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BERLINALE 2023: Vergiss Meyn nicht

Dokumentarfilme haben es oft nicht leicht, zu groß ist die Konkurrenz zu den meist finanziell üppiger ausgestatteten Spielfilmproduktionen. Doch wie die diesjährige Berlinale gezeigt hat, ist das damit verbundene Schattendasein nicht immer nötig. So konnte mit Sur l'Adamant von Nicolas Philibert, ein Dokumentarfilm über eine Pariser Tagesklinik für psychisch Erkrankte den Goldenen Bären als Hauptpreis für den besten Film bei der diesjährigen Berlinale erringen – vor vielen beeindruckenden Spielfilmproduktionen. Daneben gab es viele weitere, spannende Dokumentarfilme auf der Berlinale zu entdecken. Zum Beispiel stellte sich mit Superpower ein rauchender Sean Penn markant in den Mittelpunkt seiner Dokumentation über Wolodymyr Selenskyj. Und Nenad Cicin-Sain ging in seinem Film Kiss the Future der Frage nach, welch wichtige Rolle Kultur und Musik im belagerten und ständig beschossenen Sarajevo im sogenannten Jugoslawienkrieg spielte.

Ein weiterer, überaus beachtenswerter Film lief mit Vergiss Meyn nicht in der Sektion Perspektive Deutsches Kino. Konkret geht es in dem Film um die Vorgänge im Hambacher Wald im Jahr 2018. Seit über sechs Jahren hatten damals dort Umweltaktivist*innen den für den Braunkohleabbau vorgesehenen Wald besetzt und im geplanten Rodungsgebiet, in schwindelnd erregender Höhe, ganze Dörfer mit Baumhäusern errichtet. Der 27-jährige Student der Kunsthochschule für Medien Köln Steffen Meyn, hatte die Idee, die Geschehnisse im Hambacher Wald im Rahmen einer Langzeitdokumentation zu begleiten und die Umweltaktivist*innen in ihren über Jahre errichteten Baumhäusern zu interviewen. Zu diesem Zweck hatte Meyn eine 360-Grad-Kamera gekauft und sie auf seinem Fahrradhelm montiert, um auch beim Klettern auf hohe Bäume und in den sehr beengten Räumen der Baumhäuser besser filmen zu können. Durch seine offene und sympathische Art gelang es ihm rasch, das Vertrauen der Bewohner*innen zu gewinnen.

Dann passierte das Unfassbare: Während einer später durch Gerichte als unzulässig eingestuften polizeilichen Räumung der Baumhäuser stürzte Meyn am 19. September 2019 ungesichert aus 20 Metern Höhe von einer nachgebenden Hängebrücke in die Tiefe und starb. Seine Kamera lief weiter und die Polizei beschlagnahmte zunächst sein Filmmaterial. Später händigten die Behörden das Material Meyns Eltern aus. Die übergaben wiederum alles, zusammen mit den Filmrechten, an drei Freund*innen von Steffen, ebenfalls Filmstudierende an der KHM: Fabiana Fragale, Jens Mühlhoff und Kilian Kuhlendahl. Die drei Studierenden sichteten Steffens Videos und beschlossen, mit dem Material einen Film zu erstellen. Um das 360 Grad Material überhaupt in das gängige Kinoformat umsetzen zu können, passten sie im sogenannten Pan&Scan Verfahren das Bild aufwändig für die klassische Kinoleinwand an. Dabei wählen sie vor allem extrem weitwinklige Ausschnitte. Dies ermöglicht ein sehr intensives Miterleben und eine starke emotionale Nähe für die Zuschauenden. Aufgrund der Enge in den Baumhäusern und der Nähe der Kamera zu den Personen haben die Zuschauenden stets dabei das Gefühl ‚mittendrin‘ zu sein. Darüber hinaus ergänzen die drei Filmemacher*innen das Material mit retrospektiven Interviews der Aktivist*innen der damaligen Widerstandsszene.

Zentral dabei ist, dass es dem Film einfühlsam gelingt, die Motive und Intentionen der jungen Menschen aus der Widerstandsszene, so inhomogen diese auch sein mögen, emotional zu verdeutlichen. Vor allem die Idee, den eigenen Körper als Mittel des Widerstands einzusetzen, beeindruckt und macht die Ernsthaftigkeit der Menschen im ‚Hambi‘ deutlich. Für Steffen Meyn, der sich nicht nur als Filmemacher, sondern auch als junger Journalist verstand, war es dabei wohl manchmal schwer, selbst nicht Partei zu ergreifen. Vor allem das Taktieren und die harten Einsätze der Polizei, blieben für ihn nicht ohne Wirkung. Vergiss Meyn nicht ist damit ein politischer Film, der in seiner Tragik nicht nur nachdenklich stimmt und ein Gefühl für das Sinnhafte politischer Aktionen vermittelt, sondern dokumentiert auch ein Stück die Trauerbewältigung der drei Freund*innen. Fabiana Fragale, Jens Mühlhoff und Kilian Kuhlendahl haben mit ihrem Film Steffen Meyn ein würdiges Denkmal gesetzt.

 

VERGISS MEYN NICHT, Dokumentarfilm, Deutschland 2023, 100 Min.
Buch & Regie:  Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl, Jens Mühlhoff
Montage: Ulf Albert
Bildgestaltung: Carina Neubohn und Steffen Meyn
Musik: Antonio de Luca & Caroline Kox
Produzent*innen:  Melanie Andernach und  Knut Losen

 

Michael Bloech


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