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Rudolf Kammerl: Distance-Schooling professionalisieren – Eltern beim Home-Schooling entlasten

Selten war die enge Verbindung von digitalen Medien und Pädagogik so eindrücklich erlebbar wie im Augenblick. Die Disziplin der Medienpädagogik erfährt darum aktuell selbst besondere Beachtung. So erschien am 04.05.2020 in der Süddeutschen Zeitung (seit dem 03.05. online) ein Bericht mit Bezug auf die von Rudolf Kammerl aufgestellten „Zehn Handlungsvorschläge zur digital unterstützten Schulbildung in der Corona-Pandemie“. Kammerl ist Professor für Pädagogik mit Schwerpunkt Medienpädagogik der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), sowie Leiter des Instituts für Lern-Innovation, dem Kompetenzzentrum für digitale Bildung der FAU. Im Zeitungsartikel fordert Kammerl insbesondere ein gezieltes Überführen stattfindender positiver Innovationen in dauerhafte Konzepte: „Der krisenbedingte Schub müsse weiterentwickelt, die Erwartungen an die Lehrer klarer kommuniziert werden.“ Hier erscheint das Thesenpapier erstmals in Gänze.

 

10 Handlungsvorschläge zur digital unterstützten Schulbildung in der Corona-Pandemie

 

Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler kann aufgrund der Pandemie keinen Unterricht besuchen. Auch wenn in den nächsten Wochen wieder für Abschlussklassen Unterricht beginnt, ist absehbar, dass in den nächsten Monaten Schule in der bisherigen Form nicht stattfindet. Selbst wenn Schule im nächsten Schuljahr wieder zum Regelunterricht zurückkehren sollte, ist davon auszugehen, dass immer wieder eine größere Anzahl von Schülerinnen und Schüler in Quarantäne geschickt werden muss. Es ist deshalb dringend erforderlich, dass die schulischen Bildungsangebote um Formate des Distance-Schoolings ergänzt und Eltern beim Home-Schooling entlastet werden. Bereits in kürzester Zeit wurde viel auf die Beine gestellt. Die Entwicklung muss aber weitergehen. Die folgenden 10 Punkte sind Vorschläge hierzu:

1. Koordinierte Konzepterstellung:

Derzeit erstellt jede Schule ihr eigenes Konzept, wie Schülerinnen und Schüler zu Hause lernen sollen. Landesweite aber auch bundeslandübergreifende gemeinsame Maßnahmen bleiben weitgehend aus. Um Bildungsgerechtigkeit zu wahren und die vorhandenen Ressourcen effektiver einzusetzen ist in der aktuellen Situation mehr Zusammenarbeit als bislang üblich nötig.

2. Fokus auf Hauptfächer und zentrale Kulturtechniken:

Für die Zeit, in der kein Regelunterricht nach Lehrplan stattfinden kann, ist ein Fokus auf zentrale Bildungsbereiche notwendig. Der bisherige Lehrplan und die Methoden des Präsenzunterrichts können nicht einfach übertragen werden, sondern es bedarf einer methodischen und inhaltlichen Adaption. Es muss eine Didaktik und Methodik des Distance Schooling entwickelt werden. Inhaltlich sollte klar auf die Kulturtechniken und Hauptfächer fokussiert werden. Darüber hinaus sollten auch optionale Angebote sichergestellt werden, die den allgemeinbildenden Charakter der Bildung aufgreifen und den ganzen Menschen ansprechen. Die Prioritäten müssen aber Schülern, Eltern und Lehrkräften klar kommuniziert werden und gerade in weiterführenden Schulen müssen die Aufgaben in den Kollegien dazu neu aufgeteilt werden.

3. Entwicklung digitaler Lernmöglichkeiten zentral professionalisieren:

Lehrkräfte haben in kürzester Zeit begonnen, über digitale Kanälen Schülerinnen und Schülern Aufgaben zu geben und sie online zu unterrichten. Es werden aber auch Unterschiede beim mediendidaktischen Können und im Engagement der Lehrkräfte sichtbar. Jetzt ist es wichtig, dass sich Lehrkräfte noch stärker vernetzen und bei der Entwicklung von Distance Schooling kooperieren. Wenn landesweit jede digitale kompetente Lehrkraft nur eine gute Unterrichtseinheit entwickelt und mit Allen teilt, gäbe es schnell ein umfangreiches Angebot. Das muss aber zentral durch die Landesinstitute und Ministerien koordiniert werden und die Medienproduktion muss mit Unterstützung von Fachkräften für Medienproduktion und digitales Lernen professionalisiert werden.

4. Open Educational Ressources (OER):

Obwohl längst andere informationstechnische Möglichkeiten vorhanden sind, darf Schulwissen nach wie vor in erster Linie in Schulbüchern präsentiert werden, die Schülerinnen und Schülern am Ende eines Schuljahres weggenommen werden. Vielerorts sind Lehrkräfte aktuell damit beschäftigt, Lehrmaterialien einzuscannen und digital zur Verfügung zu stellen. Dabei entstehen rechtliche Probleme und es wird Arbeitszeit fehlinvestiert. Auch bei der Erstellung digitaler Medien, wie z. B. der Erklärvideos, scheitert die Verbreitung dieser Medien oder deren Adaption oft an rechtlichen Problemen. Bildungsangebote sollten deshalb grundsätzlich allen Lernenden und Lehrkräften zur freien Verwendung als OER zur Verfügung gestellt werden.

5. Schülerinnen und Schüler mit digitalen Geräten ausstatten:

Mit dem Digitalpakt werden derzeit Tablets und Notebooks für Schulen beschafft. Diese sollten Schülerinnen und Schülern, die keine persönlichen Geräte besitzen, zur Verfügung gestellt werden. Besonders für die weiterführenden Schulen sind Ansätze des Bring Your Own Device auszubauen.

6. Präsenz und Individualisierung verbessern:

Lernen ist mit Interaktion und Kommunikation verbunden. Wenn Lehrkräfte davon entlastet werden, selbst digitale Lehrmaterialen zu produzieren, können sie sich wieder stärker darauf konzentrieren Bildungsinhalte und Aufgaben an die individuellen Voraussetzungen anzupassen, also Zusatzaufgaben für schnellere Schülerinnen und Schüler auszuwählen und Unterstützungsangebote für schwächere Kinder anzubieten. Lernprozesse sind auf Feedback angewiesen. Auch beim Distance Learning müssen Lehrkräfte Präsenz zeigen. Das kann auch über Audiodatein, Telefonanrufe, Videokonferenzen und anderen Kommunikationsformen geschehen. Es können auch mediengestützte Formen der Gruppen organsiert werden.

7. Unterstützung der Eltern verbessern:

In der aktuellen Situation versuchen viele Eltern Lehrkräfte zu ersetzen und stoßen dabei an ihre Grenzen. Das Zusammenspiel von mediengestützter Instruktion durch Lehrkräfte, der selbstständigen Lernaktivitäten der Schülerinnen und Schülern und der Hilfestellungen von Eltern ist in den Familien sehr ungleich und es existieren viele Fragen und Herausforderungen. Wünschenswert sind Hotlines für Eltern, Elternhandreichungen und die Sicherstellung von Mindeststandards für die Kommunikation bzw. Erreichbarkeit der Lehrkräfte. Lehrkräfte sollten auch aktiv nachfragen, wenn es erkennbare Probleme bei der Beteiligung der Lernenden von zu Hause aus gibt.

8. Gründung von Online-Schulen:

Im tertiären Bildungsbereich gibt es bereits eine Fülle von Angeboten, die unterschiedlichen Niveaus Online-Kursangebote bereitstellen und ortsunabhängig agieren (neben Hochschulen wie die Fernuniversität Hagen oder die Virtuelle Hochschule Bayern auch private Online-Akademien wie coursera oder Plattformen wie edx). Die technischen Lösungen für die Entwicklung von Online-Schulen existieren also schon. Es stellt sich die Frage, warum diese nicht für Online-Schulen genutzt werden. Eine professionelle Produktion von Lernmedien und deren Distribution müsste zentral sichergestellt werden. Die bestehenden Lernplattformen und Mediatheken müssen ausgebaut werden und um neue Angebote erweitert werden. Warum ist es nicht selbstverständlich, dass Schüler*innen auch jenseits der Unterrichtszeiten in den Schulen online eine Lehrkraft oder einen Tutor zu fachlichen Fragen konsultieren können? Weiter wäre auch – gerade in der Oberstufe – über neue Formen der Individualisierung und Flexibilisierung nachzudenken. Ein Zusammenspiel von überregionalen Online-Schulen und lokalen Lernzentren könnte möglicherweise schneller zu professionellen Angeboten führen als die Ansätze einzelner Schulen.

9. Lehrkräftebildung anpassen:

Für die drei Phasen der Lehrerbildung stellen sich neue Herausforderungen schon allein dadurch, dass konventionelle Präsenzveranstaltungen oder Praktika derzeit nicht stattfinden. Neben einem Ausbau digitaler Formate der Lehrkräftebildung sollten insbesondere zu Distance-Learning und zur Unterstützung von Home-Schooling Fortbildungsangebote ausgebaut werden. Für die Qualifizierung der Studierenden und Lehramtsanwärterinnen und -Anwärter ist zu prüfen, wie die vorgesehenen Praktika und Schulversuche durch die Mitwirkung an der Erstellung digitaler Angebote (wie z. B. www.Hamsterlernen.de oder www.lernentrotzcorona.ch) und mediengestützter Betreuung ergänzt oder ersetzt werden können. Lehrkräfte sollten dabei unterstützt werden schulübergreifend Peer-to-Peer-Fortbildungen zu organisieren und Materialien auszutauschen. Dafür bedarf es Plattformen zum Austausch und für Netzwerkbildungen.

10. Qualitätssicherung und Begleitforschung sicherstellen:

Bildungsexperten befürchten, dass in der aktuellen Situation der Bildungserfolg sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler besonders leidet. Die systematische Erforschung der Chancen und Herausforderungen von Distance-Learning und Home-Schooling steht aus und sollte initiiert und gefördert werden. Für die Begleitung der laufenden Maßnahmen sind Evaluationsstudien (unter Beteiligung der Lernenden, Eltern und Lehrkräfte) und Verfahren zur Qualitätssicherung zu etablieren.

 

Prof. Dr. Rudolf Kammerl,
Ordinarius für Pädagogik mit Schwerpunkt Medienpädagogik und Leiter des Instituts für Lern-Innovation an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

 


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