Wer die 1990er und den Jahrtausendwechsel miterlebt hat – ob als Kind, Jugendliche*r oder Erwachsene*r – muss dank Adrian Lobes nicht nur schmunzeln, sondern bisweilen schallend lachen. Mit ‚Mach das Internet aus, ich muss telefonieren‘ hat der Journalist, Politikwissenschaftler und Autor (‚Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis‘) jene Aufforderung als Buchtitel gewählt, die im Alltag vieler Familien ein geflügeltes Wort war. Das Internet wurde noch über eine gemeinsame Leitung mit dem Telefon hergestellt. Das war jedoch nicht der einzige Stand der Medientechnik, der heute kaum noch vorstellbar ist. TikTok war zwar noch Zukunftsmusik, doch Jugendliche waren trotzdem an ihr Tastenhandy gefesselt: Der Grund war das Spiel Snake. Telefonieren war im damaligen Mobilfunknetz zu teuer, an WhatsApp und an Streaming dachte im Traum noch niemand. Deshalb war der Fernseher das beliebteste Freizeitmedium. Wer seine Lieblingsmusik bei sich haben wollte, nahm sie via Kassettenrekorder vom Radio auf. So nervig für die Smartphone-Genration nicht-funktionierendes WiFi ist, so nervig war damals der Bandsalat von Kassetten, der etwa mit Hilfe eines Stifts wieder entwirrt und aufgerollt werden konnte.
In acht Kapiteln arbeitet sich Lobe ab an Reality Shows, ‚Soziotopen‘ wie Chatrooms, Internetcafés („schossen wie Pilze aus dem Boden“), dem Gadget Gameboy oder dem ‚World Wide Web‘ („nicht mehr als ein aufgemotzter Bildschirmtext“): „Statt Tinder gab es «Herzblatt», statt Amazon den Quelle-Katalog, statt Facebook Poesiealben“.
Heranwachsende der 1990er und Nullerjahre sind aus Lobes Sicht ohnehin als „Schwellengeneration“ an einer „Online-Offline-Demarkationslinie“ aufgewachsen. Groß war die Sorge bei Erziehenden vor den negativen Folgen durch übermäßigen Fernseh- und Videospielkonsum. Das Tamagotchi polarisierte besonders, denn das Cyberküken forderte die ganze Aufmerksamkeit. „Die Lehrer verbannten das Modespielzeug aus dem Unterricht“. Hätten sie geahnt, was sich zwei Jahrzehnte später mit dem Smartphone im Klassenzimmer abspielen würde, sie wären wohl gelassener geblieben. Damals glich die Schule einem „Digital-Detox-Camp“ findet der Autor. Diese war eine nahezu medienfreie Zone im Vergleich zu heute. Es gab lediglich Schulbücher, einen Tageslichtprojektor und einen Röhrenfernseher, der in einem Schrank von Klassenzimmer zu Klassenzimmer geschoben wurde.
Lobes Blick „in die digitale Steinzeit“ ist eine Mischung aus unterhaltsamer, sehr humorvoller Rückschau in vergangene Medienwelten mit Zeit-, Politik-, Sport- sowie Technikgeschichte und einem nostalgisch-verklärenden Schwelgen in Kindheits- und Jugenderinnerungen. Dabei kommt er zu einem erstaunlichen Ergebnis: „Es gibt kaum Quellen. Obwohl die Anfangszeit des World Wide Web 30 Jahre zurückliegt, hat man das Gefühl, man würde als Hobby-Archäologe in der Altsteinzeit forschen, als wären die tieferen Bewusstseinsschichten von meterhohem Spam überlagert.“
Lobe, Adrian (2022): Mach das Internet aus, ich muss telefonieren. Kuriose Geschichten aus der digitalen Steinzeit. München: C. H. Beck Verlag, 12,95 €.
Heinrike Paulus
Header- und Teaserbild: © C.H. Beck
(bearbeitet mit Canva)