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Filmrezension: Kristos, das letzte Kind

Am 21. Mai ging das 38. DOK.fest München zu Ende. Insgesamt nahmen 130 Filme aus 55 Ländern am Münchner Dokumentarfilmfestival teil. Der diesjährige Gewinner ist der Dokufilm Kristos, das letzte Kind von der Regisseurin Giulia Amati. Mit faszinierenden Filmaufnahmen auf der griechischen Insel Akri behandelt der Film ein pädagogisch äußerst interessantes Thema und regt zum Nachdenken an. Nach einer Zusammenfassung der Ereignisse im Film wird im Folgenden auf die pädagogische Relevanz des Films eingegangen. 

Die Sonne scheint auf der kleinen griechischen Insel Akri. Im Hintergrund hört man das Zirpen von Grillen und das Blöken von Ziegen und Schafen. Ein Kind sitzt allein auf einer Steinmauer und blickt auf das blaue Meer am Horizont. Sein Name ist Kristos, er ist zehn Jahre alt und das letzte Kind auf der Insel. Auf Akri leben nur etwa dreißig Menschen, aber dafür Tausende von Ziegen und Schafen. Die Einwohner führen ein einfaches Leben zwischen Kirche und Arbeit: die meisten sind Fischer oder Hirten. Das Durchschnittsalter auf der Insel ist ungewöhnlich hoch. Kristos ist der jüngste von fünf Brüdern. Als er in die erste Klasse kam, war sein jüngster Bruder bereits in der sechsten Klasse. Alle seine Brüder sind wie ihr Vater Schafhirten geworden, denn nach Familientradition wird der Beruf vom Vater an den Sohn weitergegeben.  

Kristos besucht das letzte Grundschuljahr. Wenn er nicht in der Schule ist, sitzt er auf den Feldern, auf denen die Ziegen und Schafe weiden. Er liebt seinen Vater und hilft ihm gerne bei der Arbeit. Seine Lehrerin ist von ihm begeistert, denn sie erkennt in ihm ein großes Potenzial. Besonders in Mathematik und Naturkunde ist der Junge sehr begabt. Er kennt die Natur, die Pflanzen und Bäume sehr gut. Er weiß, was die Tiere fressen. Er könnte, wie seine Lehrerin sagt, problemlos Botanik studieren. Deswegen will sich die Lehrerin für ihn einsetzten, damit er seine Schulbildung fortsetzten kann. Es gibt jedoch keine Weiterbildungsmöglichkeiten auf Akri, er müsste auf eine Nachbarinsel umziehen, um dort das Gymnasium besuchen zu können. Alle seine Brüder haben sich dagegen entschieden, sind auf Akri geblieben und arbeiten mit dem Vater. Kristos ist noch unentschlossen, aber er scheint mehr daran interessiert zu sein, auf der Insel zu bleiben. In einem Text für die Schule schreibt er, dass er ein starker und liebevoller Familienvater und Schafhirte werden will, genau wie sein Vater. Hat Kristos vielleicht Angst, dass er mit seiner Entscheidung, sich weiterzubilden, seinen Vater enttäuschen könnte? Oder ist es nur eine Frage der Gewohnheit, dass er lieber bei den Ziegen bleiben möchte? Die Lehrerin weist ihn zurecht und erklärt ihm, wie wichtig Bildung heutzutage ist und dass er dadurch ein besseres Leben führen und viele Möglichkeiten haben kann. 

Das Leben von Kristos ist von Einsamkeit geprägt. Wenn er auf dem Spielplatz ist, spielt er allein. Wenn er auf der Insel umherwandert, ist er ebenfalls allein. Er weiß nicht, wie es ist, mit anderen Kindern zu spielen, zu rennen oder herumzualbern. An einem Tag macht er zusammen mit seiner Lehrerin einen Schulausflug. Sie fahren zur Nachbarinsel Lipsi, um eine Klasse im Gymnasium zu besuchen. So, denkt die Lehrerin, kann er sich mit dem Gymnasium vertraut machen und lernen, wie der Umgang mit Lehrer*innen und anderen Kindern ist. Den ganzen Tag verbringt er mit den anderen Kindern: Sie stellen sich vor, spielen gemeinsam Basketball und gehen auch schwimmen. Es ist jedoch deutlich erkennbar, dass diese Situation für ihn etwas merkwürdig ist. Er ist nicht daran gewöhnt, mit anderen Kindern umzugehen, fühl sich in der Klasse fremd und braucht Zeit, um sich zu integrieren.  

Diese Szenen machen die pädagogische Relevanz des sozialen Kontakts zwischen Kindern deutlich. Wie auch die Corona-Pandemie gezeigt hat, sind soziale Beziehungen zwischen Kindern sowie Jugendlichen von großer Bedeutung. Das Fehlen oder eine unzureichende soziale Interaktion kann zu negativen Entwicklungen führen, darunter auch Depressionen. Kristos fühlt sich unwohl, da er keine Möglichkeit hatte, soziale Kompetenzen im Umgang und Austausch mit Gleichaltrigen zu erwerben. Denn Kinderfreundschaften spielen eine sehr wichtige Rolle bei der Förderung sozialer und kognitiver Fähigkeiten. “Kinder lernen im Spiel mit Gleichaltrigen, mit komplexen Situationen und Gefühlen umzugehen, Probleme eigenständig zu lösen und Kompromisse zu schließen. Ohne Auseinandersetzungen mit Peers müssen diese Kenntnisse im Erwachsenenalter erst mühsam erlangt werden. Beim Vergleichen mit den Anderen werden das Selbstwertgefühl und die Entwicklung des Selbstbildes gestärkt.” (Forster-Swaihel, 2008). Außerdem beeinflussen Gleichaltrigenbeziehungen wichtige Entwicklungsdimensionen (Eschenbeck & Lohaus, 2022): 

  • das Selbstkonzept, d. h. die eigene Selbstwahrnehmung; 

  • den Aufbau von moralischen Werten und Normen;  

  • die Fähigkeit, die Gefühle und das Verhalten anderer zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren; 

  • die Entwicklung sozialer Kompetenzen, die einen Schlüssel zur sozialen Integration sind. 

Doch Kristos' Einsamkeit findet ein Ende. Er ist tapfer und beschließt, seine Ausbildung in einem Internat auf der Insel Patmos fortzusetzen. Mit Tränen in den Augen gibt er seinem Vater die Hand und verabschiedet sich von ihm und den anderen. Es ist ein Neuanfang für Kristos, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Von nun an kann er seine Kindheit in vollem Umfang erleben und Freundschaften schließen, auch, wenn er dafür seine Familie vermissen wird.  

 

Literatur 

Amati, G. (2022). Kristos, das letzte Kind [Dokumentarfilm]. Frankreich, Griechenland, Italien. 

Eschenbeck, H. & Lohaus, A. (2022). Bedeutung von Peerbeziehungen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Gesundheit und Wohlbefinden von Jugendlichen. In A. Heinen, R. Samuel, C. Vögele & H. Willems (Hrsg.) Wohlbefinden und Gesundheit im Jugendalter. Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35744-3_6 

Forster-Swaihel, E. (2008). Warum sind Kinderfreundschaften so wichtig und wie lassen sie sich fördern? Abgerufen am 23. Mai 2023 von

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/soziale-und-emotionale-erziehung-persoenlichkeitsbildung/1945/  

 

Chaymaa Zimame


© DOK.fest München (bearbeitet mit Canva)


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