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SWIPE DES MONATS: Germany one point

Punkte haben in meinem Leben schon immer eine große Rolle gespielt. Als Kind wollte ich immer so ein Pferd, wie es Pipi Langstrumpf hat – eben ein Pferd mit vielen schönen Punkten. Und Wunschpunkte wie das Sams hätte ich auch sehr gerne zur Verfügung gehabt. Als in der Schule die Notenskala in Punkte umgewandelt wurde, wurde das Wort „unterpunktet“ zu meinem neuen Schreckenswort. Leider habe ich auch bei den Bundesjugendspielen „unterpunktet“ und es hat nie für eine Ehrenurkunde gereicht – ich kann einfach nicht weit werfen. Als Erwachsener holten mich die Punkte dann erneut ein, denn bei der Begleitung der Volleyballkarriere meines Sohnes musste ich stundenlang den Schlachtruf „Punkte, Punkte, Punkte“ in stickigen Turnhallen skandieren. 

Längst hat das „Punktefieber“ auch das Internet erreicht. Bucht man Unterkünfte online, bekommt man sofort nach der Abreise eine E-Mail mit der Aufforderung, die Unterkunft mit Punkten – meist zwischen 0 und 10 – zu bewerten. In meinem letzten Urlaub habe ich alle Unterkünfte über das Netz gebucht und natürlich kurz nach der Abreise aus unserer Unterkunft eine Mail erhalten: Klaus, wie hat es dir bei uns gefallen? Ich fand die erste Unterkunft zwar sehr schön, aber nicht ganz perfekt - was ist schon perfekt und makellos; also gab ich fröhlich und entschlossen eine gute Wortbewertung mit dem Gesamturteil 8 Punkte ab. Circa eine Stunde später erhielt ich eine neue E-Mail: Klaus, du hast uns nur mit 8 Punkten bewertet! Was hat dir nicht gefallen? Was können wir tun, um besser zu werden? Etwas irritiert löschte ich die Mail einfach. Eine Stunde später kam die nächste E-Mail: Klaus, willst du uns nicht mitteilen, warum du uns nur mit 8 Punkten bewertet hast? Nein, natürlich nicht. Und ich will mich nicht rechtfertigen, warum ich nur 8 Punkte vergeben habe und finde 8 Punkte im übrigen ganz ordentlich. 

Mittlerweile an der nächsten Unterkunft angekommen fielen mir im Eingangsbereich als erstes die gerahmten Bewertungen an der Wand auf: 2020 durchschnittlich 9,3 Punkte, 2021 durchschnittlich 9,5 Punkte, 2022 durchschnittlich 9,6 Punkte. Jetzt wurde mir klar, welch vernichtendes Urteil meine 8 Punkte offenbar waren. Mit schlechten Gewissen suchte ich die E-Mail in meinem Papierkorb und schickte mit einer Entschuldigung eine satte 10 zurück. Dies wurde auch sofort mit einem Dankeschön beantwortet. Allerdings fühlte ich mich als Kunde nicht recht ernst genommen und irgendwie auch gestalkt. Und als die nächsten E-Mails mit Bewerte-unsere-Unterkunft und Vergiss-doch-bitte-nicht-unsere-Unterkunft-zu-bewerten und wir-wollen-dich-nochmal-an-die-Bewertung-erinnern kamen, beschloss ich, mich aus diesem Kreislauf auszuklinken und solche Mails einfach umgehend zu löschen. 

Bis zur Rückreise konnte ich das Bewertungsproblem gut verdrängen. Als ich am Frankfurter Flughafen das stille Örtchen benutzte, wurde ich am Ausgang der Toiletten mit fünf leuchtenden Smileys mit unterschiedlichem Gesichtsausdruck aufgefordert, die Toilette und den Service zu bewerten. Reflexartig wollte ich den „ganz-okay-Smiley“ drücken. Aber da schoss mir blitzartig durch den Kopf: Heute ist ja alles mit allem vernetzt. Womöglich bekomme ich gleich wieder eine E-Mail: Klaus – nur ein okay?! Was hat dir denn nicht gefallen? Oder es kommt noch schlimmer und die Toilettentüre geht erst dann wieder auf, wenn die „es-war-alles-einfach-himmlisch“-Taste drücke! Also nahm ich schnell den Finger weg vom Tastenfeld und schlüpfte unauffällig hinter einem ordentlich bewertenden Toilettennutzer nach draußen.

Eines habe ich aus allem jedoch gelernt: Ich weiß jetzt, wie Bewertungen im Internet zustande kommen! 

P.S. Der Swipe wird auch in diesem Jahr eine Sommerpause einlegen; im Oktober gibt es dann wieder neuen Lesestoff. Bis dahin können alle geneigten Leser*innen sich mit der Staffel 3 von Bridgerton vergnügen, deren zweite Hälfte seit dem 13. Juni 2024 auf Netflix verfügbar ist.

Klaus Lutz

 


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