Filmrezension: Gina
Kampf gegen das Schicksal
Österreich 2024, 98 Minuten, Regie: Ulrike Kofler
Im Rahmen des 41. Filmfests München fand die Weltpremiere des österreichischen Spielfilms Gina der Drehbuchautorin und Regisseurin Ulrike Kofler statt. Das Sozialdrama trat im Wettbewerb CineVision an. Die Geschichte dreht sich um eine vierköpfige Familie in Wien. Die alleinerziehende Gitte (Marie-Luise Stockinger) lebt mit ihren Kindern Gina (Emma Lotta Simmer), Leon (Lion Tatzber) und Niko (Nino Tatzber) in einem heruntergekommenen Haus. Auch Branca (Gerti Drassl), die Mutter von Gitte, und die Mitarbeiterin des Jugendamts Frau Schweiger (Ursula Strauss) spielen eine wichtige Rolle.
Aus der Perspektive der neunjährigen Gina zeigt der Film Details ihres harten Alltags. Sie wünscht sich nichts mehr als eine richtige Familie, stattdessen wächst sie mit einer überforderten Mutter auf, welche ihre Kinder stark vernachlässigt und alkoholabhängig, arbeitslos und zudem hochschwanger ist. Den Geschwistern fehlt vieles: ein Vater, die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse wie regelmäßiges Essen, Aufmerksamkeit und Liebe. Obwohl sich die Erzählung über mehrere Wochen erstreckt, trägt Gina eigentlich immer die gleiche Hose, welche ihr aufgrund von Unterernährung auch noch zu groß ist. Doch eines verbindet die Kinder immer wieder und zeichnet insbesondere die Neunjährige aus: ihre Stärke und ihr Versuch, aus der misslichen Situation das Beste zu machen. Denn die Neunjährige will sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden und kämpft trotz vieler Rückschläge immer weiter. Als Älteste der drei organisiert sie Einbrüche ins Schwimmbad, kümmert sich ums Abendbrot und beschützt ihre kleinen Brüder. Aufgaben, für die ihre Mutter zuständig sein sollte, werden zu ihrer Verantwortung. Zum Beispiel pustet sie ihren Geschwistern und sich selbst die Schwimmflügel auf. Das prägt sie als selbstständiges Mädchen, welches viel zu früh ihr kindliches Sein hinter sich lassen musste. Entgegen der generellen Schwere des Films wird auch herausgearbeitet, dass selbst die Kindheit mit einer missbräuchlichen Mutter schöne und leichte Momente zulässt.
Trotz ihrer Stärke fehlt den Kindern eine richtige Ansprechperson. Die Einzige, die wirklich versucht ihnen zu helfen, ist Frau Schweiger vom Jugendamt, welche aber immer wieder an die Grenzen ihrer Mittel stößt. Denn Gitte räumt vor den Besuchen des Jungendamtes auf und auch den Kindern fällt es vorerst schwer, sich Frau Schweiger anzuvertrauen. In Gina wird die Transgenerationalität von Familientrauma dargestellt, denn nicht nur die drei wachsen unter schlechten Bedingungen auf, auch Gitte scheint es aus ihrem Elternhaus nicht anders zu kennen, denn das ,Familienschicksal’ zieht sich bereits über drei Generationen. Das ermöglicht Zusehenden ein umfassendes Verständnis statt oberflächlicher Verurteilung über die Lebenssituation. Voller Empathie für die Kinder verfolgt man die Geschichte, darüber hinaus ist es in manchen Momenten sogar möglich, mit Gitte mitzufühlen.
Aber nicht nur inhaltlich überzeugt der Film. Auch das Können der Schauspieler*innen beeindruckt: trotz ihres jungen Alters schafft es vor allem Emma Lotta Simmer, eine Bandbreite an Emotionen auszudrücken. Überwiegend auf nonverbaler Ebene kommuniziert sie auf eine tiefgehende Art und Weise, welche Gänsehaut auslöst. Passend dazu unterstreicht die Musik der Gruppe Wallners die melancholische Atmosphäre der Geschichte nachdrücklich.
Auch der mentale Schutz der jungen Schauspieler*innen spielt bei einer solch tragischen Geschichte eine entscheidende Rolle. Die Regisseurin erklärte, dass die jungen Schauspieler*innen behutsam auf ihre Rollen vorbereitet wurden und den Kindern jederzeit zwei Kindercoaches zur Seite standen. Laut Ulrike Kofler scheint diese Thematik jedoch für die jungen Schauspielenden weniger belastend zu sein als für die Rezipient*innen. Das liege möglicherweise daran, dass sie einen anderen Blick auf die Welt haben und mit mehr Akzeptanz für andere Lebensrealitäten durch die Welt gehen.
Ulrike Kofler möchte mit ihrem Film auf das Schicksal von Kindern aufmerksam machen, denn nicht jede*r habe eine sorgenlose Kindheit. Mit ihrem Hintergrund als Pflegemutter beschäftige sie sich bereits intensiv mit der Bedeutung von Familien(-Konstellationen), was sich durch inhaltlichen Tiefgang im Film Gina abzeichnet, denn die Geschichte basiert auf einer Mischung aus persönlichen Erfahrungen der Regisseurin und Recherchegesprächen mit dem Jugendamt.
Zusammenfassend adressiert der Film in aller Deutlichkeit die alltäglichen Hürden von verwahrlosten Kindern. Abschließend gelingt es jedoch, ein versöhnliches – aber nicht kitschiges – Ende zu finden. Mit einer hoffnungsvollen und zugleich nachdenklichen Stimmung wirken die Eindrücke noch lange nach.
Veronika Wagner
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