nach heraus, dass der Kreislauf der Gewalt schon viel früher begann. In dem Film wird vieles mit Worten angesprochen, doch letztlich sind es die Momente, in denen niemand etwas sagt, die am aussagekräftigsten sind: Wenn die Mutter Khushboo ihre Haare flicht, wenn Khushboo den Boden schrubbt und die Großmutter zusieht, dann wird die innere Anspannung und Zerrissenheit unwillkürlich spürbar. So ist es auch die letzte Einstellung des Films, die noch lange nachwirkt: Die 13-jährige Khushboo in vollem Braut-Ornat auf ihrer Hochzeit, blickt ein letztes Mal in die Kamera, hinter der Patel steht, ein langer, konzentrierter Blick. Es ist ein Abschiedsgruß an die Filmemacherin, die sie drei Jahre begleitet hat und die nach der Hochzeit auch keinen Kontakt mehr zu ihr hat. Es wäre zu gefährlich für Khushboo.
Seine Aktualität bezieht der Film nicht nur aus der MeToo-Debatte, sondern aus dem Gegenpol zu der Wohlstands-Gesellschaft und den damit einhergehenden Privilegien, in denen die Debatte hauptsächlich stattfindet. Im ländlichen Indien ist es ungleich schwerer, Strukturen der Gewalt zu durchbrechen und wo Internet sowieso kaum eine Rolle spielt, lassen sich lange verankerte Ansichten und Gewohnheiten auch nicht durch eine Facebook- Debatte ins Wanken bringen. Der Film befasst sich mit keinem leichten Thema und er macht es ohne Effekthascherei durch die beobachtende Linse. So kann Circle in seiner geografischen und kulturellen Ferne, seiner menschlichen Nähe und der Tragweite zum Thema Gewalt und ihre Ursachen ein wertvoller Anreiz sein, um wichtige Fragen zu stellen. Circle lief im Februar in der Sektion BERLINALE SHORTS auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin.Markus Achatz ist Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge, Leiter des Bereichs Bildung im Deutschen Jugendherbergswerk und nebenbei als freier Journalist, Filmrezensent, Musiker und DJ aktiv.
Nicole Lohfink ist freie Journalistin, Film- und Theaterkünstlerin, medienpädagogische Referentin und derzeit in Elternzeitvertretung für Birgit Irrgang, Leiterin der Medienstelle Augsburg, tätig.
- Markus Achatz: Andere Jugendwelten
Markus Achatz: Andere Jugendwelten
On the Ice
In der Programmsektion 14plus hat vor allem das Erstlingswerk On the Ice (USA, 2011) von Andrew Okpeaha MacLean auf allen Ebenen überzeugt. Dramaturgisch brillant verband der US-Independentfilm einen immer packender werdenden Plot mit spürbarer Nähe zu den Hauptfiguren und setzte die arktische Landschaft wie eine weitere ‚Hauptrolle‘ als Motor der Ereignisse und der subtilen Spannung ins Rampenlicht. Überhaupt bildeten das Licht und die Farben im Eis Alaskas in dieser Geschichte weit mehr als einen spektakulären Schauplatz. Die harten Bedingungen im Eis des Nordens sind ein wesentlicher Aspekt der Geschichte – als Exposition und in seiner Auflösung. Barrow/Alaska hat etwa 5.000 Einwohner, liegt direkt am Eismeer und ist die nördlichste Gemeinde der Vereinigten Staaten.
Regisseur Andrew Okpeaha MacLean ist Iñupiat – ein Ureinwohner Alaskas – und weiß, wovon er erzählt. Er ist in Barrow aufgewachsen, dort wurde On the Ice auch gedreht. Autobiografische Bezüge sind nicht zu leugnen und selten bot das amerikanische Kino in den vergangenen Jahren eine so authentische und gleichzeitig sensible Darstellung des kulturellen Zwiespalts von Minderheiten. Weder verkrampft noch oberlehrerhaft führt er die Teenagerfreunde Qalli und Aivaag als Hauptfiguren ein, die sich im Spannungsfeld zwischen jugendlichem Sprach-Slang, Hip Hop-Kultur einerseits sowie Familienritualen und traditioneller Robbenjagd andererseits arrangieren. Statt mit Hundeschlitten wie früher oder mit Motorrädern wie Gleichaltrige heute in anderen Regionen der Welt cruisen die Kids hier mit ihren Motorschlitten durch die Gegend. Als Qalli und Aivaag mit James, einem Kumpel, per Schnee-Scooter zur Eiskante rausfahren, kommt es zu einem verheerenden Streit, an dessen Ende James tot ist. Die beiden Freunde versuchen das Unglück wie einen Unfall aussehen zu lassen. Ausgerechnet Qallis Vater, ein erfahrener Iñupiat, schöpft Verdacht, dass diese Variante der Geschichte nicht die volle Wahrheit ist. Qalli gerät sowohl durch die Nachforschungen seines Vaters als auch durch die Wankelmütigkeit Aivaags, der kaum mehr dicht halten kann, immer mehr unter Druck.
Hauptdarsteller Josiah Patkotak stammt ebenfalls aus Barrow. Auf der Bühne des Premierenkinos konnte man über die Präsenz des 16-Jährigen mit der bärengleichen, tiefen Stimme staunen. Als er die Frage aus dem Publikum, wie er mit der Schauspielerei zurecht gekommen sei, lakonisch beantwortete: „It was fun, dude“, kam es einem beinahe so vor, als wäre der berühmte ‚Dude’ aus The Big Lebowski richtig harmlos. Die sieben Jugendlichen der 14plus-Jury vergaben den Gläsernen Bären für den besten Film 2011 an On the Ice: „Dieser Film hat uns von der ersten Minute an gefangen genommen und bis zum Ende kein einziges Mal losgelassen. Mit einfachen Mitteln wird hier zwischen Einsamkeit und unendlicher Weite eine Atmosphäre von erstickender Enge geschaffen.“ Zusätzlich erhielt der Film überraschend und doch verdient den Berlinale Preis für den besten Erstlingsfilm des Gesamtfestivals.
Tomboy
Der Eröffnungsfilm des diesjährigen PANORAMA war gleichzeitig ein Beitrag, der im Rahmen der Cross-Section auch Zuschauerinnen und Zuschauern der GENERATION empfohlen wurde. Behutsam schildert die französische Regisseurin Céline Sciamma in Tomboy (Frankreich 2011) das Gefühlsdilemma der heranwachsenden Laure. Sie ist fest davon überzeugt, kein Mädchen sein zu wollen. Laure ist mit ihrer Familie – Mutter, Vater und der jüngeren Schwester Jeanne – an einen anderen Ort gezogen. Es sind Ferien, alle Kinder spielen im Freien, aber niemand kennt Laure. Da sie sich wie ein Junge kleidet, nimmt sie die Gelegenheit wahr und stellt sich der gleichaltrigen Lisa als Mikael vor. Schnell findet sie Anschluss und fühlt sich pudelwohl in der neuen Clique, spielt mit den anderen Jungs Fußball und tobt durch die Gegend. Die Situation wird kompliziert, als sich Lisa und Mikael näher kommen und dann auch noch Laures Schwester Jeanne hinter das Geheimnis kommt. Zunächst kann Laure Jeanne dazu bringen, das Spiel mitzuspielen. Die kleine Schwester beginnt sogar Stolz auf ihren ‚großen Bruder’ zu sein. Als sich bei einem Streit eine Rauferei entwickelt und Mikael einen der Jungs verprügelt, stehen wenig später der Junge und seine Mutter vor der Türe bei Laures Familie und fragen nach Mikael …
Regisseurin Céline Sciamma zählt schon jetzt zu den Vertreterinnen eines jungen, realistischen Kinos in Frankreich. Bereits mit ihrem Debüt Water Lillies erhielt sie 2007 in Cannes gute Kritiken. Das Drehbuch zu Tomboy stammt ebenfalls von ihr und ist die Grundlage für einen stimmigen und sensiblen Film, der vor allem auch hervorragend besetzt ist. Zoé Héran spielt Laure/Mikael mit allen Facetten und überzeugt besonders im Zusammenspiel mit Malonn Lévana (als kleine Schwester) und den Kids der Clique. Als Eltern sind mit Mathieu Demy und Sophie Cattani bekannte französische Darstellerinnen und Darsteller dabei. Tomboy versprüht stellenweise große Leichtigkeit, vermag aber dennoch das Publikum immer wieder in den realen Rollenkonflikt und die schwierigen Emotionen des Mädchens hineinzuziehen. Dem Film wurde hochverdient der Jury Award des Teddy-Filmpreises der Berlinale 2011 verliehen.
- Markus Achatz: Zur Definition von Kindheit.
Markus Achatz: Zur Definition von Kindheit.
„Sobald es dunkel im Kino wird, geht es auf leisen Pfoten in neue Lebenswelten“. Maryanne Redpath, Leiterin der Kinder- und Jugendfilmsparte GENERATION der Berlinale, umschreibt die Faszination Kino in ihrer Einführung zum diesjährigen Festival. Das Spektrum der Helden, Superhelden und Antihelden in den Kinderfilmen der 61. Internationalen Filmfestspiele in Berlin war sehr breit und die Geschichten ermöglichten dem jungen Publikum Reisen in ferne Länder und gaben neue Einblicke in scheinbar vertraute Umgebungen. Auch in diesem Jahr scheuten sich die Veranstalter nicht vor der Auswahl schwieriger und problembeladener Themen, die sich nicht immer in ein gutes Ende auflösten und die offene Fragen der jüngsten Zuschauerinnen und Zuschauer bisweilen nicht zu beantworten vermochten.
Dennoch machten die GENERATION-Beiträge 2011 auch viele Türen zu neuen und anderen Welten auf und boten dem jungen Publikum teils einzigartige Kinoerfahrungen.Hadikduk HapnimiAls durchaus ‚sperrig’, aber nicht minder fesselnd kann der israelische Film Hadikduk Hapnimi (Der Kindheitserfinder, Israel 2010) beschrieben werden. Regisseur Nir Bergman hat den gleichnamigen Roman des Schriftstellers David Grossman inszeniert. Bergman ist es gelungen, das Poetische und Parabelhafte des Buches auf die Leinwand zu übertragen. Für Kinder ab zwölf Jahren sicher kein einfacher Stoff. Bergman betont aber auch, diesen Film nicht speziell für ein junges Publikum gemacht zu haben. Zu komplex und zu tiefgründig sind die Gedanken und Erinnerungen Grossmans. Der Autor ist in seinem Heimatland eine feste Größe der zeitgenössischen Literatur und hat in zahlreichen Veröffentlichungen die Traumata des Holocaust zum Thema gemacht. Der Kindheitserfinder erschien in Israel 1991 und ist im Gegensatz zu einigen anderen Veröffentlichungen Grossmans, wie Joram und der Zauberhut (dt. 1998) oder Zickzackkind (dt. 1996), kein ausgesprochenes Jugendbuch. 2010 erhielt Grossman den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Der Kindheitserfinder versetzt uns ins Jerusalem der frühen 1960er Jahre. Im Mikrokosmos einer Wohnsiedlung werden drei Jahre im Leben des Jugendlichen Ahron Kleinfeld erzählt. Ahrons Vater war in einem Konzentrationslager, die Großmutter wurde während des Krieges geisteskrank und für die Mutter scheint das Leben noch immer wie ein Krieg zu sein. Ahrons Gefühlsleben ist völlig durcheinander. Freundschaften, Verliebtsein, Erwachsenwerden – all das bricht über ihn herein. Zu allem Überfluss hat er auch noch aufgehört zu wachsen und muss herausfinden, was gut daran ist, dass sich alles verändert. In seiner Welt sind nur die ältere Schwester Yochi und sein bester Freund Gidon so etwas wie Vertraute. Doch Gidon scheint sich auch zu verändern. Vor allem als Yaeli, ein Mädchen aus der Parallelklasse, in ihr Leben tritt. Yaeli geht Ahron nicht aus dem Kopf. In seiner Schüchternheit schafft er es nur mit Hilfe von Gidon, sich mit Yaeli zu verabreden. Sie treffen sich zu dritt, doch anders als zu Beginn ihrer Begegnungen, verliert Ahron den Anschluss an Yaelis und Gidons Gespräche und Gedanken. Er verharrt mehr in seinen kindlichen Träumen und Sehnsüchten. Ahron kämpft für das Bewahren eines Teils seiner Kindheit, denn er möchte nicht werden wie seine Eltern. Für ihn sind die Momente wichtig, in denen er selbst entscheidet, wann es mehr um Träume und Sehnsüchte gehen soll. Diese will er nicht verlieren, so wie seine geheimen Zeichen mit Gidon. Niemand sonst vermag sie zu deuten: Eine Münze im Elektrizitätskasten vor dem Haus, eine verschobene Holzlatte an der Parkbank oder ein Lichtreflex mit dem Spiegel ins Zimmer des anderen. Der gesamte Film bewegt sich stets innerhalb der Enge der Siedlung. Manche verlassen zwar ihre Häuser und gehen zur Arbeit oder wohinauch- immer, das Publikum bleibt aber – so wie Ahron. Manchmal stehlen sich Ahron und Gidon heimlich in die Wohnung der Nachbarin Fräulein Blum voller Bücher, Gemälde und Musikinstrumente. Nicht nur Ahrons Welt, sondern vor allem die des Vaters und langsam auch aller anderen, gerät gehörig ins Schwanken, als Fräulein Blum den Vater darum bittet, in ihrer Wohnung eine Wand herauszureißen.
Grossmans Bücher zu verfilmen ist eine schwierige Aufgabe und es war richtig, diese an den 41-jährigen Nir Bergman zu geben. Nach mehreren Kurzfilmen und Episoden für israelische TV-Serien sorgte Bergman mit seinem Kinodebüt Knafayim Shvurot (Broken Wings) 2002 für Furore. Der Film lief im Panorama der Berlinale 2003 und erhielt weltweit zahlreiche Auszeichnungen. Damals wie auch jetzt in Hadikduk Hapnimi hat Bergman die Rolle der Mutter mit Orly Zilbershatz besetzt, die herausragend spielt.Jutro Będzie Lepiej
Eine ganz auf Empathie und Freiraum angelegte Form von Kindheit vereinen alle Filme der polnischen Regisseurin Dorota Kędzierzawska. Kaum eine andere europäische Filmemacherin traut ihren kindlichen Hauptfiguren so viel zu. Ihr mit Spannung erwarteter neuer Film knüpft an das tiefe Verständnis für das Denken und Handeln Heranwachsender aus den vorherigen Werken – wie Wrony (Die Krähen, 1994) oder Jestem (Ich bin, 2007) – an. Mit Jutro Będzie Lepiej (Morgen wird alles besser, Polen/Japan 2010) ist der 53-Jährigen wieder ein herausragender Film gelungen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, Produzenten und Kameramann Arthur Reinhart erzählt sie in opulenten Bildern von der Flucht dreier Brüder. Die Geschichte beginnt, als die Jungen schon unterwegs sind. Woher sie kommen und wohin sie wollen, erschließt sich erst nach und nach. Ab der ersten Einstellung sind die Zuschauerinnen und Zuschauer nah dran an diesen Jungen – vor allem an Petya, dem Jüngsten der drei, so als würden sie ihn schon lange kennen. Petya ist sechs Jahre alt, ein obdachloses Straßenkind, unterwegs mit seinem elfjährigen Bruder Vasya und dessen Freund Lyapa. Die beiden älteren Jungen hecken einen Plan aus. Wenn dieser aufgeht, wird alles besser werden. Im Verborgenen schlagen sie sich durch, erst in einem Güterzug, später zu Fuß durch einsame Landstriche. Die Reise ist eine Suche nach einer neuen Heimat, nach einem besseren Leben. Die Jungs sind sich selbst gegenüber hart und wissen, dass sie nur weiterkommen, wenn sie zusammenhalten. Der Kleine wird von den Großen regelmäßig ausgeschmiert, aber sie würden ihn tatsächlich nie zurücklassen.
Die Spannung steigt, als die drei Kinder zum hochgesicherten Grenzstreifen gelangen, der von Russland nach Polen führt. Die Regisseurin scheint sich ganz auf ihre Charaktere zu verlassen. Alles in Jutro Będzie Lepiej fokussiert sich auf die Jungen. Die Kamera begleitet die Kinder eher, als dass die Geschehnisse inszeniert wirken. Mit Ausnahme von Licht und Farben, denn diese sind großes Kino und verhelfen der Landschaft im nordöstlichen Grenzgebiet Polens ebenfalls zu einer Hauptrolle. Die Geschichte soll wirklich passiert sein, so Dorota Kędzierzawska, wobei es keine Rolle spiele, ob es genau so war. Entscheidend sei der unbedingte Wille der Drei, ihr tristes Dasein zu verlassen – einzig geschürt durch die Hoffnung, dass es irgendwo einen besseren Ort gibt.
Eine ausdrucksvolle Interpretation des Wandels der Kindheit ist die Szene, als die drei nachts in einem Güterwaggon liegen. Der Zug hält an einem unbekannten Ort und gibt für Vasya den Blick durch eine Ritze frei auf eine beleuchtete Wohnung. Hinter einem Fenster geht eine Mutter mit einem schlafenden Kind auf und ab. Sie wiegt und liebkost das Kind, während Vasya den in seinen Armen schlafenden Petya betrachtet und ihn fest an sich drückt. Jutro Będzie Lepiej erhielt 2011 sowohl den Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks für den besten Spielfilm (vergeben durch die internationale GENERATION Kplus-Jury) als auch den Friedensfilmpreis 2011, der im Rahmen der Berlinale verliehen wird.
Aus der Jurybegründung: „Mit eindringlichen und poetischen Bildern erzählt die polnische Regisseurin Dorota Kędzierzawska dieses so bittere Märchen unserer heutigen Realität. Mit den Augen der Kinder entlarvt sie die harte Welt der Erwachsenen und der von ihnen gezogenen Grenzen. Und Petya, der Sechsjährige, durchleuchtet die Welt – direkt ins Herz.“ Deutlicher als während früherer Festivals wurde in diesem Jahr diskutiert, was dem jungen Kinopublikum zuzumuten ist und was nicht. Die Debatte ist nicht neu, hat aber mit einigen Beiträgen im GENERATION -Wettbewerb der 61. Berlinale ein breiteres öffentliches Interesse generiert. Vielleicht ist gerade das als ein wichtiges und positives Signal für die Nische ‚Kinderkino’ zu werten. Im Vorfeld hatte Maryanne Redpath bereits angedeutet, dass die jungen Protagonistinnen und Protagonisten in den diesjährigen Programmen Kplus und 14plus riskant leben würden, ganz egal woher sie kämen und wo sie sich befänden. Davon, wie Heranwachsende ihre Grenzen testen, sich in Fantasiewelten träumen oder sich teils gefährliche Zufluchtsorte suchen, handeln die Geschichten aus 30 Ländern. „Heranwachsen verlangt Wagemut. Selten gab es so viele Filme, die derart radikal davon erzählen“, so Redpath. Diesen Wagemut forderte die Veranstaltung auch von ihrem Publikum.
- Markus Achatz: Annäherungen ans Anderssein
Markus Achatz: Annäherungen ans Anderssein
Das Programm der Sektion Generation auf den 60. Internationalen Filmfestspielen 2010 in Berlin befasste sich in vielen Fällen mit der Frage nach „Fremdheit“ und was dies bedeuten kann. Hervorgestochen sind Filme, die Andersartigkeit als Chance begreifen, die offen sind für neue Perspektiven und die Neugier ihrer Protagonistinnen und Protagonisten. Die Zugänge zu den teils schwierigen Themen wurden durch Verknüpfungen von Fantasie und Realität erleichtert. Neben rein fiktionalen Kurz- und Langfilmen wurden in diesem Jahr vermehrt Dokumentationen und Mischformen zwischen Doku und Fiktion in die Programmschienen Kplus und 14plus aufgenommen. Die Erweiterung fand beim jungen Publikum erstaunlich guten Zuspruch. Beispielsweise erhielt der Dokumentarfilm Wie wir leben (Neuseeland/Kanada, 2009) eine „Lobende Erwähnung“ der Kinderjury. Der "Gläserne Bär“ als Hauptpreis der 14plus-Jugendjury ging an die deutsche Doku Neukölln Unlimited (2010), in der drei Geschwister einer Familie aus dem Libanon in Berlin zwischen Anerkennung und drohender Abschiebung leben (siehe Beitrag von Isabel Rodde in diesem Heft). Als Kplus-Eröffnungsfilm lief die Dokufiktion Alamar (Mexiko, 2009) von Pedro González-Rubio. Darin begeben sich der fünfjährige Natan und sein Vater auf eine Reise aufs offene Meer. Der Junge lebt eigentlich bei seiner Mutter in Italien, sein Vater stammt aus einer Maya-Familie aus Mexiko. Während der Zeit, die der Junge bei ihm in der mexikanischen Karibik verbringt, lernt Natan unterschiedliche kulturelle Lebensräume kennen und macht völlig neue Erfahrungen mit der Natur und dem Meer.
Märchenhaft: Yuki & Nina
Noch stärker als für Natan in Alamar geht es für die neunjährige Yuki im Spielf ilm Yuki & Nina um das Zurechtkommen mit einer neuen Situation und um neue Erfahrungswelten. Ausgangspunkt der französisch-japanischen Produktion ist Paris. Yuki und Nina sind enge Freundinnen und verbringen zusammen so viel Zeit wie möglich. Ninas Wunsch, dass Yuki mit ihr in den Urlaub fahren darf, stößt auf große Zurückhaltung bei Yukis Mutter. Nach und nach wird klar, woran dies liegt: Yukis Eltern werden sich trennen und die Mutter plant, mit ihr in die japanische Heimat zurückzukehren. Für die beiden Mädchen bricht eine Welt zusammen. Sie beschließen wegzulaufen und als der Umzug nach Japan immer näher rückt, fahren die Kinder mit der Bahn aufs Land. Dort verstecken sie sich in einem Haus, das Ninas von der Familie getrennt lebendem Vater gehört. Als die Mädchen dort beinahe entdeckt werden, fliehen sie weiter in den Wald. Auf dem Weg in die Tiefe des Waldes wandelt sich der Film sachte. Alles scheint sich zu verändern, nicht wie in einem ‚Gruselfilm‘, sondern eher als gäbe es ein tieferes Eintauchen in die Natur. Geleitet von einem unerklärlichen, inneren Wunsch und überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein, verlässt Yuki ihre Freundin und geht immer weiter. Die Geschichte wird zur Fabel, die Märchensymbolik des Waldes zum zentralen Element. Yuki tritt schließlich auf eine Lichtung mit einem Haus. Die folgenden Szenen zeigen sie in einer trauten Runde mit anderen Mädchen spielend und scherzend. DieKinder sprechen japanisch. Yuki ist in ihrem zukünftigen Leben angekommen. Im späteren Verlauf des Films werden Yuki und Nina von Yukis Vater (gespielt von Hippolyte Girardot) im Wald wiedergefunden. Ein erneuter Wechsel am Filmende zeigt Yuki und ihre Mutter, wie sie – inzwischen in Japan angekommen – mit dem Auto an jener Lichtung und dem Haus vorbei fahren. Yuki weiß, dass sie schon einmal dort gewesen ist. Nicht nur die kindlichen Zuschauerinnen und Zuschauer sind von den Szenen wechseln und Brüchen in der Geschichte irritiert. Konsequent behalten die Regisseure das langsame Erzähltempobei. Die Zielgruppe im Kino reagiert unterschiedlich. Während manche ein lautes Gähnen nicht zurückhalten können, zieht andere die sehr poetische Erzählweise in den Bann – auf eine Art wie es auch Märchen schaffen. Das gemeinsame Werk von Nobuhiro Suwa, einem wichtigen Vertreter des japanischen Autorenkinos (Un couple parfait, 2005) und (als Regiedebüt) vonSchauspieler Hippolyte Girardot (u. a. Le Tango des Rashevski, 2005, Le Parfum d’Yvonne, 1994)gibt den kindlichen Protagonistinnen die Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln. Und darinliegt – neben dem überzeugenden Spiel der beiden Mädchen – das Besondere an Yuki & Nina.Den Heranwachsenden wird etwas zugetraut, sie haben die Möglichkeit selbst herauszuf inden,was richtig ist. Nicht durch ein Ausblenden der Zwänge des Alltags und der Probleme derErwachsenenwelt, sondern durch Emanzipation und das Bewältigen neuer Erfahrungen.
Überraschend: Superbror
Weitaus zugänglicher ist dagegen der dänische Spielfilm Superbror (Superbruder, 2009) und kommt dem Anspruch auf gute Unterhaltung im Kino auch deutlich näher. In der Traditionideenreicher und übermütiger skandinavischer Kinder- und Jugendfilme schafft es Regisseur Birger Larsen, ein wirklich schwieriges Thema mit Gefühl, Spannung und positivem Lebensgefühl auszustatten. Im Mittelpunkt stehen die beiden Brüder Anton und Buller. Anton ist mit seinen zehn Jahren eigentlich der ‚Kleine‘, doch er muss ständigauf seinen älteren Bruder aufpassen. Buller ist autistisch und bekommt manchmal Angstattacken,während denen er nicht einmal alleine eine Straße überqueren kann. Ständig kritzelt er Zeichnungen, die er wie Kleinkindbilder der Mutter oder Anton schenkt. Anton ist oft genervt undes fällt ihm zeitweise schwer zu akzeptieren, dass sein Bruder so anders ist. Dennoch sorgt er sichauch um ihn und wird selbst traurig, wenn Buller bei der Mutter weint und sagt: „Ich weiß es nichtin meinem Kopf“. Auch in der Geschichte von Superbor kommt es zu überraschenden Brüchen wenn sie zwischen realistischer Familienstory und Science-Fiction-Abenteuer wechselt. Antonentdeckt in einem Park einen Meteoriteneinschlag und zieht einen dampfenden Stein ausdem Krater. Als sich herausstellt, dass es sich um etwas Außerirdisches handelt, kommt Anton einGedankenblitz. Er sammelt alle in der Wohnung verteilten Kritzeleien seines Bruders ein und setzt die einzelnen Teile wie ein Puzzle zu einem Ganzen zusammen. Das riesige Gesamtbild zeigtden Kometen und Anton wird klar, dass er Buller ins Geschehen einweihen muss. Gemeinsamöffnen sie den rätselhaften Fund und f inden eine geheimnisvolle Fernbedienung. Mit Hilfe des galaktischen „Super Trip Controllers“ wird Buller zum tatsächlichen Superbruder – mit Superkräften und galaktischer Coolness. Anton hat endlich einen Bruder, wie er ihn sich immer gewünscht hatte. Allerdings gibt’s auch Probleme mit der Superfernbedienung, denn die Wirkungszeit ist limitiert, der Countdown zählt unaufhaltsam zurück und Anton verliert die Kontrolle über „Super-Buller“. Was zunächst wie ein Desaster erscheint, macht den Jungen nachdenklich, denn ein fliegender Superbruder mit Superkräften und großer Klappe ist ja auch nicht gerade ‚normal‘. Gemeinsam mit Anton stellt sich auch das Kinopublikum die Frage: „Was ist schon normal?“ Am Schluss ist Anton sehr dankbar dafür, den ‚Wunsch‘-Buller erlebt zu haben, weiß aber gleichzeitig und ganz bestimmt: Er liebt seinen großen Bruder und zwar genau so ‚anders‘ wie er immer war.
Eindrucksvoll: Dooman River
Im 14plus-Programm fiel die koreanisch-französische Koproduktion Dooman River besonders auf. Der Tumen ist ein langer, breiter Fluss, der die Grenze zwischen Nordkorea und China bildet. Vor allem in der kalten Jahreszeit ist die Region um das Gewässer Schauplatz von Grenzkonflikten und Flüchtlingsdramen. Wenn der Tumen zugefroren ist, wird dasEis zur Verbindung zwischen den Armen auf der chinesischen und den Hungernden aufder nordkoreanischen Seite. Der Spielfilm erzählt in nahezu dokumentarischen Bildern vomAlltag auf der chinesischen Seite und dem Aufeinandertreffen mit den Flüchtlingen. Nachchinesischen Angaben sollen bereits über 400.000 Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner über den Fluss geflohen sein. Die geschilderten Varianten des Umgangs mit der angespannten Situation sind vielfältig: Auf koreanischer Seite wird das Ufer von bewaffneten, schussbereiten Militärs bewacht. Eine Gruppe von Flüchtlingskindern muss ein Mädchen zurücklassen, das auf dem Weg hungrig und geschwächt zusammenbricht. Ein chinesischer Händler agiert als Schlepper. In China werden per Lautsprecher Durchsagen gemacht, dass es verboten sei, sich mit den Fremden einzulassen. Der zwölfjährige Chang-ho lebt mit seiner stummen Schwester Soon-hee im chinesischen Grenzdorf, während die Mutter das ganze Jahr über in einer fernen Großstadt arbeitet. Chang-ho freundet sich mit einem gleichaltrigen Flüchtling an. Die Kinder spielen zusammen Fußball und teilen sich das Essen. Für Chang-ho hat es keine Bedeutung, woherder Junge kommt. Die Lage wird indes dramatischer, als der Flüchtlingsjunge mit ansehen muss, wie ein betrunkener Nordkoreaner Chang-hos Schwester vergewaltigt. Dooman River zeigt die harte Realität. In seinem bewegenden Film schildert der chinesische Regisseur Zhang Lu viele Facetten im Umgang mit der Extremsituation: Großherzigkeit und Diskriminierung, Hilfe und Verrat, Freundschaft und Grausamkeit. Die 14plus-Jugendjury fand in ihrer „Lobenden Erwähnung“ für Dooman River die richtigen Worte: „Zum Schluss des Films herrschte Schweigen. Wir waren perplex von der Wucht der Bilder, von der eindringlichen Botschaft und der Stille, die dieser Film beschreibt. Jeder Aspekt des Films will uns wachrütteln, uns auf etwas aufmerksam machen, das in unserer Gesellschaft kaum jemand kennt. Ohne starke Charaktere und Musik schafft es der Film, in der Stille eine Sprache zu entwickeln, die mehr aussagt als jeder verzweifelte Schrei.
“Yuki & Nina (Yuki & Nina)
Frankreich, Japan 2009, 92 min
Regie: Nobuhiro Suwa, Hippolyte Girardot
Darsteller: Noë Sampy (Yuki), Arielle Moutel (Nina), Hippolyte Girardot (Yukis Vater), Tsuyu Shimizu (Yukis Mutter),Marilyne Canto (Ninas Mutter)
Produktion: Comme des Cinémas (Paris); Weltvertrieb: Films Distribution (Paris)Superbror (Superbruder)
Dänemark 2009, 89 min
Regie: Birger Larsen
Darsteller: Lucas Odin Clorius (Anton), Victor Kruse Palshøj (Bullet), Anette Støvelbæk (Anja), Andrea Reimar (Agnes), Nicolai Borch (Max)
Produktion: Nordisk F ilm AS (Valby); Weltvertrieb: Trust Nordisk (Hvidovre)Dooman River (Dooman River)
Republik Korea, Frankreich 2009
Regie: Zhang Lu
Darsteller: Cui Jian (Chang-ho), Yin Lan (Soon-hee), Li Jinglin (Jeong-jin), Lin Jinlong (Großvater)
Produktion: Lu F ilms (Seoul); Weltvertrieb: Arizona Films (Paris)
- Markus Achatz: „Frozen Land – Moving Pictures“
Markus Achatz: „Frozen Land – Moving Pictures“
Tromsø liegt auf 69,7 Grad nördlicher Breite, 344 Kilometer Luftlinie nördlich des Polarkreises. In der zweiten Januarhälfte wird die Polarnacht allmählich kürzer und immerhin drei bis vier Stunden täglich wird es etwas heller im hohen Norden Norwegens. Ein idealer Zeitpunkt fürs Kino und gleichzeitig, um ein paar Stunden täglich die imposanten Berge und Fjorde rund um Tromsø zu bestaunen. „Gefrorenes Land – bewegende Bilder“ – so das Motto des beinahe exotischenTromsø International Filmfestivals TIFF. Seit nunmehr zwanzig Jahren ändert die Stadt mit ihren 65.000 Einwohnerinnen und Einwohnern für eine Woche im Winter den gewohnten Polarnacht-Rhythmus und wird zum Schauplatz einer der wichtigsten Filmveranstaltungen in Skandinavien. Ohnehin gilt Tromsø als heimliches Kulturzentrum Norwegens, schließlich gibt es hier nicht nur eine hohe Dichte an Kneipen und Cafés, sondern auch die nördlichste Universität und die nördlichste Bierbrauerei der Welt. Und nirgendwo sonst ist die Wahrscheinlichkeit höher, nahe an einer Stadt die sagenumwobenen Polarlichter am Himmel zu erleben.
Unter der Aurora
Auf dem TIFF 2010 zwischen dem 18. und 24. Januar liefen zahlreiche Produktionen als skandinavische oder zumindest norwegische Erstaufführungen. Das Programm setzte sich aus den Sektionen „Horizonte“, „Overdrive“, „Critic’s Week“ sowie einer Retrospektive der französischen Regisseurin Claire Denis (z. B. Chocolat – Verbotene Sehnsucht, 1988, Nénette et Boni, 1996, White Material, 2009) zusammen. Kernstücke des Festivals sind der Wettbewerb um den AURORA-Filmpreis und die Reihe „Films From The North“. Hier werden neue Kurz- und Dokumentarf ilme aus der Polarregion gezeigt – vornehmlich Produktionen, die in den nördlichsten Regionen Europas entstanden sind. Der Wettbewerb präsentierte 15 Filme aus 13 Ländern – allesamt norwegische Premieren. Unter ihnen der türkische Film "10 to 11" der Regisseurin Pelin Esmer und "Hadewijch" des Franzosen Bruno Dumont. Der mit 100.000 norwegischen Kronen (ca. 12.500 Euro) dotierte AURORA-Preis für den besten Wettbewerbsbeitrag ging an den Thriller "Die Tür" (The Door) des deutschen Regisseurs Anno Saul. Neben dem AURORA-Filmpreis wird im Rahmen des TIFF regelmäßig auch der norwegische Friedensfilmpreis vergeben. Diesen erhielt dieses Jahr der georgisch-kasachische Film "Gagma Napiri" (Das andere Ufer, 2009) von George Ovashvili, der bereits auf der Berlinale 2009 in der Sektion GENERATION lief (siehe Artikel „Grenzübertritte“ in merz 2-2009).
Films From The North
Die umfangreichste und gleichzeitig speziellste Programm-Sparte des TIFF bilden die „Filme aus dem Norden“. Die knapp 50 Kurzfilme und Dokumentationen stammen alle aus Finnland, Schweden, Norwegen und Russland; Filme, die in der Regel in den Polargebieten spielen oder zumindest dort produziert worden sind und häufig nirgendwo sonst zu sehen sind. Im 13-minütigen Feature-Film "Superhelter har ikke leggitid" (My Superhero) des jungen norwegischen Regisseurs Jim Hansen ist der sechsjährige Bent die Hauptfigur. Sehnsüchtig wartet Bent auf die Rückkehr seines Vaters, der sich auf einer Geschäftsreise befindet, jedoch nicht kommt. Im Verhalten seiner Mutter erkennt der Junge, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wann soll er ihr die Frage stellen, die ihm am meisten Angst macht? Behutsam und eindringlich schildert Jim Hansen das tragische Moratorium zwischen der Meldung eines Unglücks und der schrecklichen Gewissheit. Hansens Film konzentriert sich auf die beiden Protagonisten Mutter und Sohn. Die Sicht des kleinen Jungen, der vieles noch nicht begreifen kann, aber dennoch merkt, dass etwas Schlimmes geschehen ist, bildet den Mittelpunkt der Geschichte. Traditionell stammen mehrere Beiträge der Reihe „Films From The North“ aus der Nordland Kunst- og Filmfagskole in Kabelfåg. Die kleine Filmhochschule in den norwegischen Lofoten bereichert regelmäßig die skandinavische Filmszene mit Kurzfilmen. "Duett" (Duet) von Ragna Nordhus Midtgard ist ein solcher Beitrag. Der Pianist Lucas ist ein verschrobener Einzelgänger, der seine Wohnung nicht verlässt und auch niemanden hineinlässt. Dem kleinen Nachbarssohn gelingt es, allmählich in Lucas‘ Welt zu gelangen. Häufig spielt der Junge mit bunten Flummis im Treppenhaus. Seine Eltern haben ständig Streit, den Nachbar Lucas in seiner Wohnung mithören muss. Stets beginnt er dann Klavier zu spielen. Obwohl das Klavier furchtbar verstimmt ist, hört der Junge im Treppenhaus gerne zu. Durch seine beharrliche Neugier nach dem unbekannten Klavierspieler, weckt er auch Lucas‘ Interesse. Zunächst kommunizieren die beiden nur über den Austausch der Flummis durch den Briefschlitz. Bis Lucas dem Jungen irgendwann die Türe öffnet und dieser endlich auch einmal ans Klavier darf.
Regisseurin Ragna Nordhus Midtgard beweist mit "Duett" ihr großes Talent im Umgang mit den Figuren. Licht, Kamera und Szenenbild an beiden Motiven – Treppenhaus und Lucas‘ Wohnung – erzeugen eine warme und intensive Atmosphäre. Torfinn Iversen ist ebenfalls Absolvent der Filmhochschule in Kabelfåg. Mit seinem vierten Kurzfilm "Forventninger" (A Tale of Balloons) nahm er am diesjährigen TIFF teil. Auch hier steht ein Junge im Mittelpunkt. Der siebenjährige Tim ist sehr aufgeregt, denn es ist Norwegens Nationalfeiertag und er möchte unbedingt mit seiner Mutter zur Parade gehen. Am Vorabend fand in der Wohnung eine Party statt und als Tim von der Mutter ins Bett geschickt wurde, schlich er sich vor die Tür und lernte den „Ballonmann“ kennen, der in einem Wohnwagen wohnt und Luftballons mit Gas füllt. Von ihm lernt Tim, dass auch Gedanken fliegen können – genauwie Ballons. Am nächsten Morgen ist Tim schon früh wach und versucht seine Mutter zu bewegen, mit ihm zum „National Day“ zu gehen, doch sie ist nach der Party des Vorabends nicht ansprechbar. Vielleicht können die Ballons auch seine Mutter zum Fliegen bringen? Der 15-minütige Kurzfilm "Forventninger" zeigt die intensive Vorstellungskraft eines Kindes, bei der Fantasie und Wirklichkeit verschmelzen. Ein weiterer Film mit einem heranwachsenden Protagonisten ist aus dem Programm hervorzuheben: diesmal eine junge Frau, die als einzige Figur im Zentrum von "Lumikko"(Little Snow Animal) steht. Der Film der jungen Regisseurin Miia Tervo aus Finnland beginnt mit einem Radiogespräch aus der realen Talkradio-Sendung Night Line. Der Moderator spricht mit einem anonymen 16-jährigen Mädchen, das sich unter großem psychischen Druck befindet, mit der Schule nicht zurechtkommt und vor allem nach einer Affäre mit dem Freund der Mutter einer Klassenkameradin nicht mehr weiter weiß. Die Konversation ist unterlegt mit abstrakten schwarz-weiß Zeichenanimationen und wird unterbrochen durch Filmszenen einer jungen Frau, die allein und schweigend auf dem Sofa sitzt oder durch die Wohnung läuft. In einer anderen Szene sehen wir sie einsam auf der Tanzfläche einer leeren Diskothek. Der Film kombiniert die stilisierten Großeinstellungen der jungen Frau in ihrem vermeintlichen Alltag mit dem bedrückenden Dialog zwischen dem verzweifelten Mädchen und dem Radiomoderator. Durch die Vermischung von Spielfilmelementen mit dokumentarischen und animierten Anteilen gelingt es der Regisseurin, eine große Spannung aufzubauen.
Open-Air-Kino in einer neuen Dimension
Seit Jahren liegen Open-Air-Kinovorführungen im Trend. Großveranstaltungen mit Kinofilmen unter freiem Himmel begleiten unsere Sommermonate. Das TIFF führte dieses Veranstaltungsformat in eine neue Dimension. Zweimal täglich liefen auf der „Snowscreen“ mitten in Tromsø Filme für jedermann. Vormittags wurden Kurzfilme für Schulklassen gezeigt – zumeist Zeichentrickfilme – und nachmittags eine Auswahl an Kurzfilmen. Ein Highlight war die Vorführung des Stummfilms "Nanook of the North" (Nanuk, der Eskimo, 1922) von Robert J. Flaherty mit Livemusik. Der schwedisch-norwegische Komponist Matti Bye hat für "Nanook" neue Musik komponiert und live zur Vorführung in Tromsø präsentiert. Nahe der Schneeleinwand spielte die Band in einem Ladengeschäft hinter einem hell erleuchteten Schaufenster und intonierte den Film mit Musik und Geräuschen. Der Stummfilm handelt von einer Inuit-Familie, die im Gebiet der Hudson Bay in Kanada lebte und im rauen Klima ums tägliche Überleben kämpfte. Die weite Schneelandschaft und die in den 20er-Jahren bahnbrechende Kameraarbeit unter den extremen Lichtverhältnissen erzeugte in der eindrucksvollen Kulisse Tromsøs eine besondere Stimmung. Mehr als einhundert Besucherinnen und Besucher bestätigten, dass Open-Air-Kino auch unter den ungewohnten Bedingungen der Arktis bei deutlichen Minusgraden zu einem einzigartigen Erlebnis werden kann.
Superhelter har ikke leggitid (My Superhero)
Norwegen 2009, 13 min
Regie: Jim Hansen
Produktion: Sweet FilmsDuett (Duet)
Norwegen 2009, 12 min
Regie: Ragna Nordhus Midtgard
Produktion: Nordland Kunst- og FilmfagskoleForventninger (A Tale of Balloons)
Norwegen 2009, 15 min
Regie: Torf inn Iversen
Produktion: Nordland Kunst- og FilmfagskoleLumikko (Little Snow Animal)Finnland 2009, 19 min
Regie: Miia Tervo
Produktion: University of Art and Design Helsinki - Markus Achatz und Bettina Arnoldt: FUMETTO - Vom Comic-Virus infiziert
Markus Achatz und Bettina Arnoldt: FUMETTO - Vom Comic-Virus infiziert
Jedes Jahr im Frühling wird die schweizerische Touristenstadt Luzern am Vierwaldstätter See zum Zentrum der Comic-Kultur im deutschsprachigen Raum. In Deutschland fristen Comics und deren gesamte Szene eher ein Schattendasein. Als Medium völlig unterschätzt – als Kultur eher eine Subkultur – bieten die gezeichneten Bilderfolgen jedoch ein riesiges Repertoire an Genres, Techniken und vor allem an großartigen Geschichten. Innerhalb der Comicszene kommen derzeit vor allem Mangas aus Japan sowie Graphic Novels – Romane in Comicform, die mehr ‚Bücher’ als klassische Comic-Alben sind – mit herausragenden und innovativen Neuerscheinungen auf den Markt. Das Festival zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass es sich an Schnittstellen heranwagt. Fumetto interessiert sich für alles, was mit Bildern arbeitet. Dadurch reicht die Gesamtschau der gezeigten Werke vom klassischen Comic über bildende Kunst und Animationen bis hin zum Theater.
Das Fumetto, das 2009 vom 28. März bis 5. April stattfand, bietet Einblicke in zahlreiche neue Comic-Veröffentlichungen und stellt jedes Jahr bedeutende Zeichnerinnen und Zeichner sowie Verlage oder Comic-Kollektive in Ausstellungen vor. Hierbei dominiert zwar die europäische Szene, der Anteil internationaler Künstlerinnen und Künstler wurde in den letzten Jahren jedoch stetig erweitert. Ein wichtiger Bestandteil des Festivals ist der Wettbewerb, der jährlich zu wechselnden Themen ausgeschrieben wird und an dem sich jedermann beteiligen kann. Tatsächlich reichten rund 1.000 Zeichnerinnen und Zeichner aus der ganzen Welt und aus allen Altersstufen ihre Strips ein. Eine Auswahl der 2009 eingesandten Arbeiten zum Thema „Virus“ war in der Wettbewerbsausstellung zu sehen. Eine Fachjury kürte die Preisträger in drei verschiedenen Alterskategorien und auch die Besucherinnen und Besucher konnten ihre Stimme für den Publikumspreis vergeben.Das besondere am Comix-Festival in Luzern ist, dass sich die Ausstellungen auf die ganze Stadt verteilen und gleichzeitig feste Anlaufstellen alle Comic-Begeisterten wieder zusammenbringen. Dies sind vor allem das Festivalzentrum in der historischen Kornschütte und die vielen Events des Rahmenprogramms mit Performances, Diskussionsrunden, Zeichen-Battles oder Konzerten. In diesem Sinne ist es auch ein Festival für das Publikum, dem ein vielfältiges Programm geboten wird. Unterstützt wird die einladende Atmosphäre durch die Beteilung der Luzerner Bevölkerung am Fumetto, denn neben dem eigentlichen Festival gibt es in der gesamten Stadt sogenannte ‚Satelliten-Ausstellungen’, für die eine Vielzahl Luzerner Geschäfte, Firmen, Cafés in den eigenen Räumen oder Schaufenstern die Werke von Comic-Künstlerinnen und -Künstlern frei zugänglich aushängen.Den Kern des Fumetto bildeten neben der Wettbewerbsausstellung in diesem Jahr 18 Einzelausstellungen. Die Künstlerinnen und Künstler kamen aus Frankreich, Belgien, Großbritannien, Finnland, USA, Kanada, Israel, der Schweiz und erstmals in der Geschichte des Fumetto aus Japan. Einer der prominentesten Künstler des diesjährigen Festivals war der Franzose Blutch. Der 42-Jährige gilt in Frankreich seit einigen Jahren als einer der bedeutendsten Zeichner und Autoren seiner Generation. Außerhalb Frankreichs ist der vielseitige Künstler und Erzähler bislang kaum bekannt, obwohl Blutch auf dem Comic-Festival von Angoulême 2009 den „Grossen Preis der Stadt Angoulême“, eine der höchsten Auszeichnungen für einen französischen Comic-Autor, erhalten hatte. In Luzern waren vor allem seine Gemälde (u. a. aus seinen Alben La Volupté und La Beauté) sowie Originalskizzen seiner Serie Le Petit Christian zu sehen. Im Rahmen des Fumetto fand auch die Buchvernissage der deutschen Gesamtausgabe Der kleine Christian (Reprodukt 2009) statt. Vor kurzem war Blutch als Zeichner auch am Band Der Sohn der Drachenfrau aus der Donjon-Kultreihe von Lewis Trondheim und Joann Sfar beteiligt (erschienen als Nr. 7 der Serie Donjon-Monster, Reprodukt 2009).
Die wachsende Bedeutung des Fumetto für die internationale Comic-Szene lässt sich an Talenten wie der 28-jährigen Amanda Vähämäki aus Finnland festmachen. Die in Tampere geborene Künstlerin gewann den Fumetto-Wettbewerb im Jahr 2005 und veröffentlichte seither in zahlreichen Comic-Anthologien ihre teils alltäglichen, teils surreal-traumhaften Geschichten. Vor allem durch die Kontakte mit der italienischen Gruppe Canicola in Bologna und Veröffentlichungen in der gleichnamigen Anthologie weckte sie internationale Aufmerksamkeit. In Deutschland sind erste Comics unter anderem in den Magazinen Strapazin oder Orang erschienen. Auf dem Fumetto hatte sie 2009 nun eine Einzelausstellung und präsentierte Auszüge ihrer enigmatischen Geschichten über das Lebensgefühl Jugendlicher.Jedes Jahr verdeutlicht das Fumetto seine Offenheit gegenüber anderen Künsten. Die Grenzen zu Grafik, Malerei, Design oder Aktionskunst sind fließend. Geneviève Castrée aus Québec (Kanada) greift diese Möglichkeiten des Comics ganz bewusst auf. Die 27-Jährige zeichnet seit 1996 Comics und arbeitet gleichzeitig als Illustratorin und Musikerin. Gemeinsam mit ihrem Partner Phil Elvrum spielt sie in der Band Woelv und verarbeitet dort ihre Bilder und Geschichten zu melancholischen Folksongs. Woelv-Platten sind gleichzeitig Tonträger und Comics, denn die aufwändig gestalteten Booklets mit vielen Zeichnungen beziehen sich auf die Songs und umgekehrt. Im Jahr 2007 erschien auf dem US-Plattenlabel K-Records der Titel Tout seul dans la forêt en plain jour, avez-vous peur? (Haben Sie Angst, tagsüber ganz allein im Wald?).
Seit einigen Jahren ist das Kunstmuseum Luzern als Ausstellungsort fester Bestandteil des Fumetto. Ausgesuchte Comic-Künstler haben die Gelegenheit, ihre Arbeiten im bedeutendsten Kunstmuseum der Zentralschweiz zu zeigen. In diesem Jahr war es unter anderem der Japaner Yuichi Yokoyama, dessen Stil kaum auf externe Einflüsse festlegbar ist. Er lebt in einem Vorort von Tokio ohne Computer, Fernseher und Führerschein und sagt von sich selbst, dass er in seinen Bildern auf Namen, Dialoge und Emotionen völlig verzichtet. Vielmehr versteht er sich als jemand, der den „Schein der Dinge, ihre Oberfläche“ zeigen möchte. Seine Zukunftsvisionen konzentrieren sich auf Bewegung, Aktion und Tempo. Zum Comic ist Yuichi Yokoyama gekommen, weil ihn die Abgeschlossenheit des Gemäldes zunehmend gestört hat. Comics ermöglichen ihm, die Komponente des zeitlichen Verlaufs aufzugreifen.Mit 55.000 Besucherinnen und Besuchern war das Publikumsinteresse in diesem Jahr ungebrochen hoch. Dies zeugt von einer Anerkennung des Comics als eigenständige Kunstform außerhalb von Deutschland. Auch die rege Nutzung des eigens entwickelten Programms für Schulklassen bietet einen Hinweis darauf, dass das Medium Comic in anderen Ländern einen besseren Ruf genießt. Einerseits beteiligen sich ganze Schulklassen von den untersten Jahrgängen an am jährlichen Wettbewerb. Im Vorfeld des Festivals erstellen die Kinder und Jugendlichen ihre Arbeiten unter anderem im Rahmen des Schulunterrichts.
Durch die Preisvergabe auch für jüngere Altersklassen (bis zwölf Jahre sowie 13 bis 17 Jahre) besteht die Chance, dass auch die Mühen der jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewürdigt werden. Dieses Vorgehen ist so erfolgreich, dass dieses Jahr die erst 16-jährige Anina Mirjam Schärer aus der Schweiz, die ihren Wettbewerbsbeitrag im Rahmen des Zeichenunterrichts erstellte, sogar den altersübergreifenden Publikumspreis gewann.Andererseits gibt es ein speziell für Schulklassen entwickeltes interaktives Begleitprogramm für den Festivalbesuch. Das Fumettino Maxi besteht aus zwei Bausteinen und einer Arbeitsmappe, die eine didaktische Einführung zum Thema „Comic“ und Übungen für den Unterricht im Vorfeld enthält. Der Baustein „Führung“ bringt den Schülerinnen und Schüler das Medium Comic anhand des Wettbewerbsthemas näher. Es wird das Zusammenwirken von Form und Inhalt der Bilder- und Sprachwelt der Comics erläutert. Im zweiten Baustein „Postenarbeit“ haben die Schülerinnen und Schüler selbst die Möglichkeit, aktiv zu werden. In Kleingruppen besuchen sie einzelne Ausstellungsorte („Posten“), an denen selbständig Aufgaben bearbeitet werden. Mithilfe von Fragen werden die Kinder und Jugendlichen an die Comicgeschichten herangeführt. Zeichenübungen schulen ihr Sehen und machen den Comicaufbau verständlich. Das Begleitprogramm wurde auch dieses Jahr von Schulen und Jugendgruppen vielfach genutzt. Für jüngere und jugendliche Einzelpersonen besteht im Rahmen des Kinder- und Jugendprogramms Fumettino ebenso die Möglichkeit, an Zeichenkursen, Workshops und betreuten Programmen teilzunehmen.Insgesamt gelang es den Veranstaltern auf unkommerzielle Art und Weise, Nachwuchs, Newcomer, etablierte Künstler und ihr Publikum zusammenzubringen.
- Markus Achatz: Grenzübertritte
Markus Achatz: Grenzübertritte
Zahlreiche Filme im Programmbereich GENERATION auf den 59. Internationalen Filmfestspielen in Berlin konfrontierten ihre Protagonistinnen und Protagonisten unmittelbar mit den Härten des alltäglichen Lebens und mit schwerwiegenden Problemen. Dies galt für die Programmschiene des Kinderfilmfestivals Kplus genauso wie für die seit 2004 eingeführte Sparte 14plus mit einer Auswahl an Filmen, die sich an ein jugendliches Publikum richten. Die Beiträge in beiden Programmbereichen beeindruckten häufig dann besonders, wenn sie auf der Grenze ihrer Zugehörigkeit zur jeweiligen Rubrik lagen. Die GENERATION-Organisatoren der Berlinale beweisen durchaus Mut, indem sie Grenzgänger bezüglich des Zielpublikums ins Programm aufnehmen. Die Eignung der GENERATION-Filme für bestimmte Altersgruppen führt beinahe jedes Jahr zu Diskussionen. Immer wieder überrascht dabei die jährlich neu zusammengesetzte Kinderjury aus elf- bis 13-jährigen Berliner Schülerinnen und Schülern durch unkonventionelle und mutige Entscheidungen bei der Vergabe der Preise und beweist damit ihre Urteilsfähigkeit zum Programm. Auch im GENERATION-Programm der Berlinale 2009 wurden nicht nur die Heldinnen und Helden, sondern auch das Publikum mit Schicksalsschlägen, Emotionen, Leid und Krieg und in besonders glücklichen Fällen mit Empathie – für das Leben Heranwachsender konfrontiert. In Filmen, die von widrigen Bedingungen im Grenzgebiet zwischen Georgien und Abchasien, in ärmlichen Landgebieten Anatoliens oder der bedrückenden Einfamilienhaus-Siedlung an der Peripherie einer kanadischen Stadt der 1960er Jahre handeln.Grenzen der InnenweltIm Jahr 2009 ging der Gläserne Bär der Kinderjury für den besten Film an die kanadische Produktion C’est pas moi, je le jure! (Ich schwör’s, ich war’s nicht!), dessen Regisseur zwar betonte, den Film nicht für Kinder gemacht zu haben, der aber dennoch beeindruckt war von den Rückmeldungen des jungen Publikums. Auf seine Frage an die Kinder im Auditorium, ob sie denn glauben, der Film sei für sie geeignet, kamen sowohl „Ja“- als auch „Nein“-Rufe. Ein 13-jähriger Junge meldete sich und meinte, er würde den Film nicht für Kinder empfehlen, die jünger seien als er, aber er fand ihn gut. Unabhängig vom schwierigen Thema Altersempfehlung bieten Festivals dem Publikum (und nicht nur Kindern) die einzigartige Möglichkeit, über die Filme zu sprechen und Fragen zu stellen. Dies ist auch ein wichtiger Teil der Kultur auf der Berlinale und macht das Festival-Kino zu einem weitaus interaktiveren Medium als sonst möglich. Regisseur Philippe Falardeau stellte sich gerne den Fragen des Publikums und führte einen Dialog, der zu einer bereichernden Komponente seines Films wurde.„Mein Name ist Leon Doré, ich bin zehn Jahre alt und ganz bestimmt nicht normal.“ Gleich zu Beginn des Films hängt Leon mit der Schlinge um den Hals am Baum vor dem Haus seiner Eltern. Die Mutter schafft mit Mühen, Leon zu befreien, bevor er sich stranguliert. Es war nicht das erste und letzte Mal, dass Leon einen Selbstmordversuch startete. Er unternimmt vieles, um gegen die permanenten Streitereien seiner Eltern anzukommen, um auch auf sich aufmerksam zu machen. Vor allem aber, um zu verhindern, dass seine Mutter alleine nach Griechenland geht. Leons Bruder scheint alles viel leichter zu nehmen. Er ist älter als er und wütend über die Suizidambitionen des Jüngeren. Obwohl Leon als strategischen Schachzug sogar das Schlafzimmer in Brand setzt, kann er nicht verhindern, dass die Mutter die Familie verlässt. Sein Vater, sein Bruder und er müssen nun auf neue Art zurechtkommen und sich gegenseitig neu kennen lernen. Dem heimischen Ärger zu entkommen gelingt Leon am besten, wenn er heimlich in den Häusern der Nachbarfamilien herumstöbert und sich dadurch an deren vermeintlich heiler Welt rächt. Mit Lea ist vieles anders. Leon trifft sich regelmäßig mit ihr im Geheimversteck inmitten des Maisfelds. Sie ist ein bisschen rätselhaft und hat es in ihrem Leben auch nicht leicht. Sollten sie und er einmal ausbrechen aus dieser Welt – dann vielleicht zusammen. Als Leon Lea gesteht, dass er sie liebt, zuckt Lea mit den Schultern und meint nur: „Ich mich auch.“Die Antwort ist so überraschend wie Philippe Falardeaus Film manchmal unbequem ist. Man rechnet nicht damit und man möchte etwas anderes hören. Konsequent zeigt Falardeau die Welt aus Leons Sicht. Mit allen seinen Querdenkereien und seinem Drang, Dinge zu verstehen, die kompliziert sind. Die besondere Leistung liegt darin, dass der Film nicht deprimiert, sondern immer wieder mit humorvollen Szenen und Dialogen ein im Grunde tiefsinniges Thema aufzulockern versteht. Als erwachsener Zuseher staune ich auch im Nachhinein noch, wie der Film dies geschafft hat. Sicher auch durch Antoine L’Écuyer als ein Hauptdarsteller, der diese Gratwanderung auf hervorragende Weise mitträgt, der von stiller Melancholie, spontaner Freude bis zur tiefsten Verzweiflung in 110 Minuten beweist, wie komplex das Leben sein kann. Damit hat er auch die Gefühle der Kinderjury erreicht, die den Gläsernen Bären so begründet: „Wir haben uns für diesen Film entschieden, da er Komödie und Tragödie gut zusammenbringt. Es geht um einen Jungen, der mit vielen Tricks und originellen Ideen um die Liebe seiner Eltern und die eines Mädchens kämpft. Der junge Hauptdarsteller hat eine starke Ausstrahlung, so dass uns der Film von der ersten bis zur letzten Minute in seinen Bann zog.“ Der Große Preis des Kinderhilfswerkes, verliehen von einer erwachsenen Fachjury, ging ebenfalls an Ich schwör’s, ich war’s nicht!GrenzüberschreitungIn Leons Geschichte wird Leben und Tod vornehmlich in inneren Grenzgängen manifest. In Gagma Napiri (Das andere Ufer) erhalten reale Grenzübertritte inmitten des Krieges zwischen Georgien und Abchasien eine konkrete Bedeutung. Die georgisch-kasachische Koproduktion erzählt in düsteren, langsamen Bildern die Suche des zwölfjährigen Tedo nach seinem Vater. Als Tedo vier Jahre alt war, musste er wegen des Bürgerkriegs aus Abchasien nach Georgien fliehen. Sein Vater blieb damals zurück, weil er als Herzkranker den Strapazen der Flucht nicht gewachsen gewesen wäre. Sein trostloses Leben bestreitet Tedo mit Hilfsarbeiten und Kleindiebstählen. Das wenige Geld steckt er seiner Mutter zu, damit sie sich nicht weiterhin mit den fremden Männern einlassen muss. Die Aussichtslosigkeit treibt ihn an, das Land zu verlassen, um auf der anderen Seite – „am anderen Ufer“ – nach seinem Vater zu suchen. Obwohl ihn alle, die erfahren, dass er ernsthaft gehen wird, seltsam ansehen und fragen, ob er denn keine Angst habe, bleibt er bei seinem Beschluss. Ja, er hat Angst vor der Grenze, vor der Reise und vor den Abchasiern, aber es ist seine einzige Hoffnung.Auf seinem Weg durch Krisengebiete und Ruinen reisen Angst und Tod mit. Tedos Geschichte ist keine Kinderfilmgeschichte, kein Unterhaltungskino und dennoch sind es große Bilder von fernen Landschaften. Er begegnet verschiedenen Sprachen und unterschiedlichen Kulturen, von denen man lernt oder die unverständlich bleiben. Es ist nur zu erahnen, wie lange sich Feindschaften zwischen Völkern halten, wenn keine Lösung in Sicht ist. Durch den aufgeflammten Konflikt in der Region im Jahr 2008 erhielt der Film, dessen Dreharbeiten schon etwa drei Jahre zurücklagen, neue, bedrückende Aktualität. Gagma Napiri wandelt an der Grenze zum Dokumentarfilm. Die Reise des Jungen kommt teils mit sehr wenigen Dialogen aus, teils können sich die Personen gegenseitig nicht verstehen, denn es wird georgisch, russisch und abchasisch gesprochen. (Dem Kinopublikum helfen die Untertitel.) Außerdem hält sich Tedo an den Rat eines Bekannten, sich lieber stumm zu stellen, als sich als Georgier zu outen. Schließlich erreicht Tedo die Ruinen seines früheren Wohnorts Tkvarcheli. Die Kälte und Ödnis der Stadt wird nach der langen Reise des völlig übermüdeten Jungen durch einbrechenden Schneefall noch verstärkt.Regisseur George Ovashvili erzeugt in den Ruinen von Tkvarcheli beinahe poetische Szenen, die dem Lärm und der Gewalt auf Tedos Reise entgegenstehen. Die Stadt ist ein Symbol für die endgültig vergangene Kindheit Tedos, der aus den Resten der elterlichen Wohnung sein kaputtes Spielzeug herauszieht. Im Verlaufe der gesamten Geschichte kneift Tedo immer wieder fest seine Augen zusammen. Der Flüchtlingsjunge auf der Flucht: nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen. Einzig dadurch kann er sich ungestört an frühere Zeiten erinnern oder an andere Orte träumen. In diesen Momenten erkennt man aber auch Hoffnung in Tedos Gesicht. Der Darsteller Tedo Bekhauri spielt dies mit beeindruckender Intensität. Im Anschluss an die Vorführung wurde der Schauspieler Tedo nach der schwierigsten Szene des Tedo im Film gefragt und antwortete mit einer späten Sequenz, in welcher der Junge von Rebellenkämpfern im Wald aufgegriffen wird und um sein Leben bangen muss. Er weint und schreit vor Angst bis er die Augen zukneift und alles ganz still wird.In seiner Konsequenz, Tedos Reise ganz und gar der Hauptfigur zu überlassen, die Inszenierung ganz in den Hintergrund treten zu lassen, erinnerte mich der Film an die Meisterwerke der polnischen Regisseurin Dorota Kedzierzawska. Geschichten wie Wrony (Krähen, 1994) oder Jestem (Ich bin, 2005) sind zwar nicht unmittelbar mit Gagma Napiri vergleichbar, weisen aber Parallelen in der Arbeit von Kamera und Licht auf, die für eine besondere Grundatmosphäre sorgen. Vor allem jedoch das beinahe bedingungslose ‚Sich-Einlassen’ auf die zentrale Figur und deren Erfahrungen haben die Filme gemeinsam. Leider wohl auch die Tatsache, dass es kaum Möglichkeiten geben wird Gagma Napiri ebenso wie Wrony oder Jestem ohne Weiteres wiederzusehen. Dazu sind sie zu wenig breitenkompatibel und zu unbequem. Filme, die ewig Grenzgänger bleiben.
Beitrag aus Heft »2009/02: Selbstentblößung und Bloßstellung in den Medien«
Autor: Markus Achatz
Beitrag als PDF - Markus Achatz: Kino aus China
Markus Achatz: Kino aus China
In den verschiedenen Sektionen der Berliner Filmfestspiele 2009 ragten Filme aus Taiwan, Hongkong, China heraus, die sich stärker dem Alltag zuwenden. Fragen nach Freundschaft, Verständnis, Liebe und Sexualität werden direkter angesprochen denn je und zeigen auf mal vertraute, mal fesselnde und mal berührende Art, dass dieses Thema keine Grenzen kennt und junge Menschen überall auf der Welt versuchen, ihr Glück zu finden.Zum Beispiel im Programm von GENERATION 14 plus der Film Miao Miao des taiwanesischen Regie-Talents Cheng Hsiao-Tse. Die zurückhaltende Japanerin Miao Miao kommt als Austauschschülerin nach Taipeh. Durch die aufgekratzte Ai findet sie Anschluss in der Schule und für beide ist es eine rosarote Zeit. Sie halten Händchen, backen Törtchen und ziehen durch die Stadt. Dabei entgeht Miao Miao, wie sehr Ai sie mag und sich zunehmend zur neuen Klassenkameradin hingezogen fühlt. Miao Miao ist hingegen vom in sich gekehrten CD-Händler Chen Fei fasziniert. Die beiden Mädchen tauchen ständig in dessen obskurem CD-Laden auf. Chen Fei ist über zwanzig und damit älter als die Mädchen. Er scheint nur mit sich selbst beschäftigt und kommuniziert kaum mit seinen Kunden. Miao Miao findet schließlich heraus, dass aus seinen Kopfhörern gar keine Musik kommt. Doch hinter dieser Tatsache verbirgt sich ein weiteres Geheimnis um den ehemaligen Rockmusiker Chen Fei.Der Regisseur Cheng Hsiao-Tse beschäftigt sich sehr intensiv mit den wenigen Figuren seiner Geschichte. Der Film wird streckenweise zu einem Kammerspiel, in dem es um Sehnsucht, Liebe und die damit verbundenen Rätsel geht. Obwohl Ai und Miao Miao beste Freundinnen sind, wird nicht alles ausgesprochen. Auch Chen Fei ist nicht in der Lage mit irgendjemandem über seine Emotionen zu sprechen. Das Spielfilmdebut Miao Miao gibt lohnende Einblicke in den Alltag und die Konventionen des heutigen Taipeh. Gleichzeitig erzeugt der Film durch den intensiven Zugang zu den Gefühlen seiner Protagonisten einen beinahe weltumspannenden Effekt, der die Bedeutung von Freundschaft und Liebe auf alle Kontinente übertragbar zeigt. Symbolisiert wird dies in der Schlusssequenz, wenn Ai dem startenden Flugzeug hinterhersieht, in dem sich Miao Miao befindet – nicht wissend, wie stark Ais Gefühle für sie in Wirklichkeit sind.Neben Ko Chia Yen als Miao Miao spielt Sandrine Pinna als Ai eine gleichwertige Hauptrolle. Die Taiwanesin mit europäischen Wurzeln übernahm auch den Main-Part in Yang Yang (Taiwan 2009).Yang Yang war im PANORAMA der diesjährigen Berlinale zu sehen und ist der zweite Film des 1977 geborenen Regisseurs Cheng Yu-Chieh, der für sein Debüt Yi Nian Zhi Chu (Do Over) in seiner Heimat mehrere Preise gewinnen konnte. Yang Yang und Xiao-Ru sind um die zwanzig und bereits gute Freundinnen als Yang Yangs Mutter und Xiao-Rus Vater heiraten. Die beiden werden somit Schwestern und der Vater trainiert die Mädchen an der Schule als Leichtathletiktrainer. Nicht nur die Konkurrenz im Sport stellt die Freundschaft der Mädchen auf eine Probe. Als sich Xiao-Rus Freund Shawn und Yang Yang ineinander verlieben, bricht nicht nur eine Freundschaft, sondern auch die Familie auseinander. Yang Yang, deren leiblicher Vater Franzose ist, zieht mit Unterstützung des Modeagenten Ming-Ren nach Taipeh. Durch ihre eurasische Herkunft ergeben sich Chancen als Model und Schauspielerin. Doch muss sie erst viel über dieses Business lernen und Ming-Ren wird zu ihrem treuen Berater und Begleiter. Auch wenn der Film in der zweiten Hälfte einige dramaturgische Schwächen aufweist, hält er sich eng in der Perspektive der Hauptfiguren und macht deutlich, wie schwer es sein kann, den eigenen Gefühlen zu vertrauen und das Handeln der anderen zu verstehen.Diesen beiden Produktionen sowie weiteren Asia-Filmen der Berlinale – zum Beispiel Dongbei Dongbei (A Northern Chinese Girl, China 2009) oder Claustrophobia (Hongkong, China 2008) – ist gemeinsam, dass sich ihre Regisseure stark darauf fokussieren, eine überschaubare Geschichte zu erzählen, die sich für ihre Protagonistinnen und Protagonisten Zeit nimmt. Die Figuren bleiben dabei niemals eindimensional, sondern entwickeln sich im Laufe der Geschichten weiter. Die Storys schlagen keine unnötigen Haken und verzichten gänzlich darauf, unnötige Effekte und Actionelemente einzusetzen. Das Kino der authentischen Gefühle kommt derzeit aus Fernost.
Beitrag aus Heft »2009/02: Selbstentblößung und Bloßstellung in den Medien«
Autor: Markus Achatz
Beitrag als PDF - Nicole Lohfink/Markus Achatz: Filmfestival inmitten gesellschaftlicher Krisen - Berlinale 2023 (Verfügbar ab 15.06.2023)