Tilmann P. Gangloff
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- Tilmann P. Gangloff: nachgefragt: Warum tauchen Menschen mit Behinderungen in Filmen und Serien nach wie vor viel zu selten auf?
Tilmann P. Gangloff: nachgefragt: Warum tauchen Menschen mit Behinderungen in Filmen und Serien nach wie vor viel zu selten auf?
In deutschen TV-Filmen und Serien lassen sich deutliche Veränderungen beobachten. Ärztinnen oder Schulleiterinnen werden von dunkelhäutigen Schauspielerinnen verkörpert, Männer mit türkischen Namen sind nicht mehr automatisch auf Kriminelle, in vielen Serien gibt es homosexuelle Paare. Auch das Fernsehen ist also endlich in der Wirklichkeit angekommen und spiegelt das wahre Leben wider – mit einer Ausnahme: Menschen mit sichtbarer Behinderung sind genauso selten wie vor 20 Jahren schwarze Akademikerinnen. Hat die Film- und Fernsehbranche diese Gruppe vergessen? Tilmann P. Gangloff hat Expert*innen dazu befragt.
Laut Statistischem Bundesamt lag die Zahl der Schwerbehinderten in Filmen und Serien 2019 bei 9,5 Prozent. Nach einer Studie des Institut für Medienforschung der Universität Rostock 2021 sind sie im Fernsehen eindeutig unterrepräsentiert: Von den Akteur*innen der untersuchten Sendungen hatten lediglich 0,4 Prozent eine sichtbare schwere Behinderung.
Natürlich gibt es prominente Beispiele, die ein anderes Bild nahelegen, und das nicht nur aus Hollywood, wo solche Rollen gern mit Oscars gekrönt werden, etwa für Marlee Matlin als gehörlose Hauptdarstellerin in Gottes vergessene Kinder (1986) oder für Dustin Hoffman als Autist in Rain Man (1988). Im aktuellen TV-Programm tummeln sich unter anderem eine blinde Rechtsanwältin (Die Heiland, ARD), ein blinder Sonderermittler (Der Wien-Krimi, ARD) und ein Polizist im Rollstuhl (Die Toten von Salzburg, ZDF). Christine Urspruch genießt als kleinwüchsige Assistentin des Rechtsmediziners im Tatort aus Münster sogar Kultstatus.
Woran es jedoch noch mangelt, ist die selbstverständliche Integration, denn Figuren mit Behinderung werden in der Regel über ihre Einschränkungen definiert. Rühmliche Ausnahme ist der Tatort des RBB: In den Filmen spielt Tan Çağlar den Reviermitarbeiter für die Hintergrundrecherche. Der Schauspieler hat eine Rückenmarkserkrankung, er sitzt wirklich im Rollstuhl. Dabei agierten vor der Kamera „deutlich mehr Menschen mit Behinderung, als man glaubt“, sagt Drehbuchautor Benedikt Röskau (Contergan): „Viele Schauspieler sprechen darüber jedoch nicht, weil sie fürchten, nicht mehr besetzt zu werden.“
Auch Erwin Aljukic ist Rollstuhlfahrer. Er hat die Glasknochenkrankheit, aber fast 13 Jahre im einstigen ARD-Dauerbrenner Marienhof mitgewirkt. Er gehört zu den Unterstützern einer Initiative, die von Tina Thiele, Gründerin des Branchenportals Casting-Network, ins Leben gerufen worden ist: Cast me in soll zur Inklusion vor der Kamera beitragen. Aljukic ist Thiele sehr dankbar für ihre Pionierarbeit: „Bislang bin ich mir als Schauspieler mit Behinderung wie ein Einzelkämpfer vorgekommen, denn im Unterschied zu Mitgliedern anderer marginalisierter Gruppen konnte ich nie auf eine Initiative in der Art von #actout, Black Lives Matter oder Metoo verweisen. Erst wenn es eine derartige Bewegung gibt, die eine Sichtbarkeit der Betroffenen erzeugt, können sich die Sender nicht mehr rausreden.“
Die wollen das offenbar auch gar nicht. Ausgerechnet die RTL-Gruppe ist mit guten Beispiel vorangegangen: In der Komödie Weil wir Champions sind (Vox) spielt Wotan Wilke Möhring einen arroganten Basketball-Coach, der nicht ganz freiwillig ein geistig behindertes Team trainiert. Diese Rollen sind authentisch besetzt worden. Die besonderen Umstände der Dreharbeiten dürften die Kosten deutlich in die Höhe getrieben haben. Trotzdem, versichert Produzentin Nina Viktoria Philipp (Constantin), sei es kein Problem gewesen, die Geldgeber von dem Projekt zu überzeugen. Übereinstimmend betonen Senderverantwortliche, wie wichtig Vielfalt im Fernsehen sei, „denn Filme spiegeln und formen unser Bild der Gesellschaft“, formuliert es Christoph Pellander, Redaktionsleiter der ARD-Tochter Degeto, verantwortlich für die Donnerstagskrimis und Freitagsfilme im Ersten. Frank Zervos, Leiter der ZDF-HauptredaktionFernsehfilm/Serie I und Stellvertretender Programmdirektor, merkt an, dass die filmische Darstellung von Behinderungen eine sensible Angelegenheit sei: „Es sollen ja keine reinen Stereotype – hochbegabter Autist, musikalische Blinde et cetera – reproduziert werden.“
Nachholbedarf gibt es laut Alexander Bickel, Leiter des WDR-Programmbereichs Fernsehfilm, Kino und Serie, zudem in der Frage, wer solche Rollen übernehme. Dieser Aspekt taucht in den Gesprächen über das Thema früher oder später fast zwangsläufig auf. Produzentin Philipp war auch für die ersten beiden Heiland-Staffeln verantwortlich. Bei der Planung der Serie habe es eine enge Zusammenarbeit mit entsprechenden Verbänden gegeben, und natürlich sei gefragt worden, warum die Hauptfigur nicht von einer blinden Darstellerin gespielt werde. Philipps Antwort: „Die Schauspielerei ist ein Handwerk, ein Beruf, den man gelernt haben sollte. Selbstverständlich haben wir nach einer blinden Hauptdarstellerin gesucht, aber wir haben keine gefunden, die für diese Figur in Frage gekommen wäre.
Es sei umso wichtiger, sagt Erwin Aljukic, „dass Menschen mit Behinderung eine professionelle Ausbildung machen können, damit solche Verlegenheitslösungen in Zukunft nicht mehr nötig sind.“ Er fordert eine Diversitätsquote, damit endlich Bewegung in die Sache komme: „Ähnlich wie in Großbritannien sollte die Vergabe öffentlicher Gelder mit der Auflage verbunden sein, divers zu besetzen. Das wäre der Stein, der alles andere ins Rollen bringen würde.“
Beitrag aus Heft »2022/04 Medien. Mediensucht. Mediensuchtprävention«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Töten Soldaten gerne?
Tilmann P. Gangloff: Töten Soldaten gerne?
Manchmal genügen ein paar provokante Thesen, um helle Empörung bei einem bis dahin disziplinierten Publikum einer Medientagung zu wecken. „Lernen mit dem Fernsehen?“ war das Thema. Das Fragezeichen im Titel dürften die versammelten Redakteure für Kinderfernsehen allerdings als reine Rhetorik empfunden haben. Dass Sendungen wie „Wissen macht ah!“ oder „Willi wills wissen“ jede Menge Wissen verbreiten, steht für sie selbstredend außer Frage. Und dann kam Stefan Aufenanger. Mit wenigen Worten machte der renommierte Erziehungswissenschaftler (Universität Hamburg) sämtliche Selbstgefälligkeit zunichte: In den Informationsmagazinen für Kinder gehe es immer bloß um Naturwissenschaften, Umwelt oder Tiere, kritisierte er. Auf diese Weise entstehe ein völlig einseitiges Bild der Welt. Kinder bräuchten aber soziales Wissen, um für die Probleme der Zukunft gewappnet zu sein: „Warum gibt es Krieg, warum streiten sich Eltern?“ Und die Frage aller Fragen: „Warum darf ich nicht fernsehen?“ Die Sendungen, forderte Aufenanger, sollten nicht Kenntnisse vermitteln, sondern Erkenntnisse. Kinder sollten Lernen lernen, das sei viel wichtiger als Fakten; die könnten sie sich auch von CD-ROMs besorgen. Und die Moderatoren im Kinderfernsehen findet Aufenanger oberlehrerhaft.Das Publikum war empört. Die große Mehrheit der über hundert Teilnehmer dieser vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) veranstalteten Tagung waren Redakteure, Produzenten oder Autoren. Entsprechend hoch her ging’s nach Aufenangers provokanten Thesen.
Dadurch blieb eine Studie undiskutiert, die IZI-Leiterin Maya Götz unmittelbar zuvor vorgestellt hatte, und die Aufenangers Ausführungen nachdrücklich bestätigte. Die IZI-Mitarbeiter hatten in der ersten Woche des Irak-Krieges 87 Kinder gebeten, ihre Gefühle und Fantasien zum Krieg zu beschreiben und zu malen. Außerdem sollten sie die Berichterstattung im Fernsehen bewerten.Die Kinder in Deutschland, so Götz’ Fazit, sahen in den Amerikanern die Angreifer, die mit hinterhältigen Tricks arbeiten und mit einem Lächeln Morde begehen. Von der Berichterstattung über den Krieg hätten sie sich mehr Informationen erwartet, gerade auch über die Lage der Menschen im Irak. Grundsätzlich standen sie dem Krieg ablehnend gegenüber. Natürlich spiegeln die Bilder und Aussagen der Kinder auch die ablehnende Haltung innerhalb der Familien wieder. Gerade die Zeichnungen, so Götz, wiesen aber eindeutig auf Medienspuren hin, zumal die Fernsehnachrichten die Hauptinformationsquelle der Kinder waren. Sie haben sich dabei aus vielen Bruchstücken – hier lachende oder jubelnde Soldaten, dort Meldungen über den Tod von irakischen Zivilisten – ihr eigenes Bild vom Krieg gemacht.Die meisten Kinderzeichnungen zeigen Bilder vom „entmenschlichten Krieg“. Oft sind nur Flugzeuge und Bomben zu sehen. Teilweise fliegen Flugzeuge in Hochhäuser, ein klarer Hinweis darauf, wie Kinder mit der Hilfe von Fernsehbildern versuchen, sich eine Vorstellung von der Realität zu machen. Wo Menschen zu sehen sind, gibt es eine klare Rollenverteilung zwischen Angreifern und Opfern.
Zwar ahnten die Kinder, dass auch mit Saddam Hussein irgend etwas nicht stimmt („der ist eigentlich auch schlimm“), doch der Bösewicht in der Auseinandersetzung ist eindeutig George Bush. Ein Bild der neunjährigen Julia zeigt US-Soldaten, die mit einem Lachen im Gesicht auf ein Kind zielen. Praktisch alle Zeichnungen, so Götz, deuteten darauf hin, dass die Berichterstattung über den Irak-Krieg bei den Kindern sehr unausgewogen angekommen sein müsse. Die Zeichnung der Kindermörder belege, dass Julia eine wichtige Information gefehlt habe: „Soldaten töten vielleicht gar nicht gern“. Die Kinder legten Wert darauf, dass das Fernsehen nichts beschönigen solle: „Ich würde zeigen, wie die Bomben einfallen, damit die Leute wissen, wie schlimm das ist, was da alles passiert“, findet der zehnjährige Pepe. Die Zeichnungen zeigen allerdings, dass den Kindern die Dramatik bewusst war. In einem Bild verabschiedet sich eine Mutter in einem brennenden Haus von ihrer geretteten Tochter, indem sie ihr ihren Teddybären zuwirft. Für Götz zeigen die Ergebnisse der Studie, dass es „einer gezielten Unterstützung der Kinder durch eine kindernahe, reflektierte Berichterstattung bedurft“ hätte, die zum Beispiel Hintergrundinformationen über Saddam Hussein zur Verfügung stellt und auch grundlegende Fragen nicht scheut: „Warum gibt es Krieg? Töten Soldaten gerne?“. Ähnliche Untersuchungen wurden in Österreich, den Niederlanden, Israel und den USA durchgeführt. Ihre Ergebnisse werden im Rahmen des internationalen Fernsehfestivals „Prix Jeunesse“ (ebenfalls in München) im kommenden Juni vorgestellt. Im Zentrum der Tagung stand jedoch die Frage, ob die Zielgruppe das Angebot der Informationsvermittlung nutzt und ob Sendungen wie „Willi wills wissen“ (Bayerischer Rundfunk) oder „Wissen macht Ah!“ (WDR) tatsächlich Wissen vermitteln können.
Kika-Programmgeschäftsführer Frank Beckmann zeigte sich überzeugt, dass die entsprechenden Magazine Neugier weckten und Kreativität förderten. Beckmann wies darauf hin, dass diese Sendungen wie auch die Kindernachrichten „logo!“ gerade in der Zeit nach 19 Uhr ein großes Publikum fänden, weshalb die Sendezeitausweitung des KI.KA bis 21 Uhr keinesfalls rückgängig gemacht werden dürfe, wie von einigen Ministerpräsidenten vorgeschlagen. Eine weitere IZI-Studie mit 300 Kindern belegte den Lerneffekt der Wissensmagazine: Noch Wochen später waren die Befragten in der Lage, Details aus den Sendungen wiederzugeben und ganze Szenenfolgen zu beschreiben. Entscheidenden Einfluss auf solche Lerneffekte, so die Münchener Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik, Angelika Speck-Hamdan, hätten die Lernumgebungen. Die Sendungen müssten sich auszeichnen durch Lebensnähe und eine klare Strukturierung, sie müssten viele Anknüpfungspunkte bereit halten, Lernwege vorstrukturieren und „Anker setzen“. Die IZI-Mitarbeiter hatten die Aufmerksamkeitswerte der Kinder codiert. Daher konnte Maya Götz exakt beschreiben, wann die kindliche Aufmerksamkeit am größten ist: „in Szenen, die ästhetisch attraktiv oder für den Sympathieträger wichtig sind“. Wichtig für die Memorierung sei außerdem die Gleichzeitigkeit von Bild und Ton sowie die Heraushebung von Elementen, etwa durch Kreise. Bei langen Erklärungen hingegen oder Gesprächen zwischen Erwachsenen sank die Aufmerksamkeit der Kinder rapide, wovon sich die Tagungsteilnehmer aus erster Hand überzeugen konnten: Unter dem Motto „Screening the Screening“ wurden nicht nur die besprochenen Sendungen projiziert, sondern gleichzeitig auch die Reaktionen der Zielgruppe.
- Tilmann P. Gangloff: Lizenz zum Gelddrucken - Reklame in Kinofilmen
Tilmann P. Gangloff: Lizenz zum Gelddrucken - Reklame in Kinofilmen
Es wird immer teurer, dem Kinopublikum ein paar schöne Stunden zu bescheren. Obwohl Warner Bros. die Teile zwei und drei von „Matrix“ an einem Stück produziert hat, kostete der Doppelfilm 300 Millionen Dollar. Bei Unsummen wie diesen liegt es nahe, dass sich die Produzenten rückversichern: Man weiß ja nie, ob solche Sequels den Erfolg ihrer Vorläufer wiederholen können. Da sich vermutlich selbst in London keine Versicherungsagentur finden lässt, die einen potenziellen Kinoknüller gegen ausbleibende Zuschauerscharen versichern würde, müssen die Hollywood-Studios ihre Schäfchen schon im Vorfeld ins Trockene bringen. Der Film selbst ist dann bloß noch eine gigantische Werbeaktion für all die Alltagsutensilien, in die die Besucher noch weiteres Geld investieren sollen.Doch die Blockbuster vermarkten nicht nur Spiele, CDs und T-Shirts zum Film. Immer öfter gibt es auch ganz unverhohlene Schleichwerbung, in der Branche schönfärberisch „Product Placement“ genannt. Im neuen Film „Looney Tunes“ machen sich Bugs Bunny und Duffy Duck sogar über diese Unart lustig, als mitten in der Wüste wie eine Fata Morgana plötzlich eine Filiale der amerikanischen Supermarktkette Wal-Mart auftaucht. Mitunter ist die Reklame wenigstens dramaturgisch gerechtfertigt, weil beispielsweise James Bond nun mal mit sportlichen Flitzern unterwegs zu sein pflegt. Doch ganz gleich, ob Aston Martin oder BMW: Der Werbeeffekt ist unbezahlbar.Geld kostet es trotzdem, denn die Produzenten lassen sich die prominenten Platzierungen gut bezahlen. Bei „Matrix“ trugen unter anderem Firmen wie Spieleanbieter Atari, die Plattenfirma Wea und ein Brillenhersteller ihren Anteil zu den Produktionskosten bei.
Allein die Lizenz für das Computerspiel „Enter the Matrix“ bescherte Warner Bros. die Rekordsumme von 47 Millionen Dollar. Im Gegenzug brauchten die Spielemacher bloß noch die Vorlage der „Matrix“-Macher Andy und Larry Wachowski umzusetzen, die auch für das Spiel ein detailliertes Drehbuch geschrieben hatten.Die Produktionskosten für das Computerspiel lagen bei 60 Millionen, die Kosten für die Reklame dürften ebenfalls im achtstelligen Bereich gelegen haben. Doch der Aufwand hat sich aus Sicht der Hersteller gelohnt: Binnen kurzer Zeit wurde „Enter the Matrix“ mit 2,5 Millionen verkauften Exemplaren zum Kassenschlager.Kein Wunder, dass alle Beteiligten diesen Erfolg mit dem nächsten Kassenknüller wiederholen wollen: Am 17. Dezember startete weltweit der dritte Teil von „Herr der Ringe“. Allein in Deutschland ist „Die Rückkehr des Königs“ mit mindestens tausend Kopien in die Kinos gekommen. 26 Lizenznehmer wurden hierzulande bereits gefunden, darunter neben Karstadt, Pepsi und den unvermeidlichen Überraschungseiern auch ein Wursthersteller sowie die Motorradfirma Harley Davidson, die Maschinen im Design der Filme anbietet.Weil sich die beiden Fantasy-Filme „Herr der Ringe“ und „Harry Potter“ in den letzten Jahren an Weihnachten gegenseitig Konkurrenz gemacht haben, bringt Warner Bros. den dritten Potter-Film erst im Juni 2004 in die Kinos.
Das Vermarktungsgeschäft kann das Hollywood-Studio allerdings jetzt schon abschreiben: Vom Merchandising-Boom bei „Harry Potter und der Stein der Weisen“ (2001) wird nicht mehr viel übrig bleiben. Viele der Produkte sind wie Blei in den Regalen liegen geblieben. Der kurz zuvor an die Börse gegangene Achterbahn-Verlag musste im Jahr darauf sogar in die Insolvenz. Die Firma, einst groß geworden durch die Abenteuer des trinkfesten Comic-Helden „Werner“, hatte allein 120 Einzelrechte für „Harry Potter“ erworben.Immerhin sorgte Lego mit dem Hogwarts-Schloss für das meistverkaufte Konstruktionsspiel des Jahres. Auch Modelleisenbahn-Hersteller Märklin hofft auf gute Umsätze mit einer Nachbildung des „Hogwarts-Express“. Alle anderen hatten das Nachsehen. Kardinalfehler bei der Produktplanung: Die meisten Lizenzen richteten sich an Kinder, doch die Mehrzahl der Potter-Fans ist mindestens im Handy-Alter. Wie hoch die Kaufkraft dieser Zielgruppe, Menschen zwischen 14 und 29 Jahren, eingeschätzt wird, zeigt ein teurer Deal der „Matrix“-Produzenten: Der koreanische Elektrohersteller Samsung ließ es sich ein ordentliches Vermögen kosten, dass Neo und seine Freunde in „Matrix Reloaded“ die mobilen Telefone von Nokia gegen jene von Samsung eintauschten. Ein Geschäft, das sich ausgezahlt haben dürfte, denn Telefone spielen in den Filmen beim Wandern zwischen den Welten eine entscheidende dramaturgische Rolle.
- Tilmann P. Gangloff: Auch keine Insel der Seligkeit mehr
Tilmann P. Gangloff: Auch keine Insel der Seligkeit mehr
Es gibt kaum ein unverdächtigeres Medium als das Radio. Beim Stichwort „Gewalt“ denkt man vor allem an brutale Computerspiele oder blutige Fernsehkrimis; den Hörfunk hatte man bislang nicht auf der Rechnung. Sollte man aber, findet Bernd Schorb. Der Forscher und Pädagoge von der Universität Leipzig befasst sich schon seit Jahrzehnten mit der Wirkung von Medien auf Kinder und Jugendliche. Jetzt hat er sich das Radio vorgenommen und festgestellt: Wenn man sich die Mühe macht, mal genau hinzuhören, strotzen einige Beiträge geradezu vor Gewalt. Klar, wird mancher fachmännisch einwerfen: Schon auf den CD-Hüllen werden Eltern vor drastischen Song-Texten gewarnt; aber die sind doch auf englisch und im Slang gerappt, das versteht sowieso keiner.Sicher richtig. Doch Schorb hat auch zwischen die Musik gehört und ist dabei vielfach fündig geworden. Nun ist „Gewalt“ natürlich ein weites Feld; in der Regel assoziiert man mit dem Begriff Tritte, Fausthiebe und die Anwendung von Schuss- oder Stichwaffen. Für Schorb indes ist Gewalt die „Manifestation von Macht bzw. Herrschaft mit der Folge oder dem Ziel der Schädigung eines einzelnen oder einer Gruppe“.
Und schon wird klar: Wenn Stefan Raab in tv total Unfug auf Kosten seines Showpraktikanten Elton treibt, ist das eine Form von Gewalt. Gerade diese eindeutig hierarchischen Strukturen haben Schorb und seine Forscher auch in vielen mitteldeutschen Radiosendungen festgestellt. Ohnehin befleißigen sich die Moderatoren von Sendern, die sich überwiegend an ein eher jüngeres Publikum richten, einer Ausdrucksweise, die man kaum noch als salonfähig bezeichnen kann. Kraftausdrücke wie „Scheiße“, „Arsch“ oder „Kotzen“ gehören ebenso zu ihrem Sprachgebrauch wie Anglizismen und Modewörter aus der Jugendsprache. Hinzu kommen abfällige Bemerkungen über Prominente (Jennifer Lopez, „die Frau mit dem etwas breiteren Hintern“) oder Minderheiten. So verfiel ein Moderator nach einem Versprecher in gebrochenes türkisches Deutsch und verwendete dabei den Begriff „Sprachlegastheniker“. Am meisten tat sich laut Schorbs Untersuchung ein Sender hervor, den es nicht mehr gibt. Das mittlerweile von RTL übernommene und komplett umgestaltete Project 89.0 digital warb mit dem Slogan „Hier ist der Sender, bei dem deine Eltern kotzen“. Die meisten Auffälligkeiten notierten die Forscher bei der so genannten Fuck-U-Hotline, einem Angebot an die Hörer, sich am Telefon mal so richtig auszusprechen. Und das taten sie dann auch: „Kann mal irgendein Arsch diesen be... [piep] Petrus in den fetten Hintern treten. Dieses scheiß Wetter kotzt mich an.“ Oder: „Diese verdammte Scheiße ... ich bin fast besoffen und ich muss morgen ins Fußballtraining. Das kotzt mich so an. Die Weiber tanzen mir auf der Nase rum.
Die sollen mich langsam alle am A... [piep] lecken. Ich scheiß auf alle Weiber. Das war’s.“ Zu den Spielregeln gehörte, dass die Herzenswünsche mit einem fröhlichen „Fuck you!“ beendet wurden.Beim sächsischen Privatsender Energy Sender gibt es eine ähnlich erfrischende Hotline mit dem sinnigen Titel „Poppen oder stoppen“. Hier schildern Hörer ihre Beziehungsprobleme. Anschließend kann jeder, der mag, seinen Senf dazugeben: ob die Beziehung aufrecht erhalten („poppen“) oder abgebrochen („stoppen“) werden soll. Die entsprechenden Dialoge streifen mitunter mehr als nur die Grenze des guten Geschmacks. Problematisch findet Schorb diese Darstellungsformen vor allem insofern, „als dass es sich bei Betroffenen und Ausübenden um Personen in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen handelt. Dem Hörer wird der Eindruck vermittelt, dass mit dieser Sendeform reale Probleme thematisiert werden“. Will sagen: Wenn „ein offizielles Medium“ diese Art von „Kommunikations-Unkultur“ pflege, sanktioniere dies die eigenen alltäglichen Beschimpfungen und Beleidigungen. Erst mit etwas Abstand würde den Jugendlichen klar, dass der vermeintliche Spaß nichts anderes sei als die Hänseleien auf dem Schulhof, „wenn einer ein bisschen dicker ist und als ‚Pummel‘ in die Ecke gestellt wird“. Mädchen, ergab die Untersuchung, in deren Verlauf 250 Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 16 Jahren die verbale Gewalt bewerten sollten, reagieren übrigens ungleich sensibler als Jungs.
Ob die untersuchten Sendungen auch relevant im Sinne des Jugendschutzes sind, mag Schorb nicht kommentieren: „Das sollen andere entscheiden“. Beispielsweise Victor Henle, Direktor der Thüringer Landesmedienanstalt und einer der Auftraggeber. Henle räumt zwar ein, die Sender würden „nur in den seltensten Fällen auch richtig gegen Gesetze verstoßen“. Und gerade im Zusammenhang mit der Diskussion über den Themenbereich Kinder und Gewalt sei das Radio „natürlich nicht das eigentliche Problem“. Aber eben auch „keine Insel der Seligkeit“. Henle betont, die Landesmedienanstalten wollten die Sender mit der Studie nicht anklagen, sondern vielmehr Denkanstöße geben. Tatsächlich hätten die Geschäftsführer der untersuchten Programme die Ergebnisse „mit Erstaunen“ zur Kenntnis genommen. Der TLM-Direktor hofft auf eine Sensibilisierung der Moderatoren, denen offenbar nicht klar sei, dass man „durch Sprache Gewalt ausüben“ könne. Die Studie solle vor allem aufklären; gesetzliche Sanktionierungen seien nicht möglich. Literatur: Bernd Schorb, Anja Hartung: „Gewalt im Radio. Eine Untersuchung zur Wahrnehmung, Bewertung und Verarbeitung von Unterhaltung im Hörfunk durch 9- bis 16-Jährige“. Vistas-Verlag, Berlin. 196 Seiten, 15 Euro
- Tilmann P. Gangloff: Wer surfen will, muss schwimmen können
Tilmann P. Gangloff: Wer surfen will, muss schwimmen können
Während durch die Köpfe von Erzieherinnen und Lehrern immer noch das Phänomen des „Vielsehers“ geistert, haben die Sorgenkinder längst das Medium gewechselt: Sie surfen jetzt im Internet. Die 14- bis 19-Jährigen verbringen mittlerweile 137 Minuten täglich im Internet. Wenn man andererseits weiß, dass der eine oder die andere überhaupt nicht oder nur selten ins Internet geht, kann man sich vorstellen, in welchen Größenordnungen sich die Nutzungszeit der „Heavy User“ bewegen muss. Viele Eltern wird das beunruhigen. Im Gegensatz zum überschaubaren Medium Fernsehen, das gerade tagsüber weitgehend berechenbar ist, lauern im Internet mannigfaltige Gefahren. Trotz aller technischen Kompetenz: Die diversen Bedrohungen sind längst nicht allen jungen Nutzern bekannt. Laut einer amerikanischen Studie sind zudem 30 Prozent der befragten weiblichen Teenager im Netz schon mal sexuell belästigt worden. Jedes fünfte Kind werde angeblich online zu sexuellen Handlungen aufgefordert.
Die EU hat daher die Kampagne „SaferInternet“ ins Leben gerufen.Ein Surfen ohne Risiko wird es vermutlich nie geben. Wenn man auf der Homepage von „SaferInternet“ die Liste der Abgründe liest, kann einem jedoch Angst und Bange werden. Finanzielle und technische Schädigungen, psychische Irritationen, Beleidigungen, Bedrohungen, Erpressung, sexuelle Belästigung, menschenverachtende Propaganda, Anleitungen zum Terrorismus: eigentlich erstaunlich, dass das Internet nicht längst verboten wurde; bereits beim harmlosen Surfen scheint man ja knapp an der Straftat vorbeizuschlittern. Tatsächlich aber ist vielen zum Beispiel nicht klar, dass das illegale Herunterladen etwa eines Kinofilms eine Verletzung des Urheberrechts und somit eine kriminelle Handlung ist. Technische Lösungen eignen sich erfahrungsgemäß kaum, um Kinder und Jugendliche vor gefährdenden Internet-Seiten zu schützen. Die Organisatoren von „SaferInternet“ vergleichen dies mit der Gefahr, die ein Schwimmbecken für Nichtschwimmer darstellt: Warnschilder und Zäune seien nur eine bedingte Hilfe; sicherer sei es, Schwimmen zu lernen und sich mit dem Wasser vertraut zu machen.
Deshalb sei es unabdingbar, den Kindern Medienkompetenz beizubringen.Hier zu Lande wird „SaferInternet“ von den Medienpädagogen der Bielefelder Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) organisiert. Laut GMK-Philosophie setzt sich Medienkompetenz aus den Bereichen Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung sowie Mediengestaltung zusammen. Nur wer in allen vier Bereichen fit ist, hat quasi auch den Internet-Führerschein. Deshalb rät die GMK: Jeder Internet-Nutzer sollte wissen, was überhaupt ein Server macht, welche technischen Möglichkeiten das Netz bietet und welche Gefahren dort lauern, wie man eine Suchmaschine benützt und wie man im Internet kauft und verkauft. Wann immer man eine Internet-Seite besuche, stets solle man sich fragen: Wer ist für den Inhalt dieser Seite verantwortlich? Welche Absicht verfolgt er? Sind die Informationen zuverlässig? Links zum Thema:www.safer-internet.net, www.gmk-net.de, www.ofsi.org, www.bpb.de, www.dji.de, www.mediageneration.net,
Beitrag aus Heft »2004/02: Musik im Leben Heranwachsender«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Aus die Maus?
Tilmann P. Gangloff: Aus die Maus?
Es ist ein Skandal, doch keiner regt sich drüber auf. „Kinder“, seufzt Uwe Rosenbaum, „haben es in diesem Land eben einfach nicht gut“. Dabei wird das Kind, um das es geht, in diesem Jahr vierzig Jahre alt. So lange veranstaltet der Bayerische Rundfunk (BR) bereits den Prix Jeunesse, das weltweit bekannteste und mit Abstand renommierteste Festival für internationales Kinderfernsehen. Alle zwei Jahre kommen Redakteure aus allen Erdteilen nach München, um sich auszutauschen und neue Produktionen zu sichten. Jeder Teilnehmer ist stimmberechtigt, so dass die Preise höchst demokratisch gefunden werden. Zu Recht gilt der „Prix Jeunesse“ als „Oscar des Kinderfernsehen“. Doch möglicherweise muss man dies demnächst in der Vergangenheitsform schreiben: Der BR erwägt die Abschaffung der Institution. Dabei war dieser Preis womöglich nie so wertvoll wie heute. Allüberall ist das Kinderfernsehen längst kommerzialisiert worden, sind Zeichentrickserien bloß noch Reklame für das milliardenschwere Geschäft mit Merchandising-Produkten, graben Kinderkanäle mit knallbunter und lautstarker Fließbandware dem pädagogisch wertvollen Programm das Wasser ab.
Beim Prix Jeunesse holen sich die überwiegend öffentlich-rechtlichen Redakteure die nötige Rückendeckung für ihren täglichen Quotenkampf. Für die Neuheiten auf dem kommerziellen Markt genügen Programm-Messen wie die Mipcom Junior in Cannes. In München aber profitieren alle voneinander, denn hier kommen neue Formen und Trends auf einen echten Prüfstand. „Sesame Street“ beispielsweise wurde beim Prix Jeunesse heiß diskutiert, bevor es seinen weltweiten Siegeszug antrat. Uwe Rosenbaum, heute Landessenderdirektor des SWR in Mainz, erinnert sich an seine Zeit als Leiter des Familienfernsehens beim SFB: Die Kollegen aus Osteuropa in Berlin zu treffen, war undenkbar; nach München aber durften sie reisen. Im Kuratorium Junger Deutscher Film macht sich Rosenbaum seit einiger Zeit für den Kinderfilm stark. Deshalb verbindet er seine Unterstützung für den Prix Jeunesse mit einer Forderung: „Selbstredend muss sich das Festival auch für die lange Form öffnen“. Ansonsten aber erklärt er sich uneingeschränkt solidarisch: Nur über den Prix Jeunesse sei es überhaupt möglich, afrikanischen oder asiatischen Ländern zu helfen, die Qualität westlicher Programmstandards zu etablieren. Wo dies nicht geschehe, würden die Zuschauer auch dort von kommerziellen Sendern überschwemmt. In Südamerika beispielsweise hat der Prix Jeunesse mit seinem „Koffer“ erheblich dazu beigetragen, das dortige Kinderfernsehen vom US-amerikanischen Cartoon-Einfluss zu emanzipieren. Rosenbaum verweist zudem auf die Meriten der langjährigen Generalsekretärin des Prix Jeunesse, Ursula von Zallinger.
Gerade der Umstand, dass ihr Name untrennbar mit dem Festival verbunden ist, dient hinter den Kulissen aber offenbar als willkommener Vorwand, die lange Tradition mit der diesjährigen Veranstaltung im Juni zu beenden: Der absehbare Ruhestand der Generalsekretärin soll angeblich als Anlass dienen, den Prix Jeunesse zu beerdigen.Hintergrund des Planspiels: Der BR will Geld sparen. Im Zuge der Gebührendiskussion sind sämtliche Posten auf den Prüfstand gekommen. Dabei kostet der Prix Jeunesse den BR nur 100.000 Euro im Jahr. Wenn man vergleicht, welche Unsummen die ARD für die Übertragung von Fußballspielen auszugeben pflegt, sind dies wahrlich bloß „Peanuts“. Trotzdem könnte es zu einem Domino-Effekt kommen: Prompt möchte auch die Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) ihren Beitrag von 75.000 Euro einsparen. Das ZDF wiederum macht seinen Zuschuss (60.000 Euro) davon abhängig, wie sich der BR entscheidet. Weitere Geldgeber sind der Freistaat Bayern und die Stadt München; beide noch alles andere als wankelmütig.Und so könnte es sich als Schwäche erweisen, dass der Prix Jeunesse zwar weltweites Ansehen genießt, im eigenen Land aber kaum bekannt ist. Natürlich waren auch deutsche Sender immer wieder unter den Preisträgern, doch in der Regel interessiert es hier zu Lande kaum jemanden, wenn eine brasilianische Serie einen Preis bekommt.
Zur ohnehin überfälligen Reformierung des Prix Jeunesse gehört daher auch die Rückwirkung ins eigene Lager. Gerade das öffentlich-rechtliche Kinderfernsehen ist in Deutschland, wie es einer der ältesten Hasen im Geschäft ausdrückt, „zwar etabliert, aber auch mumifiziert“. Tatsächlich kann man das vermeintliche Kinderparadies Kika durchaus auch als Ghetto betrachten: Nach der Gründung des Kinderkanals im Jahr 1997 stellte die ARD, vom Wochenende abgesehen, ihr Kinderprogramm im „Ersten“ ein; das ZDF wartete wenigstens noch eine knapp zweijährige Schamfrist ab. Seither aber sei das Thema Kinderfernsehen für die öffentlich-rechtlichen Führungsetagen erledigt, kritisiert Rosenbaum; schon allein aus diesem Grund brauche Deutschland ein Forum, das dem Genre neue Impulse liefere, Alternativen aufzeige und zur Weiterentwicklung anrege. Vor vierzig Jahren, erinnert sich ein Redakteur, sei man beim BR „irrsinnig stolz“ auf die Idee eines internationalen Festivals für Kinderfernsehen gewesen; lange her. Das gilt offenbar auch für eine wichtige Station in den beruflichen Biografien der aktuellen Intendanten von BR und ZDF, Thomas Gruber und Markus Schächter: Beide waren bei ihren Sendern mal Leiter des Kinder- und Familienprogramms.
Beitrag aus Heft »2004/02: Musik im Leben Heranwachsender«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Auch ohne meinen Rechner
Tilmann P. Gangloff: Auch ohne meinen Rechner
Kinder zu befragen, ist immer eine zweischneidige Sache: weil sie einem gern jene Seite der Wahrheit erzählen, die man hören möchte. Deshalb sichern sich die „KIM“-Studien (Kinder und Medien), die schon seit Jahren die Mediennutzung der Sechs- bis Dreizehnjährigen erforschen, gern ab: indem sie auch die Mütter befragen. Allerdings kann man auch nicht sicher sein, ob die Antworten nicht doch dem Schema „sozial erwünscht“ entsprechen; manche Mutter neigt dazu, den TV-Konsum ihrer Sprösslinge zu beschönigen. Die jüngste „KIM“-Studie des medienpädagogischen Forschungsverbands Südwest ergab: Je mehr die Begeisterung der Kinder für den Computer wächst – und das tut sie nach wie vor kräftig –, um so größer werden die Vorbehalte der Mütter. Der Rechner ist sogar drauf und dran, den Lieblingsfeind Fernsehen abzulösen. Mehr Zeit sollten die Kinder nach Ansicht ihrer Mütter mit dem Lesen von Büchern verbringen; eine konstruktive Minderheit bringt auch noch zaghaft das Radio ins Spiel.
Was geradezu nach demonstrativer Ablehnung aussieht, ist in Wirklichkeit nur die eine Seite der Medaille: Beim Internet scheiden sich die Geister. Da teilt sich das Lager der Mütter in radikale Gegnerinnen, während sich ebenso viele für eine intensivere Zuwendung aussprechen. Hintergrund des Zwiespalts: Den Computer assoziieren viele Mütter mit Spielen, die sie nicht nur für Zeitverschwendung, sondern wegen der dargestellten Gewalt auch für moralisch bedenklich halten. Das Internet aber steht für Wissen und damit für Zukunft. Die Verantwortung für diese Zukunft wird eindeutig an die Schule abgegeben: Die Mehrzahl der Mütter ist trotz aller Vorbehalte der Meinung, der Umgang mit dem Rechner solle den Kindern so früh wie möglich beigebracht werden; aber nicht zu Hause.Und die Kinder? Für die gehört der Computer längst zum Alltag. Nach Fernsehen, CDs und dem Radio folgt der Rechner bereits auf Platz vier. Und wenn sie könnten, wie sie wollten, würden sie ihn noch öfter nützen: Auf der Liste der liebsten Freizeitaktivitäten ist den Jungs der Computer mit 24% fast so wichtig wie Sport Treiben (25%). Er liegt allerdings deutlich hinter dem Fernsehen (35); vom Treffen mit Freunden (48) und draußen Spielen (40) ganz zu schweigen.
Die Mädchen stehen offenbar stark unter mütterlichem Einfluss: Ihre Begeisterung für den Computer ist nur halb so groß wie die der Jungs; sich mit Tieren Beschäftigen, drinnen Spielen, Musik Hören und Malen ist ihnen teilweise deutlich wichtiger. Gerade mal 15% der Kinder besitzen einen eigenen Rechner. In Ostdeutschland sieht das etwas anders aus: Hier hat jedes zweite Kind bereits einen eigenen Fernseher (im Westen 35%), 32% besitzen eine eigene Spielkonsole (im Westen 25%), jeder vierte hat einen Videorecorder (im Westen 12%) und 22% einen eigenen Computer (im Westen 14%). Immerhin 6% aller deutschen Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren verfügt bereits über einen eigenen Internetzugang.Gretchenfrage für alle Mediennutzer ist immer wieder die nach der Medienbindung: „Am wenigsten verzichten kann ich auf…“. 74% aller Kinder würden auf den Fernseher nicht verzichten wollen. Der Computer folgt zwar weit abgeschlagen, aber zumindest bei den Jungs auf einem klaren zweiten Platz (18%). Bei den Mädchen muss er sich noch den Büchern (10 zu 8) geschlagen geben.
Beitrag aus Heft »2004/03: Computerspiele - Interessen und Kompetenzen«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Gefahrlos Grenzen austesten
Tilmann P. Gangloff: Gefahrlos Grenzen austesten
Die Amerikanerin und die Australierin sind schockiert. Die Vietnamesin schluckt ihr Befremden immerhin tapfer runter, findet aber, der Beitrag sei in einer falschen Altersgruppe gelandet. Und eine deutsche Redakteurin gesteht, sie wisse nun mehr über Ejakulation, als sie je habe erfahren wollen. Immerhin sind sie am Ende doch noch alle über ihren kulturellen Schatten gesprungen: Die schwedische Kindersendung Ready, Steady, Grow, in der Jungs offen über ihre ersten sexuellen Erfahrungen sprechen, ist mit einem „Prix Jeunesse“ ausgezeichnet worden. Das ist durchaus beachtlich, denn die beim weltweit bedeutendsten Festival dieser Art vergebenen Preise gelten als „Oscar des Kinderfernsehens“.Einige Monate lang sah es allerdings so aus, als seien die 21. Kinder-„Oscars“ auch die letzten: Kurz vor dem Auftakt des Prix Jeunesse, den der Bayerische Rundfunk (BR) vor vierzig Jahren erfunden hat und seither zweijährlich in München veranstaltet, hatte der BR angekündigt, sich die Veranstaltung im Zuge der Sparmaßnahmen nicht mehr leisten zu können. Da auch das ZDF und die Bayerische Landeszentrale für neue Medien ihre Zahlungen einstellen wollten, stand das Festival trotz diesjähriger Rekordbeteiligung praktisch vor dem Aus. Zur Eröffnung betonte BR-Intendant Thomas Gruber allerdings, er stehe hinter dem Prix Jeunesse. Denkbar ist nun, dass sich auch weitere ARD-Sender beteiligen.
Das ZDF wollte seine Entscheidung ohnehin vom BR abhängig machen und hat bereits signalisiert, man sei weiterhin an Bord, allerdings mit einer kleineren Summe. Auch bei der BLM ist das letzte Wort offenbar noch nicht gesprochen. Letzte Lücken sollen von Sponsoren geschlossen werden. Überfällig sind allerdings diverse Reformen. Der Prix Jeunesse, forderten verschiedene Teilnehmer, müsse weg vom reinen Festspielcharakter. Die letzte durchgreifende Innovation gab es 1972, als die üblichen Jury-Entscheidungen abgeschafft wurden; seither dürfen alle teilnehmenden Redakteurinnen und Redakteure über die Sieger des Festivals entscheiden. Das Festival ist mittlerweile enorm gewachsen. 1964, zum Auftakt, reichten 32 Sender 64 Programme ein. Im Rekord- und Jubiläumsjahr 2004 haben sich diese Zahlen vervierfacht. Die Folge: Die Teilnehmer verbringen eine Woche in München. Das ist zwar schön, aber in Zeiten von einschneidenden Sparmaßnahmen und Personalabbau auch ein Anachronismus. Überdies grenzen viele Beiträge an Zeitverschwendung; die Abstimmung mit den Füßen, wenn die ungeduldigen Zuschauer die Vorführräume verlassen, ist ein deutliches Signal. Es gibt daher die Forderung, die Zahl der Sendungen fürs Finale deutlich zu reduzieren. Die Auswahlkriterien sollen sich stärker an Aspekten wie Qualität und Innovationsfreudigkeit als an politischer Korrektheit und geografischer Ausgewogenheit orientieren. Außerdem soll der Forum-Charakter des Festivals betont werden. „Der Prix Jeunesse braucht neue inhaltliche Anstrengungen“, erwartet ein Redakteur, der das Festival schon seit Jahrzehnten besucht.
Es gelte, „Glanzpunkte, die noch nicht glänzen“, stärker zur Geltung zu bringen. Es sei zwar schön, dass man hier gefahrlos seine Grenzen austesten könne, indem man sich beispielsweise vorstelle, wie das eigene Publikum auf eine Sendung wie Ready, Steady, Grow reagieren werde, doch das sei nicht genug. In München sei schließlich alle zwei Jahre „das globale Kinderdorf versammelt“, und das müsse viel stärker ausgenutzt werden. Eine Möglichkeit wären Werkstattberichte. Bislang beschränkt sich der offizielle Austausch auf Diskussionen der Teilnehmer im Anschluss an die Sichtungen. Man könnte darüber hinaus ausgewählte Sendungen eingehend besprechen. Nicht minder lehrreich wäre eine „Pitching“-Runde mit Produktionen, die sich noch in der Planungsphase befinden. Überfällig ist auch die Öffnung des Festivals für große Themen. Ein erster Schritt in diese Richtung war in diesem Jahr der vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) veranstaltete Workshop „Children Watching War“. Vier Tage lang haben Wissenschaftler ihre Studien zum Irak-Krieg vorgestellt. Die Ergebnisse wurden in einer Abendveranstaltung präsentiert und diskutiert. „Programmstimulierendes Nachdenken“ nannte ein Teilnehmer diese Veranstaltung (vgl. auch den folgenden Beitrag).
In Zukunft wird der Prix Jeunesse wohl enger mit dem ähnlich renommierten IZI, ebenfalls eine BR-Tochter, kooperieren. Ein großes Manko des Prix Jeunesse ist auch der fehlende Bezug zur Öffentlichkeit. Der Preis ist in Deutschland nur Experten bekannt. Deshalb hielt sich das öffentliche Echo auf die Ankündigung des BR, das Festival sterben zu lassen, in Grenzen. Es gibt zwar seit zwei Jahren eine Kinderjury, die einen „Goldenen Elefanten“ vergibt, doch anders als der „Goldene Spatz“ aus Gera wird dieser Preis kaum wahrgenommen. Das gilt erst recht für die ausländischen Preisträger des Prix Jeunesse. Verständlicherweise interessiert sich kaum jemand dafür, wenn eine chinesische Kindersendung ausgezeichnet wird, die hier zu Lande ohnehin nie zu sehen sein wird. In diesem Jahr gab es auch keine deutschen Preisträger. Immerhin zweite und dritte Plätze erreichten das ZDF-Magazin 1fach super!, der Zeichentrickfilm Leb’ wohl, lieber Dachs! sowie das Wissensmagazin Neufundland (beide WDR). Einer der Web-Preise ging zudem an das WDR-Begleitangebot www.blaubaer.de.
(merz 2004-04, S. 75-76)
- Tilmann P. Gangloff: Detaillierte Analyse belegt: „Big Brother“ war inszeniert
Tilmann P. Gangloff: Detaillierte Analyse belegt: „Big Brother“ war inszeniert
Trotz der für RTL 2 beachtlichen Einschaltquoten: Wer von Zlatko & Co. nicht gerade hingerissen war, empfand den täglichen Zusammenschnitt von „Big Brother“ als langweilig. Eine kleine Verschiebung der Perspektive allerdings genügte bereits, um auch werktags von „Big Brother“ fasziniert zu sein. Für die erste Staffel kommt das Buch „Im Auge der Kamera“ naturgemäß zu spät, doch anhand der zweiten, die am 16. September startete, kann man die Erkenntnisse überprüfen. Die Autoren ziehen zwar nicht in Zweifel, dass die Teilnehmer des Projekts spontan gehandelt haben, doch die detaillierte Analyse der Folgen belegt, wie sehr „Big Brother“-Produzent Endemol die Sendung inszeniert hat.
Die Passagen, in denen Lothar Mikos und seine Mitarbeiterinnen „Big Brother“ in seine syntaktischen Bestandteile zerlegen, sind die eindrucksvollsten des Buches.Zunächst aber ist wissenschaftliches Schwarzbrot angesagt: Bevor man als Leser die Erkenntnisse der Forschung mit den eigenen Beobachtungen vergleichen kann, wird das Fernsehformat begrifflich eingekreist. Immerhin ist die Beschreibung der „verhaltensorientierten Spielshow“ als Konglomerat verschiedener Fernsehformate (Soap, Talk, Turniershow) lehrreich und plausibel. Nützlich ist auch die Bestandsaufnahme des Einbruchs der Realität ins Fernsehen: weil sich spätestens seit den „Docu-Soaps“ immer mehr Unterhaltungsformate am Leben der Zuschauer orientieren. „Big Brother“ als Selbstdarstellung im Alltag ist für die Autoren daher „performatives Realitätsfernsehen“. Die Zunahme „intimer Formate“ - Talkshows, Gerichtsshows, Docu-Soaps - werten sie als Indiz für die Demokratisierung des Fernsehen.Entscheidend für die Empfehlung dieses Buches aber sind jene Passagen, die sich ausschließlich „Big Brother“ widmen.
Wegen seiner komplexen Regeln und der Inszenierungsstrategie, so die Autoren, bilde das Format keineswegs Alltag ab; es entspreche vielmehr einer „verdichteten, dramatisierten Form der Alltagserzählung“. Belegt wird dies mit der Analyse ganzer Sequenzen: Nicht nur das Leben im Container wurde mit Hilfe von Montage inszeniert, sondern auch die Personen. Sie wurden zu Figuren, etwa mit Hilfe von Weichzeichner oder durch die Beschränkung auf Großaufnahmen.Abgerundet werden die Erkenntnisse durch eine Analyse der Popularität von Teilnehmer Zlatko sowie eine Auswertung der Berichterstattung („Medienhystorie“). Kritisch sollte angemerkt werden, dass sich das Buch zu oft vom eigentlichen Betrachtungsgegenstand entfernt. Und die Qualität der Fotos ist schlicht indiskutabel.
Beitrag aus Heft »2000/05: Aktuelle Medientheoretische Reflexionen«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Bei den Gesetzen blickt keiner mehr durch
Tilmann P. Gangloff: Bei den Gesetzen blickt keiner mehr durch
Immer mehr InstitutionenIn den letzten zwei Jahrzehnten hat das Medienangebot sprunghaft zugenommen. Die Gesetzgebung hat Schritt gehalten. Kino, Fernsehen, Video, Internet: Für alle Bereiche wurde der Jugendschutz gesetzlich verankert. Allerdings wurden nicht etwa bereits bestehende Gesetze um Richtlinien für das jeweils neue Medium erweitert; es gab jedesmal ein neues Regelwerk sowie eine eigene Instanz der Selbst- oder Fremdkontrolle. Die laufende Entwicklung neuer Medien, kritisieren Jugendschützer, habe in den letzten 25 Jahren „zu einer verwirrenden Fülle an Medienkontrollinstitutionen“ geführt. Sie fordern daher einhellig eine „Kehrtwende“ bei der Medienkontrolle.Ein Reformpapier der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ), das eine Bündelung der Gesetze und Kontrolleinrichtungen vorsieht, stößt in der Branche weitgehend auf Zustimmung. Allerdings liegen zwischen Theorie und Praxis Welten: Eine konsequente Reform würde zwangsläufig dazu führen, dass einige der Institutionen Kompetenzen abgeben müssten; „und welche Behörde“, kommentiert ein Jugendschützer sarkastisch, „löst sich schon gern selber auf“.Hans-Dieter Drewitz formuliert es eleganter: „Man kann ein Hoheitsrecht nicht beliebig an Dritte abgeben“. Was der Referent in der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei und Vorsitzender der Rundfunkreferenten damit meint: Die deutsche Medienwelt lässt sich nicht zentral beaufsichtigen, weil zum Beispiel Rundfunk Ländersache ist. Die naheliegendste Lösung - eine Medienanstalt, die für sämtliche Bereiche zuständig ist - lässt sich kaum ins Leben rufen, weil sich dezentrale Einrichtungen wie die Landesmedienanstalten mit allen Mitteln gegen eine Beschneidung ihrer Kompetenzen wehren werden. Trotzdem hält auch Drewitz die derzeitige Situation für einen „unbefriedigenden Anachronismus“.
Eine Bündelung bei den Gesetzen sei überfällig; „man muss nur sehen, das man sinnvoll und schlagkräftig bündelt“.Unklare ZuständigkeitenJoachim von Gottberg, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), hätte da einen Vorschlag: Den Obersten Landesjugendbehörden (OLJB), schon jetzt bei Kino- und Videofilmen die maßgebliche Instanz, soll die Aufgabe übertragen werden, die Einhaltung eines „Gesetzes zum Schutz der Jugend in den Medien“ zu überwachen. Darin sollten die Jugendschutzbestimmungen für alle Medien zusammengefasst und aufeinander abgestimmt werden. Die OLJB sollten zudem ermächtigt werden, „für ihre Prüfaufgaben Einrichtungen der freiwilligen Selbstkontrolle zu nutzen“. Würden diese den zulässigen Spielraum überschreiten, könnten die OLJB die Prüfergebnisse durch eigene ersetzen.Von Gottbergs Vorschlag hat einen Hintergedanken: Erst kürzlich ist die FSF mit dem öffentlichen Eingeständnis, in eine existenzielle Krise geraten zu sein, in die Offensive gegangen. Die FSF wurde 1993 gegründet, um Programmbeiträge von Privatsendern wie RTL, Pro Sieben oder Sat 1 vor der Ausstrahlung im Hinblick auf die Jugendschutzbestimmungen zu begutachten. Auch hier scheitert die Theorie an der Praxis. Von Gottberg: „Lehnt die FSF die Ausstrahlung eines Films ab, muss sich der Sender daran halten; trotz einer Freigabe können aber die Landesmedienanstalten den Film erneut prüfen und anders entscheiden. Bei dieser Doppelprüfung haben die Sender keine Planungssicherheit“. Nicht zuletzt deshalb haben die Sender der FSF in der Vergangenheit gerade TV-Movies nicht vorgelegt. Filme wie „Die heilige Hure“ (RTL) wurden dann nach der Ausstrahlung von den Landesmedienanstalten beanstandet. Auch diesen zweiten Schwachpunkt der FSF - es gibt keine direkte Vorlagepflicht - möchte von Gottberg beseitigt wissen; zur Zeit liegt es im Ermessen der Sender, was sie für jugendschutzrelevant halten.Umstrittene SelbstkontrolleDie Änderung des Rundfunkstaatsvertrages brachte eine weitere Schwächung der FSF mit sich: Die Freigabe indizierter Filme, vorher Aufgabe der FSF, obliegt nun den Jugendschutzbeauftragten der Landesmedienanstalten. Befürworter der FSF kritisieren diese Änderung, weil sie zwangsläufig zu einer Konkurrenzsituation zwischen FSF und Landesmedienanstalten geführt habe.
Ein Jugendmedienschützer: „Den Landesmedienanstalten bleibt gar keine andere Wahl; sie müssen vermitteln, sie seien die besseren Jugendschützer, und zu strengeren Ergebnissen kommen“.Wolf-Dieter Ring, Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) und Vorsitzender der Gemeinsamen Stelle Jugendschutz und Programm, verteidigt die Position der Landesmedienanstalten natürlich. Seine grundsätzliche Kritik an der FSF: „Selbstkontrolle stößt immer dann an ihre Grenzen, wenn die Interessen der Unternehmen, in diesem Fall also der Fernsehsender, in wesentlichen Punkten betroffen sind.“ In der Praxis habe die FSF gerade bei der Freigabe indizierter Filme sowie bei den TV-Movies „einige Defizite“. Ring geht zwar auch davon aus, dass „die Frage der Selbstkontrolle künftig eine große Rolle spielen“ werde; er hält es jedoch für eine „Illusion zu glauben, mit Selbstkontrolle könne man alles regeln“.Trotzdem plädiert Drewitz für ein „eigenverantwortliches Vorverfahren durch Selbstkontrolleinrichtungen plus Missbrauchskontrolle“. Um die Kompetenzfrage eindeutig zu regeln, denkt Joachim von Gottberg daher an gemeinsame Prüfungen von FSF und FSK. Die Freigabeverfahren und die Prüfkriterien beider Einrichtungen seien ohnehin aufeinander abgestimmt. Integriert werden solle außerdem die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS); sie ist die Instanz, die Filme, Tonträger, Computerspiele etcetera auf den Index setzt.Auch Folker Hönge, ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), hält „eine stärkere Zusammenfassung der Institutionen für den Jugendschutz für sinnvoll“.
Gerade im Zuge der Europäisierung des Medienmarktes sollten „Strukturen geschaffen werden, die dem zukünftigen europäischen Medienangebot gerecht werden“. Und dafür, glaubt von Gottberg, sei die Selbstkontrolle am besten geeignet. Sie könne viel mehr leisten, als ihr bislang zugebilligt worden sei, doch sie benötige einen vernünftigen gesetzlichen Rahmen; „ohne den ist sie tot, und das wäre für den Jugendschutz ein Desaster“.
Beitrag aus Heft »2000/05: Aktuelle Medientheoretische Reflexionen«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Wie sich Gewalt vermeiden lässt
Tilmann P. Gangloff: Wie sich Gewalt vermeiden lässt
Eine Frau geht mit ihren Einkäufen durch eine dunkle Seitenstraße, als sie Schritte hinter sich hört. Sie bekommt Angst, tritt aber mutig die Flucht nach vorn an, indem sie dem Mann ihre schwere Tüte in den Arm drückt und ihn bittet, ihr tragen zu helfen. Eine ganz ähnliche Situation in London: Ein Mädchen merkt, wie es von mehreren Jungs verfolgt wird. Auch sie spricht die Gruppe an, erklärt, sie sei fremd in der Stadt und fragt nach dem Weg. Am Ziel angekommen, lädt sie die Jungs zu einem Bier ein - und erfährt schockiert, dass sie soeben eine stadtbekannte Schlägertruppe „gezähmt“ hat.
Dies sind nur zwei von vielen Beispielen, die Jugendlichen helfen sollen, mit Aggressionen und Gewalt umzugehen. In gedruckter Form ergäbe die CD-ROM vermutlich ein Buch, dessen Umfang Jugendliche abschrecken würde. Mit dem PC aber wird aus dem didaktischen Projekt eine interaktive Reise. Verschiedene Menüs bilden dabei fünf Hauptwege, von denen lauter kleine Pfade abweichen, die wiederum ihre Hyper- und Subtexte haben. Reizvoll ist vor allem die Vielfalt der CD-ROM: Mal stößt man auf einen Fotoroman nach BRAVO-Vorbild, dann auf Interviews mit bewegten oder starren Bildern; ein Cartoon spielt mit der Metapher vom Wolf im Schafspelz. Entscheidend ist immer wieder die Aktivität des Nutzers, der eine Frage auf dem Bildschirm anklicken muss, um dann aus dem Lautsprecher die Antwort zu hören oder - zum Stichwort „Schwarzer Peter“ - eine Reihe von Spielkarten anklicken kann und dann über die Ursachen von Gewalt informiert wird.Natürlich lädt das Konzept ein, ziellos umherzustreifen.
Das führt dann dazu, dass man die Informationen unstrukturiert aufnimmt: Hier legt ein Biologe seine Aggressionstheorien dar, dort kann man sich einen Rap anhören, dann gibt’s einen Crashkurs in Gruppendynamik (Chef/ Befehlsempfänger/ Mitläufer), und schließlich warnt eine Werbeparodie vor dem Kauf von Schusswaffen (Gewinn bringend nur für die Firma Ballermann). Wünschenswert wären mehr bewegte Bilder und mehr Konzentration: Mancher Seitenpfad führt doch recht weit vom Hauptweg ab (zum Beispiel die gefälschten TV-Beiträge von Michael Born). Im fünfzigseitigen Beiheft wird das Konzept ausführlich dargelegt, außerdem gibt’s weitere Tipps zum richtigen Umgang mit Gewalt und Aggressivität; Pädagogen bekommen Anregungen für den Unterricht.
- Tilmann P. Gangloff: Viel Spaß mit Bob
Tilmann P. Gangloff: Viel Spaß mit Bob
Am Anfang war selbst das Mutterhaus skeptisch. Im Internet lasse sich kein Geld verdienen, und mit „paid content“, mit Inhalten also, für die der Nutzer zahlen muss, schon mal gar nicht. Branchenexperten prognostizierten allenfalls 3.000 Kunden. Ein Jahr später hat der Kindersender Super RTL alle Skeptiker eines Besseren belehrt: Das Lernangebot des Marktführers im Bereich Kinderfernsehen, der toggolino Club (www.toggolino.de), schreibt schon nach zwölf Monaten schwarze Zahlen. Matthias Büchs, als „Director Operations“ bei Super RTL gewissermaßen Bindeglied zwischen Programmgestaltern und Vermarktern, verrät das Erfolgsgeheimnis des Clubs: Im Unterschied zu vergleichbaren Internet-Angeboten verfügt Super RTL natürlich über eine bei der Zielgruppe ungemein prominente Werbeplattform. Gerade im Umfeld jener Sendungen, deren Helden auch auf toggolino.de eine Hauptrolle spielen, wird nach Kräften auf den Club hingewiesen. Das Werbevolumen entspricht laut Büchs einem siebenstelligen Betrag. Weil aber alles in einer Hand bleibt, handelt es sich um eine „Opportunitätsrechnung“: Dank der Cross-Promotion fließt kein einziger Cent. Für zusätzliche Reize sorgen die Werbepartner des Senders; so belohnte zum Beispiel Spielzeughändler my.toys neue Abonnenten mit Einkaufsgutscheinen. Bei den Kindern hatte Super RTL natürlich leichtes Spiel, doch es galt ja vor allem, die Eltern zu überzeugen; schließlich ist der Mitgliedsbeitrag mit 59 Euro pro Jahr nicht billig. Bislang sind rund 35.000 Familien der Meinung, dass der Toggolino Club sein Geld auch wert ist.
Tatsächlich bezieht sich die Kritik von Abonnenten, die ihre Mitgliedschaft gekündigt haben, in erster Linie auf den Preis; das Angebot selbst kommt bei Kindern und Eltern offenbar gleichermaßen gut an. Kein Wunder: Der Toggolino Club bietet im Prinzip ganz ähnliche Möglichkeiten wie eine gute Lern-CD-ROM, für die man im Laden auch gut und gern dreißig Euro bezahlen muss. Der Unterschied: Unter toggolino.de gibt’s gleich eine Vielzahl von Optionen. Rund um Super-RTL-Figuren wie Bob, den Baumeister, die kleinen Planeten Bing und Bong oder Barney, den freundlichen lila Drachen, können Vorschul- und Grundschulkinder ihre Geschicklichkeit testen und Rätsel oder Rechenaufgaben lösen. Trainiert werden dabei nicht nur die kleinen grauen Zellen, sondern auch der Umgang mit der Computermaus. Und weil die Spiele pädagogisch auch mal ein bisschen unkorrekt sind – so muss man zum Beispiel dem frechen Knolle aus „Bob, der Baumeister“ möglichst oft auf die Tonne hauen -, haben die Kinder viel Spaß dabei. Die Kinder nutzen den Toggolino Club nach Angaben von Büchs zwei- bis dreimal pro Monat; angesichts der Gebühren relativ selten also. Andererseits würden viele der Spiele auch ihren Reiz verlieren, wenn man sich täglich im Club tummelte. Büchs betont allerdings, dass das Angebot ständig erweitert „und deshalb nie langweilig“ werde. Trotzdem bewegten sich die Kosten im überschaubaren Rahmen.
Da die Einnahmen 2,1 Millionen Euro betragen und der Club schwarze Zahlen schreibt, dürften die Ausgaben zwischen 1,5 und 2 Millionen Euro liegen. Tatsächlich setzen die Club-Angebote, wie Büchs es formuliert, „sowohl inhaltlich als auch technisch auf bestehende Strukturen“ auf. Die Sprecher zum Beispiel sind die gleichen wie bei den TV-Serien; sie müssen für die Sprachaufgaben für Toggolino nicht eigens ins Studio kommen. Weitaus größere Kosten wird wohl der Kundenservice verursachen, schließlich musste Super RTL ein eigenes Call-Center einrichten. Dort dürfte man vor allem zwischen 18 und 21 Uhr viel Arbeit gehabt haben: Zu dieser Uhrzeit erfreut sich der Toggolino Club offenbar der größten Nachfrage, denn hin und wieder gab es doch einige Server-Probleme. Die seien aber, versichert Büchs, mittlerweile behoben. Dem guten Ruf hat es ohnehin nicht geschadet: 90 Prozent der Eltern gaben in einer Befragung an, sie würden den Club weiterempfehlen. Sie schätzen nicht zuletzt die Sicherheit: toggolino.de ist ein geschlossener Bereich, Kinder können ihn nur mit einem Passwort verlassen.
- Tilmann P. Gangloff: Lesen ist sexy
Tilmann P. Gangloff: Lesen ist sexy
Fernsehen ist kinderleicht: hinsetzen, einschalten, gucken. Deshalb hält es auch niemand für nötig, Kindern das Fernsehen beizubringen: Sie lernen es, indem sie es tun. Lesen hingegen ist schwer, Lesen muss man lernen. Aber wenn man es kann, macht es Spaß. Für die meisten ist dies allerdings der einzige Zugang zur Lektüre: Sie dient der reinen Unterhaltung. Laut regelmäßiger Umfragen des Allensbacher Instituts für Demoskopie greifen immer weniger junge Menschen (14 bis 29 Jahre) zur Zeitung, wenn sie sich über ein bestimmtes Thema näher informieren möchten. Zur Jahrtausendwende galt das noch für etwa die Hälfte der Befragten, heute nur für gut 38 Prozent. Selbst das Fernsehen (60,9 Prozent) ist bei der Informationssuche nicht mehr Leitmedium: Längst hat es seine Füh-rungsposition dem Internet (69,7 Prozent) überlassen müssen. Trendvergleiche belegen zwar ei-ne Erosion der Zeitungslektüre in allen Altersgruppen, doch bei Menschen unter dreißig kann man von einem Erdrutsch sprechen: Um auf dem Laufenden zu bleiben, genügt es der Mehrzahl völlig, regelmäßig Medien wie Fernsehen, Radio und Internet zu konsumieren. 1992 waren in dieser Altersgruppe noch 58 Prozent der Meinung, man sollte regelmäßig eine Tageszeitung lesen; mittlerweile hat sich die Zahl halbiert.
In Amerika ist dieses Phänomen schon länger zu beobachten. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf bezogen die meisten jungen Wähler ihre Informationen über die Kandidaten aus TV-Talkshows. Für Rüdiger Schulz ist das eine alarmierende Entwicklung. Der langjährige Projektleiter am Allensbacher Demoskopie-Institut denkt nicht zuletzt an die Ergebnisse der PISA-Studie, wenn er fordert: „Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung, die Bedeutung der Zeitungslektüre wieder aufzuwerten. Das Leben gelingt mit regelmäßiger Zeitungslektüre besser!“ Schulz, der im Auftrag der Verlage das Leseverhalten schon seit Jahrzehnten beobachtet, betont, es gehe ihm nicht „um die Gewinnoptimierung von Medienhäusern“. Auch wenn er es nicht so direkt formuliert: Er betrachtet die Qualitätszeitungen als unverzichtbare Stützen der Demokratie. Eine reine Internetnutzung verkürze das Blickfeld: „Beim Abruf konkreter Informationen leistet das Medium nützliche Dienste, aber das Verständnis von Zusammenhängen sowie die Fähigkeit, Pro und Contra abzuwägen, gehen verloren“. Dass es soweit gekommen ist, hat den Sozialwissenschaftler allerdings nicht überrascht.
Er beobachtet diese Tendenz seit 1984. Ausgerechnet in jenem Jahr, das durch George Orwells Roman gleichen Titels als Synonym für eine pessimistische Utopie gilt, ist hierzulande das kommerzielle Fernsehen eingeführt worden. Seither vollzieht sich auch in Deutschland eine ähnliche Entwicklung der Banalisierung wie schon seit Jahrzehnten in Amerika. „Wir leben in einer un-geistigen Zeit“, stellt Schulz mit Bedauern fest. Da Politik immer komplexer werde, „steigen vie-le Menschen einfach aus“. Ähnlich wie beim Klimawandel sei es aber noch nicht zu spät, Gegenmaßnahmen einzuleiten. Es gelte nun vor allem, den „Mehrwert der Zeitungslektüre“ herauszustellen. Der steht für ihn außer Frage, und zwar auch für junge Menschen. „Verschiedene Studien belegen: Ein anregendes Lesemilieu im Elternhaus wirkt sich außerordentlich positiv auf die berufliche Karriere aus“. Ausgerechnet dort, in den Familien, finden sich Zeitungen aber immer weniger. Es sei daher nötig, so Schulz, „in allen Bereichen, also bei Eltern, Schule, Politik und Wirtschaft, ein Problembewusstsein zu schaffen: Wohin führt diese Entwicklung?“ In die Verantwortung nimmt er vor allem die Schule, denn die Möglichkeiten der Tageszeitungen hält er für begrenzt. Freundlichere Leserführung, Layout-Optimierung und andere Reformen seien weitgehend ausgeschöpft. Schulz warnt eindringlich vor einer stärkeren Boulevardisierung: „Das ist kein Erfolgsrezept, wie die sinkende Auflage auch von Bild belegt“.
Es seien daher flankierende Maßnahmen der Medienpädagogik nötig: „PISA hat zwar alle erschüttert, aber konkrete Folgen gibt es nicht. Dabei zeigt sich deutlich: Das verstehende Lesen ist in Deutschland rückläufig. Es bedarf entsprechender Anstrengungen, die Zeitungslesekompetenz zu fördern“. Schulz verweist auf PISA-Spitzenreiter Finnland: „Dort gibt es Bestwerte bei der Lesekompetenz, weil auch bei jungen Leuten der Anteil der Zeitungsleser sehr hoch ist“. Das derzeitige Engagement der Verlage („Zeitung in der Schule“) hält Schulz nicht für ausreichend, um die Lesebarrieren der Jugendlichen zu überwinden: „Es genügt nicht, vier Wochen lang gratis eine Zeitung zu liefern“. Die Kooperation mit den Schulen müsse sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und dürfe sich auch nicht auf den Deutschunterricht beschränken: „Die Jugendlichen müssen dazu verführt werden, eine Tageszeitung in allen Teilen zu nutzen“. Das könne durchaus auch spielerische Züge haben, indem Schüler beispielsweise täglich nach der wichtigsten und der unwichtigsten Meldung suchen. Hilfreich seien auch medienpädagogische Projekte etwa in Form von Baukästen.
Für das Fernsehen gibt es solche Materialien be-reits; Kinder können auf diese Weise lernen, wie Werbung funktioniert. Schulz weist ausdrücklich daraufhin, dass er das Internet keineswegs verteufele. Er hält es im Gegenteil „für optimal, die Stärken beider Medien miteinander zu verknüpfen“. Im Gegensatz zum ,Web’ aber sei das Zeitunglesen auch ein sinnliches Vergnügen: „weil man durch Bilder und Überschriften dazu verführt wird, sich mit Themen zu beschäftigen, die man als Suchbegriff nie eingegeben hätte“. Tageszeitungen sind also doch, was ihnen Digitaleuphoriker gern absprechen: sexy. Nicht bloß Finnland liefert übrigens den Beweis, dass sich die beiden Medien keineswegs ausschließen: Hier wie dort sind in-tensive Internet-Nutzerinnen und -nutzer in der Regel auch überdurchschnittlich aktive Zeitungsleserinnen und -leser.
Beitrag aus Heft »2007/03: mobil kommunizieren, spielen und lernen«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Viel Mittelmaß - Bloß keine Experimente
Tilmann P. Gangloff: Viel Mittelmaß - Bloß keine Experimente
Es gibt kaum einen Marktzustand, den Produzenten mehr hassen als diesen: Bei einem „Käufermarkt“ befinden sich Angebot und Nachfrage in einem äußerst ungesunden Verhältnis; aus Sicht des Verkäufers, wohlgemerkt. Für den Einkäufer hingegen ist es das Paradies: Weil es ein Überangebot an Produktionen gibt, ist die Auswahl groß, der Preis aber klein. Der Bereich des Kinderfernsehens ist gerade dabei, diesen Zustand hinter sich zu lassen. All jene Zeichentrickserien, die während des zurückliegenden Booms, als der Neue Markt viel Geld in die Kassen deutscher Firmen strömen ließ, angestoßen wurden, sind entweder bereits produziert oder auf Eis gelegt. Der gesamte Bereich beruhigt sich also langsam wieder. Billiger geworden war ohnehin bloß das Füllmaterial; für die richtig guten Serien mussten Redakteure nach wie vor tief in die Tasche greifen. Das wird sich auch so bald nicht ändern, erst recht nicht, wenn es in einem Land mehrere Interessenten für ein Produkt gibt. Kaufmessen für Kinderfernsehen wie die Mipcom Junior in Cannes zeigen deutlich, wie sehr sich der Markt stabilisiert. Weit weniger als die Hälfte der präsentierten Programme waren wirklich neu, und selbst von diesen waren diverse schon zuvor als Pilot präsentiert worden. Es wird wieder auf Bedarf produziert, Produzenten und Sender arbeiten schon bei der Stoffentwicklung zusammen. Bestes Beispiel: die ZDF-Serie „Wicked Science“.
Für den Mainzer Sender und seine Vertriebstochter könnte sich das Projekt als Schnäppchen erweisen: Das Recht, „Wicked Science“ nicht nur auszustrahlen, sondern auch in alle Welt verkaufen zu dürfen, hat das ZDF nicht zuletzt dank der großzügigen australischen Film- und Fernsehförderung bloß 25 Prozent des Produktions-Budgets gekostet.Im Mittelpunkt der Geschichten stehen zwei junge Teenager, die durch einen Unfall im Labor zu genialen Wissenschaftlern werden. Während der Junge nur Gutes im Sinn hat und seine Fähigkeiten zum Wohl der Menschheit einsetzen will, denkt das Mädchen ausschließlich an den eigenen Vorteil. Ganz abgesehen davon, dass Mädchen als Fieslinge im Kinderfernsehen äußerst selten sind (sie ist eifersüchtig, weil der Junge ihr eine andere vorzieht). „Wicked Science“ hat Effekte zu bieten, dass einem die Spucke wegbleibt. Ein Tyrannosaurus Rex bricht durch die Wand eines Schuppens, Rasenmäher fliegen durch die Luft und Autos werden unsichtbar. Das Beste aber ist der Preis: Der Produktions-Etat für sämtliche 26 Folgen à 26 Minuten lag insgesamt bloß bei 5,8 Millionen Euro. Denn in Australien herrschen andere Gesetze, dort dürfen Kinder länger als bloß drei Stunden am Tag drehen; und das Produzieren ist insgesamt ohnehin preiswerter. Trotzdem ist „Wicked Science“ laut Jonathan M. Shiff die teuerste australische Kinderserie in der Historie des australischen Kinderfernsehens. Allerdings hat Produzent Shiff mit der Serie durchaus ein Kunststück vollbracht, denn die Bilder sehen dank der Computereffekte deutlich teurer aus. Im KiKa wird „Wicked Science“ (einen deutschen Titel gibt es noch nicht) ab April 2004 gegen 16.30 Uhr zu sehen sein. Damit setzt der Kinderkanal eine Linie fort, zu der zurzeit auch die Disney-Produktion „Lizzie McGuire“ (montags bis freitags um 16.25 Uhr) passt.
Die Serie hat strenggenommen mehr Ähnlichkeiten mit der RTL-Sitcom „Mein Leben & ich“ als mit Kinderfernsehen. „Tweens“ nennt die auf Typologien versessene Branche diese Zielgruppe: junge Menschen zwischen 9 und 14 Jahren, keine richtigen Kinder mehr (zumindest nach eigener Anschauung), aber auch noch keine Teenager. Irgendwas dazwischen eben: Tweens. Wenn es überhaupt derzeit einen Trend im Kinderfernsehen gibt, dann diesen: Der Markt hat den jungen Teenagern deutlich mehr zu bieten als noch vor wenigen Jahren. Dass er sie überhaupt entdeckt hat, daran ist natürlich die Werbung treibende Industrie Schuld. Allein in Amerika gibt es 28 Millionen „Tweenager“, und die verfügen angeblich über ein Kapitalpotenzial von sage und schreibe 38 Milliarden Dollar. Europäische „Tweens“ sind nicht ganz so spendabel wie die jungen Amerikaner: 616 Millionen gibt es laut einer Disney-Studie, und sie geben 6 Milliarden Euro pro Jahr für all die Dinge aus, ohne die man als junger Teenager nun mal nicht leben kann. Jetzt haben auch deutsche Sender diese Zielgruppe entdeckt. SuperRTL zum Beispiel versucht sich mit „Drachenfels“ erstmals an einer eigenen Sitcom. Produziert wird die Serie von TV-Loonland. Das Ergebnis kann sich zumindest in technischer Hinsicht sehen lassen; ob es auch beim Publikum des Marktführers im deutschen Kinderfernsehen ankommt, ist eine andere Frage. Die Machart orientiert sich an den „Dinos“, eine Puppenserie, die mit viel Erfolg schon auf diversen deutschen Sendern zu sehen gewesen ist. „Drachenfels“ ist laut TV-Loonland die weltweit erste Produktion, bei deren Herstellung „professionelles Puppenspiel mit High-Tech-Computeranimation“ verbunden wird. Die Sitcom spielt in einer von Drachen bevölkerten Welt. Allerdings haben die Figuren unübersehbare menschliche Züge; und menschliche Eigenschaften ohnehin.
Ob „Drachenfels“ auch zum umsatzstarken Merchandising-Geschäft wird, muss sich erst noch zeigen; in die Dimensionen von Baumeister Bob oder Spongebob Schwammkopf dürfte die Serie kaum vorstoßen. Der Doppel-Bob wird SuperRTL auch in diesem Jahr zu einem Top-Ergebnis verhelfen. „Bob der Baumeister“ ist der derzeit größte Umsatzbringer im Merchandising-Bereich. Dank seiner starken Position im Markt wird SuperRTL nun auch von seinen Gesellschaftern (RTL und Disney) ernster genommen. Die TV-Erlöse sind gewachsen, die Merchandising-Umsätze sind gestiegen, und gespart wird auch noch. Sie sind ohne Frage gute Kaufleute beim kleinen Kölner Kindersender: Das Ergebnis für das Jahr 2003 wird laut Geschäftsführer Claude Schmit doppelt so gut ausfallen wie im Vorjahr, und zwar nicht zuletzt wegen der guten Vermarktung des Programms. SuperRTL fungiert dabei geschickter Weise nur als Agentur. In der Regel, erläutert Schmit, sei es nicht sinnvoll, die kompletten Rechte an einer Serie zu kaufen; eine bloße Beteiligung sei meist schon profitabel genug – und weniger riskant. Mitunter hätte es aber vermutlich gern ein bisschen mehr sein dürfen: Baumeister Bob brachte seinem Produzenten HIT allein in Deutschland als Spielzeugfigur 120 Millionen Euro ein; SuperRTL ist immerhin mit 10 Prozent dabei. Normalerweise lässt sich der Marktführer die Prominenz der Vermarktungsplattform besser bezahlen. Im Allgemeinen kassieren Lizenzagenturen 20 bis 25 Prozent Provision; SuperRTL am liebsten 40. Im Detail sind diese Deals übrigens durchaus pikant: Anderswo sind Disney und Nickelodeon erbitterte Konkurrenten, in Deutschland verdingt sich eine Disney-Tochter als Lizenzagentur für Nickelodeon-Figuren.
- Tilmann P. Gangloff: nachgefragt: Ein Jahr nach der Reform des Jugendschutzgesetzes
Tilmann P. Gangloff: nachgefragt: Ein Jahr nach der Reform des Jugendschutzgesetzes
Vor einem Jahr ist das Jugendschutzgesetz reformiert worden: Was hat sich seitdem bewährt, wo gibt es noch Handlungsbedarf, und wohin führt der Weg? Tilmann P. Gangloff hat bei mehreren Expert*innen nachgefragt.
Mit dem Jugendmedienschutz verhält es sich ähnlich wie mit dem Klimawandel: Die meisten Eltern halten das Thema für wichtig, aber ihre Eigeninitiative ist überschaubar. Seit dem 1. Mai ist das 2021 reformierte Jugendschutzgesetz ein Jahr in Kraft; als hilfreich hat es sich nur bedingt erwiesen. Das Führungspersonal der Einrichtungen sowohl der Selbstkontrolle wie auch der behördlichen Aufsicht sieht noch einigen Handlungsbedarf.
Selbst hartgesottene Eltern wären vermutlich nicht damit einverstanden, dass sich ihre Kinder Pornografie anschauen. Laut dem von der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia (FSM) herausgegebenen Jugendmedienschutzindex sorgen sich 73 Prozent der Befragten um die Sicherheit ihrer Kinder beim Surfen im Netz. Als Gefahren gelten unter anderem der Kontakt zu Fremden, verstörende Gewalt- oder Pornografie Inhalte, Cybermobbing und Datendiebstahl. Das ist die gute Nachricht: Die meisten Eltern machen sich offenkundig Gedanken über das Thema. Die schlechte: Sie ziehen keine Konsequenzen daraus. In dieser Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis sieht Joachim von Gottberg, Honorarprofessor für das Fach Medienethik/Medienpädagogik an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf (Potsdam) und bis Ende 2018 Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF, Berlin), eins der Hauptprobleme beim Jugendmedienschutz. „Fragt man Eltern, wie gefährdend Medienkonsum für Kinder und Jugendliche sei und ob die Anbieter mehr zu deren Schutz tun sollten, sagen sie mehrheitlich: ‚Auf jeden Fall!’ Fragt man nach, ob die Computer in ihrem Haushalt durch eine Jugendschutzsoftware geschützt seien, stellt sich raus: Die Differenz zwischen der Erwartung an die Anbieter, Schutzprogramme zur Verfügung zu stellen, und der eigenen Initiative, diese Programme dann auch zu installieren und zu nutzen, ist sehr, sehr groß.“
Auch deshalb hält es Gottberg für absurd zu glauben, Jugendmedienschutz würde wie in der analogen Zeit funktionieren, als die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) „einen Film ab 18 freigab und die Kinobesitzer zumindest theoretisch kontrollieren konnten, ob die Besucher auch das entsprechende Alter hatten.“ Der Versuch, dieses System aus den Fünfzigerjahren ins Internetzeitalter zu übertragen, habe eine Regelungswut ohne Effekte auf das Nutzungsverhalten zur Folge. Damit könnte Gottberg dennoch leben, wenn der Aufwand allein von den Anbietern finanziert würde, aber eine Vielzahl von Behörden werde durch öffentliche Gelder finanziert, „und dieses Geld wäre für eine systematische Medienpädagogik in der schulischen und außerschulischen Jugendbildung wahrscheinlich besser investiert.“
Ausbau statt Verschlankung
Anstatt die Zahl oder die Größe der involvierten Institutionen zu verschlanken, ist die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) im Zuge der Reform des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) zur Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) ausgebaut worden. Die Bonner BPjM hat in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass indizierte Bücher, Zeitschriften oder Filme nur noch für Erwachsene zugänglich sind, die BzKJ soll die Einhaltung des neuen JuSchG-Rahmens überwachen. Prompt monierten die Länder, dass es zu Kompetenzüberschneidungen mit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) kommen werde. Rundfunk und Kultur sind Ländersache, die KJM ist eine gemeinsame Einrichtung der Landesmedienanstalten. Die Chefs der beiden Einrichtungen versichern allerdings, es gebe in dieser Hinsicht „keinerlei Kompetenzunklarheiten“. Dass sich BzKJ-Direktor Sebastian Gutknecht und der KJM-Vorsitzende Marc Jan Eumann, Direktor der Medienanstalt Rheinland-Pfalz, seit fast zwanzig Jahren kennen, dürfte die Kooperation erheblich erleichtern. Gottberg hält es trotzdem für „rechtlich fragwürdig, wenn eine Bundeszentrale, die faktisch durch die Indizierung in die Medienfreiheit eingreifen kann – indizierte Filme dürfen zum Beispiel nicht im Fernsehen ausgestrahlt werden – nun selbst auch an die Spitze des medienethischen Diskurses gestellt wird.“
In anderer Hinsicht ist das reformierte JuSchG nach Ansicht von Jugendschützer*innen immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Bisher war Jugendmedienschutz in erster Linie auf Wirkungsaspekte ausgerichtet: sozialethisches Verhaltes, Gewaltwirkung, jugendgefährdende Inhalte wie etwa Anreiz zum Alkohol- oder Drogenkonsum. Das neue JuSchG bezieht aber auch folgende Interaktionsrisiken mit ein: Cybermobbing, Cybergrooming, Hatespeech, Challenges und mehr. Hier sollen die Anbieter Vorsorgemaßnahmen ergreifen, im Fachjargon ‚Safety by Design‘. Solche Ansätze, sagt FSF-Geschäftsführerin Claudia Mikat, „haben den großen Charme, auch all’ jene Haushalte zu erreichen, die sich nicht um den Jugendschutz kümmern.“ Sie versteht daher nicht, warum nicht auf eine Vorinstallation gedrängt werde, zumal mit dem anerkannten Programm JusProg bereits eine Lösung existiere. Eumann spricht dagegen im Zusammenhang mit Jugendmedienschutz von einem „Verantwortungs-Viereck“: die Erziehungsberechtigten, die Gesellschaft, die sich über die Gesetzgebung artikuliere, BzKJ und KJM sowie die Anbieter. Es gehöre zwar „zur Wahrheit, dass nicht alle großen Anbieter ihrer Verantwortung gerecht werden“, aber Eltern seien dafür verantwortlich, „welche Möglichkeiten sie ihren Kindern offerieren. Deshalb befürworten wir Altersverifikationssysteme und Parental-Control-Systeme.“ Der KJM-Vorsitzende räumt allerdings ein, dass sich viele Anbieter „einen schlanken Fuß machen, indem sie die Inhalte in der höchsten Alterseinstufung ab 18 einstufen und voraussetzen, dass auf dem heimischen PC ein Jugendschutzprogramm installiert ist. Das ist tatsächlich viel zu selten der Fall.“ Wenn man beispielsweise bei einer populären Suchmaschine den strafrechtlich relevanten Begriff ‚Tierpornografie‘ eingebe, bekomme man verstörende Ergebnisse: „Die Betreiberin verweist zwar auf die Option ‚Safe Search’, aber die ist nicht so leicht auffindbar. Bei anderen Suchmaschinen erzielen sie keine vergleichbaren Ergebnisse, hier funktioniert der Kinder- und Jugendmedienschutz wesentlich besser.“
Ein Inhalt, mehrere Prüfungen
Ein weiterer Kritikpunkt gilt der mehrfachen Prüfung ein und desselben Medieninhalts, der je nach Vertriebsweg unterschiedlichen Gesetzen und damit auch unterschiedlichen Selbstkontrollen unterliegt. Hier gibt es einen ‚missing link‘ in der Gesetzgebung, weil eine konkrete Vereinbarung zwischen einer Selbstkontrolle im Sinne des JMStV und den Obersten Landesjugendbehörden fehlt. Die FSF, klagt Mikat, versuche bereits geraume Zeit, eine klare Aussage zu bekommen, was genau eigentlich zu tun sei, um eine solche Vereinbarung zu treffen. „Dabei geht es ‚nur’ darum, etwas zu erreichen, was heutzutage eigentlich selbstverständlich sein sollte und in anderen Ländern längst selbstverständlich ist: dass eine Freigabe für ein und denselben Inhalt sowohl im Fernsehen als auch auf DVD und Streamingportalen gilt. Bis heute können wir Anbietern keine Freigabe für die ganze Kette an Verwertungsmöglichkeiten zusichern.“
Eine ‚schlankere Lösung‘ sähe so aus, dass zum Beispiel eine Serie nur in der FSF geprüft werde. Die Mitglieder der Prüfausschüsse müssen laut JMStV ohnehin neutrale Personen sein, die sich in besonderer Weise mit dem Jugendschutz befassen. „Die OLJB erhalten darüber hinaus Benennungsrechte für Prüfende und wirken im FSF-Kuratorium mit, das die Prüfungen begleitet und die Prüfgrundsätze fortschreibt. Sie sind auch bereits heute in der KJM beteiligt, die die Prüfungen beaufsichtigt. Die FSF dokumentiert die Prüfentscheidungen, macht transparent, wie sie zustande gekommen sind und stellt die Akte inklusive Link zum Inhalt online zur Verfügung; zur Bestätigung oder auch Ablehnung entweder durch die KJM oder die OLJB.“ Ein solches Verfahren könne innerhalb von ein, zwei Tagen abgeschlossen sein; das sei heutzutage auch notwendig.
Die FSK dient immer noch als Vorbild
Der Gesetzgeber, moniert Mikat, habe es angesichts des völlig neuen Angebots der Streamingdienste jedoch leider verpasst, „Althergebrachtes aufzubrechen und etwas Neues auszuprobieren.“ Die Verfahren aus dem Bereich des Kinofilms und der DVD seien nur bedingt auf die Online-Welt übertragbar: „Die Vorlagepflicht von Trägermedien beispielsweise ist angesichts der Entwicklung des Internets ein deutlicher Anachronismus. Nach wie vor müssen in Deutschland auch harmlose Inhalte, wenn sie auf DVD erscheinen, unter Beteiligung eines staatlichen Vertreters oder einer staatlichen Vertreterin geprüft und freigegeben werden, weil sie sonst nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden dürfen.“ Die Vorstellung, man könne und müsse jeden Inhalt im Internet vorab begutachten und mit einer Altersfreigabe versehen, passe nicht in die Zeit. FSK-Geschäftsführer Stefan Linz sieht das ähnlich: „Die größte Schwachstelle des Jugendmedienschutzes in Deutschland ist weiterhin eine an Vertriebswegen orientierte divergente Regulierung in einer konvergenten Medienwelt.“ Immerhin werde mittlerweile allgemein anerkannt, „dass die bestehende divergente Regulierung von Offline- und Online-Medienangeboten in Jugendschutzgesetz und Jugendmedienschutz-Staatsvertrag unzeitgemäß sowie verfassungsrechtlich problematisch ist.“ Eine neue Balance müsse jedoch auch „für die gesetzliche Regulierung von medialen Inhalten unabhängig von Vertriebswegen gefunden werden, denn die Konvergenz der Medien ist längst Realität.“
Eine weitere JuSchG-Vorgabe wartet ebenfalls noch auf eine praxisnahe Realisierung: Das Gesetz schreibt vor, dass neben der Alterskennzeichnung mit Hilfe von Symbolen oder Stichworten, sogenannten Deskriptoren, erläutert wird, warum ein Film oder ein Spiel ab 6, 12, 16 oder 18 Jahren freigegeben sind. In Holland existiert das bereits: Beim niederländischen Freigabemodell Kijkwijzer gibt es neben der Altersfreigabe einprägsame Symbole für Gewalt, Angst, Sex, Sprachgebrauch oder Drogenkonsum. Als entsprechende Sinnbilder dienen zum Beispiel eine Faust, eine Spinne oder eine Spritze. Solche Deskriptoren, merkt Linz an, seien gerade bei der Altersfreigabe ab sechs Jahren eine besondere Herausforderung. Grundsätzlich, versichert der FSK-Geschäftsführer, sei es der Filmwirtschaft ein Anliegen, die Freigaben so transparent wie möglich zu machen. Die FSK veröffentliche seit 2010 Kurzbegründungen für alle Kinofilme in Deutschland. Darin würden auch komplexere Wirkzusammenhänge und Kontextfaktoren berücksichtigt.
Beitrag aus Heft »2022/03 Digitale Jugendarbeit – Perspektiven zur Professionalisierung«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P.Gengloff: Kaum vertippt - schon auf der Pornoseite
Tilmann P.Gengloff: Kaum vertippt - schon auf der Pornoseite
Alle machen es. Schüler und Studenten, Journalisten und Lehrer, selbst Hausfrauen und Rentner. Wer im Internet nach Informationen sucht, tut das zumeist mit Hilfe einer Suchmaschine. Muss er auch: Es gibt schätzungsweise 550 Milliarden Internetseiten, und täglich kommen rund 7 Millionen dazu.
Google ist klarer Marktführer, und weil die Firma ihre Technologie auch an andere Provider verkauft hat, beherrscht sie praktisch die komplette Branche. Aus Sicht der Nutzer ist das allerdings eine schlechte Nachricht: weil die Marktführerschaft praktisch gleichbedeutend mit einem Monopol ist.
Und da die Suchmaschinen schätzungsweise bloß ein Drittel des gesamten Internet-Angebots erfassen, klagen Kritiker: Was Google nicht als Treffer anbietet, existiert auch nicht. Diese Erkenntnis ist einer der wesentlichen Aspekte einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die an den Universitäten München und Münster durchgeführt wurde...
Beitrag aus Heft »2003/04: Medienpraxis - Konzepte und Perspektiven«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: "Irgendwie anders"
Tilmann P. Gangloff: "Irgendwie anders"
Menschen haben Angst vor allem, das anders ist. Also braucht man ihnen bloß klar zu machen, dass Anderssein nichts Bedrohliches, sondern etwas Alltägliches ist. So einfach ist das? Bei Kindern vielleicht schon. Haben sie erst einige der Projekte absolviert, die in der Broschüre "gi'me 5 - Projektideen für Schule und Jugendarbeit" vorgestellt werden, sogar ganz sicher. Kinder erfahren mit Hilfe der Gruppenarbeiten, wie langweilig die Welt wäre, wenn alle Menschen gleich aussähen und einer Meinung wären. Sie lernen, dass Wut nichts Verbotenes ist und ihren Platz braucht und wie gemein es ist, jemanden allein zu lassen, bloß weil er anders ist. Bei der einfachsten Übung malen die Kinder die Umrisse ihrer Hand auf Pappe oder hartes Papier, schneiden sie aus und gestalten sie nach eigener Inspiration. Im Stuhlkreis werden die Hände dann verglichen: Alle haben die gleiche Form, sehen aber unterschiedlich aus.
Ungleich aufwändiger sind die weiteren Projekte, die neunzig Minuten oder gar ganze Tage in Anspruch nehmen. Beim Stationsspiel "So bin ich!" sollen sich die Kinder selbst auf die Spur kommen, indem sie einen Steckbrief von sich ausfüllen, in Rollenspielen nach Lösungen für vorgegebene Konflikte suchen (ein Gameboy ist verschwunden; sofort wird Achmet verdächtigt), von einer Heldentat berichten, die sie begangen haben, und ihre Träume schildern. Für alle Stationen bietet die Broschüre Materialien, die kopiert werden können. Beim Tagesprojekt "Wenn alle gleich aussehen" lernen die Kinder, dass es nur wenig gibt, was wirklich gleich ist. Auch hier bietet die Broschüre vorgedruckte Auftragskarten: Im Workshop "Fotosafari" sollen die Kinder Dinge suchen, die absolut identisch sind, und diese dann mit dem Fotoapparat dokumentieren. Um "Auffallen" geht es im zweiten Workshop: Die Kinder werden paarweise zum Beispiel in die Fußgängerzone geschickt; ein Kind ist verkleidet, das andere soll beobachten, wie die Umwelt reagiert, und seine Beobachtungen mit Hilfe eines Kassettenrecorders festhalten.
Hinzu kommen Interviews, Theaterspiele und eine Schreib- und Gedichtwerkstatt. Nicht minder komplex ist das Tagesprojekt "Irgendwie anders". Es basiert auf dem gleichnamigen Buch, das die Freundschaft zwischen zwei diskriminierten Wesen schildert. Hier können die Kinder die Erfahrung machen, wie es ist, ausgegrenzt zu werden. Dafür gestalten sie einen Fotoroman, einen Comic, ein Hörspiel und einen Film. Auch hier sind die Details auf entsprechenden Auftragskarten vorgegeben. Die sechzigseitige Broschüre hat noch weitere Projekte zu bieten. Alle haben unterschiedliche Ziele und bieten vielfältigste Vorgehensweisen, so dass die teilnehmenden Kinder nebenbei auch noch eine Menge Medienkompetenz erlernen. Jede Projektbeschreibung beginnt mit einer Schilderung der Ziele sowie organisatorischen Tipps und Hinweisen. Im Anhang werden weitere Ideen für ganze Projektwochen sowie Tipps für zusätzliche Materialien aus den Bereichen Internet, Film und Literatur aufgeführt. "gi'me 5" ist eine Initiative von ARD, ZDF und KI.KA. Die Broschüre ist im Auftrag des ZDF-Programmbereichs Kinder- und Jugend entstanden. Interessenten können sie sich aus dem Internet herunterladen (www.tivi.de, Rubrik "Informationen für Erwachsene"). Per Post wird sie vom ZDF gegen 1,44 Euro in Briefmarken verschickt (ZDF tivi, Stichwort "Gi'me 5", 55100 Mainz).
- Tillmann P. Gangloff: Lernen soll wieder Spaß machen - Eine Tagung in Köln
Tillmann P. Gangloff: Lernen soll wieder Spaß machen - Eine Tagung in Köln
Angesichts der Pisa-Studie sprechen Pädagogen von einer neuen "Bildungskatastrophe". Abhilfe soll nun ausgerechnet das traditionell als Zeitverschwendung gegeißelte Fernsehen schaffen. Gefordert sind neben den Programmmachern vor allem die Schulen. Bei einer von der Produktionsfirma Endemol ("Wer wird Millionär?") organisierten Medientagung in Brühl bei Köln zum Thema "Qualitätsfernsehen für Kinder im Wandel der Zeit" warf Ben Bachmair den Lehreinrichtungen vor, sie hätten es bis heute nicht verstanden, die populäre Kinderkultur in den Schulbetrieb zu integrieren.
Es sei, klagte der renommierte Medienpädagoge, kaum nachzuvollziehen, dass Schüler angeblich keine Vokabeln lernen, aber sämtliche Pokémons 'runterrasseln' könnten.Gerade das Fernsehen trage zudem enorm zur Lesekompetenz vor allem von Ausländerkindern bei. Aus dieser Gruppe stammt ein Großteil jener Schüler, bei denen die Pisa-Studie mangelhafte Lesekompetenz festgestellt hat. Interessanterweise, so die Erkenntnis von Bachmairs eigenen Untersuchungen, seien diese Kinder sehr wohl in der Lage, komplexe Tabellen wie etwa die Ergebnisse eines Formel-1-Rennens auf Anhieb zu entschlüsseln; eine Herausforderung, an der der Pädagoge, wie er gestand, regelmäßig scheitert.
In Sportsendungen gebe es eine Vielzahl solcher Übersichten, die für angeblich leseschwache Kinder offenbar kein Problem darstellten. Bachmair wies auf diese auffällige Spaltung zwischen Lesen im Alltag und in der Schule hin: Die betroffenen Schüler seien zwar in der Lage, via Bildschirm so genannte diskontinuierliche Texte zu entschlüsseln, scheiterten aber am fortlaufenden Text etwa eines Romans ...(den vollständigen Artikel finden Sie in merz 2003/01 S. 46)
- Tilmann P.Gangloff: Wie ist das mit dem Tod?
Tilmann P.Gangloff: Wie ist das mit dem Tod?
Der Tod hat in unserer Gesellschaft einen festen Platz: In den Nachrichtensendungen. Aus dem Alltag ist er gründlich verbannt. Wie also soll man Kindern etwas über das Sterben erzählen? Der „Sendung mit der Maus“ ist das mit dem Film über Katharina vor einigen Jahren vorzüglich gelungen. Doch weil man Katharina kennen gelernt hatte, bevor sie starb, war der Film zwangsläufig auch unendlich traurig. Willi Weitzel hat’s auch probiert. Ausgerechnet Willi, das große Kind, der immer so gern Faxen macht!Weitzel ist derzeit neben Ralph Caspers der beliebteste Moderator im Kinderfernsehen. Kein Wunder, denn Willi benimmt sich gegenüber den Erwachsenen wie die Kinder das auch gern tun würden: Er darf dauernd frech sein und wird trotzdem respektiert. Aber er kann auch anders, wie die Folge „Wie ist das mit dem Tod?“ zeigt. Dieser Film lebt nicht allein von Willis Witz, im Gegenteil. Ohne unnötiges Pathos setzt er sich mit dem diffizilen Thema auseinander. Es sind vor allem Willis Fragen, die ihn für Kinder so wertvoll machen. „Seid ihr bei der Arbeit traurig?“, will er von den Männern wissen, die die Gräber ausheben; und warum man Tote nicht einfach so beerdige, sondern immer nur im Sarg. „Damit man mit dem Tod besser umgehen kann, ist es gut, darüber zu reden“, sagt Willi. Er tut das, ohne dabei wie ein Mitarbeiter von „Pietät & Takt“ zu klingen. Der Film ist wie geschaffen für alle möglichen Projekte, bei denen Kinder etwas über den Tod lernen sollen.
Mit Fug und Recht bekommt Willi Weitzel den diesjährigen Erich-Kästner-Preis für das beste Kinderfernsehen. Seit 1996 gibt es diesen Preis, und nicht immer war es leicht, drei Finalisten zu benennen. Noch vor zwei Jahren lag die Zahl der Einreichungen bei gerade mal 23; in diesem Jahr waren es mit 43 fast doppelt so viel. Über Qualität sagt diese Anzahl zwar noch gar nichts, sie belegt jedoch, dass sich die verschiedenen Sender mit Kinderprogramm nicht auf den Einkauf beschränken.Immerhin: Der vermeintlich unvermeidliche Zeigefinger im Kinderfernsehen ist deutlich kleiner geworden, die Produktionen gehen den Machern leichter von der Hand, es gibt deutlich mehr Spielfreude. Trotzdem sind echte, authentische Personen wie etwa die Familie einer protestantischen Pfarrerin in der Serie „Vorsicht - keine Engel“ die Ausnahme: Figuren, die nicht aussehen, als kämen sie frisch aus einem Werbespot. Die mit Unterstützung der evangelischen Kirche entstandene Serie belegt, dass Authentizität keineswegs dann entsteht, wenn man die Kamera auf Dilettanten richtet und den Menschen bloß aufs Maul schaut, sondern vielmehr das Ergebnis harter Arbeit ist.Rund die Hälfte der Einreichungen für den Erich-Kästner-Preis kam zwar nicht ohne Drehbuchdialoge, aber doch ohne Spielhandlung aus: Im Bereich der Informations- und Dokumentationsfilme kann man in der Tat von einem Boom sprechen. Bestes Beispiel: das Wissensmagazin „Wissen macht Ah!“ vom WDR, in dem komplizierteste naturwissenschaftliche Phänomene oft genug auf verblüffend einfache und entsprechend eingängige Weise erklärt werden. Meist sind es die schlichtesten Einfälle, die für die größten Aha-Effekte sorgen.
Imposant ist auch immer wieder der Einfallsreichtum von Redaktion, Autoren und Moderatoren, die offenbar selbst entsprechend wissbegierig sind: Auf die Idee, das so genannte Lampenfieber tatsächlich mit dem Fieberthermometer zu überprüfen, muss man erst mal kommen. Auch hier stellen die Moderatoren Ralph Caspers und Shary Reeves lauter Fragen, mit denen Kinder ihre Eltern löchern könnten: warum man zwei Augen hat zum Beispiel oder warum man morgens aus dem Mund riecht.Neben „Wissen macht Ah!“ entsprach die Qualität der Wissens-, Info- und Doku-Sendungen dem soliden Durchschnitt. Oft zeigt sich, wie wichtig bei Produktionen dieser Art die Person ist, die den Film tragen soll. Die meisten Kinder wirken vor der Kamera mittlerweile wie Nachwuchsmoderatoren, weil sie ihren Idolen nacheifern: Durch den Irrglauben, so „cool“ wie möglich auftreten zu müssen, geht zwangsläufig jede Natürlichkeit und erst recht jede Betroffenheit verloren.So sehr die Entwicklung im dokumentarischen Bereich dennoch zu begrüßen ist: Fiktionale Produktionen spielten bei der Preisfindung praktisch keine Rolle. Einzig positiv diskutiert wurde „Vorsicht - keine Engel!“. Geradeaus erzählt (Buch: Katharina Reschke), kein Schnickschnack, sehr schön die Perspektive von Kindern eingenommen, dank der Kürze von jeweils 15 Minuten zudem ungemein kompakt und außerdem sorgfältig inszeniert (Regie: Nicolai Rohde). In ihrem Genre war die Serie konkurrenzlos.
Und weil die Serie außerdem sehr gut besetzt ist und durch ihre genauen Alltagsbeobachtungen imponiert, ist es eigentlich schade, dass es den Erich-Kästner-Fernsehpreis nicht in zwei Kategorien gibt: fiktional und nicht-fiktional.Tilmann P. GangloffDen Erich-Kästner-Fernsehpreis „für das beste deutschsprachige Kinder- und Jugendprogramm“ gibt es seit 1996. Zu dem Wettbewerb dürfen alle deutschsprachigen TV-Sender beliebig viele Sendungen einreichen, die sich an Zuschauer im Alter von 3 bis 14 Jahren richten. Der Preis ist mit 25.500 Euro dotiert und wird an Sendungen vergeben, die sich „durch kreative, innovative Gestaltung von kinder- und jugendspezifischen Themen hervorheben“ und „die Bildsprache des Fernsehens bereichern“. Gestiftet wird das Preisgeld von der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF), die Ausführung liegt bei der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ (HFF). Preisträger 2003 ist Willi Weitzel, Moderator der Informationsreihe „Willi wills wissen“ (Bayerischer Rundfunk), für die Ausgabe „Wie ist das mit dem Tod?“. Nominiert waren die von der evangelischen Kirche mitproduzierte KI.KA-Serie „Vorsicht - keine Engel!“ sowie das Wissensmagazin „Wissen macht Ah!“ (WDR).
Beitrag aus Heft »2003/04: Medienpraxis - Konzepte und Perspektiven«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P.Gangloff: Augen zu, Ohren auf!
Tilmann P.Gangloff: Augen zu, Ohren auf!
Manchmal geht es ganz fix. Im Herbst vergangenen Jahres hatte die Bielefelder Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) noch eine Broschüre veröffentlicht, in der sie sich vehement für die Gründung eines eigenen Kinderradios stark machte, und nicht mal ein Jahr später ist es bereits soweit. Ein bundesweites Hörfunkprogramm für Kinder, das ähnlich wie der Fernseh-KI.KA von morgens bis abends ein verlässliches, kindgerechtes Angebot bietet. Und das, obwohl reihum geunkt worden war: keine Frequenzen, keine Finanzen. Besonders Gernot Romann, Vorsitzender der Hörfunkkommission der ARD, hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt. „Ein schöner Traum“, kommentierte er das GMK-Projekt. Der Hörfunkdirektor des NDR betonte zwar seine Sympathie für die Idee, die bei der Hörfunkkommission ausführlich diskutiert worden, aber trotzdem chancenlos sei: kein Platz im Äther. Um Raum für das Kinderradio, von Fans und Machern längst bloß RadiJoJo! genannt, zu bekommen, müssten existierende Programme abgeschafft werden. Und das, so Romann, „hält bei uns keiner für realistisch“. Seine Prognose damals: „In frühestens 15 bis 20 Jahren“, wenn sich der digitale Hörfunk etabliert habe, könne ein Kinderradio mit umfassender Verbreitung rechnen.Thomas Röhlinger beweist in diesen Tagen, dass es auch flotter geht: Mit Beginn der Internationalen Funkausstellung ist in Berlin auch RadiJoJo! auf Sendung gegangen. GMK-Mitglied Röhlinger, Soziologe, Journalist (Deutsche Welle), Produzent und Musiker, darf sich mit Fug und Recht als RadiJoJo!s Vater bezeichnen. Das Problem mit den Frequenzen hat Röhlinger elegant gelöst: RadiJoJo! umgeht das überfüllte UKW-Band und sendet einfach auf Mittelwelle. Die Verbreitung erfolgt außerdem digital über DAB und natürlich via Internet (www.radijojo.de).Auch am Geld sollte das Unternehmen nicht scheitern.
Mit 5 Millionen Euro pro Jahr bewegt sich der Etat in einem überschaubaren Rahmen (zum Vergleich: KI.KA kostet das Zehnfache). Da RadiJoJo! selbstredend werbefrei bleiben soll, ist man auf Spenden, Subventionen und Länderförderungen angewiesen. Prominente Geldgeber sind bislang die AOK, die Bundeszentrale für politische Bildung sowie DaimlerChrysler. Ein Anteil an der Rundfunkgebühr wäre natürlich schön, doch dies wird in der Tat ein Traum bleiben: Ein entsprechender Antrag ließe sich sicherlich gut begründen, glaubt Röhlinger, der auch die Geschäftsführung des Senders übernommen hat, „doch bis das durch alle Instanzen gegangen ist, sind wir alt und grau“. RadiJoJo! hat zwar einen gemeinnützigen Ansatz, doch es bleibt ein privatrechtliches Medium und damit von den öffentlich-rechtlichen Gebührentöpfen ausgeschlossen. Auch eine Kooperation mit der ARD wäre in Röhlingers Sinn, doch „es bewegt sich sehr wenig“. Viele Redakteure, sagt er, würden sich allerdings lieber heute als morgen beteiligen.Dabei hätte die ARD streng genommen RadiJoJo! längst selbst ins Leben rufen müssen. Die bisherigen Hörfunkangebote für Kinder, kritisiert die GMK, seien der Mehrheit der Zielgruppe nicht bekannt. Tatsächlich geben bloß rund 10 Prozent der Kinder an, sie wüssten, dass es im Radio Sendungen nur für Kinder gibt. 5 Prozent nutzen dieses Angebot auch regelmäßig. Obwohl die Sender der ARD insgesamt 23 Stunden pro Woche Radio für Kinder ausstrahlen, macht der Anteil der Kindersendungen am Gesamtangebot nicht mal ein Prozent aus.Trotzdem ist der Hörfunk durchaus ein Medium für Kinder, wie die Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Hasebrink (Universität Salzburg) erklärt: Weit über die Hälfte von ihnen hört spätestens ab dem Grundschulalter täglich Radio, immerhin noch ein Viertel mehrmals die Woche. 7 Prozent der Kinder bezeichnen das Radio sogar als ihr Lieblingsmedium.
Allerdings läuft das Gerät in der Regel, wie bei den Erwachsenen auch, bloß nebenbei; nur wenige Kinder schalten gezielt Sendungen ein. Kinder mögen Radio vor allem dann, wenn Witze oder Sketche vorkommen und kindgerechte Geschichten erzählt oder Lieder gesungen werden. Was sie laut einer Umfrage von Paus-Hasebrink gar nicht mögen: langweilige Moderationen, zu lange Wortbeiträge, „blöde Musik“ und „Kitsch“. Außerdem schätzen sie es nicht, wenn ausschließlich Erwachsene zu hören sind. Kein Wunder, dass sich über zwei Drittel der 4- bis 13-Jährigen einen eigenen Radiosender wünschen. Und Kinder brauchen dieses Angebot auch, wie der GMK-Vorsitzende Dieter Wiedemann verdeutlicht: Interessante Hörangebote könnten Kinder „zum intensiven Zuhören herausfordern, können ihre Fantasie beflügeln und können sie in Räume, Zeiten und Welten versetzen, die nur in ihren Köpfen entstehen“. Der Präsident der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ kritisiert, dass sich Kinder „im Dschungel von Sendeformaten und Spartenprogrammen mit hohem Musikanteil schnell verirren“. Auf diese Weise gehe dem Radio schon frühzeitig „der kompetente Hörer von morgen“ verloren, weil Kinder zwangsläufig zum Nebenbeihören erzogen würden.
Auch Horst Heidtmann vom Stuttgarter Institut für angewandte Kindermedienforschung hält ein Kinderradio für „überfällig“. Anspruchsvolle Sendungen könnten Kinder „systematisch zur Lektüre motivieren“ und so einen Beitrag zur Förderung der Lesekompetenz leisten.Und noch viel mehr, wie im Grundsatzpapier von RadiJoJo! nachzulesen ist. Die Vermittlung von sozialer, ethischer und kommunikativer Kompetenz, von Heimatverbundenheit und Weltoffenheit sowie die Verkehrserziehung gehören ohnehin zu den Programmrichtlinien; fehlen nur noch Übergewicht, Haltungsschäden und Schule schwänzen, dann wäre RadiJoJo! das Allheilmittel schlechthin für sämtliche Kinderkrankheiten. Erst einmal aber muss sich der Sender etablieren und vor allem von seiner Zielgruppe entdeckt werden. Zunächst gibt es eine circa siebenstündige Schleife; ein Regelprogramm ist spätestens ab dem Jahr 2005 geplant, je nach Lage der Finanzen auch schon früher. Dann soll RadiJoJo! auch live gesendet werden, schließlich ist Interaktivität einer der Schlüsselbegriffe im Medienalltag der acht bis neun Millionen Kinder umfassenden Zielgruppe. Und nicht nur für sie: Abends sind die Eltern dran, und auch denen will RadiJoJo! telefonisch mit Rat und Tat beiseite stehen.
Beitrag aus Heft »2003/04: Medienpraxis - Konzepte und Perspektiven«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: 25. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik
Tilmann P. Gangloff: 25. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik
Die Dummen werden immer dümmer, die Klugen immer klüger: Auf diese ebenso schlichte wie besorgniserregende Formel lässt sich die so genannte Wissenskluft-Hypothese reduzieren. Technischer Fortschritt wird in den nächsten Jahren dazu führen, dass die Schere noch weiter auseinander klafft: Immer mehr Schulen setzen auf Bildung durch Technik. Nicht nur an den Projektschulen der Bertelsmann-Stiftung, auch an vielen anderen hat der Computer längst Einzug gehalten. In Bayern ist das Unterrichtsfach IT an weiterführenden Schulen Pflicht, in Baden-Württemberg theoretisch auch. Doch wenn die Schüler ihre Kenntnisse nicht zuhause am PC vertiefen können, wird vieles auf der Strecke bleiben. Ohnehin gelten zum Beispiel Hauptschulen schon jetzt als Verlierer des Fortschritts: Vielerorts sitzen in den Hauptschulklassen vor allem Kinder von Ausländern; da ihre Eltern nicht wahlberechtigt sind, engagiert sich die Politik prompt nur noch halbherzig. Fatal ist dies vor allem in Hinblick auf den Arbeitsmarkt der Zukunft. In spätestens dreißig Jahren, so führte Siemens-Manager Egon Hörbst, Dozent an der TU München, im Rahmen der 25. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik (Thema: "Technische Innovation = Bildungsfortschritt?") aus, werden 60 bis 70 Prozent der heutigen Arbeitsplätze ausgelagert sein.
Die "Telearbeit" werde die Gesellschaft genauso verändern wie die Erfindung des Rads. Auf die neuen Strukturen der Gesellschaft müsse das Bildungssystem daher vorbereitet sein; es dürfe nicht reagieren, sondern müsse diese Veränderungen antizipieren. Auf Seiten der Arbeitnehmer zum Beispiel setze Telearbeit natürlich neben Computerkenntnissen eine gewisse Selbstständigkeit voraus; wer die nicht mitbringe, so Hörbst, werde wohl auf der Strecke bleiben. Ohnehin prognostiziert der Mathematiker einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den nächsten fünf bis zehn Jahren auf sechs Millionen: "In Zukunft werden auch jene Arbeiten stark verändert, von denen man heute noch glaubt, sie könnten nur von einem Menschen durchgeführt werden." Gefährdet sind laut Hörbst zum Beispiel Ärzte, zumal komplizierte Operationen am Gehirn schon jetzt von Computern erledigt würden, aber auch Lehrer. Von diesem Berufsstand verlangt Hörbst, dass er endlich alle Vorbehalte gegenüber der Technik überwinden soll. Ohnehin erwartet die Wirtschaft eine stärkere Ausrichtung der Schulen auf gesellschaftliche Erfordernisse. Allein in München fehlen laut Hörbst 50.000 Fachkräfte in neuen Berufen wie Fachinformatiker, IT-Systemelektroniker oder Fachberater für verschiedenste IT-Bereiche.
Diese grundlegende Veränderung der Arbeitswelt, die sich gleichzeitig öffnen wie auch vernetzen wird, muss sich auch im Bildungssystem niederschlagen. Die Wirtschaft erwartet von den Schulen daher, dass Lehrpläne nicht nur abgearbeitet werden; wo immer der Einsatz des Computer sinnvoll erscheine, müsse er auch tatsächlich zum Einsatz kommen. Daher verstehe es sich von selbst, dass jeder Lehrer den Computer auch beherrsche. IT-Qualifikation, so Hörbst, "wird eine der wesentlichen Voraussetzungen für einen qualifizierten Arbeitsplatz werden". Zweite Forderung: Die Schüler sollen mehr soziale Kompetenz mitbringen. Sie sollten sowohl im selbstständigen Arbeiten wie auch im "Teamwork" geübt sein; daher müsse in den Schulen verstärkt auf Gruppenarbeit und Projekte gesetzt werden. Das Ideal wäre also ein Zustand, wie er bereits jetzt an den Bertelsmann-Projektschulen herrscht: Die Schüler arbeiten in modellhaften Medienprojekten, und die Ergebnisse sind dank Intranet allen zugänglich. All dies ist zwar eine Frage des Geldes, aber machbar. Aus Sicht der Lehrer ist jedoch gerade die soziale Kompetenz vielleicht sogar das größere Problem: Bei vielen Schülern, so klagen die Lehrer, handele es sich um kleine Prinzen und Prinzessinnen, die sich um die Interessen der Gruppe wenig scherten, sondern in erster Linie an sich selbst dächten.
Die guten Absichten drohen also an der normativen Kraft des Faktischen zu scheitern, denn theoretisch würden wohl alle Lehrer unterstreichen, was sich die Medienschulen aus dem Bertelsmann-Projekt zum Ziel gesetzt haben: Hier will man erreichen, dass die Schüler möglichst effizient lernen und die Schule als mündige, gebildete Bürger verlassen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Doch welche Herausforderungen auch immer die Zukunft bringen wird: Zu den Bausteinen einer neuen Lehr- und Lernkultur wird ein deutlich stärker handlungsorientiertes Lernen gehören, mehr Lernen im Team, fächerübergreifende Projekte und mehr Selbstverantwortung sowohl für die Schülerinnen und Schüler wie auch für die Schule. Die Schüler/innen selbst sind übrigens schon deutlich weiter. In ihren Schulutopien fordern sie mehr Freizügigkeit beim Lehrstoff sowie selbstständiges Lernen am Computer, und zwar zuhause; in die Schule kommt man nur noch zum Diskutieren und für Gruppenarbeiten.
- Tillmann P. Gangloff: Fantasievolle Leerstellen
Tillmann P. Gangloff: Fantasievolle Leerstellen
Seit Jahrzehnten erforschen Wissenschaftler die Wirkung des Fernsehens auf Kinder. Meist geht es dabei um die Frage, ob Kinder Gewaltdarstellungen imitieren oder sich von der Werbung beeinflussen lassen; wirklich bruachbare Ergebnisse sind allerdings nur selten erzielt worden. Das Münchener Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehens (IZI) hat sich nun eier Herausforderung gestellt, die ungleich grösser scheint: Welchen Einfluss haben die Medien auf kindliche Fantasien? Der Sinn und Zweck dieser Übung mag auf den ersten Blick nicht ganz einsichtig sein, auf den zweiten aber schon: Erst mit Hilfe der Fantasie lassen sich schliesslich all jene Lücken schliessen, die sich nicht nur bei der Mediennutzung, sonder auch im Alltag auftun.
Kunst zum Beispiel arbeitet grundsätzlich mit Leerstellen. Fernsehen und Kino wären ohne dieses Hilfsmittel gar nicht möglich, sonst müssten Filme in Echtzeit erzählt werden. Um etwa eine Flugreise zu illustrieren, genügt es, ein startendes oder landendes Flugzeug zu zeigen; selbst kleine Kinder können dies bereits richtig deuten. Auch Schnitte funktionieren bloß, weil man aufgrund seiner Medienerfahrung die Zwischenräume automatisch ergänzt; bei Comics ist das nicht anders. Fantsie ist allerdings gefragt, wenn ein Künstler bewusst eine Leerstelle lässt (die Rückenansicht einer Frau, deren Gesicht man nicht sieht) oder mit Symbolen arbeitet, denn die können vielfältig interpretiert werden.An der Untersuchung beteiligen sich Wissenschaftlerinnen aus Deutschland, Amerika, Sudkorea und Israel.
Ihre Ergebnisse entlasten das Fernsehen gleich in zweifacher Hinsicht. Bildermedien wie Kino und Fernsehen wird ja vorgeworfen, sie seien Fantasievernichter, weil die kindliche Vorstellungskraft - im Gegensatz zu Büchern - hier brachliege (weshalb sich viele Mütter weigern, ihre den Kinder Harry-Potter-Film zu begleiten). Außerdem wird befürchtet, die Fernsehbilder besetzten sämtliche Freiräume der kindlichen Fantsie. Die Untersuchung, in deren Rahmen knapp 200 acht- und neunjährige Kinder ihre Tagträume beschreiben und malen sollten (hinzu kamen Interviews mit den Eltern), zeigt zwar, dass das Fernsehen in der Tat wie kein zweites Medium seine Spuren hinterlassen hat; doch ein Grossteil der Kinder bezieht das Material für seine Fantastereine auch aus völlig anderen Quellen...
( merz 2002/01, S. 44f )
Beitrag aus Heft »2002/01: Medienwirklichkeiten: der 11. September«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tillmann P. Gangloff:Kindern Realitäten zeigen
Tillmann P. Gangloff:Kindern Realitäten zeigen
Selbstherrliche TV-SenderJede Woche zeigen deutsche Fernsehsender weit über hundert Stunden Kinderprogramm. Dabei handelt es sich zum größten Teil um Zeichentrick- Immerhin gibt es in der ARD, im ZDF oder im KI.KA aber auch diverse Informationssendungen. Doch das ist im Wesentlichen Infotainment in Schnipsellänge. Dokumentarisches Kinderfernsehen oder gar Dokumentarfilme für Kinder: Fehlanzeige. Die Kinder wollen das nicht shen, sagen die Sender. Woher sie das wissen?Die Kinder selbst sagen was ganz anderes. Im Gegensatz zu Tagungen, bei denen immer bloß über Kinder geredet wird, aber nie mit ihnen, kam bei einem europäischen Symposium in Köln auch dei Zielgruppe zu ihrem Auftritt. Unverblümt machte sie klar, dass sie vom Kinderfernsehen Informationen erwarten; auch über Tragödien wie die Anschläge in Amerika.Die Sender aber ignorieren die Bedürfnisse ihrer jungen Zuschauer. Eine Untersuchung der Dokumentarfilminitiative (dfi) im Filmbüro Nordrhein-Westfalen kommt zu dem Ergebnis: je älter die Zielgruppe, dest kürzer und komprimierter werden die Beiträge. Selbst die "Sendung mit der Maus" (WDR) leistet sich gelegentlich ein Dreißig-Minuten-Stück; ältere Kinder oder Jüngere Jugendliche dürfen bloß noch mit Infotainment-Schnipseln in Magazinen rechnen. Die Kinder in Köln waren zehn bis dreizehn Jahre alt, und sie wussten nicht nur, was Dokumentationen sind ("Wo man was über die Welt erfährt"), sie wollen sie auch sehen: in Form von Zeitgeschichte zum Beispiel. Und sie sollten natürlich aus Kindersicht gestaltet sein. Kinder müssten aber nicht vorkommen.
In Berichten über den Zweiten Weltkrieg oder den Kosovo zum Beispiel wollen die Kindernicht sehen, wie Kinder sterben.Es gibt VorbilderEine ganze Reihe der rund 120 Teilnehmer in Köln kam aus Skandinavien, Holland und Belgien; und da sieht wieles ganz anders aus. In Dänemark zum Beispiel müssen 25 Prozent der Filmfördermittel in Kinderfilme investiert werden; davon profitiert natürlcih auch der Dokumentarfilm. und in Holland gibt es einen jährlichen Drehbuchwettbewerb, "Kids & Docs". "Stimulierungsfond" heißt das dort: Schüler schreiben Entwürfe für Dokumentationen, Autoren arbeiten sie zu Treatments aus, die Sender sorgen für die Produktion und garanteren feste Sendeplätze. Das, forderte Petra Schmitz von der dfi, müsste doch auch in Deutschland möglich sein. DieDrehbuchwettbewerbe gibt es zwar, allerdings werden sie überwigend von privaten Initiativen getragen. Die Stiftung Goldener Spatz, Veranstalterin des gleichnaigen Kinderfilm- und Fernsehfestivals in Gera, oder Föderverein Deutscher Kinderfilm, so die Vorschläge, könnten den Wettbewerb koordinieren, ARD-Sender setzen um, KI.KA strahlt aus. Die Kultusministerin, die das Thema Medienkompetenz zuletzt vor allem auf die Eroberung des Internet reduzierten ("Schulen ans Netz"), könnten die Schirmherrschaft übernehmen.Die Kinder wären mit Sicherheit zu begeistern. Denn sie, weiß auch Antje Starost, "Sind nicht das Problem". Starost hat vor jahren den Film "Chaupi Mundi"gedreht, ohne Filmförderung, ohne Fernsehanstalt; produziert hat sie ebenfalls selbst und schliesslich sogar den Vertrieb übernommen. DEr Film, in dessen Mittelpunkt ein Mädchen in Ecuador und sein Schwein stehen, beschränkt sich zwar über lange Strecken auf die ausgiebige wortlose Dokumentierung einheimischr Arbeitstechniken, aber die Kinder mögen ihn offenbar trotzdem.
Der Film ist 1992 entstaden. Seither hat Starost nicht mehr für Kinder gearbeitet: Es erfordere einfach zu viel Energie, Fernsehen und Fördergremien zu überzeugen. Wie steht es mit der Förderung?Dabei warten die Förderer bloß auf entsprechende Anträge; zumindest beim Kuratorium junger deutscher Film, das ja zur Hälfte ausdrücklich der Förderung von Kinderfilmen gewidmet ist. Kuratoriumsmitglied Thomas Hailer wusste allerdings nur von zwei Prjekten zu berichten. Dafür brachte er drastisch auf den Punkt, warum sich so wenige Produzenten und Regisseure an Dokumentationen für Kinder trauen: Es stelle ja schon "ein unglaubliches Risiko" dar, einen Kinderfilm zu produzieren; für einen Dokumentarfilm für kinder aber müsse man "fast schon selbstmörderische Absichten haben".Obwol der Dokumentarfilm in Baden-Württemberg Tradition hat ("Stuttgarter Schule"), befinden sich unter den 160 Produktionen, die die dortige Medien- und Filmgesellschaft bislang gefördert hat, nur eine einzige Dokumentation, die sich auch an Kinder richtet. Förderer wie das Filmbüro NW (zu dem die dfi gehört) konzentrieren sich laut Satzung ohnehin auf kulturelle Filmförderung; Fernsehen ist da gar nicht vorgesehen.In anderen Bereichen sieht es nicht besser aus. Ausgerechnet beim nicht-gewerblichen Filmverleih stand man den Dokumentationen lange Zeit selbst im Weg. Weil der Bundesverband Jugend und Film (BJF), so Geschäftsführer Reinhold T. Schöffel, aus Gründen der Projektsqualität auf den Videoverleih verzichtet, ist die Nachfrage entsprechend gering: Die Mehrzahl der dokumentarischen Produktionen auf 16mm oder gar 35mm gibt es kaum. Schöffel kündigte an, der BJF werde in Zukunft stärker auf da Medium DVD setzen, was auch TV-Dokumentationen neue Chancen eröffnen könne.Gutgemeinte VorschlägeAus Sicht der Sender ist es ohnehin empfehlenswert, stärker mit den nicht-gewerblichen Verleihern zusammenzuarbeiten. Der BJF zum Beispiel möchte unbedingt die dänische Produktion "Aligermaas Abenteuer" von Andra Lasmanis (1998) nach Deutschland holen.
Das Porträt eines mongolischen Mädchens läuft in Skandinavien seit drei Jahren mit großem Erfolg. Vereine wie der BJF aber können es sich nicht leisten , dn Film auf eigene Kosten zu synchronisieren und Kopien ziehen zu lassen 8untertitelte Kopien sind bei Kindern kaum einsetzbar). Und da offenbar keiner der Fernsehsender ein Interesse an dem Film hat, werden ihn deutsche Kinder nie zu sehen bekommen. Für Produktionen mit Spielfilmlänge haben TV-Anstalten im Kinderprogramm keine Sendeplätze (KI.KA zeigt zwar jeden Sonntag zur Mittagszeit einen Märchenfilm, doch da werden in erster Linie die alten Defa-Bestände aufgebraucht).Wie wäre es denn, forderte man in Köln keck, wenn sich KI.KA und Arte zusammentäten? Beim Kinderkanal ärgert man sich schon seit Jahrn darüber, dass der Sender zur besten Kinderzeit gegen 19.00 Uhr dem deutsch-französischen Kulturprogramm weichen muss. Dabei wird Arte zumindest in Deutschland um diese Uhrzeit höchst wahrscheinlich kaum wahrgenommen. Ein gemeinsames Familienprogramm, auch mit dokumentarischen Formen für Kinder: könnte man doch mal drüber nachdenken! Wirtschaftlich ausgerichtete Förderungen wie etwa die Filmstiftung NRW lassen sich übrigens ohnehin nur in Aushnahmefällen auf dokumentarische Projekte für Kinder ein. Das müssen dann schon Produktionen wie die über 5 Millionen Mark teure, international koproduzierte WDR-Reihe "Fabeltiere" von Uwe Kersken, der früher viel fürss Kinder- und Schulfernsehen gedreht hat ("Delphingeschichten"), einmal in Fahrt war, brachteer gleich die ganze Misere auf den Punkt: Dokumentarische Formen existieren im Kinderfernsehen bloß noch als mgazin-Einspieler, die "finanziell und künstlerisch nicht mehr akzeptabel seien". Angesichts der niedirgen Budgets neigten manche Produzenten offenbar dazu, die Beiträge von Praktikanten realisieren zu lassen. Dabei seien doch Kinder viel kritischer als Erwachsene und hätten "die besten Filmemacher der Welt" verdient.
- Tillmann P. Gangloff: Animation ohne Risiko
Tillmann P. Gangloff: Animation ohne Risiko
MangaismusRiesige Augen und kleine Stupsnäschen: So sehen Manga-Mädchen aus. Und weil die japanischen Comic-Verfilmungen (Kenner sprechen von "Anime") weltweit erfolgreich sind, wimmelt es in vielen neuen Serien von solchen Gesichtern. Das liegt zwar auch daran, ass japanische Firmen seit dem "Pokémon"-Boom ihre Archivware verkaufen können, doch einige der neuen Produktionen kommen aus Frankreich. Europäische Inhalte in fernöstlicher Form: Das kann durchaus reizvoll sein. Muss es auch, denn weitere Reize gab es auf den jüngsten Animationsmärkten Cartoon-Forum und Mipcom Junior kaum. Alles, was sich etablierte Produktionsfirmen an unkonventionellem Design derzeit zutrauen, wirkt wie eine späte Hommage an Klszky/ Szupo - und deren einst avantgardistischer Stil ("Rugrats") ist mittlerweile auch in die Jahre gekommen.Animation gilt nach wie vor als Schlüssel zu den Kinderquoten. Angeblich gibt es zwar einen Trend zu so genannten Live- Action-Programmen, doch davon war bei der Mipcom Junior in Cannes nicht viel zu sehen. Tapfer hat sich immerhin die Bavaria gegen den Trend gestemmt und die von ihren Töchtern Askania und Maran produzierten Langlaufserien "Schloss Einstein" und "Fabrixx" eingereicht.
Ansonsten aber konnte selbst der weltweite Erfolg der Kinder-Endzeit-Soap "The Tribe" (KI.KA) die Produzenten nicht ermutigen. Angesichts gestiegener Produktionskosten, gesunkener Lizenzpreise und anderer wirtschaftlicher Probleme scheuen sie ganz einfach das Risiko. Und weil das auch für den Animationsbereich gilt, war die durchschnittliche Qualität in Cannes handwerklich zwar hoch, künstlerisch jedoch eher enttäuschend.Das betrifft auch zwei Produktionen, die aber aufgrund ihrer bekanntn Vorlagen zumindest hierzulande trotzdem erfolgreich sein werden: "Timm Thaler", James Krüss' Geschichte des Jungen, der dem Teufel sein Lachen verkauft", und "Momo", Michael Endes Geschichte des Mädchens, das sich tapfer den Zeitdieben entgegenstellt. "Momo" - riesige Augen und stupsnase - ist eine der wenigen neuen Produktionen von EM.TV. Einzig interessant ist in beiden Fällen die düstere Welt der Bösewichte. Flash-AnimationGerade bei "Timm Thaler" spürt man die industrialisierte Animation: Mit ihren eckigen Bewegungen wanken die Figuren wie Roboter durch die Gegend. "Lebendig" ist ihnehin bloß der Vordergrund. Bestes Beispiel, das man sio oder ähnlich auch in vielen anderen Zeichentrickproduktionen finden könnte: Als Timm über einen Rummelplatz geht, bewegt sich außer ihm überhaupt nichts. So spart der Produzent (in diesem Fall CTM) zwar Geld, doch die Bilder wirken tot.Das ist der Nachteil der Computeranimation, es sei denn, man macht das Beste aus den beschränkten Möglichkeiten und setzt auf Flash-Animation.
Susanne Müller, Leiterin des Kinder- und Jugendprogramms beim ZDF, sieht darin eine der wenigen Innovationen beim Zeichentrick. Flash stammt aus dem Internet: Die Animation ist deutlich sparsamer, die Figuren bewegen sich weniger, die Hintergründe bleiben leer. Im ohnehin etwas trägeren Internet ist das durchaus sinnvoll. Gar pfiffige Produzenten versuchen nun, den umgekehrten Weg zu gehen und die Bilder oder zumindest die Machart von Internet ins Fernsehen zu transportieren.Das klappt natürlich nur, wenn der Animationsstil auch passt; wie zum Beispiel bei "2020" aus Spanien. Hier stammten die Figuren vom Fließband und unterscheiden sich nur durch Frisur und Kleidung; der Rest (Kopf, Bauch, Hände) besteht eigentlich bloß aus Kreisen. Die Serei spielt in einer "nahen Zukunft", in der es von Klonennur so wimmelt (im Fußballstadion spielen elf Maradonas gegen elf Ronaldos). "2020" richtet sich an ein Publikum im "Simpsons"-Alter und ist vom inhaltlichen Grundmuster her ähnlich. Eine Mittelschichtfamilie steht im Mittelpunkt. Mutter arbeitet bei einem TV-Sender. Vater testet synthetisch hergestellte Nahrung, zum Beispiel Eier in Würfelform. Eine ffröhliche Satire, die beweist: Wenn der Inhalt stimmt, ist das Design zweitrangig.Nicht minder schräg ist "da Möb", eine Produktion im Vertrieb der deutschen TV Loonland, die sich an Jugendliche richtet. ERwachsene werden sich schon allein wegen der Musik kaum mit en Burschen anfreunden, zumal zwei der drei Titeljungs (eine Hip-Hop-Band) aussehen, als wären sie aus der MTV-Serie "Beavies & Butt-head" übernommen worden.
"Da Möb" wird es allerdings schwer haben, denn für viele Kindersender dürfte die Serie ein zu 'altes' Publikum ansprechen.Eine neue ZielgruppeDie Produzenten haben eine neue Zielgruppe entdeckt: jugendliche Mädchen. Die typische Zielgruppe von Daily Soaps wie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" ist seit Jahren im Zeichentrickbereich vernachlässigt worden. Produzenten erklärten dies mit dem Argument, in den Familien seien nun mal - ganz die Väter - die Jungs die Herren der Fernbedienung; deshalb gebe es kaum Trickserien mit weiblichen Hauptfiguren. Weil aber amerikanische Marktforscher herausgefunden haben, dass es allein in den USA 18 Millionen Mädchen und junge Frauen zwischen 10 und 19 Jahren gibt und die pro Jahr 67 Milliarden Dollar in die Geschäfte tragen, müssen Werbung treibende Fernsehsender diese Zielgruppe natürlich auch bedienen: mit Zeichentrickversionen von Mystery-Serien wie "Buffy" oder "Sabrina" oder der französischen Produktion "Totally Spies!". Im Mittelpunkt stehen drei High-School-Mädchen aus Beverly Hills, die regelmäßig brisante under-Cover-Aufträge übernehmen. Das Design dieser fröhlichen Variante von "Drei Engel für Charlie" ist zwr eher konventionell, doch die Mädchen haben es in sich: ewig lange Beine, große Augen, Stupsnase.
- Tilmann P. Gangloff: Dokumentationen für den Fernsehmarkt
Tilmann P. Gangloff: Dokumentationen für den Fernsehmarkt
Trash wird die Ausnahme
Das größte Interesse bei der Mipdoc in Cannes, einem Programmmarkt für nicht-fiktionale Produktionen, galt einem abstoßenden Film aus Dänemark mit dem bezeichnenden Titel „Shocking Truth“. Vermutlich wollte Regisseurin Alexa Wolf aufzeigen, wie ekelhaft das Pornogewerbe ist. Doch warum musste sie dann die Darstellerinnen beim Interview nackt filmen? Typischer Dialog: „Wie fühlst du dich, wenn du dich in einem Sexfilm siehst?“ - „Ich hasse mich und fühle mich wie ein Tier“. Angereichert wird der Film um unzensierte Ausschnitte, die eindeutig den Tatbestand von Pornografie erfüllen.
Doch Filme wie „Shocking Truth“ spiegeln nur ein Randsegment des gewaltigen Dokumentarmaterials wider. Die Trends gehen in eine andere Richtung. Noch vor einem Jahr entsprachen viele Produktionen keinem gehobenen Standard, funktionierten nur im jeweiligen Produktionsland (Docu-Soaps) oder waren schlicht TV-Trash (authentische Verfolgungsjagden). Mittlerweile aber hat sich das Genre, dessen Niveau im Zuge eines weltweiten Booms rapide gesunken war, auch qualitativ wieder etabliert. Fernsehmüll wie die beliebten Reihen der amerikanischen Alfred Haber Distribution („World’s Weirdest Police Videos“) erfreuen sich zwar nach wie vor großer Beliebtheit, doch wüste Kolportagen und nicht-fiktionale Pendants zu populären fiktionalen Trends (Wirbelstürme, düstere Prophezeiungen) sind auf dem internationalen Markt mittlerweile die Ausnahme.
Mit Gefühl dokumentieren
Wissenschaftliche Themen sind allerdings wieder weniger gefragt als noch vor Jahresfrist. Tier- und Naturfilme gibt es zwar noch, aber nur als Grundstock, weil mittlerweile - wie die Branche sarkastisch feststellt - „jedes frei lebende Großwild schon dutzendfach gefilmt worden ist“. Dafür erlebt die Menschlichkeit eine Renaissance, und zwar im doppelten Sinn: Das Interesse an Dokumentationen über Kulturen fernab der westlichen Zivilisation ist enorm gewachsen; gleichzeitig haben Filme über wissenschaftliche Themen eine viel stärkere emotionale Seite bekommen. Patrick Hörl, Programmdirektor des deutschen Discovery Channel, erläutert den Trend: In Zuschauerreaktionen werde immer wieder beklagt, dass die Produktionen zu technikorientiert, zu kalt seien und dass die Gefühle zu kurz kämen. Hörls Erklärung: Der dokumentarische Spartensender bei Premiere World habe mittlerweile viel mehr Zuschauerinnen, und die empfänden viele Themen als zu männlich. Bei einer Dokumentation etwa aus dem Themenkreis Genmanipulation/Behinderung erwarte ein weibliches Publikum nicht nur wissenschaftliche Fakten, sondern auch Informationen über die konkreten Probleme im Alltag.
Die Berücksichtigung der veränderten Zuschauervorlieben hat dazu geführt, dass der Boom des Genres ungebrochen bleibt. Bei den Sendern sind die Filme aus einem weiteren Grund beliebt: Mit einem Produktionsetat von 500.000 bis 750.000 Mark ist eine Dokumentation bereits ungewöhnlich aufwendig; und doch kostet sie nur ein Viertel eines Fernsehfilms - und erzielt im besten Fall die gleichen Marktanteile. Dramaturgie und Bildsprache sind in beiden Fällen übrigens oft ganz ähnlich: In der neuen englischen Produktion „Jurassic Shark“ (ITEL) zum Beispiel gleiten die Haie an der Kamera vorbei wie riesige Raumschiffe in einem Science-Fiction-Film. Und wenn in „Man Eaters“ (ITEL) erzählt wird, wie eine Frau von einem Hai gejagt wird, wirkt die Rekonstruktion mit Hilfe eines suggestiven Schnitts und entsprechender Musik so dramatisch wie in einem Kino-Thriller.
Verfall der Preise?
Angesichts der allgemeinen Produktionswut muss man im Doku-Bereich allerdings eine ähnliche Marktsättigung wie beim Kinderfernsehen befürchten - und das drückt erfahrungsgemäß die Preise. Das Senderecht für einen 500.000 Mark teuren Film kann man mittlerweile schon für 5.000 Mark kaufen; noch vor zehn Jahren, klagen Rechtehändler, hätten sie das Zehnfache bekommen. Hohe Preise lassen sich nur noch mit hochwertigen, aufwendigen Produktionen erzielen. Für einen Film wie „Raising the Mammoth“ über die Ausgrabung eines Mammuts in Sibirien (angebliche Produktionskosten: 2 Millionen Mark) zahlen große Sender wie ARD oder ZDF bis zu 200.000 Mark. Andererseits gibt es weltweit bereits so viele Spartenkanäle für Dokumentationen, dass sich das Mitleid mit den Verkäufern in Grenzen halten sollte.
Output-Deals
Ein anderer Trend ist aus Sicht kleinerer Produktionsfirmen ohnehin weitaus bedrohlicher: Marktführer im Dokumentarbereich wie die britische ITEL, die Disney-Tochter Devillier Donegan oder Explore International (ein Joint-Venture von National Geographic und der Canal plus-Tochter Docstar), bauen ihre Positionen immer mehr aus. Damit ist bei Dokumentationen die gleiche Entwicklung abzusehen wie bei Serien und Spielfilmen: Wenige Große werden in absehbarer Zeit den Markt beherrschen. Auch die Sender sind nicht glücklich darüber, denn große Firmen setzen gern auf so genannte Output-Deals: Das komplette Produktionsvolumen einer Firma geht exklusiv an einen einzigen Partner. Das garantiert einem Sender zwar die Rosinen, doch die zweit- und drittklassigen Sendungen muss er ebenfalls abnehmen.
Dokumor - ein neuer Trend?
Noch aber ist es nicht so weit, weshalb gerade bei den Sendern Gelassenheit vorherrscht. Vielleicht hat die lockere Stimmung ja auch ganz andere Gründe: Im Gegensatz zum gern belehrenden, stets ernsten klassischen Dokumentarfilm haben die modernen Dokumentaristen den Humor entdeckt. Durch den Film „The Big Squeeze“ (ITEL) zum Beispiel - es geht unter anderem um Würgeschlangen (squeeze = quetschen) - führt ein Komiker, der sich von einem Krokodil ein Bein abbeißen lässt. Erst nach dem Biss sieht man, dass es ein drittes Bein war. Sogar Persiflagen konnte man bei der Mipdoc entdecken: In „Six Days in Roswell“ (Monarch Films) zieht Richard Kornfeld genüsslich den Ufo-Kult durch den Kakao. Roswell ist ein kleiner Ort in New Mexico und so etwas wie das Mekka für Ufo-Gläubige. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dort sei vor fünfzig Jahren ein außerirdisches Flugobjekt gelandet. Die Besatzung werde seither von der US-Regierung in Nevada in einem unterirdischen Laborkomplex („Area 51“) gefangen gehalten. Kornfelds Streifzug durch Roswell ist eine realsatirische Ansammlung höchst irdischer Kuriositäten. Weil sich Kornfeld der Hysterie anpasst und auch noch die absurdeste Frage („A cosmic watergate?!“) todernst stellt, reiht sich eine bizarre Aussage an die andere.
- Tilmann P. Gangloff: Täglich grüßt der Mäusekopf
Tilmann P. Gangloff: Täglich grüßt der Mäusekopf
Pay TV, betonen Betreiber von Bezahlfernsehen immer wieder, habe nichts mit Angeboten zu tun, sondern mit Nachfrage: Natürlich biete nicht jeder Kanal rund um die Uhr neue Sendungen; entscheidend sei, dass die Sendungen zur Verfügung stehen, wenn das Publikum sie sehen will. Deswegen bestehen viele der Kanäle von Premiere World aus Wiederholungen. Das gilt auch für den Disney Channel: Das Programm ist eine Zusammenstellung von Serien, die anderswo schon zu sehen waren (oder noch zu sehen sind); ein „Best of“ aller Kaufserien im deutschen Kinderfernsehen der neunziger Jahre. Die Disney-Produktionen gab’s oder gibt’s sowieso fast alle bei RTL oder Super RTL. Für Disney-Channel-Geschäftsführer Hans Seger ist das aber gar nicht der Punkt. Er spricht von einem „völlig neuen Universum“: weil man im Pay TV sein Programm ohne Rücksicht auf Werbekunden oder Konkurrenzsender gestalten könne und allein die Bedürfnisse der Zuschauer entscheidend seien. Tatsächlich gibt es im Free TV gerade zur Lieblings-Fernsehzeit der Kinder - zwischen 18 und 21 Uhr - kaum Kinderfernsehen; der Disney Channel aber zeigt um 19 Uhr einen Film für die ganze Familie.
Das, so Seger, „ist völlig anders als bei jedem anderen Sender.“Allerdings ist beim Disney Channel nicht überall Disney drin, wo Disney draufsteht. Seger spricht in diesem Zusammenhang von Sendungen, die „Disney kompatibel“ sind: „gutes Programm, das auch von uns hätte stammen können“. Außerdem müsse ein deutscher Disney Channel auch „deutsche“ Produktionen anbieten, um eine lokale Identität zu entwickeln, Serien wie „Die Schlümpfe“ oder „Pippi Langstrumpf“, die „von der Attraktivität oder der Herkunft fürs Publikum interessant sind.“ Dass diese Serien auch anderswo laufen, schade dem Disney-Channel nicht. Die Fixierung auf die einzelnen Produktionen, so Seger, „verstellt die Sicht auf den Kanal als Ganzes: Der Disney Channel funktioniert, wenn Mischung und Programmplanung stimmen“. Es kommt also auf die Handschrift des Programms an: alles Disney oder ähnlich gut, und Hauptsache Cartoons. Bis auf wenige Ausnahmen besteht das Programm des Disney Channel tagsüber nur aus Zeichentrick. Das vereinfacht die Sache: Dieser Handschuh lässt sich beliebig von Amerika nach Europa exportieren. Informationssendungen gibt es außer dem Bastelmagazin „Art Attack“ überhaupt nicht. Auch die „deutschen“ Merkmale des Programms sind äußerst überschaubar. Zur Entstehung kultureller Identität tragen sie nichts bei, im Gegenteil: Das Programm könnte in exakt dieser Form auch in Holland oder Belgien laufen; selbst „deutsche“ Serien wie „Die Schlümpfe“ oder „Pippi Langstrumpf“ sind für den internationalen Markt produziert. Der Tag auf dem Disney Channel endet nie und hat demzufolge auch keinen Anfang.
Anders als etwa der Kinderkanal „altert“ das Programm kaum; es richtet sich rund um die Uhr an Menschen zwischen acht und zwölf. Am Vormittag werden allerdings hauptsächlich Vorschulkinder angesprochen, wenn auch nicht unbedingt mit den Höhepunkten des Programms; „Disneys Gummibären-Bande“ oder „Der Zauberschulbus“ zeichnen sich nicht gerade durch ein originelles Design aus. Schönste Vorschulserie ist „Der Bär im großen blauen Haus“ (seit Januar auch im Kinderkanal), eine Produktion von Jim Henson Television („Die Muppets Show“). Das Titeltier ist ein lebensgroßer liebenswerter Kuschelbär, der sich jedesmal einem neuen Thema (Tanzen, Farben etcetera) widmet. Einzige Eigenproduktion neben „Art Attack“ ist die Nachmittags-Show „live@five“. Das Rahmenprogramm rund um Serien wie „Hercules“ und „Aladdin“ kommt aus einem großen Studio voller Krimskrams und ist ganz auf die aktive Teilnahme des Publikums zugeschnitten. „Das Wichtigste bist Du“ heißt es im Trailer zu „live@five“. Ständig reden die Moderatoren auf ihr Publikum ein. Die Studiokameras schwanken und torkeln dabei wie zu besten Viva-Zeiten. Davon abgesehen ist „live@five“ mit den vielen optischen und akustischen Spielereien (ständig scheppert’s oder kracht’s vom Band) sehr „hip“ und macht den Kindern offenbar eine Menge Spaß: Die Zuschauerresonanz ist laut Seger „fantastisch“. Seit Sendebeginn am 16. Oktober habe es unzählige Anrufe gegeben, „wahnsinnig viele nette Briefe und unheimlich viele E-Mails“, auch von älteren Disney-Fans.
Die Begeisterung der Kinder dürfte dem kompletten Programm gelten. Trotzdem kam es für Disney nie in Frage, den deutschen Disney Channel als frei empfangbaren Sender zu starten. Das Schicksal von Nickelodeon und die unzureichende Kabelkapazität waren laut Seger Warnung genug. Außerdem seien die Werbeeinnahmen im frei empfangbaren Kinderfernsehen begrenzt, auch wenn er keine Sorge hätte, „dass wir uns davon ein gutes Stück abschneiden könnten“. Werbefreiheit sei aber ein ganz wichtiges Merkmal des Disney Channels, „speziell in Deutschland, wo Eltern einen deutlich stärkeren Einfluss auf die Fernsehgewohnheiten ihrer Kinder haben als in anderen Ländern.“ Daher begnügt man sich mit den Einnahmen durch die Abonnement-Gebühren, über deren Höhe Seger schweigt. Der Preis der Exklusivität ist allerdings eine überschaubare Zuschauerzahl.
Nach dem Relaunch zum 1. Oktober konnte Premiere World zwar innerhalb eines Monats 110.000 neue Kunden gewinnen; doch für die digitalen Bouquets Movie World, Family World und Sports World interessieren sich nach wie vor bloß eine Million Abonnenten. Dass der Disney Channel, der eine eigenständige Lizenz hat, nicht einzeln bestellt werden kann, ist übrigens die Entscheidung der Premiere-World-Geschäftsführung gewesen. Offenbar soll das acht Kanäle umfassende Familienpaket (monatlich 19.90 Mark) - neben Disney unter anderem Discovery Channel (Dokumentationen), Krimi & Co und der Vorschulkanal Junior -, aufgewertet werden. Der Vorteil für Disney besteht laut Seger darin, frühzeitig „Teil einer sich entwickelnden, neuen Fernsehlandschaft“ zu sein.Am Engagement bei Super RTL und RTL werde sich, versichert Seger, in absehbarer Zeit nichts ändern. Die Gewinne dort kann Disney gut brauchen, um das Unternehmen Premiere World zu finanzieren.
Beitrag aus Heft »2000/01: Aufwachsen in Medienwelten II«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Jenseits von Disney
Tilmann P. Gangloff: Jenseits von Disney
Kinderfilm = Disney: eine Gleichung, die praktisch weltweit gilt. Gerade in diesem kleinen Segment ist die Dominanz von Hollywood erdrückend, zumal die Zielgruppe so überschaubar ist wie keine andere: Spätestens mit zwölf Jahren orientieren sich Kinder am Kino für Erwachsene, wollen Jungs Filme mit Arnold Schwarzenegger und Mädchen Romanzen mit Julia Roberts sehen. Der reine Kinderfilm, Produktionen also, die sich nicht an die ganze Familie, sondern tatsächlich an Menschen zwischen vier und zehn Jahren richten, hat kaum eine Chance, sich auf dem Kinomarkt zu behaupten: Kinos buchen Filme bevorzugt für sämtliche Vorstellungen eines Tages; Kinderfilme aber können nur mittags und nachmittags gezeigt werden. Doch selbst der Erfolg von Familienfilmen, die ja auch in den Abendvorstellungen laufen können, ist untrennbar mit hohen Investitionen in die Werbung verbunden.
Die erfolgreichsten deutschen Familienfilme der letzten Jahre - „Rennschwein Rudi Rüssel“, „Charlie & Louise - Das doppelte Lottchen“ und „Pünktchen und Anton“ - basierten zwar auf populären Buchvorlagen, aber ein Werbebudget in vermutlich siebenstelliger Höhe sorgte dafür, dass die Titel in aller Munde waren. Ebenfalls unabdingbar für einen finanziellen Erfolg ist die Anzahl der Kopien; Filme, die nicht mit 300 Kopien starten, haben von vornherein kaum Marktchancen. Zusätzlich verschärft wird die Situation gerade für kleine Verleiher, die nur eine Hand voll Filme pro Jahr in die Kinos bringen, durch die Blockbuchung: Kinozentren mieten Filme im Paket, so dass der ohnehin begrenzte Raum für unabhängige Verleiher noch kleiner wird. Da viele der großen deutschen Verleihfirmen mehr und mehr auch selbst produzieren, wird auch für unabhängige Produzenten der Spielraum enger.
Um wenigstens annähernd so etwas wie Chancengleichheit herzustellen, hat der Bundesverband Jugend und Film (BJF) zusammen mit der European Children’s Film Association (ECFA) im November 1999 in Konstanz die 1. Europäische Konferenz für den Verleih von Kinder- und Jugendfilmen veranstaltet. Ziel der Konferenz sollte eine Länder und Medien übergreifende Kooperation all jener Menschen sein, die sich für den Kinderfilm engagieren. Rund fünfzig Experten aus elf Ländern repräsentierten nahezu alle Kinderfilmbereiche: Verleiher (gewerblich und nichtgewerblich), Weltvertriebe, Produzenten, Kinobesitzer, Videoanbieter, Autoren und Regisseure, viele von ihnen schon seit Jahrzehnten um den Kinderfilm bemüht. Einzig die Fernsehanstalten, jedenfalls die Kinderredaktionen, waren trotz Zusage nicht vertreten, was als symptomatisch empfunden wurde: Vom Fernsehen hat die Kinderfilmbranche nur geringe Unterstützung zu erwarten.
Ein Überblick über die identischen Entwicklungen der letzten Jahre in verschiedenen europäischen Ländern zeigte die Parallelen zum Kino für Erwachsene auf: Auch die Hitlisten der Kinderfilme werden überall von Hollywood-Filmen dominiert. Erst mit deutlichem Abstand folgen jeweils einheimische Produktionen, während Filme aus europäischen Nachbarländern, geschweige denn von anderen Kontinenten, praktisch nicht vorkommen. In einigen Ländern liegt aber auch die einheimische Produktion mehr oder weniger brach. Auch das Bild der deutschen Kinderfilmszene, die von Friedemann Schuchardt, dem Geschäftsführer von Matthias-Film skizziert wurde, war düster. Schmerzlich sei vor allem der Verlust der ostdeutschen Kinderfilmtradition nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten: 25 Prozent der staatlich gelenkten Defa-Kinoproduktion in der DDR waren Kinderfilme. „Im Westen gab es so ein System nie“. Das stimmt allerdings nur für die Zeit nach 1957. In diesem Jahr trat in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Jugendschutzgesetz in Kraft, das Kinder unter sechs Jahren den Kinobesuch verbot. Dies war das Ende einer bis dahin florierenden Märchenfilmproduktion. Bei der Vereinigung sei nun versprochen worden, die Tradition der DDR zu bewahren, doch dieses Versprechen wurde nie eingelöst.
Schuchardt räumte zwar ein, dass in Deutschland viel für Kinder produziert werde, doch beschränke sich dies mit Soaps, Dokumentationen und Serien überwiegend auf den Fernsehmarkt. Ein aktuelles Beispiel für die Schwierigkeiten, eine anspruchsvolle Kinoproduktion zu realisieren, ist „Die grüne Wolke“, die Verfilmung des gleichnamigen Buches von A.S. Neill durch Denkmal-Film. Das Produktionsvolumen liegt bei 12 Millionen Mark; der Film entsteht als TV-Serie, die fürs Kino umgeschnitten und gekürzt wird. Als Produzent und Autor eines Kinderfilms müsse man seine Energien vor allem in finanzielle und weniger in kreative Fragen investieren. Nicht zuletzt aus diesem Grund seien Regisseure wie Jan Schütte oder Hartmut Schoen nicht bereit, Kinderfilme zu inszenieren.
Breite Zustimmung erhielt Schuchardts Forderung nach einer engeren Kooperation zwischen Produzenten und Verleihern von Kinderfilmen. Gerade der Kinderfilm dürfe nicht unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden, schließlich handele es sich um „Kultur für Kinder“. Deshalb müsse auch der Non-Profit-Bereich als förderungswürdig erachtet werden. Obwohl sich die Teilnehmer der Konferenz darin einig waren, dass der Kinderfilm jenseits von Disney ohne konzertierte Unterstützung chancenlos sei, fiel das Fazit der Tagung überraschend positiv aus. Gerade die Aktionen, mit denen es kleinen Verleihern aus Belgien, Holland und Skandinavien gelungen ist, dem Zeichentrickfilm „Kiriku und die Zauberin“ zu eindrucksvollen Zuschauerzahlen zu verhelfen, belegten, dass mit Engagement und strategischem Denken etwas bewegt werden kann. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass die Verleiher miteinander kaum in Kontakt stehen.
Die Konferenz endete mit dem festen Vorsatz, die verschiedenen Institutionen in ein Netzwerk einzubinden, damit sie von den Erfahrungen in anderen Ländern profitieren können. Diskutiert wurde auch die Einführung eines europäischen Gütesiegels, das zum Beispiel Festival-Siegern den Weg in die Kinos erleichtern soll. Wirksamer sei aber eine Erfolgsliste mit den in Europa verliehenen Kinderfilmen und ihren Zuschauerzahlen.
Beitrag aus Heft »2000/01: Aufwachsen in Medienwelten II«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tillmann P. Gangloff: Raus aus der Greisenfalle
Tillmann P. Gangloff: Raus aus der Greisenfalle
Das ist eine reichlich grimmige Lösung für das Demografieproblem: Weil der Staat die Altenpflege nicht mehr finanzieren kann, werden mittellose Rentner nach Afrika verfrachtet, wo sie ihrem Ende entgegendämmern; die letzte Ruhe finden sie in billigen Pappsärgen. Natürlich war es eine Fiktion, von der vor einigen Wochen der aufwändig produzierte ZDF-Dreiteiler „Aufstand der Alten“ erzählte, und sie sollte selbstredend aufrütteln. Mit Recht: Wir werden immer älter, wir werden immer weniger; und haben endlich wieder Grund, uns so richtig Sorgen zu machen. Prompt gehen die Prognosen vom Schlimmsten aus: verwaiste Kindergärten, leere Schulen, überfüllte Altenheime, Pflegekollaps. Prompt bricht schon heute Hysterie aus. Muss das so sein?
Nein, muss es nicht. Natürlich wird die Gesellschaft in dreißig Jahren ein großes Problem haben, wenn sie nicht schon heute beginnt, etwas dagegen zu unternehmen. Aber warum gleich alles so schwarz malen? Anstatt vom Schlimmsten auszugehen, sollte die Gesellschaft die Krise als Chance betrachten: Lehrer werden mehr Zeit für Schüler haben, Schuletats können zugunsten der Altenpflege schrumpfen; und wenn die Arbeitslosigkeit weiter erfolgreich eingedämmt wird, gibt es auch genug Beitragzahler für die Rentenversicherung.Außerdem wird es Zeit, das Beste aus der grassierenden Vergreisung zu machen: Schluss mit jugendlichen Helden, die noch nicht mal eigenen Bartwuchs haben, und her mit den Alten! Gedanken dieser Art müssen Sylvester Stallone durch den Kopf gegangen sein, als er sich entschloss, Rocky Balboa aus der Rente zu locken. Filmfreunde erinnern sich an die Saga vom Aufstieg und Fall des Boxers, für die Autor und Hauptdarsteller Stallone einen Oscar bekam.
Als er 1976 Teil eins drehte (vier weitere folgten), war er immerhin schon dreißig. Drei Jahrzehnte später nun also das Comeback: mit sechzig! Die Nachricht hat offenbar den Ehrgeiz von Harrison Ford geweckt, der nach 17 Jahren zum vierten Mal den speckigen Abenteurerhut von Indiana Jones aufsetzt. Mr. Ford wird in diesem Jahr 65. Die Beispiele zeigen: Von „Greisenfalle“ kann gar keine Rede sein. Was früher der Beginn des Ruhestands und das Warten auf den Tod war, ist heute der Zenit der Lebenszeit. Kinder werden immer früher älter, sagen Soziologen. Mit den Jahren wendet sich das Blatt dann wieder: Alte bleiben länger jung. Beispiel Fußball: Die beiden Torhüter des WM-Sommermärchens, Jens Lehmann und Oliver Kahn, waren zusammen fast Mitte siebzig. Wer die Menschen heute mit 67 in Rente schicken will, erwischt sie auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Und noch eine Erkenntnis ist überfällig: Falten sind sexy! Sean Connery sieht selbst mit 76 noch richtig knackig aus.
Der gleichaltrige Clint Eastwood heimst reihenweise Oscars ein in einem Alter, in dem andere schon zehn Jahre zuvor für ihr Lebenswerk geehrt worden sind. Und die Damen? Keine Bange: Hannelore Elsner ist 62, Hannelore Hoger 64, Senta Berger 65; und alle erfolgreicher denn je. Wie lautet doch das trotzige Lebensmotto von Iris Berben (56)? „Älter werde ich später“.
Beitrag aus Heft »2007/02: Männliche Identität(en) und Medien«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Charme und Chance
Tilmann P. Gangloff: Charme und Chance
Mit bemerkenswerter Verbissenheit ringen verschiedene Interessenverbände und Gremien seit Monaten um die Art und Weise, wie sich ARD und ZDF im Internet präsentieren dürfen. Wortwahl und Engagement legen nahe: Hier wird nicht um einen singulären Sieg gefochten, hier werden Weichen gestellt. Es geht um die Zukunft, und die heißt nicht Fernsehen, sondern Internet; wer das nicht wahrhaben will, muss mit einem bösen Erwachen rechen. Jahrzehnte lang galt die Maxime, etablierte Medien würden durch neue nicht verdrängt. Tatsächlich haben Radio, Kino und Fernsehen nach einer gewissen Übergangsphase zu einem harmonischen Neben- oder sogar Miteinander gefunden. Aber das Internet ist kein neues Medium; es ist Radio, Fernsehen, Kino, ja sogar Zeitung, Illustrierte und Schallplatte oder CD in einem. Das nachgeborene Internet ist paradoxerweise die Mutter aller Medien. Kein Wunder, dass die Wortmeldungen im Streit um die öffentlich-rechtliche Internetpräsenz mitunter klingen, als ginge es um die Existenz: Es geht um die Existenz. ARD und ZDF dürfen in dieser Diskussion schon allein deshalb nicht klein beigeben, weil sie den Kampf um die Aufmerksamkeit im klassischen Fernsehen weitgehend verloren haben. Die beiden Systeme erreichen mit ihren diversen Beibooten zwar rund 40 Prozent der regelmäßigen TV-Zuschauer, doch das Publikum gerade der Vollprogramme ist im Schnitt um die sechzig.
Bei Jüngeren hat das Fernsehen seine dominante Rolle ohnehin längst eingebüßt. Wer unter dreißig ist, verbringt einen immer größeren Teil seiner Medienzeit am Computer. Auch aus diesem Grund bemühen sich ARD und ZDF so hartnäckig und mit großem finanziellem Aufwand um Sportrechte: Die Übertragungen von großen Fußballturnieren sind die pure Existenzberechtigung. Dabei sind die Sender bloß Dienstleister. Der Übertragungsweg könnte auch ganz anders aussehen, und genau das ist der springende Punkt: Wenn vom Bedeutungsverlust des Mediums Fernsehen die Rede ist, denkt man unwillkürlich zuerst an Sender und dann an Inhalte, doch das ist ein Denkfehler. Das Ende der Schallplatte war keineswegs gleichbedeutend mit dem Ende der Musik; die Musik hat nur das Medium gewechselt. Fernsehen, erklärt der Marburger Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger, „ist bloß ein kulturell gelernter Begriff, unter dem sich in fünfzig Jahren nur noch Ältere etwas vorstellen können“. Schon das Wort „Fernsehen“ steht für ganz unterschiedliche Bedeutungen: Es bezeichnet die gesamte Organisationsform, die einzelnen Sender, das Programm, die Übertragungstechnik und auch das Gerät selbst. Es geht also um Form und Inhalt. Die Form wird sich wandeln oder ganz verschwinden, doch der Inhalt wird bleiben; aber er wird mit dem, was wir heute unter Fernsehen verstehen, nicht mehr viel gemeinsam haben.
In Zukunft wird sich das Fernsehen vom Wohnzimmermedium zum Abrufdienst auf mobilen Endgeräten entwickeln. In einigen Jahren wird es vielleicht noch frei empfangbare Fenster für eine gewisse Grundversorgung geben, doch der Rest ist Pay TV; audiovisuelle Nutzung wird im Wesentlichen auf Abruf funktionieren. Schon heute leben junge Nutzerinnen und Nutzer längst ein Medienverhalten, das die Fernsehlandschaft stärker beeinflusst als die Einführung der Fernbedienung: weil sie sich dem Diktat des vorgegebenen Programmablaufs widersetzen. Diese Haltung war Voraussetzung für den enormen Erfolg von YouTube, wo Nutzerinnen und Nutzer durch die Eingabe bestimmter Suchbegriffe ihre eigene Programmdirektion übernehmen.Inhaltlich kann das Fernsehen seine Existenz also nur sichern, wenn es originäre Seh-Erlebnisse schafft, und damit ist nicht die Übertragung externer Ereignisse gemeint. Was immer man zum Beispiel von den diversen Ausschlachtungen der Marke Raab halten mag: Mit seinen ausufernden Darbietungen (Schlag den Raab, Wok-WM) ist es Stefan Raab gelungen, Live-Erlebnisse zu kreieren, die seine Zielgruppe gesehen haben muss. Auf der anderen Seite ist es fatal, wenn öffentlich-rechtliche Angebote kurzlebigen Trends hinterher hecheln: Weil niemand Lust hat, für einfallslose Kopien kommerzieller Erfolgssendungen, die ihrerseits bloß Adaptionen ausländischer Formate sind, auch noch Geld zu bezahlen. Gerade die ARD definiert Qualität in der Regel über den Marktanteil. Sendungen mit Erkenntnisgewinn gibt’s zumeist erst nach den Tagesthemen. Sortiert man den Fernsehkuchen übrigens nicht nach Sendern, sondern nach Senderfamilien, stehen ARD, ZDF und ihre Ableger plötzlich sogar recht gut da: Bei Zuschauerinnen und Zuschauern unter fünfzig belegte man im ersten Halbjahr 2008 hinter der RTL-Gruppe (32,7 Prozent) und der ProSiebenSat.1-Familie (28,9 Prozent) mit 25,4 Prozent (erstes Halbjahr 2008) einen guten dritten Platz.
- Tilmann P. Gangloff: Werteverfall im Dschungelcamp?
Tilmann P. Gangloff: Werteverfall im Dschungelcamp?
Im Januar hat RTL neue Staffeln seiner beiden ebenso umstrittensten wie erfolgreichsten Formate gestartet: Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! und Deutschland sucht den Superstar. Gerade Dieter Bohlens unsensible Bewertungen der mitunter allerdings in der Tat völlig talentfreien Darbietungen haben DSDS nicht nur in Verruf gebracht, sondern auch den Jugendschutz herausgefordert. RTL musste wegen mehrfacher Verstöße ein Bußgeld in Höhe von 100.000 Euro bezahlen. „Beleidigende Äußerungen und antisoziales Verhalten werden in dem TV-Format als Normalität dargestellt. So werden Verhaltensmodelle vorgeführt, die Erziehungszielen wie Toleranz und Respekt widersprechen. Das kann auf Kinder desorientierend wirken“, findet Wolf-Dieter Ring, Vorsitzender der Kommission für Jugendschutz (KJM).
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor schädlichen Medieninhalten müsse Vorrang vor Gewinnmaximierung haben; das sei keine Frage des Geschmacks. Auch Maya Götz, Leiterin des Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (München), hält Sendungen wie Ich bin ein Star ... oder DSDS gerade hinsichtlich der Wertevermittlung für problematisch: „Bestimmte Dinge werden ganz selbstverständlich als bewundernswert herausgestellt. Gerade im Dschungelcamp bekommen ‚Leistungen’ einen Wert, die weder sinnvoll noch zukunftsfähig für Kinder und Jugendliche sind. Für sie ist eine medienkompetente Diskussion besonders schwer: weil niemand die grundlegende Frage nach dem Sinn stellt oder zum Boykott aufruft, sondern sich alle bloß mit Leidenschaft über Details aufregen.“Immerhin hat sich RTL reumütig gezeigt und versprochen, die Casting-Folgen künftiger DSDS-Staffeln vor der Ausstrahlung der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) vorzulegen. Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der FSF und studierter Theologe, hat ohnehin erhebliche Zweifel an der Theorie des Werteverfalls: „Ältere Generationen denken dauernd, der Jugend kämen die Werte abhanden. Aber Jugendliche stellen in der Pubertät alle Werte in Frage, das gehört quasi zum entwicklungspsychologischen Standard zivilisierter Gesellschaften.“ Die Rolle des Fernsehens sieht er dabei sogar positiv: „Medien sind Werteagenturen.
Sie stellen verschiedene Fälle von gefühltem Werteverlust vor und zwingen uns als Publikum, uns zu positionieren.“ Gerade das Privatfernsehen provoziere zur öffentlichen Diskussion, weil es immer wieder Dilemmata präsentiere. Bei DSDS zum Beispiel sei dies das Dilemma zwischen innerer und äußerer Moral: „Viele der DSDS-Kandidaten sind völlig untalentiert. In unserer inneren Bewertung würden wir genauso urteilen wie Bohlen. Aber es ist etwas anderes, das dem Betroffenen ohne Umschweife ins Gesicht zu sagen. Darüber empören wir uns.“ Als Zuschauerin oder Zuschauer ist man also gezwungen,darüber nachzudenken, wie man mit Menschen umgehen soll, die sich offenkundig völlig überschätzen. Untersuchungen haben dieses Dilemma bestätigt: Man empfindet gleichzeitig Schadenfreude und Mitgefühl. Diese Gefühlsambivalenz, sagt der FSF-Chef, zwinge das Publikum zur Reflektion. Außerdem erlebten Jugendliche Menschen wie Bohlen ständig: in der Familie, in der Schule, in der Lehre. DSDS sei für sie in gewisser Weise also eine Simulation des Alltags, was unter anderem den Erfolg des Formats erkläre.
Den Erwachsenen wiederum biete das Konzept die Möglichkeit, ihren eigenen Stil auf einer Metaebene zu hinterfragen: „Ihnen wird vor Augen geführt, wie es wirkt, wenn man mit jungen Menschen etwas rauer umspringt.“Beide Sendungen, Ich bin ein Star ... wie auch DSDS, haben für Joachim von Gottberg, der seine Haltung zu dem Thema ausführlich in dem Buch „Verlorene Werte?“ erläutert, jedoch nichts mit Jugendschutz zu tun: „Wir kommen kaum weiter, wenn wir solche Sendungen mit Verboten bekämpfen, schließlich werden keine Grundrechte verletzt.“ Trotzdem begrüßt er es, dass sich Menschen über die Formate empören: „Wäre das nicht der Fall, müsste man sich um die moralische Verfasstheit der Deutschen Sorgen machen.“
Beitrag aus Heft »2009/01: Medienpädagogik in Ganztagsschulen«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Wege zum Ruhm
Tilmann P. Gangloff: Wege zum Ruhm
„Man braucht zwanzig Jahre, um über Nacht zum Star zu werden“, heißt es im Showbusiness. Das gilt allerdings nur für die geregelte Karriere. Seit einigen Jahren bietet das Fernsehen mit den Casting-Shows eine höchst reizvolle Abkürzung. Die kürzlich zu Germany’s Next Topmodel“ gekürte Sara Nuru aus Erding bei München oder der aktuelle „Superstar“ Daniel Schuhmacher aus Pfullendorf am Bodensee brauchten nur wenige Wochen, um berühmt zu werden. Wie lange ihr Ruhm anhält, ist eine ganz andere Frage. Tatsache ist jedenfalls: Sie haben es geschafft, ihre Fans ein ganzes Frühjahr lang in Atem zu halten. Gerade unter jungen Zuschauerinnen und Zuschauern gehört es quasi zum guten Ton, über die jüngsten Entwicklungen bei Deutschland sucht den Superstar (DSDS, RTL) oder dem Topmodel-Casting (ProSieben) informiert zu sein.
Genau dies ist laut Bernd Schorb, Professor für Medienpädagogik am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender des JFF – Instituts für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, der entscheidende Grund für die imposanten Zuschauerzahlen: „Man muss die Sendungen gesehen haben, um in seiner ‚Peergroup’, im gleichaltrigen Freundeskreis also, mitreden zu können.“ Junge Frauen nutzen Germany’s Next Topmodel seiner Meinung nach aber auch, um eine Identität aufzubauen: „Aussehen und Wirkung auf andere haben in diesem Alter eine große Bedeutung. In den Shows werden Entwürfe angeboten, mit denen man sich ohne jedes Risiko identifizieren oder die man ablehnen kann.“ Gewissermaßen Expertin für dieses von Medienpsychologen „parasoziale Interaktion“ genannte Phänomen ist Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) München. Ihre Forschungen befassen sich seit vielen Jahren mit den Fernsehvorlieben von Kindern und Jugendlichen. Bislang suchten sich gerade weibliche Teenager ihre Vorbilder vor allem in sogenannten Daily Soaps wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten (RTL). Die Castingshows haben den täglichen Serien etwas den Rang abgelaufen.
Für Götz hängt das vor allem mit dem Wertewandel der Zielgruppe zusammen: „Vor zehn oder zwanzig Jahren wären diese Sendungen längst nicht so erfolgreich gewesen wie heute. Seither sind die sozialen Ängste der Jugendlichen enorm gewachsen. Ihre Perspektiven sind ungewiss; sie müssen damit rechnen, dass sie den sozialen Status ihrer Eltern wahrscheinlich nicht erreichen werden.“ Tatsächlich sind die Unterschiede etwa zu den Achtzigern enorm. Ein gewisser Markus Mörl hat das Lebensgefühl jener Jahre durch seinen Schlager Gib Gas, ich will Spaß auf den Punkt gebracht. Mit ihrer Leistungsorientierung führen heutige Jugendliche ein deutlich konservativeres Dasein. Und da dieses Leistungsprinzip auch die Castingshows dominiert, dienen sie dem jungen Publikum quasi als Schule fürs Leben. Maya Götz hat allerdings festgestellt, dass die deutschen Formate im Gegensatz etwa zu den britischen oder amerikanischen Versionen extrem auf die zentralen Figuren Heidi Klum und Dieter Bohlen zugeschnitten sind: „Beide werden wie Meisterin und Meister präsentiert, was die Teilnehmer und damit auch die jungen Zuschauer automatisch zu Lehrlingen degradiert.“ Die Inszenierung gerade von DSDS unterstütze diesen Eindruck: „Auf diese Weise wird überzeugend nahegelegt, dass es gar keine Alternative zu den Deutungsmustern von Bohlen geben kann.“ Gerade Bohlen sorgt mit seinen verächtlichen Äußerungen zudem immer wieder für Empörung. Bernd Schorb hält dieses Verhalten des Musikproduzenten und früheren Popstars für höchst problematisch.
Der Pädagoge fürchtet, Bohlens Beleidigungen könnten zu einer „Entgrenzung“ führen: „In einer ohnehin verunsicherten Lebensphase fragen sich Jugendliche, denen es auf dem Schulhof ähnlich ergeht wie Bohlens Opfern, ob sie sich überhaupt gegen diese Erniedrigungen wehren dürfen, schließlich scheint so ein Verhalten ja ganz normal zu sein, wenn es im Fernsehen vorgemacht wird.“ Jan-Uwe Rogge, einer der bekanntesten Erziehungsberater des Landes, hat allerdings „kein Verständnis für die Arroganz und Besserwisserei mancher Erwachsenen, die vor Jahrzehnten selber ‚Bravo’-Poster in ihren Zimmern aufgehängt und von einer Karriere als Popstar oder Mannequin geträumt haben.“ Rogge attestiert den Castingshows nicht nur handwerkliche Professionalität: „Sie gehen sehr konsequent auf latente Bedürfnisse und Sehnsüchte der Pubertierende ein.“ Natürlich würden die Teilnehmenden „mehr oder minder vorgeführt, aber genau das ist ja Teil der Inszenierung: Die Zuschauerinnen und Zuschauer fiebern, ja leiden mit ihnen. Sie sind Identifikationsobjekte, in die man eigene heimliche Wünsche legen kann.“ Irgendwann sei diese Zeit dann vorbei; wie sich ja auch heutige Eltern an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung endgültig von ihrer Bravo-Phase verabschiedet hätten.
Beitrag aus Heft »2009/04: Informationelle Selbstbestimmung?!«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Wie das Fernsehen auf unterhaltsame Weise Bildung vermittelt
Tilmann P. Gangloff: Wie das Fernsehen auf unterhaltsame Weise Bildung vermittelt
Sollten Studienräte auf den Nobelpreisträger Werner Heisenberg nicht gut zu sprechen sein, hat das seinen Grund. Der Entdecker der Heisenbergschen Unschärferelation hat mal gesagt: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles, was man in der Schule gelernt hat, vergisst.“ Ein Großteil jenes Wissens, das man nicht in der Schule gelernt hat, stammt aus Zeitungen und Zeitschriften, aus Büchern, aus dem Internet und natürlich aus dem Fernsehen. In seiner Frühzeit in den Fünfzigern sollte das Medium hierzulande ausdrücklich „zur Gesundung der Volksseele“ (Adolf Grimme) beitragen. Das ist zwar lange her, aber Bildung gehört neben Information und Unterhaltung nach wie vor zu den ausdrücklichen Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Und seit die kommerzielle Konkurrenz entdeckt hat, dass Wissen nicht nur Spaß macht, sondern auch ordentliche Marktanteile bringt, kann man dank Sendungen wie „Galileo“ (ProSieben) oder „Clever“ (Sat.1) auch bei den Privatsendern was lernen. Die Frage ist bloß: Tut man das auch? Oder vermitteln die Magazine nur das Gefühl, seine Zeit nicht verschwendet zu haben? Die Meinungen gehen auseinander. Ranga Yogeshwar, der wohl bekannteste Wissenschaftsjournalist des deutschen Fernsehens, hält die Wirkung des Mediums für überschätzt: „Beim Buch ist das anders, da ist man ungleich aktiver und entscheidet selbst, wann es weitergeht. Das Fernsehen aber plätschert vor sich hin; es ihm völlig egal, ob ein Zuschauer innerlich vielleicht längst abgeschaltet hat.“ Yogeshwar hat das Wissenschaftsfernsehen mit der Magazinreihe „Quarks & Co.“ (WDR) zu seiner Blüte gebracht. In „Wissen vor 8“ (im Vorabendprogramm der ARD) gelingt ihm sogar das Kunststück, komplexe Sachverhalte in 150 Sekunden zu erklären. Auf diesen Wissensbissen basiert auch sein soeben erschienenes jüngstes Buch, „Sonst noch Fragen?“ (Kiepenheuer & Witsch, 308 Seiten, 8,95 Euro), in dem er lehrreich und kurzweilig typischen Alltagsphänomen auf den Grund geht: Warum bekommen Frauen kalte Füße? Wie entsteht Muskelkater? Solche Themen kommen den Erwartungen einer Zielgruppe entgegen, die von „Galileo“ geprägt worden ist. Für das ProSieben-Magazin hat Yogeshwar allerdings nur Kritik übrig: „Es vermittelt ein völlig verzerrtes Bild von der Realität. Für die Zuschauer sind Wissenschaftler junge Männer, die sich im Parka und unter Einsatz ihres Lebens auf hochdramatische Weise der Forschung verschrieben haben.“ Außerdem findet im Fernsehen natürlich kein interaktiver Prozess statt. Wie vor fünfzig Jahren, als die Redakteure der ersten Generation das Medium als Volkhochschule der Nation betrachteten, bleibt die Wissensvermittlung einseitig; ganz gleich, ob es sich wie bei „Galileo“ um informative Unterhaltung oder wie bei „Abenteuer Wissen“, „Abenteuer Forschung“ (beide ZDF) und dem Kindermagazin „Wissen macht Ah!“ (WDR/Kika) um unterhaltende Information handelt. „Wahrer Wissensdurst muss sich von innen aufbauen“, sagt Yogeshwar, das sei auch das Problem der Schule, wo Wissen von oben nach unten vermittelt werde. Außerdem sei nicht überall, wo Wissen draufsteht, auch Wissen drin. Tatsächlich haben sich die Angebote von ARD und ZDF unter dem Konkurrenzdruck von RTL & Co. enorm gewandelt. Dass die Mainzer ihre Wissensmagazine immer noch und mit Erfolg zur besten Sendezeit ausstrahlen, ist durchaus keine Selbstverständlichkeit; „W wie Wissen“ (ARD) zum Beispiel läuft sonntags gegen 17 Uhr. Anders als Yogeshwar bricht Peter Arens, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft, eine Lanze für ProSieben: Mit der täglichen Ausstrahlung von „Galileo“ habe sich der Sender „um einen jüngeren, populäreren Zugang zu Wissen und Wissenschaft verdient gemacht, zumal sich die Redaktion um eine einfallsreiche Ästhetik bemüht.“ Im Unterschied zu „Galileo“ hätten die Formate des ZDF allerdings insgesamt einen strengeren Zugang zu Wissenschaft: „ProSieben würde eher fragen, warum der Himmel blau ist und die Banane krumm. Themen aus Bereichen wie Klimaforschung, Gentechnologie oder Ressourcennutzung findet man bei uns.“ Arens ist absolut überzeugt, dass das Fernsehen Wissen vermitteln kann – unter bestimmten Bedingungen: „Nur wer fasziniert ist, lernt auch. Also dürfen wir kein akademisches Programm machen, sondern müssen moderne Filme anbieten.“ Deshalb werden anspruchsvolle Themen in der ZDF-Reihe „Terra X“ (sonntags, 19.30 Uhr) mit Hilfe vieler Spielszenen attraktiv verpackt; auf diese Weise haben die Angebote mitunter mehr Ähnlichkeit mit einem Spielfilm als mit der klassischen Dokumentation. Ginge es nach Arens, müsste Wissensfernsehen noch stärker aufgewertet werden: „weil Wissen und Bildung neben Gerechtigkeit eine Pflichtleistung der Gesellschaft sind, und für diese Inhalte beim Fernsehen stehen zu dürfen, ist ein großes Privileg.“
Beitrag aus Heft »2009/05: Medienpädagogik international«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Keine weiteren Fragen
Tilmann P. Gangloff: Keine weiteren Fragen
Wenn Thomas Gottschalk heute verkünden würde, im Sommer sei Schluss mit Wetten, dass..? – So richtig überrascht wäre niemand. Die Ankündigung Willi Weitzels, sich aus dem Kinderfernsehen zurückzuziehen, wird zwar kaum vergleichbare Wellen schlagen, ist für die Zielgruppe aber ein ungleich größerer Verlust. Gottschalks Quoten bröckeln schließlich schon seit geraumer Zeit, von der immer wieder unterstellten Amtsmüdigkeit ganz zu schweigen. Weitzels Status im Kinderfernsehen ist ein ganz anderer. Sein Nimbus entspricht längst der Rolle, die einst Peter Lustig (Löwenzahn) im Leben heutiger Erwachsener spielte.Weitzel, dessen Reportagereihe Willi wills wissen unter anderem mit dem Robert-Geisendörfer-Preis, dem Erich-Kästner-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet worden ist, hat nicht nur Kinder, sondern auch Eltern stets durch Unbefangenheit und Natürlichkeit beeindruckt. Seine Authentizität war die Basis für den Erfolg: Man hat ihm immer abgenommen, dass seine Neugier nicht bloß gespielt war, wenn er bei Polizei, Feuerwehr und Müllabfuhr hinter die Kulissen schaute. Weitzel war nie bloß dabei, sondern immer auch mittendrin. In der preisgekrönten Folge über Obdachlose hat er gemeinsam mit Stadtstreichern im Park übernachtet und ist bei einem Überfall verletzt worden.
In der Reihe Willis VIPs hat er die Zielgruppe mit Reportagen über Anne Frank oder den Auschwitz-Überlebenden Max Mannheimer auch mit unbequemen Themen konfrontiert. Damit ist nun Schluss: Willi wills nicht mehr wissen. „Ich bin acht Jahre lang für 180 Ausgaben von Willi wills wissen quer durch Deutschland und die halbe Welt gereist; jetzt habe ich das Gefühl, dass mir keine Fragen mehr einfallen.“ Weitzel hat sich den Abschied nicht leicht gemacht, zumal er sich seiner Verantwortung durchaus bewusst ist: „Am liebsten würde ich jeden Fan persönlich trösten.“ Eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für den Rücktritt hat seine Tochter gespielt: Seit ihrer Geburt vor eineinhalb Jahren hat Weitzel, mittlerweile 37, das Gefühl, er sei auf die Seite der Erwachsenen gewechselt. Als er kürzlich von dreiwöchigen Dreharbeiten in Island zurückkehrte, stand sein Entschluss fest: „Was hat meine Tochter davon, dass mich die Kinder lieben, sie selbst ihren Papa aber öfter im Fernsehen als zuhause erlebt?“ Weitzel nimmt sich mit seinem Rückzug eine „kreative Auszeit“. BR-Redakteur Andreas M. Reinhard gibt allerdings die Hoffnung nicht auf, dass sein Schützling irgendwann ins Kinderfernsehen zurückkehrt: „Wenn Willi jetzt kürzer treten und über sich und seine Rolle reflektieren will, so verstehen und respektieren wir das natürlich. Aber wir wissen alle, dass man sich auch im Berufsleben immer mindestens zweimal trifft.“ Reinhard versichert, man werde jetzt nicht nach einem neuen „Willi“ suchen.
Betroffen von dem Rücktritt ist natürlich auch der KI.KA, der sämtliche Formate mit Weitzel ausstrahlt. KI.KA -Geschäftsführer Steffen Kottkamp verliert eines seiner Zugpferde, aber auch er hat Verständnis für Weitzels Entschluss: „Willi hat unglaublich viele Talente. Er ist Lehrer, Reporter, Moderator und Schauspieler. Er schafft es auf unnachahmliche Weise, die Perspektive der Kinder einzunehmen. Nicht zuletzt deshalb wird er von ihnen geliebt: Er ist eben wie sie. Da kann man sich auch mal eine kleine Auszeit nehmen.“
- Tilmann P. Gangloff: Es kann nur besser werden
Tilmann P. Gangloff: Es kann nur besser werden
Der Rundfunkrat des MDR hat grünes Licht für die Online-Pläne des KI.KA gegeben, die Projekte kikaninchen.de und die Mediathek KIKAplus zu starten. Gerade an das Vorschulportal werden große Hoffnungen geknüpft. Eine Analyse vergleichbarer Internetportale zeigt, dass ein fundiertes, auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten der jungen Nutzerinnen und Nutzer ausgerichtetes Angebot überfällig ist: Die meisten Veranstalter scheinen die Kinder vor allem für die spätere Nutzung von Video- und Computerspielen ausbilden zu wollen.Die ARD-Kinderseite (www.kinder.ard.de) ist so etwas wie das Einstiegsportal zu den Angeboten für Kinder aller ARD-Anstalten. Vorschultauglich allerdings sind nur wenige, rundum empfehlenswert allein die beiden Angebote des WDR. Der Web-Auftritt des Kinderklassikers Die Sendung mit der Maus (www.wdrmaus.de) bietet einreichhaltiges, auf die Zielgruppe zugeschnittenes Angebot.
Die Seite ist ein wahrer Tummelplatz, auf dem man immer wieder neue überraschende Angebote findet. Neben Lach- und Sachgeschichten bietet sie je rund ein Dutzend Spiele, Ausmalvorlagen, Bastelanleitungen und Rezepte. Die Spiele sind überwiegend lustiger Zeitvertreib. Pädagogisch ausgereifter ist die Seite mit dem Elefanten (www.wdrmaus.de/elefantenseite), die auf den gleichen Grundsätzen wie die Sendung mit dem Elefanten basiert. Zu jedem einzelnen Angebot gibt es einen Elternbereich mit Informationen über die jeweiligen Lernziele. Die Seite ist insgesamt stärker auf Online-Anfängerinnen und -Anfänger ausgerichtet als die Maus-Website. Die Navigation ist einfach und leicht zu durchschauen. Sympathisch ist auch die reduzierte Anmutung.
Die Spiele sind für Online-Anfängerinnen und -Anfänger leicht zu durchschauen, da eine Kinderstimme die Regeln erklärt. Auch die Sandmännchen-Seite des RBB (www.sandmann.de) hält ein reichhaltiges Angebot bereit, das von Information über verschiedene Filmfiguren bis zu Geschichten reicht, die sich die Kinder erzählen oder von Eltern vorlesen lassen können. Viele Spiele sind schlichte Formen von Jump & Run-Games, bei denen die Figuren vorwärtsstrebend Hindernissen ausweichen müssen. Die Seiten der anderen ARD-Sender richten sich meist an Kinder im Grundschulalter, ebenso tivi.de, die Kinderseite des ZDF. Der sparsame Vorschulbereich ist nicht mal ausdrücklich ausgewiesen und ebenso wenig mit dem großen Spektrum der Elefantenseite zu vergleichen wie der Vorschulbereich im KI.KA, der mit seiner bunten Aufmachung an kommerzielle Angebote erinnert: Die Glücksbärchis würden besser zu Super RTL passen. Die entsprechende Website ist genauso bonbonbunt und infantil wie die Serie. Einige der Herausforderungen hingegen dürften selbst jüngste Nutzerinnen und Nutzer unterfordern. Ungleich komplexer, aber dafür nicht gratis ist der Toggolino Club von Super RTL (www.toggolinoclub.de).
Nicht zu Unrecht fürchtet der Sender angesichts der Pläne für kikanichen.de um seine Pfründe. Der Club richtet sich an Drei- bis Siebenjährige und bietet unter anderem rund 130 (Lern-)Spiele. Die jährlichen Kosten betragen 69 Euro. Nach Angaben von Super RTL hat der Toggolino Club derzeit 70.000 Abonnentinnen und Abonnenten. Die Spiele sind rund um die Figuren der Vorschulserien des Senders gestaltet. Der angekündigte Mehrwert klingt mitunter jedoch vielversprechender, als die Spiele halten können; die sind zum Teil hinsichtlich der Animation wie auch des Einfallsreichtums doch eher schlicht. Es kann also nur besser werden.
- Tilmann P. Gangloff: Ob Manni oder Roary – am Ende bleibt es immer Bob
Tilmann P. Gangloff: Ob Manni oder Roary – am Ende bleibt es immer Bob
Weil die Welt nicht so heil ist, wie wir alle gerne hätten, verbringen viele kleine Kinder den Vormittag nicht im Kindergarten, sondern zuhause; und da ist der Fernseher oft der einzige Spielgefährte. Programmmacherinnen und -macher stehen daher auf dem Standpunkt: Wenn Vorschulkinder schon Zeit vor dem Fernsehgerät verbringen, dann sollen sie dort auch Sendungen finden, die exakt auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. So weit die Theorie. In der Praxis zeigen Ki.ka , Super RTL und Nickelodeon in den Morgenstunden wöchentlich insgesamt rund sechzig Stunden Vorschulfernsehen; und das, obwohl aus der Zielgruppe mitunter nicht mal 100.000 Kinder zuschauen.
Das Angebot besteht beispielsweise bei Nick jr., der Vorschulstrecke des Senders Nickelodeon, auch schon mal aus acht Folgen der Serie Backyardigans hintereinander. Die einzelnen Episoden sind nicht etwa wie bei vielen anderen Produktionen knapp zehn Minuten lang, sondern dauern fast eine halbe Stunde. Wenn der Kinderkanal von ARD und ZDF das Konkurrenzprogramm seit Oktober mit der Programmfläche Kikaninchen kontert, ist das also weit mehr als bloß ein sympathisches Wortspiel. Zum einen versucht der KI.KA durch diese Markenbildung, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Das Vorschulfernsehen war lange eine öffentlich-rechtliche Domäne, weil ein Sender wie Super RTL in diesem Bereich früher kaum Erlösmöglichkeiten sah. Aber auch der KI.KA vernachlässigte den vermeintlichen Selbstläufer. In der Vorabendschiene mit dem „Abendgruß“ vom Sandmann, in vielen Familien ein fest in den Tagesablauf integriertes Ritual, ist der KI.KA zwar klarer Marktanteilsfavorit. In den Morgenstunden aber hatte Super RTL schon 2008 die Nase vorn, in diesem Jahr konnte der Vorsprung bei den Drei- bis Fünfjährigen (6.00 bis 10.15 Uhr) deutlich ausgebaut werden. Super RTL erreicht nach eigenen Angaben über 52 Prozent der Kinder, die zu dieser Zeit vor dem Fernseher sitzen, der KI.KA kommt nur auf gut 21 Prozent. Doch das ist Senderpolitik. Entscheidender aus Sicht kritischer Eltern ist die Qualität des Programms und auch in dieser Hinsicht hat der KI.KA Nachholbedarf. Seit vor rund zehn Jahren die Stopp-Trick-Serie Bob der Baumeister ihren Siegeszug durch die Kinderwelt antrat, haben die Geschichten des immer gut gelaunten Gemeindearbeiters Dutzende von Nachahmern gefunden und die bevölkern jetzt das Programm der Kindersender, auch das des Kinderkanals. Medienpädagogischen Mehrwert sucht man vergebens. Immerhin helfen die Sendungen ihren jungen Zuschauerinnen und Zuschauern, eine soziale Kompetenz zu entwickeln.
Die Botschaft all dieser Produktionen lautet schlicht: Nur gemeinsam sind wir stark. Während Bob bei Super RTL Verstärkung durch Meister Manny und seine Werkzeugkiste bekommt, brummen beim KI.KA ein kleiner roter Traktor und Roary der Rennwagen durch die Gegend, beides selbst nach Einschätzung von ARD-Mitarbeitern „die achte und die neunte Variante von Bob der Baumeister“. Mit Kikaninchen wird das Vorschulprogramm keineswegs auf einen Schlag völlig anders, aber es ändert sich immerhin schon mal. Die Hauptf igur selbst, ein sympathisches blaues Kaninchen, das sprechen kann und mit seinem Freund Christian (der Schauspieler Christian Bahrmann, 34) Abenteuer erlebt, ist die auffälligste Veränderung. Die kurzen, nur wenige Minuten langen Zwischenspiele sollen vor allem die Fantasie anregen. Da wird ein Schirm kurzerhand zur Rakete umfunktioniert, mit der die beiden in den Himmel fliegen, um dem Mann im Mond ein Ständchen zu bringen. Und natürlich wird auch der Vorschulklassiker schlechthin, die Sesamstraße, in die neue Schiene integriert. Medienpädagogisches Schmuckstück der dreieinhalbstündigen Programmfläche aber ist Die Sendung mit dem Elefanten vom WDR. Bei den kunterbunten Darbietungen wechseln sich Menschen und Zeichentricktiere in fröhlicher Folge ab. Die Sendung ist gewissermaßen der perfekte Vorschulersatz, weil die Kinder auf keinen Fall still in der Ecke sitzen, sondern hüpfen, singen und beiläufig auch was lernensollen. Also fast wie im Kindergarten.
- Tilmann P. Gangloff: Unheimliche Aufklärung im Internet
Tilmann P. Gangloff: Unheimliche Aufklärung im Internet
Früher war die Sache einfach: Pornofilme gab’s im Pornokino oder im Sexshop, und wer noch nicht 18 war, musste draußen bleiben. Wer heutzutage konsequent verhindern will, dass sich Minderjährige pornografische Filme ansehen, muss ihnen den Computer wegnehmen. Die Angaben schwanken zwar, aber mindestens sechzig Prozent der Jugendlichen ab 13 Jahren hat schon Erfahrung mit Internetpornografie gemacht. Jungs nutzen die einschlägigen Adressen deutlich häufiger als Mädchen, allerdings meistens im Kreis Gleichaltriger. Es wäre zwar übertrieben, von einer ‚Generation Porno‘ zu sprechen, weil laut einer Bravo-Studie nur acht Prozent der männlichen Heranwachsenden regelmäßig Pornos konsumieren; aber andererseits sind das eindeutig zu viele, um die Problematik zu bagatellisieren. Oftmals sind die Jugendlichen von purer Neugier getrieben, und sicherlich spielt auch die Hoffnung auf einen gewissen Lerneffekt eine Rolle. Nicht zu unterschätzen, sagen Sozialwissenschaftler, sei auch der Imageeffekt: Wer Pornos konsumiert, gilt als cool. Während Eltern ihren Kindern den Pornokonsum schon aus rein moralischen Gründen untersagen würden, warnen Psychologen vor möglicherweise weitreichenden Folgen. Je nach psychischem und sozialem Hintergrund der jungen Nutzerinnen und Nutzer könne „die mechanische, leistungsorientierte, herabwürdigende Sexualität in Pornos einen mehr oder weniger negativen Einfluss auf die Sexualentwicklung“ haben. Umso wichtiger ist es, mit Kindern und Jugendlichen über den Umgang mit Pornografie zu reden. Die Frage ist bloß, wie. In der Pädagogik trifft das Phänomen genau in eine Schnittstelle: Sexualpädagogen haben meist wenig Kenntnisse von Medienpädagogik; und umgekehrt.
Beiden kann jedoch geholfen werden: Im Rahmen der EUInitiative klicksafe hat das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg in Kooperation mit pro familia Bayern den Baukasten Let’s talk about porno erarbeitet. Der Ansatz ist aufklärerisch, undogmatisch und wenig didaktisch; außerdem kommt das Material ohne moralische Vorbehalte aus. Die Texte lassen dennoch keinen Zweifel daran, dass man das Thema mit Jugendlichen behandeln muss: Damit das Weltbild, dass bei ihnen „hinsichtlich Sexualität und Geschlechterbeziehung entsteht, nicht von der Pornoindustrie geprägt wird.“ Das Arbeitsmaterial besteht aus vier Bausteinen. Pädagoginnen und Pädagogen müssen sich aber keineswegs mit Pornografie beschäftigen, um das Material zu nutzen; man kann ohne weiteres einzelne Projekte aus dem Zusammenhang herauslösen. In den Arbeitsaufgaben geht es zum Beispiel um die Sexualisierung von Sprache oder um Rollenklischees etwa in Rap-Songs. In anderen Projekten lernen gerade heranwachsende Mädchen, sich nicht allzu freizügig im Internet zu präsentieren oder sich gegen sexuelle ‚Anmache‘ im Internet zu wappnen. Bei jedem einzelnen Schritt wurde darauf geachtet, die Jugendlichen immer mit einzubeziehen, ohne dass sie intime Details preisgeben müssen.Nicht nur aus juristischen Gründen ist der Gegenstand des Baukastens pikant, schließlich sind pornografische Darbietungen nicht jugendfrei. Zwölfjährigen wiederum ist Sexualität tendenziell eher peinlich; konfrontiert werden sie trotzdem damit. Wie klug das Material konzipiert ist, zeigen schon allein die ausführlichen Vorbemerkungen, in denen den pädagogischen Fachkräften unter anderem geraten wird, sich mit Hilfe einer Selbsterkundung erst mal über die eigene Einstellung zum Thema klar zu werden. Ganz zu schweigen von der unvermeidbaren Recherche: Wer über Pornografie im Internet sprechen will, kommt nicht umhin, die entsprechenden Websites aufzusuchen. Außerdem gibt es ebenso plausible wie praktische Tipps für die Arbeit etwa im Unterricht.Mit den Arbeitsmaterialien Let’s talk about porno für Schule und Jugendarbeit können Pädagoginnen und Pädagogen das Thema Pornografie behandeln. Die 134 Seiten umfassende Broschüre kann unter www.klicksafe.de abgerufen werden. Für 3 € Schutzgebühr wird sie auch zugesandt. Das Material enthält vier Bausteine, jeweils mit mehreren Projekten. Dabei geht es etwa um Pubertät, Schönheitsideale, Castingshows, sexualisierte Kommunikation und konkret um Pornografie. Jedes Kapitel enthält nicht nur ausführliche Sachinformationen, sondern auch ergänzende Übersichten mit Lektüretipps und Internetadressen von Institutionen, die bei Bedarf weiterhelfen.
Beitrag aus Heft »2011/04: Migration und Medien: Vernetzung und Partizipation«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Wie Filme entstehen
Tilmann P. Gangloff: Wie Filme entstehen
Bundesverband Jugend und Film (Hrsg.) (2012). Film: Wie geht das eigentlich? DVD und ROM-Teil.
Wer sich schon lange für Medienpädagogik engagiert, dem muss die Doppel-DVD Film: Wie geht das eigentlich? wie die Erfüllung eines langgehegten Wunsches vorkommen. Das umfangreiche Angebot übertrifft in Schrift, Bild und Ton alle Erwartungen: Es gibt praktisch keinen Aspekt rund um das Medium Film, den Autorin Rotraut Greune nicht erklärt. Der besondere Vorzug dieses Medienpakets ist seine Vielseitigkeit: Zu sämtlichen Themen gibt es Multimedia-Präsentationen und Arbeitsmaterialien, die sich größtenteils auf die mitgelieferten Filmbeispiele beziehen. Als besonders wertvoll für die medienpädagogische Arbeit erweisen sich die Multimedia-Präsentationen, deren Sichtungszeit allein schon über hundert Minuten in Anspruch nimmt. Hier wird unter anderem die Entwicklung eines Films von der Idee über das Drehbuch bis zur Produktion beschrieben. In mehreren Einzelbeiträgen wird erläutert, wie Film technisch funktioniert. Neben Schnitt, Ton und Tricks wird auch die Syntax des Films erklärt, und zwar stets anhand konkreter Beispiele. Auf diese Weise lernen die jungen Nutzerinnen und Nutzer anhand so unterschiedlicher Produktionen wie Das Sams und dem ARD-Märchen vom Tapferen Schneiderlein, warum es sinnvoll ist, eine Action-Szene schnell zu schneiden und in einer Liebesszene besser auf Schnitte zu verzichten. D
ie Erläuterungen werden stets kindgerecht vorgetragen, sind inhaltlich aber zum Teil derart anspruchsvoll, dass selbst gestandene Medienpädagoginnen und -pädagogen noch dazulernen können. Die zweite DVD bietet Making of-Berichte bekannter Kinderfilme. Ungleich ergiebiger für die medienpädagogische Arbeit ist allerdings der ROM-Teil dieser DVD, denn er enthält die Arbeitsblätter zu den Kurzfilmen auf DVD 1. Die Vorschläge richten sich an unterschiedliche Altersgruppen und bieten reichhaltige Anregungen für diverse Unterrichtseinheiten zum Thema Film. Die Unterteilung der DVD in einzelne Module erweist sich als ausgesprochen praktikabel, weil man sich als Nutzerin oder Nutzer auf diese Weise seine eigene Vorgehensweise zusammenstellen kann. Gerade der ROM-Teil beeindruckt zudem durch seinen Einfallsreichtum. Natürlich gehören das Basteln von Streifen- oder Daumenkinos zum kleinen Einmaleins der Einführung in das Medium Film, aber einige andere Vorschläge und Anregungen für die Unterrichtsgestaltung zeugen von großer Sorgfalt und der Liebe zum Detail, mit der das Medienpaket gestaltet worden ist. Ein Klick auf den entsprechenden Begriff genügt, und die DVD präsentiert einen Bastelbogen für eine Wundertrommel oder eine Kopiervorlage für ein Streifenkino. Die verschiedenen Unterrichtseinheiten erstrecken sich je nach Modul über zwei bis acht Schulstunden. Das Themenspektrum orientiert sich an den Multimedia-Präsentationen.
Für viele Aspekte stehen zusätzliche Arbeitsblätter zur Verfügung. Sehr nützlich sind auch die Hinweise auf weitere Materialien für den Unterricht, darunter Webseiten für Lehrkräfte, Sachbücher, Praxisleitfäden oder Angebote der Bundeszentrale für politische Bildung. Herausgeber der DVD Film: Wie geht das eigentlich? ist der Bundesverband Jugend und Film (BJF). Sie erscheint im Rahmen der Reihe Durchblick. Unter diesem Sammelnamen veröffentlicht der BJF herausragende Kinder- und Jugendfilme für die nichtgewerbliche Auswertung. Informationen zum BJF sowie zur DVD und die verschiedenen preislichen Konditionen (Kaufpreis, Leihgebühren) gibt es unter www.bjf.info und www.durchblick-filme.de.
Beitrag aus Heft »2014/01: Machtmittel Medien – Pädagogik ohne Macht«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: KI.KA wird zehn Jahre alt und rüstet sich fürs Fernsehen von morgen
Tilmann P. Gangloff: KI.KA wird zehn Jahre alt und rüstet sich fürs Fernsehen von morgen
Als der altbackene Slogan aus den Anfangstagen, „Gewaltfrei, werbefrei, frei ab drei“, endlich zu den Akten gelegt wurde, war der Weg in der Tat frei: Endlich konnte der „Kinderkanal“ von ARD und ZDF, der bald darauf den deutlich griffigeren Namen „KI.KA“ bekam, auch ein Programm mit Ecken und Kanten zeigen. Die Verlängerung der Sendezeit bis 21.00 Uhr schuf die Möglichkeit, auch eine Zielgruppe jenseits des Vorschulalters anzusprechen. Das heißt zwar nicht, dass ab 20.15 Uhr Mord und Totschlag regieren; aber ein Format wie KI.KA-KRIMI.DE ermöglicht zumindest mal einen kleinen Tatort, und die Abenteuer von Bernd, dem ewig miesepetrigen Kastenbrot, erfreuen selbst Erwachsene. Aber selbst wenn Wissen macht Ah! das mit Abstand schrägste Wissensmagazin im deutschen Fernsehen ist: Anarchie ist im KI.KA-Programm die Ausnahme, eine Feststellung, die allerdings auch für alle anderen Kindersender gilt; es regiert die brave Bürgerlichkeit. Ein Image-Bringer wie die Dauerserie Schloss Einstein mit ihren moderaten Weltverbesserungsansätzen ist genau das, was Eltern ihren Kindern wünschen. Auch dafür gab es mal einen KI.KA-Slogan: „Wenn. Dann. Den“.
Will sagen: Wenn schon Kinderfernsehen, dann aber bitte mit Mehrwert; „viel Milch, wenig Kakao“ eben. Vermutlich hätte Programmgeschäftsführer Frank Beckmann gegen mehr Kakao gar nichts einzuwenden. Allein, es fehlt das Geld. Allerdings ist die Archivware nicht nur preiswerter als neue Produktionen, sondern offenbar auch beliebter. Gewiss wäre es gemein, wenn man behaupten würde, der Erfolg des öffentlich-rechtlichen Kinderkanals, der sein Programm seit dem 1. Januar 1987 ausstrahlt, basiere in erster Linie auf dem Besten von gestern.
Aber falsch ist es nicht: Wenn Eltern von Fernsehanfängern nach Sendungen suchen, die sie ihre Kinder bedenkenlos anschauen lassen können, fällt ihr Blick selbstredend als erstes auf Titel, die sie bereits kennen; und das sind neben der Sendung mit der Maus vor allem Zeichentrickklassiker wie Wickie und die starken Männer, Heidi und die Biene Maja. Prompt bescheren diese Serien dem KI.KA regelmäßig bärenstarke Quoten. Und das nicht bloß in der Zielgruppe der Drei- bis 13-Jährigen: Beim Gesamtpublikum schneidet der Kindersender nicht selten besser ab als kleine Sender wie Kabel 1 oder VOX, weil viele Eltern gemeinsam mit dem Nachwuchs vor dem Fernseher sitzen. Mit dem Sonntagsmärchen lässt man zuweilen gar die Müttersender hinter sich. Es könnte also alles bleiben, wie es ist; doch das tut es nicht. Gerade das Internet entwickelt sich zu einem ernstzunehmenden Konkurrenzmedium: Es genügt längst nicht mehr, bloß im Fernsehen ein toller Hecht zu sein; ohne erfolgreichen Internet-Auftritt kann man gleich einpacken. Diese „radikalste Umwälzung seit der Einführung des kommerziellen Fernsehens“ macht Beckmann zu schaffen: „Fernsehinhalte werden auf neuen Wegen zur Verfügung gestellt. Mit neuen Verbreitungswegen drängen auch neue Ideen auf den Markt“. Internetfernsehen, Handy-TV, digitale Verschlüsselung: Für den KI.KA-Chef ist die derzeitige Ruhe auf dem Markt trügerisch. Er rechnet nicht nur „mit neuen finanzkräftigen Konkurrenten“, sondern mahnt auch, der KI.KA dürfe „keinesfalls von den technologischen Entwicklungen abgekoppelt werden“. Die KI.KA-In-halte gehörten auf alle Plattformen, „mit denen wir Kinder erreichen können. Kinderfernsehen war schon immer mehr als das Programm auf der Mattscheibe“. Irgendwann nützt es eben nichts mehr, wenn das KI.KA-Programm nicht mal ’n Appel, sondern tatsächlich bloß ein Ei (18 Cent) im Monat kostet: Soll es seine Zielgruppe weiter erreichen, muss es dort präsent sein, wo sich die Kinder tummeln.
- Tilmann P. Gangloff: Die Früchte der Arbeit
Tilmann P. Gangloff: Die Früchte der Arbeit
Der Münchner Prix Jeunesse ist das älteste Festival seiner Art, in vielerlei Hinsicht einzigartig – und trotzdem beinahe Geschichte geworden: Vor zwei Jahren teilte der Bayerische Rundfunk mit, er könne sich die Veranstaltung nicht mehr leisten. Als dann auch das ZDF und die Bayerische Landeszentrale für neue Medien ihre Zahlungen einstellen wollten, schien die 21. Ausgabe des alle zwei Jahre stattfindenden Festivals auch die letzte zu sein. Allen Unkenrufen zum Trotz ist gerade der 22. Prix Jeunesse zu Ende gegangen, und zwei der fünf von allen Teilnehmern vergebenen Preise blieben sogar im Lande.Auch das Festival verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Offenbar ist kaum einem Besucher aufgefallen, dass die Veranstalter mit einem drastisch niedrigeren Etat auskommen mussten. Hinter den Kulissen hat sich allerdings einiges ganz entscheidend verändert. Das Selbstverständnis des Prix Jeunesse beschränkt sich traditionell nicht allein auf das Festival. Die Organisation hat stets auch „Entwicklungshilfe“ betrieben. Der so genannte Prix-Jeunesse-Koffer bringt preisgekürte Sendungen und innovative Fernsehformen auch zu all jenen Redaktionen, die sich eine Reise nach München nicht leisten können. Das Netzwerk der lateinamerikanischen Redakteure beispielsweise ist überhaupt erst durch die Vermittlung des Prix Jeunesse geknüpft worden. Zum Workshop-Angebot der Veranstaltung zählen daher auch Seminare, bei denen die Redaktionen berichten, wie sie den Prix-Jeunesse-Koffer einsetzen. Aber die Teilnehmer fahren nicht nur mit Anregungen nach Hause. Unschätzbar gerade für ärmere Sender ist der von der Union Europäischer Rundfunkveranstalter (EBU) initiierte „Items Exchange“: Jeder teilnehmende Sender bringt fünf Magazinbeiträge ein und darf dafür kostenlos aus den Vollen schöpfen. Ganz ähnlich funktioniert das UNICEF-Projekt „OneMinutesJr“, für das bereits mehrere hundert Minifilme entstanden sind. Der Koffer muss, mit verstärkter Unterstützung des Goethe-Instituts, in Zukunft alleine reisen; allerdings nicht allein aus finanziellen Gründen. Die neue Leiterin Maya Götz führt in Personalunion auch das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI, ebenfalls BR). Das hat den Vorteil, dass die beiden Institutionen viel stärker als früher voneinander profitieren und miteinander kooperieren können. Deshalb gab es als Herzstück des Festivals einen Ableger der alljährlichen vorweihnachtlichen IZI-Tagung: Unter dem Titel „What’s so funny?“ informierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt, was Kinder im Fernsehen lustig finden. Auch die Sender waren bei ihren Einreichungen gehalten, auf humoristische Aspekte zu achten.
Trotzdem fehlte den Diskussionen etwas die Würze. Die nach Alterszielgruppen und in die Bereiche „Fiction“ und „Non-Fiction“ unterteilten Sendungen zeichneten sich zwar durch eine eindrucksvolle Durchschnittsqualität aus, doch gleichzeitig mangelte es deutlich an Ausreißern nach oben wie nach unten. In früheren Jahren sorgte amerikanische Empörung über europäische Freizügigkeit auch schon mal für kleine Eklats. In diesem Jahr erschöpfte sich die Aufregung in Gesprächen über einen kurzen Film aus Holland, der unterschiedlichste Menschen beim Tanzen zeigt; einige von ihnen nackt. Groß gestört hat sich keiner dran. Auch ein Beitrag über Verdauung stieß einigen Teilnehmern unangenehm auf. Ohnehin scheint die Welt, wenn Sendungen und Abgesandte einigermaßen repräsentativ waren, wieder ein bisschen zusammengerückt; jedenfalls beim Kinderfernsehen. Natürlich gibt es nach wie vor unübersehbare kulturelle Unterschiede; unüberbrückbar aber scheinen sie nicht, im Gegenteil. So herrschte zum Beispiel weitgehend ablehnende Einigkeit in der Frage, ob Filme für Kinder explizit unglücklich enden sollten. Gerade in der Altersgruppe Grundschulkinder waren ungewöhnlich viele Produktionen mit Themen wie der Verarbeitung familiärer Traumata, Emigration, Problemen mit der eigenen Rolle oder gar dem Kampf ums nackte Überleben auffallend ernsthaft und wirklichkeitsnah. Trotzdem verzichteten die meisten Filme weitgehend auf allzu pädagogische Botschaften, die die Kinder erfahrungsgemäß verschrecken; diese Erkenntnis hat sich offenbar auch in Afrika und Asien durchgesetzt, wo man bis zuletzt unverdrossen mit erhobenen Zeigefingern gefuchtelt hat. Dass sich hingegen auch die handwerkliche Qualität signifikant verbessert hat, mag sich in Teilen mit gesunkenen Preisen für technische Ausrüstung erklären lassen; vor allem aber zeigen sich nun die Früchte eines jahrzehntelangen Engagements für das Kinderfernsehen in aller Welt. PreisträgerBei der 22. Ausgabe des Kinderfernsehfestivals Prix Jeunesse International (5. bis 10. Mai) haben WDR und ZDF zwei der fünf wichtigsten Preise gewonnen. In der Kategorie „Fiction“ für Vorschulkinder zeichneten die rund 370 Teilnehmer durch ihre Stimmenabgabe den kurzen Zeichentrickfilm „Pantoffelhelden“ von Susanne Seidel aus. Die Produktion der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ lief im Rahmen der „Sendung mit der Maus“ (WDR) und hat vor zwei Jahren bereits den Erich Kästner Preis erhalten. In der gemischten Kategorie „12 bis 15 Jahre“ siegte das ZDF mit dem Porträt „Kevin – lasst mich reden“ aus der Reihe „Stark!“. Ohne jeden Kommentar begleitet Autor Georg Bussek einen Jungen, der sich nur stotternd verständigen kann, die Behinderung aber im Verlauf eines Seminars mehr und mehr unter Kontrolle bekommt. In der Kategorie „Non-Fiction, 7 bis 11 Jahre“ wurden zwei weitere deutsche Produktionen nur knapp geschlagen: Eine Sonderausgabe der „Sendung mit der Maus“ über Japan kam auf Platz zwei, die Fußballshow „Toggo United“ (Super RTL) auf Platz vier. Weitere Preisträger sind die schwedische Produktion „Eva’s Winterplaster“ (Non-Fiction für Vorschulkinder), „The Scepter“ (Polen; Fiction, 7 bis 11 Jahre) sowie „Amigo“ (Dänemark; Non-Fiction, 7 bis 11 Jahre). Dieser Film erhielt auch den „Themenpreis“ des Festivals, das den Schwerpunkt „Humor im Kinderfernsehen“ hatte. „The Scepter“ wurde ebenso wie die BBC-Produktion „Serious Arctic“ von der Kinderjury ausgezeichnet. Neben diesen Preisen gibt es weitere, die im Namen von UNICEF und UNESCO vergeben werden. Der UNICEF-Preis zeichnet eine Sendung aus, die in vorbildlicher Weise schildert, wie Kinder ein gesundes, erfülltes und glückliches Leben führen können; er geht an „The Domaseller and the Badamwalla“ aus Bhutan, einen Film über Kinderarbeit, der mit dem Appell endet, wie wichtig es für Kinder ist, zur Schule zu gehen, damit ihnen das Schicksal der Hauptfiguren erspart bleibt. Der UNESCO-Preis belohnt Produktionen, die das interkulturelle Verständnis fördern. Preisträger ist „Little Peace of Mine“, ein israelischer Dokumentarfilm über einen zwölfjährigen Jungen, der einen Protest von Kindern gegen den über fünfzig Jahren währenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern organisiert hat. Der „BMW Spezialpreis“ gilt Sendungen, die mit denkbar niedrigem Budget zustande gekommen sind. Der Preis geht an den ägyptischen Film „Fatma“, das Porträt eines zehnjährigen Mädchens, das gegen den Willen seines Vaters eine Schule besucht.
Beitrag aus Heft »2006/03: Manga, Bollywood und Martial Arts«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tilmann P. Gangloff: Wünsche werden wahr
Tilmann P. Gangloff: Wünsche werden wahr
Weihnachten steht vor der Tür. Moritz, dreizehn und ein typisches Wohlstandskind, hat eine überraschend übersichtliche Wunschliste. Ein paar Punkte bloß, mehr will er ja gar nicht. Aber die haben’s in sich: Handy, Schlagzeug, Mountain-Bike. Und dann noch ein paar Kleinigkeiten von Lego, Baukästen, die mit Preisen von gut 100 Euro fast schon preiswert sind. Nach zähen Verhandlungen ist er bereit, das Schlagzeug zu streichen. Aber ein neues Fahrrad muss sein. Und das Handy auch. Seins ist nämlich völlig veraltet, sprich: Er hat es schon länger als zwölf Monate. „Der Jan-Karl“, sprudelt es aus ihm heraus, „hat jetzt ein neues von Motorola: mit MP3-Player, UMTS, Real-Tone-Player, Videoaufnahme und zwei Kameras!“ „Zwei Kameras?“, fragt der verblüffte Vater, dem langsam dämmert, warum die mobilen Telefone „Handy“ genannt werden: Zum Telefonieren braucht die finanzstarke jugendliche Zielgruppe die Dinger ohnehin nicht. „Na klar“, erklärt Moritz, viel zu begeistert, um über die Begriffsstutzigkeit zu stöhnen: „Eine für sich selbst und eine für die Umgebung!“. Das klingt plausibel. Der Vater, der sich zwar an seinem prachtvollen neuen LCD-Fernseher im 16:9-Format zu erfreuen weiß, sein mobiles Telefon aber nur dann einschaltet, wenn er auf Dienstreisen ist, stellt sich vor, wie das im Alltag funktioniert: Man macht ein Foto von seinem Kumpel und fotografiert gleichzeitig sich selbst. So was braucht der Mensch, keine Frage. Ebenso wie all die anderen nützlichen Dinge, zu denen solche Wunderwerke der Technik im Stande sind. Und ist sein olles Siemens-Telefon nicht auch längst von gestern? Aus dem letzten Jahrhundert sogar! Der Klingelton, er war von Anfang an drauf, klingt auch nicht so toll; kein Vergleich zu den Melodien, die einem um die Ohren fliegen, wenn man zur Mittagszeit mit Bus oder Bahn unterwegs ist. Ganz zu schweigen davon, dass man mit dem Telefon ja jetzt auch fernsehen kann. UMTS macht’s möglich.
Längst werden Inhalte allein für unterwegs produziert: Höhepunkte aus Daily Soaps, Nachrichten in leicht verdaulichen Häppchen, Fußball für den kleinen Sporthunger zwischendurch. Trotzdem: Ein Telefon bleibt ein Telefon. Für die „Kids“ allerdings nicht. In einem Anfall von Einsicht räumt Moritz ein, dass so ein „Handy“ durchaus Statussymbol sei. Er sagt das zwar anders („zum Angeben“), aber darauf läuft es hinaus. Man tauscht Klingeltöne und Hintergrundbilder, bereichert ausgewählte Freunde per Bluetooth um sexy Fotos und protzt ein bisschen. Jan-Karl zum Beispiel muss für sein Telefon nur 79 Euro zahlen und darf jetzt drei Monate kostenlos ins Internet. Was er sich da anschaut, wollen seine Eltern im Zweifelsfall gar nicht wissen. Aber sind die drei Monate erst mal vorbei, müssen sie die Rechnung zahlen. Und all das bloß, weil die Kinder uns treuherzig tief in die Augen schauen: „Stell’ dir vor, es passiert was, dann kann ich euch sofort anrufen! Und ich bin immer erreichbar! Wenn ich nach Hause kommen soll – Anruf genügt!“ Da ist ja auch was dran. Fehlt nur noch die Ausrede für Vater, der mit einem neuen Nokia-Telefon liebäugelt. Sein einziges Argument ist etwas lahm: Er würde kein Vermögen ausgeben, um sich jeden Tag neue Klingeltöne runterzuladen. Also wird wohl doch nix draus.
- Tilmann P. Gangloff: Geld für dein Leben
Tilmann P. Gangloff: Geld für dein Leben
Menschenwürde und PropagandaMedien sind symbiotische Produkte. Sie leben vom Interesse der Menschen an Ereignissen, die oft genug nicht zuletzt für die Medien inszeniert werden. Gelegentlich schaffen die Medien solche Ereignisse auch selbst - und sind dann verwundert über die Lawine, die sie losgetreten haben.
„Big Brother“ ist solch ein Medienereignis. RTL 2, ein völlig unbedeutender Privatsender, der sich mit billigen Reportagen, niedrigklassigen Sexfilmchen und schlüpfrigen Shows wie „Peep!“ oder „Strip!“ erfolgreich ein Ballermann-Image erworben hat, brauchte den Stein nur ins Rollen zu bringen; den Rest erledigte eine kooperative Medienlandschaft. Zu unfreiwilligen Handlangern des Senders und der produzierenden holländischen Firma Endemol machten sich dann ausgerechnet jene, die von Kanzeln und Rednerpulten herab das Ereignis schon Wochen vor dem eigentlichen Startschuss verdammten. In ihren öffentlichen Äußerungen sorgten Politiker, Kirchenvertreter und Aufsichtsbehörden für exakt die kostenlose Reklame, die dem Kölner Sender noch gefehlt hatte.Von „Menschenversuch“ war da die Rede und von Verstoß gegen die Menschenwürde; Innenminister Otto Schily sieht gar Paragraph 1 des Grundgesetzes verletzt („Die Würde des Menschen ist unantastbar“). Dem Einwand, die zehn Probanden im Kölner Containerhaus hätten sich aus freien Stücken auf das Experiment eingelassen (das „Selbstbestimmungsrecht“), entgegnen Schily & Co, Menschenwürde sei unveräußerlich. Die Veranstalter kontern mit Gutachten: Juristisch sei ein Verstoß gegen die Menschenwürde nicht festzustellen. Unverhohlene Zensurforderungen schmettern sie mit dem Hinweis auf die Rundfunkfreiheit ab; allein Gründe des guten Geschmacks, so Hubertus Gersdorf, Professor für Kommunikationsrecht, reichten nicht aus, um „bestimmte Sendeinhalte zu verbieten“.
In der Tat muss man, wie Gersdorf erläutert, Ethik und Recht strikt auseinanderhalten. Die Gegner von „Big Brother“ verweisen jedoch auf eine übergeordnete moralische Instanz. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (außerdem Vorsitzender der Medienkommission) vergleicht die Frage nach einer Zensur von „Big Brother“ mit der Übertragung einer Hinrichtung aus dem Ausland: „Müssten wir die Sendung abwarten, um ihre Menschenrechtswidrigkeit zu belegen?“ Norbert Schneider, Direktor der Düsseldorfer Landesmedienanstalt LfR, sieht - wie auch die katholische Kirche - Parallelen zwischen „Big Brother“ und dem „Turbokapitalismus“, jenem von dem amerikanischen Ökonomen Edward Luttwak dargestellte Phänomen, nach dem jede ungebremste ökonomische Entwicklung die natürliche Tendenz habe, sich alles untertan zu machen. Die Teilnehmer von „Big Brother“ werden nach Meinung der katholischen Kirche zu „Unterhaltungsfutter degradiert“. Neu sei dabei nicht der Ansatz der Instrumentalisierung, denn das geschehe ja auch bei „Wetten, dass..?“, sondern „die Schamlosigkeit, in der zwischenmenschliches Verhalten auf so direkte und ununterbrochene Weise offeriert wird“.Norbert Schneider spricht ergänzend von „intersubjektiver Menschenwürde“.
Er stellt die Frage, „ob es nicht analog zur Verletzung der Intimsphäre eine Verletzung der Öffentlichkeit...durch aufgezwungen Intimes geben könnte“. Nach Schneiders These müsste sich die Öffentlichkeit dagegen zu Wehr setzen, „komplizenhaft zum Zeugen von Intimem“ gemacht zu werden. Die nächste Frage wäre also: „Kann man sich diese Art von medialem, mediatisiertem Exhibitionismus als eine besondere Form der Selbstverstümmelung des Intimen verbitten?“ RTL-2-Chef Josef Andorfer würde vermutlich trocken auf die Fernbedienung verweisen. Seine Repliken klingen ohnehin nicht immer unbedingt elegant („RTL 2 fühlt sich der Unterhaltung verpflichtet und ist keine öffentliche Lehranstalt“). Mitunter hat der Österreicher allerdings nicht ganz Unrecht: „Angesichts der realen Überwachung der Bürger in der sozialen Wirklichkeit, die ohne deren ausdrückliche Zustimmung erfolgt, ist es schon fast zynisch, im Zusammenhang mit Big Brother von ‘totaler Überwachung’ zu sprechen!“ Um das Phänomen „Big Brother“ richtig einzuordnen, genügt es jedoch nicht, wenn man als Medienpolitiker andere Menschen für sich Fernsehen lässt und sich gelegentlich zu Wort meldet. „Big Brother“ ist nicht der Anfang vom Ende der abendländischen Kultur. Wer das glaubt, hätte kommerzielles Fernsehen nie zulassen dürfen. Die Sexshow „Tutti Frutti“, die Handgreiflichkeiten beim „Heißen Stuhl“, die Augenzeugen-Videos vom „Realitätsfernsehen“, die Dartpfeile auf einen nackten Rücken bei „Glücksritter“, die intimen Details in den täglichen Talkshows, das Würmerbad bei „Glücksrad“: samt und sonders Auswüchse privatwirtschaftlich organisierten Fernsehens. „Big Brother“ ist allenfalls der derzeitige Tiefpunkt dieser Entwicklung.
Worum es geht
Zehn Menschen lassen sich einsperren. Einer von ihnen wird schließlich hundert Tage im Containerhaus verbracht haben und dafür 250.000 Mark kassieren. Die anderen gehen leer aus, zumindest materiell gesehen; aber über gruppendynamische Prozesse werden sie mehr gelernt haben als jeder Psychologiestudent. Stein des Anstoßes ist natürlich die permanente Beobachtung; nicht mal auf dem Klo sind die Teilnehmer vor den (neu)gierigen Blicken geschützt, zumindest nicht vor denen der Techniker. Rund 20.000 Männer und Frauen wollten mitmachen in dieser Extremkombination aus Talkshow und Gameshow; und die sollen alle nicht gewusst haben, worauf sie sich einlassen?Dreißig Millionen Mark, schätzt RTL 2, wird „Big Brother“ letztlich kosten. Die Werbeeinnahmen, hofft man, werden bei 50 Millionen Mark liegen; ein gutes Geschäft also. Doch bereits kurz nach dem Auftakt nahm das Interesse der Fernsehzuschauer rapide ab; die Quote bei der avisierten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen sackte innerhalb von drei Tagen um fast 50 Prozent.
Immerhin wurde der Einzug der Gladiatoren von über 3,3 Millionen Zuschauern ab drei Jahren verfolgt; für RTL 2 eine satte Zahl, zumal man bei den 14- bis 49-Jährigen einen Marktanteil von 20 Prozent erzielen konnte. Dabei war schon der Auftakt eine Fernsehfälschung: Die zehn Teilnehmer - unter anderem ein arbeitsloser Zimmermann, eine Jura-Studentin, eine angehende Schauspielerin, ein Informatikstudent - fuhren angeblich live mit Luxuslimousinen vor, waren in Wirklichkeit aber schon zwei Tage zuvor eingezogen. In der Folgezeit bewahrheitete sich, was Kritiker vorhergesehen hatten: „Big Brother“ ist in etwa so spannend, wie einer frisch gestrichenen Wand beim Trocknen zuzuschauen. Und dabei präsentiert die gut dreiviertelstündige Abendsendung gewissermaßen die Highlights des Tages! Die Zusammenfassung erinnert jedoch fatal an eine ganz ähnliche Sendung des einstigen Frauensenders tm 3 zur gleichen Zeit: „Geld für dein Leben“, ebenfalls ein Endemol-Format (und ebenfalls vorher in Holland ausprobiert).
Hier erhielten diverse Zeitgenossen einen Crashkurs in Kameraführung und konnten fortan ihr ereignisreiches Dasein in digitalen Bildern festhalten. Eine Redaktion wertete das Bildmaterial aus und stellte die interessantesten Aufnahmen zu einer abendlichen Sendung zusammen; für jede ausgestrahlte Sekunde erhielten die Teilnehmer zehn Mark. Nach Realitätsfernsehen und Docu-Soaps nun das echte, wahre, ungeschminkte Leben. Wer weiß: Vielleicht hat „Big Brother“ dereinst ja den Status eines vergleichsweie harmlosen Vorläufers. Wenn zum Beispiel eine Hand voll Menschen auf einer einsamen Insel ausgesetzt werden, wobei die Produzenten ohne Frage auf Zustände wie in William Goldings Roman „Herr der Fliegen“ hoffen, wird es womöglich zu mehr als bloß zu zwischenmenschlichen Spannungen kommen. Im Unterschied zu „Big Brother“ ist man auf der Insel ja tatsächlich isoliert. Im „Big Brother“-Haus gibt es zwar weder Fernsehen noch Zeitungen oder Radio, aber es gibt einen Ausgang. Tatsächlich verließ die Rumänin Despina den Container bereits nach wenigen Tagen. Sie fühlte sich körperlich nicht wohl und kannte sich nach eigenem Bekunden „selbst nicht mehr“. Es fehlte die Spontaneität, die nötig ist, um beim Publikum Punkte zu sammeln.
Die Hausbesetzung reagierte solidarisch und setzte Despina fast einstimmig ganz oben auf ihre Liste; Despina konnte den Container verlassen. Doch es gehört zu den Spielregeln von „Big Brother“, dass die Teilnehmer zwei aus ihrer Reihe nominieren müssen, zwischen denen dann das Publikum entscheidet; der Verlierer muss gehen. Für Johanna Haberer, Medienbeauftragte der evangelischen Kirche, ist dies eines der Grundübel der Sendung: „Die Zuschauer werden zu einem gemeinschaftlichen Mobbing aufgefordert“. Im Container entschied man sich sichtlich schweren Herzens - die Teilnehmer dürfen jeden Tag einen Monolog mit einem Videotagebuch führen - für Slatko, den zweiten Ausländer, und für Thomas, den jüngsten im Bunde. Beide reagierten entsprechend betroffen, als „Big Brother“ (eine Stimme aus dem Off) die Nominierungen bekanntgab. Erste Risse im Gruppengefüge wurden sichtbar; eine Woche später votierten die Zuschauer gegen den jungen Thomas, der dann ebenso herzlich verabschiedet wurde wie zuvor Despina. RTL 2 ließ sich nicht beirren; um den ursprünglichen Terminplan einzuhalten, wurde eine junge Frau nachnominiert.
Spannungen soll natürlich auch die Infrastruktur im Haus fördern. Es gibt zum Beispiel bloß ein Klo, ein Waschbecken und eine Dusche, die zudem nur über eine begrenzte Menge warmen Wassers verfügt. Die gewitzten Teilnehmer nahmen diese Hürde spielend und erhitzten Wasser auf dem Herd, das sie dann in eine Gießkanne füllten. Um den eintönigen Tagesablauf ein wenig zu lockern, müssen die Kandidaten außerdem regelmäßig Aufgaben erfüllen (Büttenrede verfassen, Postkarten an mit Gas gefüllte Luftballons hängen), was den Gameshow-Charakter noch verstärkt; belohnt werden sie mit einer Aufstockung ihrer Tagesration an Lebensmitteln. Auch dies erinnert Kritiker natürlich an vergleichbare Versuche mit Ratten, die herausfinden müssen, hinter welchem Türchen ihr Futter versteckt ist. Wer gewinnt?
Die Fürsorge von Politikern und Kirchenmenschen gilt aber nicht bloß den zehn Mitspielern, sondern auch dem Publikum, das seine voyeuristischen Gelüste befriedigt. Mit der gleichen Verachtung spricht man von Gaffern bei Unfällen auf der Autobahn oder von Elends-Touristen bei Katastrophen. Dabei handelt es sich um eine durchaus menschliche Neigung, deren Motor keineswegs immer bloß Neugier, sondern manchmal ja auch Anteilnahme ist. Doch die Teilnehmer haben kein Mitleid verdient. Die Männer und Frauen im Container interessiert ohnehin nur eins: der Ruhm, der hier im Gegensatz zur flüchtigen Talkshow nicht bloß 15 Minuten lang währt, sondern Sprungbrett für eine Karriere sein soll. „Das Leben von echten Menschen ist viel interessanter als das von Schauspielern“, sagt Endemol-Chef John de Mol.
Natürlich wird hinter den Kulissen eifrig verhindert, dass die Sendung de Mol widerlegt. Nicht nur die Spielregeln, auch die Konstellation der Charaktere sollte dafür sorgen, dass es zu Spannungen kommt. Übrigens haben sich die Teilnehmer schon bei ihrer Vorstellung als Selbstdarsteller entpuppt; in gewissem Sinn sind sie also doch Schauspieler. Und sie spielen um den Sieg. In all den bewahrpädagogischen Stellungnahmen wird stets geflissentlich übersehen, dass dieses Spiel ohne Grenzen im Grunde genommen eine Gameshow ist wie andere auch, eine Art „Glücksrad“, bei dem man eben mehr tun muss als bloß ein paar Buchstaben zu ergänzen. Die Teilnehmer dieses angeblichen Menschenversuchs müssen sich permanent profilieren. Auch dies ist eine Parallele zwischen „Big Brother“ und „Geld für dein Leben“: Was nicht spannend ist, wird nicht gesendet; und wer nicht auf Sendung ist, kann keine Punkte (beziehungsweise kein Geld) sammeln. Der Eindruck, den man auf’s Publikum macht, entscheidet letztlich über Sieg und Niederlage. Der Sieger des holländischen Spiels war von den anderen Teilnehmern mehrmals nominiert worden, doch die Zuschauer waren jedes Mal auf seiner Seite. Die Landesmedienanstalten ertrotzten der Menschenwürde übrigens schließlich tatsächlich einen kleinen Sieg: Einmal am Tag musste RTL 2 die Kameras in den Schlafräumen in der Zeit zwischen 9 und 21 Uhr eine Stunde lang ausschalten. Der Sender hatte sich lange geziert, diese Forderung umzusetzen. Nicht auszudenken, die Gemeinschaft würde sich verschwören und einem Pärchen gestatten, sich in dieser garantierten Intimität näher zu kommen! Denn natürlich halten die Veranstalter die mögliche Aussicht auf „echten“ Sex für einen der Motoren des Publikumsinteresses. Bis es jedoch dazu überhaupt kommen kann, wird sich das Publikum einem Leben zugewendet haben, das letztlich ungleich interessanter ist: dem eigenen.
- Tilmann P. Gangloff: Tatort: Jugendschutz
Tilmann P. Gangloff: Tatort: Jugendschutz
Städte wie Konstanz oder Bremen sind viel zu beschaulich für abscheuliche Gewalttaten. Trotzdem wird hier regelmäßig gemordet, wenn auch nur im Fernsehen. In Bremen scheint die Fallhöhe besonders hoch, denn mit seinen letzten Beiträgen zur Krimireihe Tatort ist der kleine ARD-Sender ins Gerede gekommen. Vor allem „Abschaum“, ausgestrahlt im April, entfachte heftige Diskussionen: Der Tod einer sexuell missbrauchten Zwölfjährigen führte die Kommissare ins satanistische Milieu. Der Film endete mit einem Massaker, bei dem 14 Menschen starben. Fast reflexhaft gab es die üblichen Reaktionen. So zitierte Bild am Sonntag Peter Gauweiler (CSU), den stellvertretenden Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien: „Es ist ein Skandal, dass im staatlich unterstützten Fernsehen gezeigt werden kann, was im Privatfernsehen verboten wäre. Jugendschutz wird hier mit zweierlei Maß gemessen.“ Andere sehen das genauso. „Jugendschutz ist unteilbar“: für Jürgen Doetz und Wolf-Dieter Ring fast eine Art Mantra.
Seit Jahren wiederholen sie diesen Satz, wann immer die Rede auf den Jugendschutz bei ARD und ZDF kommt: Der eine als Präsident des Privatsenderverbandes VPRT, der andere als Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) und seit April 2003 auch als Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz. Öffentlich-rechtliche Sender, kritisiert Ring, könnten um 20.15 Uhr ungestraft Filme zeigen, „die nicht mal die FSF für diese Uhrzeit freigeben würde“. Besagte FSF, die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (Berlin), ist ein Verein, in dem fast alle kommerziellen TV-Sender Mitglied sind. Hier legen RTL und Sat 1 ihre eigenproduzierten Filme vor, hier erkundigt sich RTL 2, ob ein Erotikstreifen womöglich pornografisch ist (und dann nicht gezeigt werden darf). Die FSF hat in diesem Jahr ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert. Sie verdankt ihre Existenz dem Grundgesetz: Weil eine Zensur in Deutschland nicht stattfinden darf, stellte sich Anfang der Neunzigerjahre die Frage: Wie kann die Flut von Sex- und Gewaltfilmen im Privatfernsehen eingedämmt werden?
An sich war der Fall klar, schließlich existieren klare Vorgaben: Filme, die fürs Kino ab 16 Jahren freigegeben worden sind, dürfen im Fernsehen erst um 22.00 Uhr gezeigt werden, Filme ab 18 ab 23.00 Uhr. Für TV-Movies aus Amerika aber gab’s keine Kinofreigaben, und für die Eigenproduktionen der deutschen Sender erst recht nicht. Da staatliche Stellen erst nach der Ausstrahlung eingreifen können, gab es nur eine mögliche Lösung: Eine Selbstkontrolle musste her. 1993 gründeten die kommerziellen Sender daher die FSF; am 25. Mai 1994 nahm sie in Berlin offiziell ihre Arbeit auf. Zu ihren Mitgliedern zählen praktisch alle deutschen Privatsender; die fixen Kosten (etwa 1,2 Millionen Euro im Jahr) werden den Marktanteilen entsprechend umgelegt. Die FSF prüft Sendungen vor deren Ausstrahlung (jeder Prüfvorgang kostet den Sender eine Extragebühr) im Hinblick auf die Jugendschutzbestimmungen und legt Sendezeiten fest. Das Modell hätte wunderbar funktionieren können, wenn es nicht immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten gekommen wäre: Auch die Landesmedienanstalten, die staatlichen Kontrolleinrichtungen der Privatsender, fühlten sich für den Jugendschutz zuständig.
Selbst heute noch mischt sich Zorn in die ohnehin energische Stimme Wolf-Dieter Rings, wenn der Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien feststellt: „In circa 30 Prozent der Fälle hat die FSF anders entschieden als die Landesmedienanstalten – und das stets zu Gunsten der Sender“. Joachim von Gottberg, einst Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK, Initiator der FSF und von Anfang an ihr Geschäftsführer, sieht das anders und unterstellt den Ländergremien, sie hätten mit ihrer ablehnenden Haltung „die zu liberale Haltung der FSF-Prüfer und damit die Sendernähe der FSF demonstrieren wollen“.Die Unterstellung kommt nicht von ungefähr. „Die praktische Arbeit der FSF in ihrer früheren Struktur hat beim Umgang mit bestimmten Themen eine große Nähe zu den Sendern offenbart“, bestätigt Ring prompt und belegt die Behauptung mit dem Beispiel Pornografie: „Es gab deutliche Differenzen bei der Auslegung des Pornografiebegriffs“.
Die FSF habe in diesem Zusammenhang außerdem die These vertreten, „dass Pornografie nicht jugendgefährdend sei. Solchen Positionen überhaupt Raum zu gewähren, halte ich für unverantwortlich“. Mit Ring und von Gottberg stoßen ohnehin die Repräsentanten zweier Welten aufeinander. Aus Sicht der Privatsender steht Ring für eine Regulierungswut der Deutschen, die in liberaleren Mitgliedsstaaten der EU wie etwa den Niederlanden oder in Skandinavien berüchtigt ist. Von Gottberg hingegen verkörpert ein Liberalitätsprinzip, das den Landesmedienanstalten oftmals zu weit geht. Kein Wunder, dass die beiden Galionsfiguren selten einer Meinung sind. Der Geschäftsführer der FSF betrachtet die Doppelaufsicht der letzten zehn Jahre sogar „als erhebliche Bremse für einen vernünftigen Jugendschutz im Fernsehen“. Freunde, darf man vermuten, werden die beiden nie. Dabei sitzen sie eigentlich im selben Boot; sie rudern nur nicht immer in dieselbe Richtung. Wenigstens hat sich das Verhältnis seit gut einem Jahr entspannt: Im April 2003 ist der neue Jugendmedienschutzstaatsvertrag in Kraft getreten. Der bis dato völlig undurchdringliche Paragrafendschungel wurde gelichtet, diverse Gesetze gebündelt und die Rolle der Selbstkontrolle gestärkt.
Die staatliche Aufsicht (und damit auch die Bemühungen der Landesmedienanstalten) manifestiert sich seither in der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM). Deren Vorsitzender ist, wie vorher erwähnt, von Gottbergs alter Widersacher. Einig sind sich die beiden allerdings, wenn es um die Unteilbarkeit des Jugendschutzes geht. Kaum jemand versteht eigentlich, warum ARD und ZDF nicht längst Mitglied der FSF geworden sind. Nach dem strittigen Tatort von Radio Bremen kritisierte auch der Bundestagsabgeordnete Bernd Neumann (CDU/CSU), Mitglied im Rundfunkrat des Senders, die Ungleichbehandlung: „Bei der Novellierung des neuen Jugendmedienschutzgesetzes gab es den Vorschlag, ARD und ZDF einer zentralen Instanz wie der FSF zu unterstellen, die über den Jugendschutz aller Sender wacht. Das ist am massiven Widerstand der beiden Sendeanstalten gescheitert.“ Spricht man mit den Jugendschutzbeauftragten der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz, sieht die Lage natürlich ganz anders aus. Jugendschutz unteilbar?
Das sei „im Grunde“ ja auch nicht falsch, doziert ZDF-Jurist Gunnar Krone, man müsse es nur differenzierter sehen: „Es kann in der Tat nicht sein, dass ein privater Sender andere Kriterien hat als die öffentlich-rechtlichen. Was hingegen medienpolitisch kontrovers diskutiert wird, ist die formale Umsetzung: Wer kontrolliert die Einhaltung der Vorschriften?“ Und das ist bei ARD und ZDF genauestens geregelt: hier eine „Ständige Fernsehprogrammkonferenz“, an der in der Regel alle Fernsehdirektoren sowie ARD-Programmdirektor Günter Struve teilnehmen, dort der Fernsehrat. Die ARD-Konferenz nimmt eigenproduzierte Filme (und natürlich auch Shows, Serien etcetera) zwar in erster Linie unter qualitativen Gesichtspunkten unter die Lupe, achtet aber in einem Aufwasch auch auf Aspekte des Jugendschutzes. Das letzte Wort hat bei der ARD der Rundfunkrat, der allerdings in der Regel ebenso wie der ZDF-Fernsehrat erst nach der Ausstrahlung einer Sendung aktiv wird. Außerdem muss jeder deutsche Fernsehsender einen Jugendschutzbeauftragten haben. Beim ZDF ist das Dr. Gunnar Krone, im ZDF-Justiziariat hauptberuflich für den Bereich „Rundfunkverfassungsrecht und neue Medien“ zuständig. ARD-Repräsentantin ist Inge Mohr (RBB); sie ist Vorsitzende eines Arbeitskreises der Jugendschutzbeauftragten bei öffentlich-rechtlichen Sendern. Dank der diversen Gremien sieht sie „absolut keine Notwendigkeit für einen Beitritt zur FSF“.
Wichtigstes Gegenargument: „Dann würde man den Jugendschutz auslagern“. Diese Verantwortung aber könne und dürfe nicht delegiert werden. Tatsächlich scheinen Welten zwischen den beiden System zu liegen; vor allem in Hinblick auf das jeweilige Selbstverständnis. Aus Mohrs Perspektive ist Jugendschutz für die Privatsender offenbar nur notwendiges Übel, „ein Faktor in der Abwägung zwischen dem Streben nach potenziellem Quoten-Erfolg und möglichen Schäden entweder für das Image oder aber in wirtschaftlicher oder medienpolitischer Hinsicht“.
Diese Haltung scheint auch bei ihren Kolleginnen und Kollegen verbreitet zu sein. Im Jugendschutzbericht wird den Privatsendern vorgeworfen, sie brächten die angebliche Tatort-Gewalt immer dann ins Spiel, wenn sie die ARD entweder diskreditieren oder zur gleichen Sendezeit „noch härtere oder schärfere Szenen rechtfertigen wollten“. Natürlich verstoßen ARD und ZDF nicht Abend für Abend gegen die Jugendschutzauflagen, doch gerade in der Reihe Tatort gibt es zumindest immer wieder Grenzfälle; und da Tatort regelmäßig ein Publikum von mindestens sieben Millionen Zuschauern hat, werden die Grenzüberschreitungen auch stärker wahrgenommen, zumal man von öffentlich-rechtlichen Sendern ohnehin eine größere Sensibilität erwartet. Beim Tatort aber nimmt die ARD anscheinend in Kauf, immer wieder Gegenstand der öffentlichen Diskussion zu sein. Immerhin will Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der FSF, nicht ausschließen, dass auch die Freiwillige Selbstkontrolle der Privatsender umstrittene Tatort-Filme wie „Abschaum“ für den Sendetermin um 20.15 Uhr freigegeben hätte.
Tilmann P. Gangloff
- Tillmann P. Gangloff: Pizzabote wird Geheimagent
Tillmann P. Gangloff: Pizzabote wird Geheimagent
Bei Fernsehmessen wie der Mipcom in Cannes profiliert sich das ZDF in der Regel mit teuren Dokumentationen oder aufwändigen Krimiserien. Diesmal war das ganz anders: Im Schaufenster stand die Kinderserie Scooter. Wie schon Wicked Science (Total genial) ist Scooter: Secret Agent eine Koproduktion mit dem Australier Jonathan M. Shiff. Der hat eine Gabe, die im Geschäft mit bewegten Bildern Gold wert ist: Bei ihm sieht alles viel teurer aus, als es in Wirklichkeit war. Die 26-teilige Serie war mit 6 Millionen Euro zwar trotzdem nicht billig, doch ZDF-Enterprises wird einen großen Teil dieses Geldes durch den Weltvertrieb wieder reinholen. Scooter ist eine Parodie auf die James-Bond-Filme oder aufwändige Agenten-Thriller wie Mission: Impossible mit dem Charme der Kinderkinoknüller Spy Kids. Nicht nur die Effekte, auch das dynamische Erzähltempo und die immer wieder um Originalität bemühte Erzählweise sind kinowürdig. Doch was am meisten Spaß macht, ist die Geschichte: Titelheld Scooter ist ein Pizza-Junge mit Neigung zum Pechvogel.
Er hält sich zwar für den Größten, fällt aber dauernd auf die Nase. Eines Tages wird er Zeuge einer Verfolgungsjagd. Der Gejagte verliert einen Koffer, den sich Scooter gleich schnappt. Er enthält einen Computer, über den sich ein ominöses Hauptquartier meldet, das Scooter für den Agenten X-19 hält und ihm den nächsten Auftrag erteilt. Das ZDF wäre gut beraten, die Agentenparodien nach der KI.KA-Premiere nicht samstags oder sonntags vormittags im Kinderprogramm zu verstecken; die witzigen und turbulenten Abenteuer gehören in die beste Familienfernsehzeit. Wie richtig die Entscheidung von ZDF-Enterprises war, sich diesmal mit Kinderfernsehen zu positionieren, zeigte der Vergleich mit dem restlichen Angebot: In kreativer oder gar künstlerischer Hinsicht ist gerade der Zeichentrickmarkt derzeit erschreckend leblos. Neu sind allenfalls die Verpackungen. Themen, Geschichten, Design: alles kalter Kaffee. Der Boom vergangener Jahre ist ohnehin vorbei. Es ist daher durchaus kein Zufall, dass die Sender ausgerechnet jetzt die so genannte Live Action wiederentdecken. Real gefilmte Serien hatten es jahrelang äußerst schwer, weil sie als nicht exportfähig galten: Während Zeichentrick viel leichter zu synchronisieren ist und meist in Fantasiewelten spielt, haben Realserien in der Regel einen konkreten kulturellen Hintergrund. Trotzdem ist die Nachfrage gewachsen, was sicher auch damit zu tun hat, dass Kinder immer früher die Lust an Zeichentrickserien verlieren: Ab neun ist so was Kinderkram. Spätestens der Erfolg der witzigen Disney-Serie Lizzie McGuire, in der die Titelheldin immer wieder Rat bei ihrem animierten Alter ego sucht, hat Begehrlichkeiten geweckt.
Im nicht minder erfolgreichen Kinofilm zur Serie (Popstar auf Umwegen), der allein in den USA 40 Millionen Dollar einspielte, wird Lizzie in Europa mit einer populären Pop-Sängerin verwechselt. Und da ja auch die diversen Casting-Shows gerade unter Kindern und Jugendlichen die treuesten Fans haben, wundert es nicht weiter, dass einige der neuen Serien ebenfalls auf Musik setzen: Im Mittelpunkt von Unfabulous (Unberühmt, Nickelodeon) steht Addie Singer, eine typische Zwölfjährige, deren Alltag von den ganz normalen Querelen mit Schule und Eltern geprägt ist. Was sie von ihren Mitschülern allerdings unterscheidet, ist ihr Talent: Sie schreibt Songs, in denen sie all die Dinge verarbeitet, mit denen sich ein junges Mädchen herumschlagen muss. Interessant ist auch die Besetzung: Addie wird gespielt von Emma Roberts, einer Nichte von Hollywood-Star Julia Roberts. Entscheidend für den Erfolg der neuen Serien ist die Authentizität: Selbst wenn die Kinder in den Geschichten in zumindest einer Beziehung völlig anders sind als andere Gleichaltrige – einer kann in die Zukunft sehen, ein anderer ist Filmstar –, so ist der Rest ihres Lebens ganz und gar gewöhnlich. Und das heißt für die Zielgruppe (circa 9 bis 13 Jahre): Jeder Tag bedeutet Kampf.
Doch während Jungen und Mädchen in der Regel schon genug Probleme damit haben, im falschen Körper zu stecken, steckt Phil Diffy aus Phil of the Future (Disney) auch noch in der falschen Zeit: Er gehört eigentlich ins 22. Jahrhundert, ist aber mit seiner Familie während einer Zeitreise im Amerika des Jahres 2004 gestrandet. Phil hat damit das typische Teenager-Problem, sich irgendwie mit seiner Umgebung arrangieren zu müssen, in potenzierter Form. Für die Produzenten haben diese Erfolgsproduktionen nur einen Nachteil: Sie lassen sich bei weitem nicht so gut vermarkten wie Zeichentrickserien. Kein Wunder: Die Zielgruppe ist nur noch selten in Spielzeuggeschäften anzutreffen. Aber man kann ja nicht alles haben.
Tilmann P. Gangloff
- Tilmann P. Gangloff: Kinder im Kino
Tilmann P. Gangloff: Kinder im Kino
Wenn über die Wirkung bewegter Bilder diskutiert wird, geht es meist um das Fernsehen. Kein Wunder: Das Leitmedium unserer Gesellschaft spielt auch bei Kindern mehrere Stunden am Tag eine wichtige Rolle. Doch das Fernsehen ist ein flüchtiges Medium: Man kann umschalten, man kann aus dem Zimmer gehen, man kann es ignorieren. Im Kino ist die Rezeptionssituation eine ganz andere: Die Leinwand ist riesig, der Ton spielt dank ausgeklügelter Sound-Designs eine noch stärkere Rolle als früher und ist zudem aufgrund der modernen Surround-Anlagen in den Kinos körperlich spürbar. Das Filmerlebnis schließlich ist nicht wie im Fernsehen in leicht konsumierbare Häppchen aufgeteilt; es dauert in der Regel mindestens neunzig Minuten. Trotzdem ist die Wirkung von Kinofilmen gerade auf kleine Kinder bislang noch kaum untersucht worden. Um so größer ist die Bedeutung des Projekts Medienkompetenz und Jugendschutz einzuschätzen, zu dem sich gleich drei Kooperationspartner zusammengeschlossen haben.
Einige Aspekte, denen die Studie nachgeht: Wie reagieren Kinder auf filmische Darstellungen? Wie verarbeiten sie Animationsfilme? Was erfassen sie von der Filmhandlung? Mit welchen Figuren identifizieren sie sich? Was löst Ängste aus? Wie gehen sie mit dargestellten Problemen um, etwa der Gefährdung von Freundschaften oder der Bedrohung von Familien? Stellen sie Bezüge zu ihrer eigenen Lebenswelt her? An welchen Filmfiguren orientieren sie sich, mit wem fiebern sie dem Happy End entgegen? Bekannt war schon vorher, dass Drei- bis Sechsjährige komplexe Handlungen stets in einzelne überschaubare Episoden zerlegen; übertragen auf die Filmsyntax würde dies einer Szene entsprechen, die ja durch die Einheit von Zeit und Raum gekennzeichnet ist. Ein Erzählrahmen, der sich über neunzig Minuten erstreckt, ist für kleine Kinder also viel zu lang, weshalb man ihnen mit einem Kinobesuch in der Regel ohnehin keinen Gefallen tut. Klar ist andererseits auch, dass gerade bei Kindern zwischen drei und sechs Jahren (früher lassen sich kaum seriöse Ergebnisse erzielen) die individuelle Medienbiografie zu enormen Unterschieden im Verhalten führen kann: Manche gehen mit ihren Eltern bereits im Kindergartenalter regelmäßig ins Kino, andere bis zur Grundschule nie.
Für alle aber gilt, wie es in der Broschüre heißt: Kinder in diesem Alter nehmen einen Film „grundsätzlich erlebnisorientiert und emotional wahr“.Filmkompetenz im VorschulalterDie Studie der Stiftung MedienKompetenz Forum Südwest ergänzt das eher rudimentäre Wissen um differenzierte Erkenntnisse und weist auf eine bedeutsame Entwicklung der letzten Jahre hin: Selbst Vorschulkinder haben dank ihrer Mediensozialisation durch das Fernsehen keine nennenswerte Probleme, Realfilme von Zeichentrickproduktionen zu unterscheiden. Gerade hinsichtlich der Wirkung ist das nicht unwichtig. Sie wissen, dass Animationsfilme nicht die Wirklichkeit sind, weshalb Cartoon-Figuren selbst das größte Ungemach letztlich unbeschadet überstehen können. Schwierigkeiten bereiten den Kindern aber Computerfilme wie die von Pixar produzierten Kassenknüller Toy Story, Findet Nemo oder zuletzt Die Unglaublichen. Und auch für Shrek gilt: Die Grenzen zwischen Realfilm und Computeranimation verschwimmen. Allerdings setzen gerade die Filme von Pixar auf klassische Cartoon-Elemente; Slapstick und Humor dominieren. Bei den Figuren handelt es sich um Spielsachen (Toy Story), Insekten (Das große Krabbeln), Meeresbewohner (Findet Nemo) oder Monster aus einer Parallelwelt (Monster AG). Sind es aber doch Menschen wie die Superhelden aus Die Unglaublichen, werden sie karikiert und bleiben deshalb Kunstfiguren. Ganz anders in Robert Zemeckis’ Polar Express: Mit Hilfe der „Motion Capture“-Technik wurde der Schaffner des Zuges dem Schauspieler Tom Hanks mehr als nur nachempfunden; kleinen Kindern müssen die Erlebnisse der achtjährigen Hauptfigur (ebenfalls Hanks, im Rechner verjüngt) wie echt vorkommen.Entscheidender aber für die Wirkung ist die Dramaturgie der Geschichten. War Zeichentrick früher zumindest hierzulande grundsätzlich ein Kindergenre, zielen neuere Filme wie Findet Nemo stets auf die ganze Familie; der Handlungsaufbau ist daher weitaus anspruchsvoller und nicht mehr bloß episodisch, was kleinere Kinder nicht selten überfordert. Bei einer Empfehlung für Kinder muss also darauf geachtet werden, dass gerade die dramatischen Szenen keine anhaltenden Ängste aufbauen.
Eminent wichtig: Die Kinder dürfen nicht in ihrer festen Erwartung enttäuscht werden, dass schließlich alles gut wird und den Helden nichts geschieht. Nur dann können sie in den filmischen Abenteuern die „Angstlust“ unbeschwert genießen: „Am Ende sind ja eh alle wieder happy“, zitiert die Studie einen der jungen Teilnehmer. Die Äußerungen der Kinder zeigen aber auch, wie tief ihre emotionale Bindung zu den Hauptfiguren ist: Sie redeten teilweise über die Filmhelden, „als wären es gute Freunde“. Die Identifikation ist naheliegenderweise um so stärker, je größer der Bezug zur eigenen Lebenswelt ist, zumal Freundschaft und Familie für Filmkinder (ob nun menschlich oder tierisch) fast immer Motor der Geschichten sind; der gern exotische Handlungsort ist dabei völlig zweitrangig. Kinder im KinoInitiiert wurde die Studie Medienkompetenz und Jugendschutz von der Stiftung MedienKompetenz Forum Südwest (MKFS). Ihr gehören die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), das rheinland-pfälzische Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend sowie die Landeszentrale für private Rundfunkveranstalter Rheinland-Pfalz (LPR) an. Die Ergebnisse wurden in einer sechzigseitigen Broschüre zusammengefasst. Sie kann kostenlos bei Inge Kempenich bestellt werden. Die Ergebnisse der Befragungen sind auch im Internet verfügbar. Eine nützliche Ergänzung ist das Faltblatt „Kinder im Kino“, herausgegeben von der Aktion Jugendschutz Bayern. Es fasst zusammen, wie Kinder in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstufen mit filmischen Erlebnissen umgehen, informiert über die Kriterien der Altersfreigaben, gibt Tipps, wie Eltern ihren Kindern in Momenten der Angst helfen können, und bietet außerdem eine Liste mit
Internet-Adressen, unter denen man sich über neue Filme informieren kann.
kempenich@spio-fsk.de
- Tilmann P. Gangloff: Englisch mit Andy, Mathe mit Angela Anaconda
Tilmann P. Gangloff: Englisch mit Andy, Mathe mit Angela Anaconda
Die Rechnung soll ganz einfach sein. Auf einer CD-ROM mit Lerninhalten sind vier bis acht Spiele; die CD kostet 20, vielleicht sogar 30 M. Wenn es nun aber ein Internet-Angebot ähnlichen Zuschnitts gibt, das mindestens fünfmal so viele Spiele enthält: Würden Eltern dann die Jahresgebühr von 59 bezahlen? Immerhin hätte das spielende Lernen im Netz den Vorteil, dass die CDs weder verschwinden noch verkratzen können. Andererseits ist natürlich nicht nur der Rechner blockiert; wer keinen ISDN-Anschluss besitzt, muss warten, bis die Kinderzeit abgelaufen ist. Trotzdem hielt sich das Risiko für Super RTL in Grenzen, als der Marktführer im deutschen Kinderfernsehen die Grundzüge für den Toggo-CleverClub entwarf; schließlich hat sich beim Vorschulangebot Toggolino Club (www.toggo.de) gezeigt, dass es auf jeden Fall eine Nachfrage gibt. Und weil aus kleinen Kindern irgendwann große werden, war ein entsprechender Service für Grundschulkinder nur eine Frage der Zeit. Seit Ostern können sie sich also im Toggo-CleverClub (www.toggo-cleverclub.de) tummeln und dort mit ihren Lieblingsfiguren aus Super-RTL-Serien wie Typisch Andy oder Angela Anaconda pädagogisch wertvoll die Zeit vertreiben. Eine kurze Stippvisite wird skeptische Eltern überzeugen, dass sie ihren Nachwuchs unbesorgt in diesem Kinderparadies abgeben können: Die Kleinen vertiefen ihre Kenntnisse in Rechnen, Schreiben und Englisch; quasi nebenbei werden auch noch die Fertigkeiten im Umgang mit der Maus geschult. Das Konzept ist simpel und baut darauf, dass Kinder ja gar nichts dagegen haben, dazuzulernen; es darf nur nicht in Arbeit ausarten, sondern soll in erster Linie Spaß machen. Und das tut es, denn in sämtlichen Vergnügungen dominiert das spielerische Element. Man muss zwar hellwach sein und auch mal kopfrechnen, doch jeder Treffer wird belohnt. Natürlich hat man irgendwann alle dreißig Spiele durch, doch die persönliche Hit-Liste ist Ansporn genug, beim nächsten Mal noch schneller zu sein. Und dann gibt’s ja noch die „Highscore“-Übersicht mit den Namen der anderen Teilnehmer, die man vielleicht ebenfalls übertreffen will.Ganz abgesehen von diesem Wettbewerbsfaktor haben Kinder im Grundschulalter ohnehin kein Problem damit, Spiele regelmäßig zu wiederholen; Hauptsache, der Spaßfaktor ist groß genug. Für den sorgt im Toggo-CleverClub nicht zuletzt die Tonspur, die richtige und falsche Entscheidungen prompt lautstark kommentiert.
Spaß plus DidaktikSieben Spielewelten gibt es insgesamt. Die Themen sind ausnahmslos schulrelevant. In der Gebrauchsanweisung für die Eltern werden die Lernziele erklärt. In der Welt des ewig zu Streichen aufgelegten Andy zum Beispiel geht es darum, die Konzentration zu fördern. Die Spiele selbst werden den Eltern allerdings zunächst womöglich suspekt erscheinen, zumal sich der tiefere Sinn und Zweck nicht immer auf Anhieb erschließt. Mitunter hält sich der Effekt tatsächlich im Rahmen. Beim „Wasserbomben-Alarm“ muss man ähnlich wie beim Steckspiel „Mastermind“ durch Tüfteln erraten, welcher von Andys Freunden hinter welcher Klotür sitzt. Hat man das schließlich richtig rausgefunden, platschen ihnen Wasserbomben auf den Kopf. Das „Pudding-Rennen“ erinnert unübersehbar an das fragwürdige Fernsehvergnügen aus der Hugo-Show, bei dem Anrufer ein Fantasie-Vieh per Telefontasten an Hindernissen vorbeisteuern mussten. „Pudding-Rennen“ funktioniert ganz ähnlich: Andy hat zwei Eimer mit Matsch vollgeschaufelt und radelt nun damit nach Hause. Auf dem Weg liegt lauter Müll rum, an dem man ihn mit Hilfe der Cursor-Tasten vorbeidirigieren muss. Holpert das Rad über ein Hindernis, verliert Andy jedes Mal etwas Matsch. Bonus-Punkte gibt es, wenn man zwischendurch Fragen richtig beantwortet; und wenn man die vereinzelt auf dem Weg liegenden Äpfel „aufsammelt“, geht die Fahrt gleich zügiger voran. Doch Andys Welt ist bloß der Einstieg, ganz abgesehen davon, dass gerade kleineren Kindern die Herausforderung ungleich mehr Spaß macht als dem tastaturgeschulten Erwachsenen. Bei „Angela Anaconda“ geht’s schon deutlich didaktischer zu. Hier muss man zum Beispiel in einem Text fehlende Buchstaben ergänzen, was sich für manche Kinder als verflixt schwer entpuppen könnte, denn man muss jeweils zwischen „k“ und „ck“ oder „ss“ und „ß“ entscheiden; ein echter „Hausaufgabenhorror“, wie die Aufgabe daher auch treffend heißt. In einem zweiten Spiel ist Kopfrechnen gefordert: Angela stellt eine Aufgabe, anschließend hasten die Figuren aus der Legetrick-Serie durch den Schulflur.
Auf jeder von ihnen steht ein mögliches Ergebnis, das richtige muss angeklickt werden. Hier werden also gleich zwei Dinge geübt: das Rechnen sowie das Manövrieren mit der Maus. Mit „Sherm!“ schließlich lernen die Kinder englisch. Weil Sherm mal wieder pleite ist, hilft er in einer Burger-Bude aus. Wer ihm beistehen will, muss die Brötchen belegen. Sherm nennt die englischen Bezeichnungen für die Zutaten („Take the onion, take the fish“), die Kinder müssen sie blitzschnell mit der Maus auf die Brötchenhälfte ziehen, die derweil durchs Bild fliegt. Haben sie sich vertan, landet der Hamburger mit lautem Getöse in der Mülltonne; liegen sie richtig, kommt ein großmäuliges Geschöpf und vertilgt das Brötchen mit wonnigem Schmatzen. Wer dreimal falsch belegt, hat verloren. Auch bei „Cool Numbers“ steht die Maus im Mittelpunkt: Die „irren Mikroben“ aus der Serie werfen mit giftigen Kugeln um sich. Doch nicht alle Kugeln, die auf den Spieler zufliegen, sind gefährlich. Sherm sagt die Zahlen auf englisch, der Spieler muss die entsprechenden Geschosse per Mausklick abschießen – ein schlichtes Ballerspiel, in dessen Verlauf einem die englischen Zahlen in Fleisch und Blut übergehen. Ganz schön knifflig wird’s für Grundschüler dann im zweiten Level, wenn die Zahlen zweistellig werden. Viel Physik ist angesagt, wenn die Moderatoren Nina Moghaddam und Marcus Werner durch „WOW – die Entdeckerzone“ führen. Der Versuch im „Spiegelspiel“ ist nur die Einführung: Hier müssen Spiegel so eingestellt werden, dass mit Hilfe des einfallenden Sonnenlichts Maiskörner erhitzt werden können.
Interessanter sind die Optionen: Klickt man auf die Glühbirne, wird der Versuch erklärt („Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel“); klickt man auf den Werkzeugkasten, erscheint eine Bastelanleitung für ein Periskop. Diese Optionen gibt’s bei jedem „WOW“-Spiel. Sehen einige Aufgaben auch eher nach Vorschule aus (sechs Teile zu einem Puzzle zusammenlegen), so haben sie es doch alle in sich. Das Puzzle zum Beispiel ist das Vorspiel für eine Lektion in optischer Täuschung, denn im gleichnamigen Kapitel werden Stereogramme, Kippbilder und andere Spielereien mit Perspektive vorgestellt und erläutert. Chancen am MarktGemessen an dem Spaß, den Kinder mit dem Toggo-CleverClub haben können, erscheint die Jahresgebühr von 59 Euro tatsächlich nicht zu hoch. Bei einer Spieldauer von ein bis zwei Stunden pro Tag braucht man allein mindestens eine Woche, bis man sämtliche Spiele gespielt, Optionen angeklickt und Informationen gelesen hat; und dann geht der Spaß wieder von vorne los. Wer erstmal nur reinschnuppern will: Ein vierwöchiges Test-Abo kostet bloß einen Euro. Die Zuversicht von Matthias Büchs, bei Super RTL „Director Operations“, der CleverClub werde seine Mitglieder schon finden, ist nicht unbegründet. Als der Sender im Herbst 2002 die Tore zum Toggolino-Club öffnete, prognostizierten Experten dem Sender allenfalls einige wenige tausend Abonnenten; mittlerweile sind es 60.000. Mit dem zweiten Club geht Super RTL trotzdem erneut ein Wagnis ein; schließlich ist es durchaus ein Kunststück, Kinder zu freiwilligem Multiplizieren zu bringen.
Gerade darin aber dürfte aus Elternsicht der entscheidende Mehrwert gegenüber „Toggolino“ bestehen, denn dort geht es doch weitgehend um Unterhaltung. Sieht man mal vom didaktischen Anteil ab, überzeugt der CleverClub vor allem durch seine Liebe zum Detail. So sind zum Beispiel die Sprecher der Figuren die selben wie in den Serien. Sämtliche Spiele wurden unter der Beratung von Fachleuten exklusiv für diese Plattform entwickelt. Und das derzeitige Angebot ist ja nur die Ausgangssituation. Der Toggolino Club hat nach Aussage von Büchs bereits „um die hundert Applikationen“; auch beim CleverClub sollen jeden Monat neue Spiele hinzukommen. So werden die Abonnenten zum Beispiel schon bald online Schach spielen können. Für 2006 wird mit „Adventurers“ eine neue Welt eingeführt, in der sich alles um Geschichte dreht. Ein Wermutstropfen bleibt dabei allerdings: Selbst auf einem guten Rechner dauert es mehrere Minuten, bis die Spiele hochgeladen sind.Der Toggolino Club wurde für seine „herausragende didaktische Konzeption und ihre kreative Umsetzung“ im vergangenen Jahr mit dem „edut@ain-award“ ausgezeichnet, einem Preis, der unter der Schirmherrschaft der Bundesbildungsministerin steht. Außerdem wurde er mit dem Gütesiegel „Erfurter Netcode“ versehen; es wird ausschließlich an Internet-Anbieter vergeben, die sich einem hohen Qualitätsstandard verpflichten. Die erste Auszeichnung für den Toggo-CleverClub dürfte nicht lange auf sich warten lassen.
Tilmann P. Gangloff
- Tilmann P. Gangloff: Alles nett im Chat?
Tilmann P. Gangloff: Alles nett im Chat?
Aufenanger, Stefan (2004). Der Familien-PC. Spaß beim Lernen mit dem Computer für 5- bis 10-Jährige. Berlin: Cornelsen, 96 Seiten, 8,95 € GMK (2005).
Alles nett im Chat? Tipps für die sichere Internetkommunikation, 34 SeitenGMK (2005). Was tun bei Dialern, Spam und Viren? 24 Seiten. (Beide GMK-Broschüren sind gegen Rückporto erhältlich bei der GMK, Körnerstr. 3, 33602 Bielefeld, Fon 0521.67788, gmk@medienpaed.de). PC Welt Family, März / April / Mai 2005, 134 Seiten, 7,60 vIn fast allen Familien wenden sich die Eltern mittlerweile Rat suchend an ihre Kinder, wenn sie Probleme mit dem Rechner haben. Allerdings geht es dabei in erster Linie um technische Dinge. In Fragen von Ethik und Moral beanspruchen die Erzieher die Hoheit immer noch für sich. Auch hier aber brauchen sie Hilfe. Der Medienpädagoge und Wissenschaftler Stefan Aufenanger (Universität Mainz) befasst sich in seinem Buch Der Familien-PC mit den dringendsten Fragen, die Eltern im Zusammenhang mit dem Themenbereich „Kinder und Computer“ umtreiben: Dürfen Kinder allein an den Rechner? Wie erkenne ich gute Lernprogramme? Sind „Ballerspiele“ schädlich? Gibt es gute Internetportale für Kinder? Ein eigenes Kapitel gilt der Frage, ob Kinder chatten dürfen.
Natürlich dürfen sie; vorausgesetzt, sie sind sich im Klaren darüber, dass in der virtuellen Welt nicht alles ist, wie es scheint. Eine gut 30-seitige Broschüre im Piccolo-Format informiert über die Abgründe, die sich in „Chatrooms“ auftun können: „Es gibt Menschen und Organisationen im Netz, die mit scheinbar harmlosen Ratschlägen aus dem Kummer und den Fragen anderer Leute Kapital schlagen wollen“. In der Regel aber bleiben die Plaudereien harmlos. Damit man weiß, wie’s geht, bietet die Broschüre Alles nett im Chat? neben Sicherheitsregeln auch viele nützliche Tipps und empfiehlt ausgewählte moderierte Chats. Nicht fehlen dürfen natürlich die Erklärungen für die beliebten „Emoticons“. Herausgeber des Chat-Hefts ist die rührige Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (Bielefeld). Die Broschüre erscheint ebenso im Rahmen der europäischen Kampagne „Safer Internet“ wie das Heft Was tun bei Dialern, Spam und Viren?. Es geht in einigen Punkten den gleichen Frage nach wie das Buch von Stefan Aufenanger. Die Chat-Aspkete werden hier ebenfalls noch mal angesprochen. Allerdings steht weniger die Moral, sondern vor allem die Technik im Vordergrund. Stärker noch als die Chat-Broschüre richtet sich das Heft im Din-A-5-Format an Eltern, die ihren Rechner vor ungebetenen Eindringlingen schützen wollen. Stichwörter wie „Dialer“, „Pop-Ups“, „Firewall“ und „Viren“ werden erläutert.
Die Ausführungen sind auch für Laien gut verständlich. Die beiden GMK-Schriften sind kostenlos; deshalb kann auch keine CD-ROM beiliegen. Diese Lücke schließt eine Sonderausgabe der Zeitschrift PC Welt, die PC Welt Family. Die CD-ROM enthält diverse kostenlose Sicherheits-Software, darunter einen 0900-Warner, zwei Virenprogramme und die Firewall von Zonelabs. Aber auch der Rest des Heftes kann sich sehen lassen. Auf gut 130 Seiten wird eine forcierte Tour durch die Welt von Rechner und Internet geboten. Die Hälfte des Heftes gilt einem Schritt, den die meisten Haushalte schon hinter sich haben: Bei der Lektüre der Kaufberatung ärgert man sich allenfalls über bereits begangene Fehler. Auf der anderen Seite richten sich einige der Software-Tipps an gestandene Profis. Rund 30 Seiten umfasst der Bereich „Schule & Co.“ Der Nachwuchs wird sich über Internet-Adressen freuen, die fertige Hausaufgaben präsentieren, doch er wird hoffentlich auch die Warnungen wahrnehmen: Viele dieser Referatsbörsen finanzieren sich durch Dialer. Im Mittelpunkt steht daher auch die Zugangskontrolle zum Internet, wobei die Redaktion keinen Hehl daraus macht, dass sämtliche Filtertechniken ihre Nachteile und vor allem Lücken haben. Knapp dreißig Lernprogramme werden vorgestellt, eins davon (Emil und Pauline, Mathe und Deutsch für die 5. Klasse) findet sich auch auf der Heft-CD.
Außerdem werden gut zwanzig PC-Spiele getestet sowie Internet-Foren für Kinder und Jugendliche bewertet. Eine ebenso umfangreiche wie nützliche Lektüre, die ihr Geld wert ist.
- Tilmann P. Gangloff: Fernsehen macht dick?
Tilmann P. Gangloff: Fernsehen macht dick?
Eigentlich ist Abnehmen ja ganz einfach. Nicht weniger essen, sondern das Richtige, und dazu mehr Bewegung: schon purzeln die Pfunde. Trotzdem werden viele Kinder immer dicker. Schuld daran, sagen Erziehungswissenschaftler und Medienpädagogen wie etwa Stefan Aufenanger von der Uni Mainz, sei nicht zuletzt das Fernsehen: „Kinder werden durch den Bewegungsmangel dick, und die Werbung für Süßigkeiten und andere zuckerhaltige Produkte sowie für Fastfood führt zu Übergewicht.“Es gibt Indizien, die diese Behauptung belegen: In der Datenbank des Internationalen Zentral-instituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI, München) finden sich 50 Studien zu dem Thema. Laut IZI-Leiterin Maya Götz zählt Süßigkeiten- und Cerealienwerbung wie zum Beispiel Cornflakes zur häufigsten Reklame im kinderrelevanten Fernsehumfeld. Die Wirkung dieser Werbe-Spots, so Götz, sei nachgewiesen. Interessanterweise funktioniere die Nahrungswerbung aber nur für zuckerhaltige Produkte „richtig gut“.
Je öfter Kinder die entsprechenden Spots sähen, „desto häufiger bitten sie ihre Eltern, diese Produkte zu kaufen“. Spannend findet Götz dabei: „Während bei allen anderen Produkten wie Kleidung oder Spielsachen diese Art Werbe-Kaufbitten-Effekt stark mit dem Alter der Befragten variiert, bleibt sie bei Süßigkeiten-, Cerealien- und Fastfood-Werbung gleich“. Nicht zuletzt vermutlich aufgrund des Bewegungsmangels haben so genannte Vielseher (vier Stunden Fernsehen und mehr pro Tag) eine auffällig höhere Neigung zu Übergewicht als andere. Götz vermutet, dass diese Kinder zudem aber auch mehr essen. Laut einer Langzeitstudie steigt der „Body Mass Index“, die internationale Gewichtswährung, mit jeder Stunde, die Menschen pro Tag bewegungslos und untätig vor Bildschirmen verharren, um vier Prozent. Die IZI-Leiterin räumt jedoch ein, dass „ein zwingender Zusammenhang von Stunden des Fern-sehkonsums und Fettleibigkeit“ bislang nicht nachgewiesen sei. Wie immer in der Wirkungsforschung gibt es also auch in dieser Frage zu vie-le unberechen-bare Größen. Eine wichtige Rolle spielt beispiels-weise die Haltung der Eltern zur Ernährung der Kinder. Prompt wehrt sich der Medien-pädagoge Norbert Neuß (Uni Hamburg) gegen die eilige Schuldzuweisung: Schließ-lich seien die Kinder eben „auch das Resultat mangelnder Grenzen in einer von Über-fluss geprägten Konsumgesellschaft“.
Die Idee des Wachstums, die die Wirtschaft beherrsche, werde hier versinnbildlicht, denn natürlich betreffe gerade das Problem des Übergewichts die gesamte Bevölkerung. Laut Maya Götz zeigen die Ergebnisse der Wirkungsforschung, dass eine positive Änderung des Verhaltens deutlich schwerer sei, als bestimmte Produktnamen oder Images zu vermitteln: „Leckeres lernt sich einfach leichter“. Nun aber ist einer angetreten, der beweisen will, dass das Gegenteil möglich ist. Er heißt Magnús Scheving, kommt aus Island und ist dort ein Superstar; es kennt ihn buchstäblich jedes Kind. Oder richtiger gesagt: Jedes Kind kennt Sportacus. So heißt die Hauptfigur einer 35-teiligen Serie, die in Deutschland Kindersender Super RTL seit dem 8. August täglich um 17.00 Uhr zeigt. Sportacus ist ein Superheld ohne Superkräfte; seine beeindruckende Fitness hat er in erster Linie dem Obst zu verdanken. Er lebt in LazyTown, einem Ort, in dem die Menschen grundsätzlich zu Bequemlichkeit neigen. Schuld daran ist vor allem ein Fiesling namens Robbie Rotten, der zwar alle Aktivität sabotiert, von Sportacus aber immer wieder übertölpelt wird. Zehn Jahre lang hat Scheving das Konzept in Island getestet, bevor er damit in Serie ging. Zunächst war es bloß ein Kinderbuch, dann ein Musical, das monatelang vor ausverkauftem Haus aufgeführt wurde.
Endgültig bestärkt wurde Scheving durch eine Kampagne, die er gemeinsam mit den Behörden durchführte: Alle isländischen Familien bekamen ein Kochbuch geschenkt; mit Hilfe von Aufklebern und Tabellen konnten die Kinder miteinander wetteifern, wie gesund sie sich ernähren. Die Folge: In der Zielgruppe stieg der Verzehr von Obst um knapp 15 Prozent, Limonaden hingegen verloren in etwa gleicher Größenordnung. Dafür wurde Scheving mit dem Skandinavischen Gesundheitspreis ausgezeichnet. „LazyTown“ wurde nach der Premiere beim amerikanischen Nickelodeon-Ableger für Vorschulkinder, Nick Jr., prompt zum Knüller. Kein Wunder, denn Magnús Scheving trifft einen Nerv: Für diese Zielgruppe gibt’s sonst bloß rührselige Geschichten, die stets ohne Bösewicht auskommen müssen. „LazyTown“ aber hat einen echten Schurken und einen vortrefflichen Helden zu bieten. Der wiederum beeindruckt weniger durch begnadetes Schauspiel, sondern vor allem durch atemberaubende Beweglichkeit. Scheving liegt das im Blut: Vor zehn Jahren war er zwei Mal Europameister in Aerobic und um ein Haar auch Weltmeister. In seinem 5.000 Quadratmeter großen Studio verschmelzen hochmoderne Rechner Sportacus’ Waghalsigkeiten noch während des Drehs mit HDTV-Bildern aus dem Computer. Das hat seinen Preis: Die Kosten bewegen sich pro Episode bei 700.000 Dollar; das ist etwa das Doppelte des üblichen Budgets.
Die 1995 gegründete Firma LazyTown Entertainment ist mitt-lerweile 100 Millionen Dollar wert. Wenn produziert wird, arbeiten hier 130 Menschen; die Serie ist bereits in 78 Länder verkauft. In Island wurde Scheving unlängst zum Unternehmer des Jahres gekürt. Trotzdem lässt er es sich nach dem Gespräch nicht nehmen, eigenhändig den Tisch abzuräumen. Der Mann ist einfach ein Phänomen.
- Tilmann P. Gangloff: Der Kampf der Trick-Titanen
Tilmann P. Gangloff: Der Kampf der Trick-Titanen
„Jedem Kind seinen eigenen Sender“, spottete RTL-Guru Helmut Thoma vor Jahren, als die Zahl der Kinderprogramme überhand zu nehmen drohte. Das ist lange her. Seit geraumer Zeit ist Kinderfernsehen die unangefochtene Domäne des KI.KA (ARD/ZDF) und von SuperRTL (RTL Group/Walt Disney Company). Auch wenn RTL II mit seinen nachmittäglichen Japan-Importen von „Pokémon“ bis „Digimon“ die Platzhirsche eine Weile lang ärgern konnte: Die Claims waren ab-gesteckt. SuperRTL (Marktanteile bei Kindern 2004: 28,9 Prozent), im Frühjahr zehn Jahre alt geworden, ist seit sieben Jahren unumstrittener Marktführer, der KI.KA (15,2 Prozent) reklamiert dafür die Meinungsführerschaft. Nennenswerte Konkurrenz gibt es allein im digitalen Fernsehen. Auf der Plattform von Premiere beispielsweise tummeln sich mit Disney Channel, Jetix (früher Fox Kids) und Junior drei weitere Kindersender. Im frei empfangbaren Fernsehen aber hat sich jahrelang nichts getan, weil klar war: Der Werbekuchen ist zu klein für weitere Wettbewerber. Jetzt aber haben die Amerikaner das deutsche Kinderfernsehen entdeckt. Anfang September öffnete Cartoon Network ein immerhin sechsstündiges Fenster bei Kabel 1 (5.30 Uhr bis 11.30 Uhr). Das ausschließlich aus Zeichentrick bestehende Programm gehört zur Senderfamilie des weltweit größten Medienkonzerns Time Warner und bietet eine Mischung aus klassischen Cartoons („Bugs Bunny“), Zeichentrickserien im Manga-Stil sowie diverse Superhelden-Abenteuer. Experten gehen davon aus, dass das Fenster ein Versuchsballon ist. Sollte das Experiment funktionieren, dürfte Cartoon Network die Lizenz für einen eigenen Sender beantragen.Überraschender aber ist der Comeback-Versuch von Nickelodeon eine Woche später.
1998 war das Programm wegen mangelnder Zuschauerzahlen liquidiert worden. Schon damals hatten Beobachter diesen Schritt nicht verstanden, denn der Ableger des US-Konzerns Viacom (MTV), die Nummer drei in der Welt, war eigentlich auf einem guten Weg. Allerdings hatte Nickelodeon im Jahr zuvor seinen Platz in den Kabelnetzen absprachegemäß für den KI.KA räumen müssen. Der KI.KA profitierte natürlich kräftig von dem etablierten Programmplatz, während die Marktanteile von Nick erst mal in den Keller sackten. Seit dem 12. September 2005 ersetzt Nick das Musikprogramm MTV2 Pop, das allerdings tagsüber in den Kabelnetzen kaum vertreten ist und in den meisten Haushalten mit Satellitenempfang unter „ferner liefen“ platziert sein dürfte. Nick-Programmchef Markus Andorfer wäre vermutlich dankbar, wenn er mit jenen neun Prozent der Marktanteile einsteigen dürfte, die Nickelodeon 1998 hatte. Kein Wunder, dass die etablierte Konkurrenz Gelassenheit demonstriert. Dabei sind der KI.KA und SuperRTL auch direkt betroffen, denn sie beziehen Programm von Nickelodeon; so ist unter anderem der Superstar von SuperRTL, der liebenswerte Chaot „SpongeBob Schwammkopf“, ein Nick-Geschöpf. Dennoch lässt sich SuperRTL-Geschäftsführer Claude Schmit nicht Bange machen: Die „SpongeBob“-Lizenzen verbleiben weiterhin beim Kölner Kindersender, zum Teil sogar exklusiv. Die neue Konkurrenz nimmt er zwar ernst, verweist aber auch auf die Herausforderungen, die Nick zu meistern habe: „Der Sender muss zunächst mit einer Reichweite von circa 68 Prozent auskommen. Das ist nicht wirklich prickelnd, weil die werbetreibende Industrie alles unter 60 Prozent als irrelevant betrachtet“. Außerdem habe sich der Sender „das kurzfristige Ziel von fünf Prozent in der Zielgruppe gesetzt. Das will man nach und nach auf zehn Prozent ausbauen.
Unsere Marktanteile betragen das Dreifache – Kampfansagen klingen anders“. Nach Ansicht von Andorfer, jüngerer Bruder des früheren RTL II-Geschäftsführers Josef, ist die technische Verbreitung von Nick jedoch „weit besser, als von anderen Quellen dargestellt“. Er spricht von 83 Prozent. Fallstudien zeigten zudem, „dass gerade die jüngsten Zuschauer ganz genau wissen, wo sie „ihre“ Sender auf der Fernbedienung finden“, die Programmnummer spiele also eine eher unbedeutende Rolle. Abgesehen davon ist Andorfer überzeugt, dass der deutsche Kinderfernsehmarkt noch genug Raum für einen weiteren Anbieter lasse. In der Tat wird Nick wohl davon profitieren, dass Serien wie „SpongeBob“, „Blues Clues“ oder „Jimmy Neutron“ bereits eingeführt sind. Dies wird offenbar auch von den Werbekunden bestätigt, die das Programm von Nick laut Andorfer bereits „mit viel Wohlwollen“ aufgenommen hätten. Das Scheitern von Nickelodeon Ende der 90er-Jahre führt er darauf zurück, dass „der Werbezeitenverkauf damals nicht im Markt verankert war“. Diesmal sei Nick ins Netzwerk von MTV Networks eingebettet und werde von einem erfahrenen Verkaufsteam vertreten. Auch das aber kann Schmit nicht schrecken: „Mit unseren Cross-Media-Möglichkeiten können wir ein Angebot bieten, bei dem Nick nicht mithalten kann“. Allein die Website toggo.de verzeichne regelmäßig weit über 100 Millionen Zugriffe. Mit zehn Prozent Marktanteil positioniere sich Nick ohnehin von vornherein als Ergänzungsmedium. Hinzu kommt: Bislang profitierte Nickelodeon nicht nur von den Lizenzgebühren, die SuperRTL etwa für „SpongeBob“ zahlen musste, sondern auch von den Merchandising-Erlösen, die der deutsche Kindersender erwirtschaftet hat. Diesen Rahm wollen die Amerikaner nun selbst abschöpfen. Bleibt noch der Dritte im Bunde.
Um den Werbekuchen braucht sich Frank Beckmann, Programmgeschäftsführer des werbefreien KI.KA, zwar keine Gedanken machen, doch völlig ignorieren kann auch ein öffentlich-rechtlicher Kindersender die Entwicklung bei den Marktanteilen nicht. Quote allein hält Beckmann jedoch für ein irreführendes Kriterium: „Wir sind nicht werbefinanziert. Wir müssen nicht möglichst viele Kinder vor möglichst vielen Werbespots versammeln“. Inhaltlich geht er ohnehin in die Offensive: „Nick verspricht mehr Vielfalt im deutschen Kinderfernsehen und startet mit dem üblichen Trick-Einheitsbrei. Da klaffen Anspruch und Wirklichkeit denkbar weit auseinander“.Doch selbst wenn Beckmann einen „Kampf der Tricksender“ prognostiziert, weiß er auch, dass es nicht leicht wird, „mit amerikanischen Netzwerken und ihren weltweiten Ressourcen zu konkurrieren“. Andererseits hat der KI.KA laut Umfragen das beste Image aller Kindersender. Kein Wunder: Gerade im Informationsbereich ist das Programm mit Wissensmagazinen wie „Wissen macht ah!“ oder „Willi wills wissen“ unschlagbar, von den täglichen Kindernachrichten „logo!“ ganz zu schweigen. Beckmanns Zuversicht ist also nicht ganz unbegründet: „Mit dieser Positionierung sind wir vielleicht sogar der lachende Dritte.“
- Tilmann P. Gangloff: Sind Sie personensorgeberechtigt?
Tilmann P. Gangloff: Sind Sie personensorgeberechtigt?
Du bist elf Jahre alt und Harry-Potter-Fan. Du kennst alle Bücher, du träumst davon, Lord Voldemort zu besiegen, und an Karneval warst du selbstverständlich als Zauberer verkleidet. Im Juli ist „Harry Potter und der Orden des Phönix“ in die Kinos gekommen, und nichts auf der Welt kann dich davon abhalten, ins Kino zu gehen. Schon allein aus Gründen des Prestiges. Und wenn der Film auch erst ab zwölf Jahren freigegeben ist, das ist zum Glück kein Problem mehr: Dein Vater ist auch Harry-Potter-Fan, der kommt garantiert mit, dann darfst du auch rein, denn klugerweise wurde vor einigen Jahren in Deutschland die „PG“-Regelung eingeführt. Zwar weiß selbst in den Kinos kaum jemand, wofür die Abkürzung steht („Parental Guidance“), aber wichtiger ist ja auch, was sie bedeutet: In Begleitung ihrer Eltern können Kinder ab sechs Jahren auch Filme anschauen, die eine Zwölfer-Freigabe haben. Da sich Juristen aber offenbar einen Spaß draus machen, Gesetzestexte so zu verfassen, dass sie außer ihnen keiner versteht, liest sich das im Jugendschutzgesetz so: „… darf die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen mit Filmen, die für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren freigegeben sind, auch Kindern ab 6 Jahren gestattet werden, wenn sie von einer personensorgeberechtigen Person begleitet sind“.
Natürlich fragt man sich, was um Himmels Willen denn eine „personensorgeberechtigte Person“ sei und warum man nicht gleich „Eltern“ geschrieben habe. Die Einführung der „PG“-Kennzeichnung ist also ganz vernünftig, hat aber einen gravierenden Nachteil: Sie macht die Ausnahme zur Regel. „PG“ ist ohne Frage sinnvoll, wenn die Jugendschützer der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), die für die Altersfreigaben zuständig sind, bei ihrer Entscheidung zwischen den Kennzeichnungen „ab 6“ oder „ab 12“ geschwankt haben. Das gilt zum Beispiel für Filmreihen wie „Harry Potter“ oder „Star Wars“. Andere Filme aber hätten bei veränderter Zusammensetzung des Prüfausschusses vielleicht eine Freigabe ab 16 Jahren bekommen; „Casino Royale“ zum Beispiel, der jüngste James-Bond-Film, ist völlig zu Recht erst ab zwölf freigegeben. In diesen Fällen erweist sich die Modifizierung der Freigaberegelung als kontraproduktiv.
Der Erziehungswissenschaftler Stefan Aufenanger (Universität Mainz) fordert daher, „dass nicht prinzipiell alle Filme für Kinder mit Elternbegleitung möglich sind“. Sinnvoller wäre eine Einschränkung der Regelung: „So bekommen Eltern deutlichere Hinweise, welche Filme für solche Fälle geeignet sind und welche nicht.“ Das scheint in der Tat auch nötig. Kinomitarbeiter wissen von Eltern zu berichten, die sich, verängstigte und blasse Kinder an der Hand, bitter beschwert hätten: Sie haben die Freigabe als Empfehlung begriffen, ein altes Missverständnis, das die FSK seit Jahrzehnten vergeblich aus der Welt zu räumen versucht. Grundsätzlich hat sich die „PG“-Regelung jedoch bewährt. Sie steht allerdings auf dem Prüfstand: Bis Ende nächsten Jahres muss der Gesetzgeber entscheiden, ob das bis dahin bloß vorläufig gültige Gesetz festgeschrieben wird. Um die Akzeptanz der Novellierung zu überprüfen, hat die FSK eine Umfrage bei Kinobetreibern durchgeführt. Die Mehrheit der Befragten begrüßte die „PG“-Regelung. Die Kinomitarbeiter gaben zudem an, es komme weitaus seltener zur Diskussionen mit Eltern als früher. Allerdings wurde eine Einschränkung der Regel gefordert: Bestimmte Filme mit Zwölferfreigabe sollten nur ohne den „PG“-Zusatz freigegeben werden.
Darüber hinaus sollten alle erwachsenen Begleitpersonen die „PG“-Regelung in Anspruch nehmen können. Angesichts von immer mehr „Patchwork“-Familien mit verschiedenen Nachnamen aber ist den Kartenverkäuferinnen und -verkäufern kaum zuzumuten, ganze Stammbäume zu durchforsten.Was nun noch fehlt, ist eine zentrale Instanz, an die sich Eltern wenden können, wenn sie nicht sicher sind, ob ein Film für ihre Kinder geeignet ist. Noch einfacher wäre es, einen Film wie in den USA gleich auch mit einer Empfehlung („consumer advice“) zu versehen. Das wäre doch, finden Jugendschützer und Kinobetreiber, ein Job für die FSK, schließlich sichte sie die Filme ohnehin. Davon aber will Folker Hönge, Ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK, nichts wissen: „Wir prüfen, ob ein Film beeinträchtigend ist. Pädagogische Empfehlungen sind nicht unsere Aufgabe. Die Diskussionen in den Ausschüssen müssten dann ganz anders laufen und würden noch längern dauern“.
Auch Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und Hönges Vorgänger bei der FSK, findet zwar, die FSK könne den Verbraucher-Tipp formulieren, weiß aber auch, wie diffizil dies wäre. Schließlich ist die FSK eine Einrichtung der Filmwirtschaft, „und von der kann man kaum erwarten, dass sie vom Besuch eines Films abrät“. Von Gottberg hat ohnehin eine ganz andere Vision vom Jugendschutz: Langfristig möchte er die regulierten Zugänge am liebsten abschaffen und den Empfehlungscharakter in den Vordergrund stellen. Seine Kritik: „Die derzeitigen Freigabekriterien scheren Millionen von Kindern über einen Kamm“. Dabei sei „entwicklungspsychologisch längst erwiesen, dass Bildungsorientierung, individuelle Entwicklung und das Geschlecht viel entscheidender für den Reifegrad eine Kindes sind als das Alter“. Der Medienwissenschaftler Lothar Mikos (HFF Potsdam) kritisiert zudem, die Spanne zwischen sechs und zwölf bei den Altersfreigaben sei viel zu groß: „Ich plädiere schon seit langem für die Alterstufen sechs, neun, zwölf und 16. 18 sollte ganz abgeschafft werden, weil Jugendliche heute eine ungleich besser Mediensozialisation aufweisen als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Wer mit 16 heiraten darf, sollte auch alle Filme seiner Wahl sehen dürfen“.
Im europäischen Ausland gibt es zum Teil liberalere Regelungen. So gilt in Dänemark die „PG“-Ausnahme grundsätzlich: In Begleitung ihrer Eltern dürfen Vorschulkinder in Filme ab sechs, Zehnjährige in Filme ab zwölf, 13-Jährige in Filme ab 16. Von Gottberg weiß, dass dabei auch Missbrauch getrieben wird, doch das gelte für den täglichen TV-Konsum genauso: „Kein Elfjähriger macht den Fernseher aus, nur weil es 20 Uhr ist“. Die FSF orientiert sich an den FSK-Kennzeichnungen: Kinofilme ab zwölf dürfen die Fernsehsender grundsätzlich erst nach 20 Uhr zeigen, Ausnahmen müssen bei der FSF beantragt werden. Eine Kennzeichnung mit „ab 12PG“ oder auch „ab 12BE“ („in Begleitung Erwachsener“) wäre für die Arbeit der FSF äußerst hilfreich, solche Filme könnten dann auch eher im Tagesprogramm eingesetzt werden. Hat die FSK das „BE“ nicht erteilt, dürfte ein Sender den Film auch erst nach 20 Uhr ausstrahlen.
Beitrag aus Heft »2007/05: Bildung - Partizipation - Medien«
Autor: Tilmann P. Gangloff
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Tilmann P. Gangloff: Große Straße? Sackgasse!
Pokern lag auch schon vor Casino Royale bei Jugendlichen voll im Trend, aber der letzte James-Bond-Film hat für einen regelrechten Boom gesorgt. Preiswerte Poker-Sets beim Discounter sind im Nu ausverkauft, Online-Adressen für Pokerspiele erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Auch im Fernsehen werden seit einiger Zeit regelmäßig internationale Poker-Wettbewerbe gezeigt. Sportsender DSF zum Beispiel (Marktanteil 2006: 1,9 Prozent bei den 14- bis 49-Jäh-rigen) stieß mit Hilfe des live aus Monte Carlo übertragenen Turniers Poker Invitational sogar in die Zweistelligkeit vor (12,3 Prozent). Eigentlich erstaunlich, dass angesichts der Aufregung des letzten Jahres um die Sportwettenanbieter der TV-Poker bislang unbeanstandet geblieben ist; Glücksspiel ist schließlich Glücksspiel. Irrtum, sagen die Anbieter, denn die sind der Meinung, Poker habe durchaus mit Intelligenz zu tun. Das sieht man bei den Landesmedienanstalten zwar anders, aber rechtlich waren den Ordnungshütern offenbar die Hände gebunden. Jetzt probieren sie’s auf einem anderen Weg: DSF und Das Vierte haben offizielle Beanstandungen erhalten. Darin geht es nicht um die Glücksspielfrage, sondern um mögliche Verstöße gegen Werberichtlinien. Tatsächlich betreiben die Poker-Sendungen so etwas wie Dauerwerbung. Beim DSF zum Beispiel war bis zuletzt in den morgens zwischen sechs und acht Uhr gezeigten Sendungen ein Hinweis auf den Internet-Poker-Anbieter Party-poker.net permanent präsent, weil das entsprechende Logo den Spieltisch schmückte.
Wann immer der Geber seine Karten aufdeckte, platzierte er sie sorgfältig unter dem Schriftzug. Der Sender könnte sich zwar damit rausreden, dass es sich um „vorgefundene Werbung“ handle, auf die man keinen Einfluss habe (vergleichbar mit der Bandenwerbung in Fußballstadien); trotzdem hält man bei der Gemeinsamen Stelle Programm, Werbung und Medienkompetenz (GSPWM), angesiedelt bei der Düsseldorfer Landesanstalt für Medien (LfM), „die Anzahl der Placements für frappierend“. Neben dem Verdacht der Schleichwerbung kritisiert die GSPWM, dass die Sponsoren von Sendungen dieser Art regelmäßig auch innerhalb der Formate Reklame schalteten. Das ist zwar mittlerweile gang und gäbe, formell in Deutschland aber nach wie vor untersagt. Ohnehin, resümiert ein Mitglied der Gemeinsamen Stelle, existierten diese Sendungen offenbar überhaupt nur aus einem Grund: um Reklame für Internet-Pokerangebote wie Pokerstars oder Partypoker zu machen.
Die Medienaufsicht erledigt mit ihren Beanstandungen, die wegen des Präzedenzcharakters der Angelegenheit nicht mit Bußgeldern verbunden sind, zwei Fliegen mit einer Klappe. Man sieht in Reklame dieser Art nicht nur eine Suchtgefahr, sondern auch eine gewisse Jugendgefährdung. Das Gratisangebot Partypoker.net zum Beispiel bezeichnet sich zwar als Pokerschule, bei der nur Spielgeld eingesetzt wird, doch bei Partypoker. com, nach Angaben des Veranstalters der „weltgrößte Online-Pokerraum“, geht es um Cash. Dort ist die Teilnahme erst ab 18 erlaubt, die Bezahlung erfolgt via Kreditkarte. Bei Pokerstars (de/com) verhält es sich ganz ähnlich. Nach Ansicht der LfM sind die Gratis-Websites nur „ein Lockvogelangebot für die Bezahlplattform: Sobald man sich registriert hat, kommt kurz drauf auch die Einladung für die kostenpflichtige Website“.
Beitrag aus Heft »2007/05: Bildung - Partizipation - Medien«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDF - Tillmann P. Gangloff: Mittagessen mit Zombies
Tillmann P. Gangloff: Mittagessen mit Zombies
Es ist still geworden um den Jugendmedienschutz. Selbst die Verabschiedung eines neuen Staatsvertrags im vergangenen Herbst hat keine größeren medialen Wellen geschlagen. Allein die Landesmedienanstalten melden sich hin und wieder zu Wort. Jüngster Stein des Anstoßes sind die im Tagesprogramm der privaten Fernsehsender ausgestrahlten Hinweise auf Sendungen nach 22 Uhr, die angeblich nicht für Kinder und Jugendliche geeignet sind. Diese Trailer sind laut Kommission für Jugendmedienschutz ( KJM) teilweise „grenzwertig gestaltet“; das sei zumindest das Ergebnis einer Untersuchung, bei der die Jugendschützerinnen und -schützer 3.250 Trailer von 14 Sendern gesichtet hätten. Bei vielen sei ein „Anfangsverdacht auf eine Entwicklungsbeeinträchtigung“ festgestellt worden, teilt eine KJM Sprecherin mit. Details will sie jedoch nicht verraten, weder hinsichtlich konkreter Beispiele noch der genauen Anzahl der Verdachtsmomente. Ins gleiche Horn stößt der Medienrat der Stuttgarter Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg ( LFK). Das Gremium findet es bedenklich, dass überhaupt tagsüber mit bewegten Bildern auf Sendungen hingewiesen werden darf, „die aus Sicht des Jugendschutzes problematische Inhalte aufweisen“.
Als theoretisches Beispiel wird auf Nachfrage die bei RTL II gezeigte Zombie-Serie The Walking Dead genannt. Die entsprechenden Trailer entpuppen sich zwar als denkbar harmlos, zumal sie gar keine bewegten Bilder enthalten, aber es geht den Jugendschützerinnen und -schützern ohnehin ums Prinzip: Ein Trailer wecke bei jungen Zuschauerinnen und Zuschauern womöglich ein Bedürfnis, das vorher gar nicht da gewesen sei. Da Programmangebote mit einer Sendezeitbeschränkung ab 16 oder 18 Jahren rund um die Uhr in der Mediathek der Privatsender zur Verfügung stünden, könnten Kinder oder Jugendliche sie dort jederzeit aufrufen. Hintergrund der Diskussion sind zwei Änderungen im Jugendmedienschutzstaatsvertrag. Die eine betrifft die Programmtrailer. Die Landesmedienanstalten haben den entsprechenden Paragrafen früher so ausgelegt, als dürften Filme mit Sendezeitbeschränkung ab 22 Uhr auch generell erst ab 22 Uhr beworben werden.
Man hat sich dann mit den Sendern auf den Kompromiss geeinigt, dass die tagsüber ausgestrahlten Trailer für solche Sendungen keine bewegten Bilder enthalten dürfen. Im Kino wird das allerdings anders gehandhabt, hier dürfen selbst Filme mit einer Freigabe ab 18 Jahren theoretisch im Vorprogramm eines Kinderfilms beworben werden; allerdings werden die Trailer von der Freiwilligen Selbstkontrolle Filmwirtschaft ( FSK) geprüft. Die Sender forderten die gleichen Bedingungen für das Fernsehen, zumal jeder Trailer im Internet zur Verfügung stehe. Daniela Hansjosten, Leiterin Standards & Practices der Mediengruppe RTL, versichert, man sei sich der besonderen jugendschützerischen Verantwortung in diesem Bereich bewusst. Die Mediengruppe RTL habe schon seit einigen Jahren ein funktionierendes internes System der Trailer-Abnahme etabliert: „Alle Trailer durchlaufen einen engmaschigen Abnahmeprozess, in dessen Verlauf jeder jugendschutzrelevante Trailer vom Jugendschutzbeauftragten gesichtet, eingestuft und für die jeweilige Sendezeit freigegeben wird.“ Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), räumt dennoch ein, die Sender müssten noch lernen, mit diesem Instrument umzugehen. Sinnvoller als den Vorstoß der LFK hätte er es jedoch gefunden, eine gemeinsame Tagung mit der FSF, den Jugendschutzbeauftragten der Sender und Vertreterinnen und Vertretern der Programmdirektion zu veranstalten, und in diesem Rahmen über exemplarische Fälle zu diskutieren.
Die für diese Debatte maßgebliche zweite Änderung im neuen Staatsvertrag betrifft den technischen Jugendschutz: Während in den Bereichen Kino und DVD sämtliche Filme der FSK vorgelegt werden müssen, damit sie eine Jugendfreigabe erhalten, können Internetanbieter die entsprechende Kennzeichnung selbst vornehmen. Der Gesetzgeber erwartet von den Eltern, dass sie auf ihren Computern Jugendschutzprogramme wie etwa JusProg installieren, die automatisch alles herausfiltern, was nicht den elterlichen Parametern entspricht. In der Theorie klingt das gut. In der Praxis, glaubt von Gottberg, kenne kaum jemand diese Programme; er schätzt, dass allenfalls ein bis zwei Prozent der Eltern JusProg tatsächlich installiert hätten. Davon abgesehen kritisiert der FSF-Chef das „etwas veraltete Bild von Kindern und Jugendlichen“, das man bei den Landesmediananstalten habe: „Dort geht man offenbar davon aus, dass ein Kind im Fernsehen den Trailer zu einer Serie wie ‚Walking Dead’ sieht und umgehend zum Tablet greift, um die Mediathek von RTL II aufzurufen. In Wirklichkeit brauchen die Kinder keinen Trailer, um auf solche Angebote aufmerksam zu werden, so etwas erledigen ihre sozialen Netzwerke viel reibungsloser. Mit der gleichen Argumentation könnte man auch Hinweise in den Programmzeitschriften verbieten.“
Tillmann P. Gangloff ist Journalist und Medienkritiker.
Beitrag aus Heft »2017/02 Postfaktisch: Journalismus im medialen Wandel«
Autor: Tilmann P. Gangloff
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