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Rezension: Von Luther zu Twitter. Medien und politische Öffentlichkeit.

Gross, Raphael; Lyon, Melanie; Welzer, Harald (2020). Von Luther zu Twitter. Medien und politische Öffentlichkeit. Frankfurt: Fischer. 320 S., 18 €.

Übergreifendes Thema des Buches ist der Wandel von Öffentlichkeit. Medien vergrößern die Reichweiten von Handlungen, dafür steht auch der von Helmut Rosa zitierte Begriff von der „Weltreichweite“. Die Geschichte der Medien ist eine der Veränderung von Bezügen und eine der Gestaltung des sozialen und kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft. Die fortgesetzte Verlagerung dieser kulturellen Formung behindert das Vergessen, die Aufzeichnung sei, so Welzer „permanent und total geworden“ (S. 17). Wie steht es um die Öffentlichkeit, die bei Jürgen Habermas, als Referenzrahmen diskursiver und politische Urteilsbildung fungierte (19 )? Medien sortieren, steuern und intervenieren. Medien verändern die Wahrnehmung und Gestaltung von Welt. Die Geschichte der Medientechnologien lässt sich als Nebeneinander und verschmelzen von Medien lesen, wir haben es, so Welzer, mit kulturellen Umbrüchen zu tun, und man wird sehen, wie es mit der Kultur „ in der nächsten Öffentlichkeit weiter geht, wenn wir nach dem Internet gewesen sein werden“ (26).

Der vorliegende Reader behandelt zunächst die Schreib-, Lese- und Buchkultur( 45ff) und die Bedeutung des Buchdrucks (61ff) sowie die der Zeitungen und Zeitschriften (77ff). Vertieft wird diese Überlegung an Hand eines Beitrages zu, ‚Marx und das magische Medium die Presse‘ (109 ff). Anschließend geht es um elektrische Medien, wie die Telegrafie als globales Nachrichtennetzwerk (127ff, und 145ff), um den Hörfunk zur Zeit der Weimarer Republik (163 ff) und die Rolle des Fernsehens auf die Öffentlichkeit (225 ff). Fernsehen spielt früh, zumindest in den USA, eine herausgehobene Rolle in der amerikanischen Politik (245ff). Medien und Politik gehen mithin nicht erst seit dem Twitterpräsidenten (279 ff) eine Symbiose ein. Das Buch schließt mit Beiträgen dem Verschwimmen von Wahrheiten (297 ff) ab.

Auf den Beitrag „Die algorithmisch gelenkte Öffentlichkeit“ (263ff) soll hier exemplarisch als Prototyp moderner Intervention in die öffentliche Wahrnehmung, eingegangen werden. Algorithmen stellen Öffentlichkeit her, gleichzeitig bleibt ihre Wirkungsweise verborgen. Der Beitrag von Adrian Lobe beginnt mit einer Erinnerung an den Hyperlink, er galt vormals, wie das Internet überhaupt, als Reich der Freiheit und der Chancen.

Algorithmen ihrerseits bündeln, befördern nach oben legen fest was relevant und weniger relevant sein soll. diese Sortierleistungen werden u.a. durch Meinungsroboter mitgesteuert. “Sie liken, Twittern und Retweeten“ (270), Wobei diese Maschinen „in ihren Diskurspraktiken deutlich rigoroser sind als Menschen“ (270).

Der Autor führt aus, dass sich die Koordinaten der Öffentlichkeit deutlich verschoben haben, wozu er anmerkt Donald Trump wäre nicht Präsident geworden obwohl er gelogen habe, „sondern weil er gelogen hat“ (270). Aufgeworfen ist die Frage ob die bürgerliche Öffentlichkeit noch funktionieren könne wenn Fake News frei zirkulieren, und ein ‚Permaregen von Informationen‘ die zentralen Standards von Wahrheit und Objektivität auswäscht (ebd.).

Erst nach Erscheinen des Buches „Von Luther zu Twitter“ gab es, angestoßen von einer Whistleblowerin und vormaligen Mitarbeiterin des Facebook-Konzerns, eine Debatte um die Algorithmen als Geschäftsmittel bei Facebook. Solcher Kritik begegnen die Plattform Betreiber bevorzugt mit dem Verweis auf die Problemlösungschancen künftiger KI. Künstliche Intelligenz soll negative Effekte (wie ‚Hate Speech‘) herausfiltern und eliminieren und die künftigen Netze ‚gut‘ machen, ganz so als handle sich hier um ein technisches oder mathematisches Problem, das es zu lösen gälte.

Faktisch führt die Digitalisierung zu einem „ zunehmend rigideren und exklusiveren Begriff von Wahrheit“. Die klassischen Kulturtechniken des Filterns, des Prüfens, des Auffindens von Wirklichkeit werden zu einer Angelegenheit von Computertechnik. Und damit wird die Problemlösung dort angesiedelt wo die Problem verursacht werden, sie werden zu einer Sache der Eliten wird die über die Netze bestimmen (270). „Ausgerechnet die Entfesselung von Informationen, die der Katalysator der Demokratisierung von Wissen wahr, droht nun zu einem kulturellen Backslash zu führen, einer Restauration von Eliten, die über Macht- und Wissenszentren wachen - wo doch mit dem Netz einst die Utopie einer herrschaftsfreien Kommunikation verbunden war“ (274).

Welche Rolle haben Informationen im ‚postfaktischem Zeitalter‘?, Dieser Frage wendet sich abschließend Berhard Pörsken zu (297-319). Er untersucht die Zirkulation von Informationen entlang ihrer Wirkung auf die Öffentlichkeit, einer Öffentlichkeit in der Wahrheiten verschwinden, was die Chance auf einen gesellschaftlichen Diskurs nachhaltig erschwert.

Zusammenfassend kann man feststellen, Kommunikation wird fortschreitende von Maschinen gesteuert und koordiniert, darauf hatte übrigens bereits 1992 Marc Augé hingewiesen, für ihn geben Maschinen Anweisungen, sie bestimmen ob Prozeduren weitergehen oder abgebrochen werden. Technik ist nicht neutral, sie exekutiert gesetzte Zwecke.

Nach der Lektüre der Einordnung von Informationen und dem Umgang mit ihnen, blättern Leserinnen und Leser sicher gerne in die vorderen Abschnitte, und lesen davon das Gedrucktes noch mit Wahrheit gleichgesetzt werden konnte. Aber es ist ja nun mal so, der Charakter der Wissensdistribution hat sich wie das Buch nachzeichnet, nachhaltig verändert.

Das Buch ist gut lesbar geschrieben, es handelt sich um einen nützlichen Überblick über die Entwicklung von Medientechnologien und deren Rolle in der Öffentlichkeit. Für Medieninteressierte, für Menschen die sich inspirieren lassen wollen, stiftet es nützliche Denkanstöße und hilft bei der Einordnung der uns alle umgebenden Technisierung und Medialisierung unseres Alltags.

 

Claus Tully


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