Eine Filmrezension des Erfolgsfilms der 71. Berlinale
Von 21.000 Einwohner*innen im nordhessischen Stadtallendorf haben rund 70% einen Migrationshintergrund. Die Klasse 6b der Georg-Büchner-Gesamtschule spiegelt diese Bevölkerungsstruktur wieder. Kinder aus neun verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Erfahrungen lernen hier Deutsch, Mathe und Englisch. Einige von ihnen beherrschen die deutsche Sprache wenig bis gar nicht. Was das für den Schulalltag bedeutet, zeigt der neue Dokumentarfilm 'Herr Bachmann und seine Klasse' von Regisseurin Maria Speth. Er porträtiert die Beziehung der Zwölf- bis Vierzehnjährigen zu ihrem Lehrer Dieter Bachmann.
Ganz ohne Kommentare einer Erzählinstanz erlaubt der Film den Zuschauenden einen unvermittelten Blick ins Leben. Ganz nebenbei wird dabei die Geschichte von Stadtallendorf, Herrn Bachmann selbst und einigen seiner Schüler*innen erzählt.
Die kleine hessische Industriestadt Stadtallendorf ist seit der NS-Zeit von Migration geprägt. In dieser Zeit beherbergte die kleine Stadt Europas größte Sprengstoffproduktionsstätte, in der vor allem KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen arbeiteten. Der Film ist durch und durch mit langen Aufnahmen durchzogen, die zum Beispiel Männer in einer Moschee beim Beten, an einer Leine aufgehängte Wäsche im Wind oder einen ankommenden Bus zeigen. Regisseurin Maria Speth schafft es so, die Atmosphäre der Stadt in Bildern einzufangen und zu vermitteln.
Auch die Geschichte von Dieter Bachmann selbst verarbeitet der Film. Eigentlich wollte der ehemalige Revoluzzer, Aussteiger, Folksänger und Bildhauer kein Lehrer sein. Die Institution Schule befremde ihn, erzählt Bachmann einem befreundeten Bildhauer. Trotzdem ist er seit 17 Jahren an der Georg-Büchner-Schule und fällt durch seine unkonventionellen Unterrichtsmethoden auf. Es wird klar, er hat einen besonderen Draht zu seinen Schüler*innen. Ohne Scheu spricht er mit ihnen über Liebe, Homosexualität, Migrationserfahrungen, kulturelle und nationale Zugehörigkeit, Familie, Gefühle und Genderrollen und trägt damit einen gewaltigen Teil zur Ausbildung ihrer Persönlichkeit bei. Sein Hauptziel ist nicht die reine Wissensvermittlung, sondern jedes Kind in seinem Selbstbewusstsein und in der Persönlichkeitsfindung zu stärken. Das gemeinsame Musizieren ist dabei eine Ausdrucksform, die die Gruppe zusammenschweißt.
Während des 217-minütigen Filmes wachsen nicht nur die Kinder der Klasse 6b zu einer Gemeinschaft zusammen, sondern auch den Zuschauer*innen ans Herz. In Gesprächen mit Herrn Bachmann oder untereinander oder in Filmszenen, in denen sie außerhalb der Schule, zum Beispiel in einem Boxwettkampf, gezeigt werden, lernt man die Kinder, ihre Sorgen, Ängste, Freuden und Probleme kennen. Der Film wirft dabei zwangsläufig große Fragen des Lebens auf.
Wie muss es für ein Kind sein, in ein anderes Land zu ziehen und alles bekannte hinter sich zu lassen? Wie finden Kinder mit Migrationserfahrungen ihre Identität? Was bedeutet Schule im Leben dieser Kinder? Wie wird ihre Zukunft aussehen? Ist das Bewertungssystem für solche Kinder passend? Am Ende des Schuljahres und des Dokumentarfilmes werden die Kinder der Klasse 6b nämlich in die drei Schulzweige eingestuft. Das fällt Herrn Bachmann schwer. Ihm ist wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass die Noten nur eine Momentaufnahme sind und alle Kinder tolle Persönlichkeiten haben.
‘Herr Bachmann und seine Klasse’ ist ein vielschichtiger Film, dessen Stärke das Einfangen von Stimmungen und Atmosphäre ist und der ganz nebenbei die Geschichte einer Stadt, eines unkonventionellen Lehrers und seinen Schüler*innen erzählt. Er lädt zum Nachdenken ein – über Migration, über das Schulsystem und über die Zukunft.
Hinter dem Film stecken über 200 Stunden Filmmaterial, die in drei Jahren zu einem 217-minütigen Film zusammengeschnitten wurden. Trotz der Länge ist der Film kurzweilig. Man will nach dem Schauen des Filmes sogar eigentlich noch mehr über die Kinder wissen. Was ist aus ihnen geworden? Wie geht es ihnen heute?
Nicht umsonst hat der Film vom Grandfilm GmbH Filmverleih auf der 71. Berlinale 2021 sowohl den Publikumspreis, als auch den Preis der Jury, den Silbernen Bären, gewonnen.
Filmstart in den deutschen Kinos ist der 16. September 2021.
Luisa Baier
„Manchmal bin ich unzufrieden, weil ich denke, ich müsste die eigentlich mehr trimmen. Die müssten mehr Mathe, mehr Deutsch lernen. Und dann krieg ich mal so einen Anfall und dann geht’s mir nicht gut, weil ich dann wirklich vollstoff gegen diese Kinder arbeiten muss und ihnen irgendwas reinhau‘ und am Ende bringt’s gar nichts.“ - Dieter Bachmann
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