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SWIPE DES MONATS: Alles schon mal dagewesen

Der Vorteil meines vorgeschrittenen Alters ist, dass mich so schnell nichts mehr verwundert, erschreckt oder verängstigt. Gefühlt habe ich alles schon einmal erlebt. Lange Haare, kurze Haare, Schlaghosen, Pullunder, Energiekrisen, Lehrer*innen-Mangel, triumphale Derbysiege oder peinliche Niederlagen. Alles schon mal gehabt. Und manchmal freue ich mich sogar über ein „auch wieder da“. Gruselig finde ich jedoch diese Déjà-vu-Situationen, wenn mir eine Erinnerungstäuschung vorgaukelt, ich hätte das eben Erlebte schon einmal erlebt. In solchen Situationen bin ich dann manchmal der Versuchung nahe, doch an die Wiedergeburt zu glauben.

Oder ich stelle fest, dass ich zu viele Serien geguckt habe. Bezahlplattformen wie Netflix, die wie am Fließband Serien produzieren, scheinen mich nämlich für ein völlig erinnerungsloses Wesen zu halten. Dabei war es nicht einfach gewesen, die beste Ehefrau von allen davon zu überzeugen, dass wir - ungeachtet der dadurch weiter steigenden Entertainmentkosten - unbedingt ein Netflix-Abo brauchen. Durchsetzen konnte ich mich schlussendlich mit dem Argument, dass unser Sohn dann Serien in der englischen Originalfassung schauen könnte und wir so präventiv die Kosten für die Englischnachhilfe einsparen würden. Als der Zugang endlich freigeschaltet war, hat der Sohn nur deutsche Versionen konsumiert und auch ich habe mich durch das schier endlose Angebot geglotzt.1 

Nachdem der erste Hunger auf Serien gestillt war, fiel mir auf, dass die Inhalte der Produktionen doch sehr ähnlich waren: Egal ob die Geschichten im Mittelalter spielten, in der Gegenwart oder in der fernen Zukunft - irgendwie war das alles so gleich. Waren da vielleicht die ersten 1.000 Drehbücher einfach durch einen Aktenvernichter geschickt und von fleißigen Praktikant*innen nach dem Zufallsprinzip wieder zu 1.000 neuen Drehbücher zusammengeklebt worden? Und hatte der Serienkillerdarsteller keine Lust mehr auf Bösewicht und wurde deshalb umgeschult zum philanthropischen Chef eines amerikanischen Großstadtkrankenhauses? Völlig verblüfft war ich dann aber, als bei der Serie Vikings – immerhin 89 Episoden in 6 Staffeln - immer wieder dieselben Kampfszenen und Verläufe von Schlachten auftauchten. Zunächst dachte ich, dass mich offenbar eine frühe Form von Demenz zu ereilen drohte und ich versehentlich immer dieselbe Episode ausgewählt hatte. Dann aber stieß ich auf einen Artikel über die Software ChatGPT: Diese Software kann selbständig Texte schreiben, sich unterhalten oder ein Gedicht verfassen. Da wurde mir klar, wie das läuft. Alles Bildmaterial wird in einer riesigen Datenbank erfasst. Die KI sichtetet das Material und schneidet selbstständig nach Schlagworten wie mittelalterliche Actionserie, viktorianische Liebesgeschichte, Weltuntergangsszenario 2055 neue Serien zusammen.

Ich habe natürlich gleich versucht, mich bei ChatGPT anzumelden, denn ich hätte auch dringenden Unterstützungsbedarf beim Swipe des Monats, wenn ich mal so überhaupt keine Idee habe. Leider sind schon viele andere Menschen auf denselben Gedanken gekommen und ich hänge deshalb auf Platz 155.306 der Warteliste für einen Bezahlzugang fest; die kostenlose Version steht aufgrund der hohen Nachfrage schon längst nicht mehr zur Verfügung. Folglich ist diese Geschichte hier noch selbst ausgedacht. Aber wer weiß, vielleicht ist die nächste Glosse schon aus der Feder der KI. Wenn es keiner merkt, wäre es doch auch egal. Denn: Eine gute Geschichte muss nicht von einem Menschen geschrieben, sondern nur gut erzählt sein.

 

Klaus Lutz


Ein kleiner Tipp am Rande: Vor allem beim Netflixkonsum am iPad lässt sich die Anzahl der weggeguckten Serien gut und gerne verdoppeln, wenn man großzügig über langatmige Szenen hinwegspult. Diese Idee habe ich blinden Menschen abgeschaut, die ihre Sprachnachrichten in doppelter Geschwindigkeit abhören.


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