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SWIPE DES MONATS: Dr. Google

Dass ich nicht mehr der Jüngste bin – daran werde ich bei fast jedem Arztbesuch erinnert. Sitze ich z. B. im Behandlungszimmer eines Orthopäden und klage über Kreuzschmerzen, wird mir nach dem Blick des Arztes auf die Patientenkarte mein Geburtsdatum entgegengengehalten, verbunden mit der freundlichen Ansage: „Unsere Wirbelsäule ist nicht auf so eine lange Lebensdauer ausgelegt. Vor 200 Jahren wären Sie wahrscheinlich gar nicht so alt geworden und hätten daher auch nie Kreuzschmerzen gehabt.“ Gut, denke ich mir, was für ein Scheiß.

Im Laufe meines unaufhaltsam ansteigenden Lebensalters hat sich mein Verhältnis zur Ärzteschaft allerdings stetig gewandelt. Wenn wir als Kinder krank waren, verbreitete die Ankündigung meiner Mutter „wenn es nicht besser wird, müssen wir doch mal den Doktor holen“ großen Schrecken unter uns Kindern. Denn was sich nicht mit Hausmitteln wie kalten Wadenwickeln oder Zwiebelsäckchen auf dem Ohr kurieren ließ, bedeute für uns immer die Vorstufe zur Einweisung ins Krankenhaus. Und dort fühlte man sich schon als Besucher nicht besonders wohl, geschweige denn als Patient. Mit Beginn der Pubertät verloren die Arztbesuche ihren Schrecken und die Krankschreibung nebst der damit verbundenen Befreiung vom lästigem Schulbetrieb oder unliebsamen Prüfungen waren manchmal auch ein Segen. In der mittleren Phase meines Lebens spielten Arztbesuche – abgesehen von einem Motorradunfall – eine sehr unterordnete Rolle und ich schätzte mich glücklich, auch ohne einen Hausarzt ein gesundes und fast schmerzfreies Leben zu führen. Mit zunehmendem Alter stellten sich dann aber immer mehr Verschleißerscheinungen ein und ich musste häufiger medizinischen Rat in Anspruch nehmen. Zum Glück haben sich viele meiner Nichten und Neffen in der Schule richtig angestrengt und einen der begehrten Medizinstudienplätze ergattert. So ist es mir möglich, jederzeit zum Telefon zu greifen und eine fernmündliche Diagnose einzuholen. Meine Auswahl reicht dabei vom Unfallchirurgen und Orthopäden über den Internisten bis hin zur Physiotherapeutin. Alle sind mit entsprechendem Kürzel im Telefonspeicher abgelegt. Alle helfen gerne weiter. Und der Spruch „alles hat auch etwas Gutes“ hat für mich eine ganz neue Bedeutung erhalten: Meine Krankheiten tragen erheblich zur Kontaktpflege in der Familie bei. Man bleibt einfach in Verbindung.

Einen interessanten Twist brachte dann noch die Digitalisierung. Sie hat mein Verhältnis zu Krankheiten verändert und die Fähigkeit der Selbstdiagnose potenziert. Denn: Dr. Google ist in aller Munde – wer ist dort nicht Patient?! Sobald der Rücken schmerzt, der Magen zwickt oder sich diffuse Hüftschmerzen einstellen, wird nach dem entsprechenden Krankheitsbild gegoogelt. Für mich als Hypochonder bedeutet das nicht selten schlaflose Nächte. Die Bilder und beschriebenen Krankheitsverläufe, die mir bei meinen Recherchen begegnen, haben weiter mehr schädliche Wirkungen auf die Psyche als so mancher Horrorfilm. Aber da muss man als mündiger Patient eben durch. Zu meinem festen Ritual gehört es daher, erst nach ausführlicher Internetrecherche und Telefonumfrage bei der medizinisch gebildeten Verwandtschaft den Weg ins Wartezimmer anzutreten. Allerdings scheinen Patienten wie ich nicht gerade zu den beliebtesten in deutschen Arztpraxen zu gehören, wie ich neulich beim Hausarzt wieder feststellen konnte. Dem schilderte ich nämlich detailliert meine Beschwerden und lieferte gleich eine Vermutung mit, wie meine Krankheit heißen könnte und zu behandeln sei. Der Arzt meines Vertrauens widmete derweil seine Aufmerksamkeit hauptsächlich der Arbeit am PC und wies mich mit strenger Stimme darauf hin, dass ich mich auf die Schilderung meiner Symptome beschränken und die Diagnose ihm als Profi überlassen solle. Leicht beleidigt – ich wollte schließlich nur helfen und uns allen Zeit sparen – lehnte ich mich zurück. Unvermittelt wurde die peinliche Stille durch eine Sprechstundenhilfe unterbrochen, die dringend ein paar Unterschriften benötigte, was mir Gelegenheit gab, mich zu sortieren und den Blick schweifen zu lassen. Auf dem Bildschirm des Arztes blieb ich dann hängen – denn: Die Internetseite kannte ich doch! Genau dort war ich doch gelandet, als ich mein Problem Dr. Google anvertraut hatte! Zum Glück bekam ich mein Grinsen aus dem Gesicht, bevor sich der Arzt wieder mir zuwandte und mit fester Stimme die Diagnose aus dem Internet vortrug. Mit ernstem Gesicht stellte ich noch eine besorgte Nachfrage, nahm mit großem Interesse die mir schon bekannte Antwort darauf entgegen und bedankte mich artig für das mir überreichte Rezept. Zufrieden wandte sich der ehemalige Arzt meines Vertrauens meiner Patientenkarte zu und übertrug feinsäuberlich die Diagnose vom Bildschirm. Deswegen hat er wahrscheinlich überhört, dass mir zum Abschied herausrutschte „vielen Dank und noch einen schönen Tag, Dr. Google“.

Klaus Lutz


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