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Vom Trauen und Vertrauen

Buchbesprechung: Lauren Oyler – ‚Fake Accounts‘

 

Für viele ist es ein Tabu, auf der Suche nach heimlichen Nachrichten oder vermeintlichen  Geheimnissen das Smartphone des*der Partners*in zu durchforsten. Die Protagonistin in Lauren Oylers Roman ‚Fake Accounts‘ tut dies nach langem Zögern schließlich doch. Und zwar am Abend vor der Amtseinführung von Donald Trump als US-Präsident im Januar 2017. Bis dahin hatte sie „nie den Drang verspürt, die Sachen eines anderen zu durchsuchen.“ Doch das Gefühl, dass ihr Freund etwas verheimlicht, siegt. Was sie dabei herausfindet, bestätigt ihre schlimmsten Vorahnungen: Ihr Freund Felix führt ein Doppelleben. Er schmiedet und verbreitet als Anonymus im Netz Verschwörungstheorien. Die New Yorker Bloggerin will sich trennen, will „Befreiung, einen Schlussstrich, das Ende der Sorgen“. Für sie ist er nicht nur „ein Vertrauensbrecher“ oder ein „Gelegenheitsmanipulierer“, „sondern ein Mensch von unmöglicher Komplexität, dessen Beweggründe ich nun nicht mehr zu entwirren brauchte.“ Schlussmachen möchte sie erst nach dem ‚Women’s March’, der großen Frauendemo in Washington am Tag nach Trumps Amtseinführung. Dort erreicht sie dann eine erschreckende Nachricht: Felix ist tot. Von diesem Moment an sieht sich die namenlose Erzählerin mit Fragen konfrontiert: Wie umgehen mit dem Verlust eines Menschen, „für den man bestenfalls zwiespältige Gefühle hatte, schon bevor klar wurde, dass er sich online als Verschwörungstheoretiker ausgab“? In ihrer emotionalen Ausnahmesituation kündigt sie ihren Job und reist nach Berlin. Dort hatte sie Felix kennengelernt.  

Zurück in der Bundeshauptstadt an der Spree entscheidet sie sich, den Spieß umzudrehen: Sie legt sich, ganz dem Buchtitel gemäß, einen Fake Account an und zwar in einer Online-Dating-App. „Dies war kein privates Projekt mehr, kein Getändel mit ernsthafter Dating-App-Nutzung, sondern eine zielgerichtete Kritik des Systems. Ich konnte sein, wer ich wollte (oder nicht wollte, je nachdem), und meine Schwindeleien wären nicht eigennützig, nicht grausam manipulativ gegenüber Unschuldigen, die nach Liebe suchten, sondern eine Rebellion gegen eine Form des Denkens, das gar kein Denken war, vielmehr nur ein Hinnehmen dessen, was angeboten wurde.“ Sie sucht nicht das perfekte Match. Für sie wird das Hin- und Herwischen potenzieller Dates zum Spiel, an dessen Ende sie erfahren muss: Es ist nicht immer alles, wie es scheint. 

Lauren Oyler arbeitet als Literaturkritikerin, Essayistin und Autorin für verschiedene englischsprachige Zeitungen und Magazine wie ‚The New Yorker’ oder den ‚Guardian’. Ihr Debütroman erschien 2021 in New York. ‚The New York Times‘ schreibt über das Buch: „Die Sozialen Medien drücken sich manchmal im Hintergrund der zeitgenössischen Literatur herum, aber hier hat man endlich das Gefühl, sie würden gründlich und umfassend untersucht.“ Es ist keine wissenschaftliche Analyse, aber eine, die gerade für alle Medienschaffenden in Theorie und Praxis neue Sichtweisen auf das digitalisierte Zusammenleben wirft. Die Autorin drapiert um eine glücklich-unglückliche und mitunter verstörende Liebesgeschichte eine in einen gesellschaftskritischen Roman gefasste schonungslose Medien-Reflexion über Fake News, Verschwörungstheorien, Dating Apps und die Frage, die sich viele stellen: Wie wirke ich auf andere? „Auch echte Fotos sind trügerisch, wie jeder zugeben wird; sie täuschen Vertrauenswürdigkeit vor, wo keine ist, sogar oder insbesondere dann, wenn die Betrachter wissen, dass Fotos nicht getraut werden kann.“ Gerade Trauen und Vertrauen können in der digitalen Gesellschaft zu einer Gratwanderung werden, das beweist der Roman mit seinen kantigen Protagonisten auf beeindruckende Weise.  

 

Oyler, Lauren (2022). Fake Accounts. Berlin: Piper Verlag. 368 S., 24,00 €. 

 

Heinrike Paulus  


Header- und Teaserbild: © Piper Verlag (bearbeitet mit Canva)


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