Prof. Dr. Friedrich Krotz
- Beirat
Vita
Ich bin bei merz seit …
… 2005
Aktivitäten
Professor für Kommunikationswissenschaft, insbesondere soziale Kommunikation und Mediatisierungsforschung an der Universität Bremen
Schwerpunkte
Aktuell beschäftigt mich besonders …
… der Mediatisierungsansatz. Es geht um die Entwicklung einer Theorie, die uns hilft, den Zusammenhang zwischen Medienwandel einerseits und dem Wandel von Alltag, Kultur und Gesellschaft andererseits zu verstehen. Dazu betreibe und koordiniere ich aktuelle, historische und kritische Forschung, ausgehend vom Erleben der Menschen und im Hinblick auf die Bedeutung dieser Zusammenhänge für unser Zusammenleben. Insofern ist dies auch für die Medienpädagogik relevant.
Beiträge in merz
- Susanne Eggert und Friedrich Krotz: Sich orientieren oder orientiert werden?
Susanne Eggert und Friedrich Krotz: Sich orientieren oder orientiert werden?
Um sich in ihrer Welt zurechtzufinden halten Menschen Ausschau nach Beispielen von Personen, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind oder waren wie sie selbst, nach Situationen, die ihrer eigenen aktuellen Situation vergleichbar sind, sowie nach Handlungsmöglichkeiten für unterschiedliche Bedürfnislagen. Seit dem 18. Jahrhundert wird dieses Vorgehen als "sich orientieren" beschrieben. Da die Medien einen breiten Fundus an derartigen Angeboten vorhalten, werden sie oft als Orientierungsquelle herangezogen. Dass sie dabei insbesondere für Kinder und Jugendliche eine wichtige Rolle spielen, ist wissenschaftlich gut belegt (vgl. z. B. Theunert/Gebel 2000, Paus- Haase 1998). Die Bedeutung der Medien als Orientierungsinstanz und die damit verbundenen Möglichkeiten wurden von der Medienindustrie bald erkannt und (auch) für eigene Zwecke genutzt. Eine besondere Bedeutung kommt dabei heute auch dem sogenannten Social Web zu. Aufgrund der vielen persönlichen Daten, die die Nutzerinnen und Nutzer hier zum Teil freiwillig, zum Teil weil sie von den Anbietern dazu genötigt werden (bspw. weil die Angebote sonst nicht genutzt werden können) hinterlassen, ist es möglich, diese mit personalisierten, das heißt, auf ihr persönliches Profil zugeschnittenen Angeboten zu bedienen. Ob sie das auch wollen, steht dabei nicht zur Debatte. Dies kann auch als Manipulation bezeichnet werden.
Menschen nutzen die Medien also auch deswegen, um hier nach Orientierungsangeboten für ihr eigenes Leben Ausschau zu halten. Die Medien wiederum machen selbst aktiv Angebote, an denen die Menschen sich orientieren sollen. In Anbetracht dieser Ausgangslage stellen sich viele Fragen, was das Potenzial der Netze für Orientierung und Orientierungsleistungen angeht. Woran orientieren sich die Kinder und Jugendlichen von heute, über welche Themen und warum ist das so? Wie geht Medienpädagogik mit den Orientierungspotenzialen von medialen Angeboten um, wie beurteilt sie sie, wie hilft sie Kindern und Jugendlichen, damit umzugehen, inwieweit vermittelt sie selbst Orientierungen und wie transparent geschieht das? Über solche Fragen ist bisher viel zu wenig geforscht worden.Einen ersten Schritt in die Richtung, diese Intransparenz in Sachen Orientierungsfunktion der Medien aufzuhellen geht das vorliegende Heft – natürlich nur in einzelnen Beispielen.
In seinem einführenden Beitrag macht Friedrich Krotz deutlich, wie sich die Rolle der Medien als Orientierungsinstanz im Laufe der Zeit verändert hat. Um die Angebote der Medien nutzen zu können, mit dem Ziel, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, sind und waren schon immer spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten notwendig. Denn durch die Monopolstellung globaler Player wie zum Beispiel Google dienen viele Orientierungsleistungen in erster Linie wirtschaftlichen Interessen und die Nutzenden stehen vor der Herausforderung zu erkennen, worin der Nutzen für sie selbst besteht.
Folgt man Guido Bröckling ist hier insbesondere eine kritische Medienpädagogik gefordert, durch die die Nutzenden dazu befähigt werden, die Strukturen innerhalb der Medien zu durchschauen und sie ethisch zu bewerten: Nach welchen Kriterien geschieht die Auswahl von Information? Welchen Regeln folgen Meinungsbildungsprozesse in sozialen Netzwerken? Welche Rolle spielen dabei politische und kommerzielle Interessen? Dieses Wissen, mit dem die Komplexität der mediatisierten Welt reduziert werden kann, brauchen schon Kinder und Jugendliche, um die Angebote der Medien bewerten und souverän für ihre eigenen Bedürfnisse nutzen zu können.
Dass dies im konkreten Alltagserleben Jugendlicher keine einfache Aufgabe ist, zeigt der Beitrag von Nadine Tournier. Soziale Netzwerkdienste wie etwa der Messenger WhatsApp oder bildorientierte Dienste wie Instagram und Snapchat haben hohen Beliebtheitswert unter Jugendlichen. Diese nutzen die Dienste, um sich mit anderen zu vergemeinschaften und in diesen Gemeinschaften relevante entwicklungsbezogene Fragen zu bearbeiten. Dies geschieht aber nicht unbeeinflusst von den plattformbezogenen Vorgaben und Funktionen.
Einen Aushandlungsort von gesellschaftlichen Normen und Werten vor allem für Heranwachsende und junge Erwachsene stellen auch Casting Shows wie Germany’s next Topmodel (GNTM) dar. Dass diese derartigen Angebote dann oft auch kritisch gesehen werden, zeigt die Hashtag-Kampagne #notheidisgirl, die Miriam Stehling als ein Potenzial der Möglichkeiten in einer mediatisierten Welt analysiert.
Schließlich wird noch ein Blick auf die für Jugendliche wichtige Videoplattform YouTube geworfen. Christa Gebel und Andreas Oberlinner haben im Rahmen des vom BMFSFJ unterstützten Projekts ACT ON! untersucht, wie YouTube von Jugendlichen wahrgenommen und genutzt wird. Die Ergebnisse der im Anschluss durchgeführten Analyse der beliebtesten YouTuber und YouTuberinnen stellen sie in diesem Heft vor.
Die Wahrnehmung von YouTube-Stars durch ältere Kinder stand zudem im Mittelpunkt einer FLIMMO-Kinderbefragung. Michael Gurt fasst zusammen, inwiefern diese den Kindern als Orientierungsangebot dienen können.
Abgerundet wird der Themenschwerpunkt mit einem Text aus der medienpädagogischen Praxis (Ilona Herbert und Martin Noweck). Im Juni soll LiFE starten, ein neues medienübergreifend angelegtes Sendungsformat, in dem sich Jugendliche und junge Erwachsene als Redakteurinnen und Redakteure erproben können. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können sich hier mit ihren Themen auseinandersetzen und dies in Fernseh-, Film- oder Radiobeiträgen oder auch Internet-Angeboten zur Diskussion stellen und sich so aktiv an der Gestaltung und Entwicklung der Gesellschaft, in der sie leben, einbringen.
Wir hoffen, dass wir mit diesem Spektrum Anregungen für eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie Orientierung in der komplexen Welt, in der wir leben, geben können und wünschen viel Spaß beim Lesen!
Literatur Paus-Haase, Ingrid (1998). Heldenbilder im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Symbolik von Serienfavoriten in Kindergarten, Peer-Group und Kinderfreundschaften. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Theunert, Helga/Gebel, Christa (Hrsg.) (2000). Lehrstücke fürs Leben in Fortsetzung. Serienrezeption zwischen Kindheit und Jugend. BLM-Schriftenreihe, Bd. 63. München: Reinhard Fischer. - Friedrich Krotz: Die Veränderung von Privatheit und Öffentlichkeit in der heutigen Gesellschaft
Friedrich Krotz: Die Veränderung von Privatheit und Öffentlichkeit in der heutigen Gesellschaft
Jugendliche geben ihr Leben immer häufiger im Internet preis. Was von vielen Seiten oftmals als Dummheit und Leichtsinn betitelt wird, gehört aber zur Entwicklung Heranwachsender. Ob sich nur das Medium verändert hat, in dem sich das Erwachsenwerden abspielt, oder ob sich der Wert von Öffentlichkeit und dessen Verhältnis zur Privatheit gewandelt haben, hängt von unterschiedlichen Perspektiven ab.
Literatur
Dewey, John (1927). The Public and its Problems. New York: Holt.Etzioni, Amitai (1999). The Limits of Privacy. New York: Basic Books.
Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm (1991). Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze. In: Müller-Doohm, Stefan/Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Oldenburg: Bibliothek der Universität, S. 31-90.
Habermas, Jürgen (1987). Theorie kommunikativen Handelns, 2 Bände, 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Krotz, Friedrich (2007). Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag.
Lingenberg, Swantje (2009). Europäische Öffentlichkeit – Öffentlichkeit ohne Publikum? Ein pragmatischer Ansatz mit Fallstudien zur europäischen Verfassungsdebatte. Wiesbaden: VS Verlag.
Lippmann, Walter (1925). The phantom public. New York: Harcourt, Brace and Company.Schaar, Peter (2007). Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft. 2. Auflage. München: C. Bertelsmann.
Schulzki-Haddouti, Christiane (2004). Im Netz der inneren Sicherheit. Die neuen Methoden der Überwachung. Hamburg: EVA.
Sennett, Richard (1986). Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main: Fischer.
Singelnstein, Tobias/Stolle, Peer (2006). Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag.Ström, Pär (2006). Die Überwachungsmafia. Das lukrative Geschäft mit unseren Daten. München: Wilhelm Heyne.
Beitrag aus Heft »2009/04: Informationelle Selbstbestimmung?!«
Autor: Friedrich Krotz
Beitrag als PDF - Friedrich Krotz: Kommunikatives Handeln in ökonomisierten und mediatisierten Welten
Friedrich Krotz: Kommunikatives Handeln in ökonomisierten und mediatisierten Welten
Es ist unbestritten, dass das Internet nach wie vor ein Raum kreativer Handlungsmöglichkeiten und sozialer Kontakte ist. Aber die Entwicklung der Medien und insbesondere des Internet muss heute mehr denn je in einem Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung gesehen werden. Dies erfordert eine kritische Forschung, die in konkreten politischen wie auch medienpädagogischen Forderungen mündet.
Definitely the internet is a space for creativity and social life. But the development of the media – in particular the internet – more than ever has to be seen connected with the development of economy. Hence critical research is most important, since the findings of this research can be the basis for political as well as media pedagogical requests.
Literatur
Altheide, David. L./Snow, Robert P. (1979). Media Logic. Beverly Hills: Sage.
Habermas, Jürgen (1987). Theorie kommunikativen Handelns, 2 Bände, 4. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Krotz, Friedrich (2001). Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Wie sich Alltag und soziale Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien wandeln. Opladen: Westdeutscher Verlag.Krotz, Friedrich (2003). Metaprozesse sozialen und kulturellen Wandels und die Medien. In: Medien Journal, 27. Jg., S. 7-19.
Krotz, Friedrich (2007). Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Krotz, Friedrich/Hepp, Andreas (Hrsg.)(2012). Mediatisierte Welten. Wiesbaden: VS Verlag.Lundby, Knut (Hrsg.) (2009). Mediatization. Concept, Changes, Consequences. New York: Peter Lang.
Schulz, Winfried (2004). Reconstructing Mediatization as an Analytical Concept. In: European Journal of Communication, 19.1 (2004), pp. 87–101.
Sennett, Richard (2000). Der eindimensionale Mensch. München: Siedler.
Beitrag aus Heft »2012/06: Medienhandeln in globalisierten und multilokalen Lebenswelten«
Autor: Friedrich Krotz
Beitrag als PDF - Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Winter, Carsten: Globalisierung der Medienkommunikation
Hepp, Andreas / Krotz, Friedrich / Winter, Carsten: Globalisierung der Medienkommunikation
Erhellende Einsichten zur Rolle der Medien auf der WeltbühneDa Globalisierung derzeit droht, zu einem „Plastikwort“ zu degenerieren, erscheint die vorliegende medienbezogene Reflexion des Anwendungsradius’ des Konzepts als einführendes Lehrbuch zur rechten Zeit. Studierende der einschlägigen Fachrichtungen Medien- und Kulturwissenschaften werden in ihrer beruflichen und wissenschaftlichen Praxis immer stärker mit den komplexen Konnektivitäten von Kommunikation und Information konfrontiert sein. Absehbar ist ferner für ein adäquates Verständnis der vielschichtigen Globalisierungsprozesse eine notwendige „Entgrenzung“ von sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen, insbesondere ökonomischer und kultureller Provenienz. Diesem Anforderungsspektrum wird der vorliegende Band mehr als gerecht. Verschiedene Beträge unterfüttern die Diskussion mit theoretischen Konzepten: Friedrich Krotz beispielsweise systematisiert die Modernisierungs- und Globalisierungstheorien und führt sie in einer eigenen Synthese zusammen, die vor allem auf die simultane Vernetzung unterschiedlicher Dimensionen kultureller, ökonomischer, sozialer und rechtlicher Prozesse abhebt, die als solche neue Vergesellschaftungsgrundlagen, aber auch neuartige Problemfelder schaffen, welche von der Ökonomisierung der Gesellschaft über Tendenzen der Spaltung durch die neuen Medien bis hin zur Kulturzerstörung reichen; allesamt Tendenzen, denen man zivilgesellschaftlich-regulierend entgegenzutreten habe. Ein anderes Bündel von Artikeln widmet sich ausgewählten Problemfeldern.
Besonders zu erwähnen ist hier der Beitrag von Günter Lang und Carsten Winter. Sie präparieren sehr anschaulich die Kerne eines medienökonomischen Globalisierungsblicks heraus, der differenziert die multinationalen Investitionsströme unter die Lupe nimmt und anhand der Filmindustrie klar vor Augen führt, dass Medienunternehmen in der globalen Welt einen eher geringen festen Mitarbeiterstab aufweisen und je nach Bedarf Leistungen dazu kaufen – ein Paradebeispiel für die weiter zu erwartenden Tendenzen der Unternehmensentwicklung. Interessant ist dann der inhaltliche Vergleich mit der Globalisierung der Zeitschriftenproduktion. Hier zeigen die Autoren, dass von einer Glokalisierung die wesentlichen Erfolgschancen ausgehen – also einer Anpassung von Zeitschriftenkonzepten an den jeweiligen nationalen Markt.In einer Reihe anschaulicher Fallbeispiele wird das „Publikum“ bzw. der Rezipient stärker beleuchtet. Michael Neuner und Swaran Sandhu führen in vortrefflicher Weise vor, dass sich auch globale, multinationale Medienkonglomerate wie Time Warner nicht alles erlauben können: So wehrt sich die große Harry Potter-Gemeinde zunehmend und mit den Mitteln der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien gegen die hegemonialen und regelrecht bedeutungsstandardisierenden Strategien des Konzerns. Das Publikum besteht auf seiner relativen Rezipientenautonomie und Time Warner kann nicht umhin, sich mit dieser widerständigen Fangemeinde auseinander zu setzen.
Mit einem umfangreichen Glossarium ergänzt, bietet dieses Lehrbuch einen umsichtig gegliederten, theoretisch fundierten wie empirisch informierten Einstieg in ein spannendes und komplexes Feld der Medienforschung, dessen Relevanz für die Medienpädagogik nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Hepp, Andreas; Krotz, Friedrich; Winter, Carsten (2005) (Hrsg.). Globalisierung der Medienkommunikation. Wiesbaden: VS Verlag, 350 S., 27,90 €
- Friedrich Krotz: Identität, Beziehungen und die digitalen Medien
Friedrich Krotz: Identität, Beziehungen und die digitalen Medien
Dass ein Säugling überlebt und laufen und sprechen lernt, dass er in der Lage ist, Freunde zu gewinnen und fernzusehen, dass er zu einem eigenständigen Menschen wird, dafür ist er biologisch gerüstet. Aber er braucht soziale Mütter und Väter, Freundinnen und Freunde, um zu erlernen, wie er das kann und wird: Kommunikation und Beziehungen sind dafür und für die Konstitution von Identität von zentraler Bedeutung. Für Kommunikation und Beziehungen werden heute aber die digitalen Medien immer wichtiger. Vermutlich verändern sich dadurch die Kommunikationsformen der Menschen, ihre Kontakte und ihr Beziehungsumfeld und darüber auch ihre Identität.
Any human being is by biology able to learn to walk and to speak. She and he is also able to find friends, to use TV and to become an own, specific person. But she and he needs social parents, male and female friends and other people to learn all that. Especially communication and social and personal relations thus are essential for that, and they are also essential for identity construction. But communication with others and the starting and maintaining of relations today takes place at least in part by digital media. In consequence, we can assume that the forms of human communication, the interpersonal contacts and the net of personal, social, and parasocial relations of an individual are changing, which is also of importance for her or his construction of identity.
- Krotz, Friedrich (2007). Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation
Krotz, Friedrich (2007). Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation
Mediatisierung beschreibt den Prozess des aktuellen medialen Wandels und dessen Bedeutung für den Kultur- und Gesellschaftswandel. Krotz definiert den gesellschaftlichen Metaprozesses Mediatisierung, seine Implikationen und seine Relevanz für die Kommunikationswissenschaft auf Grundlage eines symbolisch-interaktionistischen Verständnisses von Kommunikation. Anschließend werden verschiedene empirische Fallstudien zum Wandel von Kommunikation vorgestellt.
Zunächst bilden dabei interaktive Medien wie PC-Spiele und Roboter den Kern der Auseinandersetzung. Anhand des Mobiltelefons und des Chats wird diskutiert, welchen Einfluss die Mediatisierung auf die interpersonale Kommunikation ausübt. Darüber hinaus werden die Konsequenzen für die Massenkommunikation thematisiert, welche sich im Hinblick auf die Mediatisierung immer mehr als Produktion und Rezeption allgemein adressierter, standardisierter Kommunikate bezeichnen lässt.
Abschließend findet eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Digitalen Spaltung statt. Neben einem sehr komplexen Überblick über das Phänomen der Mediatisierung bietet das Buch Ansatzpunkte für die weitere Mediatisierungsforschung.
- Friedrich Krotz/Heidi Schelhowe: Editorial: Ethik und KI
Friedrich Krotz/Heidi Schelhowe: Editorial: Ethik und KI
Vor 80 Jahren, als die ersten funktionierenden Computer gebaut wurden, kam eine neue Art der Maschine auf die Welt: Sie konnte in gewisser Weise mit Symbolen und Zeichen operieren und beherrschte formale Logik und Mathematik. Es gab nur wenige davon, sie waren riesengroß und der Zugang war Wissenschaftler*innen vorbehalten. Die gesellschaftliche Bedeutung lag – wie Konrad Zuse es formulierte – darin, „dem Ingenieur stures Wiederholen von Rechengängen abzunehmen“ (Zuse 1993, S. 33) und den zuvor menschlichen ‚Computer‘ durch eine Maschine zu ersetzen. Die damalige Rede von ‚Elektronengehirn’ und ‚Denkmaschine’ lag nahe. Gleichzeitig aber regten diese Begriffe die Fantasie vieler Menschen an. Auch in Literatur, Kino und Fernsehen wurden immer neue Geschichten erzählt, die an den Potenzialen dieser Maschinen anknüpften – unabhängig davon, ob das realistisch war oder nicht.
Heute haben sich diese Maschinen als Laptops, Tablets, Smartphones, stationäre Kleincomputer und große Server, die im Hintergrund arbeiten, in riesiger Zahl über die Welt verbreitet. Sie haben sich in nahezu allen Lebens- und Arbeitsbereichen eingenistet, können im Prinzip von allen genutzt werden und sind in vielfacher Weise vernetzt. Parallel dazu entstand seit 1956 eine neue Wissenschaftsdisziplin, oft auch als Teildisziplin der Informatik verstanden, unter dem Titel ‚Künstliche Intelligenz‘ (KI). Sie arbeitet an computerbasierten Systemen, die Leistungen erbringen sollen, die bisher nur von Menschen erwartet worden sind: Schach spielen, Autos steuern, Gespräche führen, Muster und Gesichter erkennen, Spezialist*innen bei der Arbeit behilflich sein. Dialogsysteme wie Alexa, Siri, Cortanaund andere sind heute in vielen Haushalten in Gebrauch; immer mehr Bereiche menschlichen Alltags, auch von Ökonomie, Arbeit, Politik, Bildung, Wissenschaft und Forschung, werden von Computern und zunehmend auch von dieser sogenannten Künstlichen Intelligenz geprägt und durchdrungen. Ein Ende dieser Entwicklungen ist nicht abzusehen. Im Hinblick auf den Einsatz dieser KI werden viele Bereiche auch in neuer Weise organisiert: zum Beispiel die Arbeit in Fabriken und Verwaltung, die Diagnosen und Operationen in der Medizin, das Einkaufen, das Lernen und Vieles mehr.
Einigermaßen unklar ist allerdings, wohin diese Reise die Menschheit führt. Die Transformationen beinhalten wie jeder Wandel einerseits Vorteile und Chancen für das Zusammenleben der Menschen, zum Beispiel, wenn gefährliche oder unangenehme Arbeiten von Computern übernommen werden können oder neue Formen von Kommunikation und Information entstehen, an denen Roboter beteiligt sind. Sie beinhalten aber auch Risiken und Gefahren: Wie werden zukünftig Einkommen und Status verteilt, wenn immer mehr Jobs von KI übernommen werden? Wie wird garantiert, dass Kommunikation und Information nicht zu Manipulation und Beeinflussung werden? Wie kann verhindert werden, dass die Grundlagen der Demokratie durch datenbasierte Kontrolle und überlegene Technologien bedroht werden, die allein den ökonomischen Interessen großer IT-Konzerne folgen? Wo und von wem sollen die Entwicklungen kontrolliert und verantwortet werden?
Ein konkretes Beispiel für Vorzüge, aber auch Probleme ist die auf KI gestützte Entwicklung selbstfahrender Autos, die auf uns zukommt. Solche Automobile können dazu beitragen, dass verstopfte Städte, die sich immer deutlicher abzeichnende Umweltkatastrophe und die aus dem Ruder laufenden Bedingungen räumlicher Mobilität in neue und menschengerechtere Bahnen gelenkt werden, dass es weniger Unfälle gibt und dass die im Auto verbrachte Zeit sinnvoller genutzt werden kann. Dafür sind hervorragende und sichere KI-Programme unerlässlich, die mit menschlichen Kompetenzen vergleich-bare Fähigkeiten haben. Sie müssen mit ihren Sensoren und der Auswertung der darüber erlangten Daten menschliche Wahrnehmung ersetzen und unter den jeweiligen Bedingungen Gas geben, bremsen oder ausweichen – bei Menschen würde man sagen, entsprechende Entscheidungen treffen.
Mit den Algorithmen und der Technik alleine ist es aber nicht getan. Wer wird diese kommende Mobilität gesamtgesellschaftlich organisieren und betreiben – werden es Unternehmen wie VW und UBER sein, die den zukünftigen Verkehr organisieren, zwei Unternehmen, die nicht dafür bekannt sind, dass sie Recht und Gesetz einhalten, wenn es um ihre Gewinne geht? Oder wird die zukünf-tige Mobilität als öffentliche Daseinsfürsorge unter parlamentarischer Kontrolle organisiert – das ist bei einigen öffentlichen Infrastrukturen im (Nah-)Verkehr in einigen Ländern Europas teilweise noch der Fall, häufig wurden und werden solche Infrastrukturen aber wie bei der Wasserversorgung oder im Gesundheitsbereich im Zuge des Neoliberalismus mehr und mehr privatisiert.
Nicht klar ist auch, wie solche Autos mit den typischen, bisher meist nur von der Philosophie diskutierten Dilemmata umgehen: Der Wagen fährt auf einer Bergstraße, vor ihm erscheint plötzlich ein Kind, rechts geht es in den Abgrund – was geschieht, wenn das selbstfahrende Auto nicht mehr bremsen kann? Menschen entscheiden in solchen Situationen individuell und müssen für ihre Entscheidungen moralisch wie strafrechtlich geradestehen. Aber ist es denkbar, dass ein von einer Software gesteuertes Auto entscheidet, dass der Wagen sich und seine Passagiere in den Abgrund steuert, um das Kind zu retten? Oder verliert zukünftig immer das Kind?
Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, die zeigen, dass manches auch schief gehen kann, wenn es Maschinen sind, die ‚entscheiden’ (vgl. hierzu allgemein Rath/Karmasin/Krotz 2019 und insbesondere Saurwein 2019): So hat Microsoft den Gesprächsroboter Tay entwickelt und eingesetzt, der sich nach ein paar Stunden des Dialogs mit Menschen zu antisemitischen Aussagen verstieg und Hitler positiv würdigte. In China wird die KI-basierte Gesichtserkennung von der Polizei in Fällen nicht-systemkonformen Verhaltens eingesetzt. Jedem Menschen dort wird auf Basis der über ihn gesammelten Daten ein Punktwert zugeordnet, der letztlich dessen gesellschaftlichen Wert ausdrücken soll und wonach entsprechend belohnt oder bestraft wird. In den USA wurde von der Justiz ein KI-Programm eingesetzt, das prognostizieren sollte, ob ein Strafgefangener, wenn er begnadigt würde, wohl rückfällig wird, also besser nicht zu begnadigen ist: Dieser Algorithmus wurde mit vorliegenden Daten trainiert. Im Endeffekt wurden die Aussichten für schwarze Häftlinge in der Regel wesentlich schlechter prognostiziert als für weiße. Algorithmen, die bei der Auswahl von Bewerber*innen für einen Job helfen sollten, bewerteten Frauen in der Regel schlechter, weil sie bisher seltener in Führungspositionen aufsteigen.KI wird derzeit vor allem von den großen Digitalunternehmen wie Facebook, Google, Apple, Amazon, Microsoft und Uber, aber auch von den Militärs vorangetrieben, mehr und mehr auch von chinesischen Unternehmen, die die Entwicklungsrichtungen bestimmen und entsprechende Instrumente und Methoden einsetzen. Heute werden so die Rahmenbedingungen für zukünftige Entscheidungen festgelegt.
Es sind Staat und Politik, die zunächst gefordert sind, diese Prozesse zu kontrollieren und zu regulieren, Rahmenbedingungen zu setzen und zu klären, welchen ethischen Kriterien Algorithmen zu folgen haben. Gleichzeitig ist es die Aufgabe von uns allen, diese Entwicklungen im Auge zu behalten. Schon heute sind wir alle durch die Daten, die wir in den unterschiedlichsten Kontexten an Soziale Netzwerke oder andere Datensammelsoftware preisgeben, an der Entwicklung moderner KI beteiligt. Ohne unser heutiges unbewusstes Zutun könnten die Algorithmen nicht ‚lernen’, sie entwickeln sich durch das Sammeln und Analysieren der von uns eingegebenen Daten und durch unsere Rückmeldungen. Moderne KI speist sich daraus und nur noch zu einem Teil aus intelligenten Algorithmen, die sich Entwickler*innen ausdenken. Oft ist bei den heutigen KI-Systemen nicht vollständig zu klären, wie sie zu ihren Ergebnissen kommen. Sie nutzen Formen ‚Maschinellen Lernens’, sodass die Muster, die aus der Interaktion mit Umwelt und Nutzer*innen abgeleitet sind, selbst für die Entwickler*innen nicht mehr nachvollziehbar sind. Wollen wir solche Entscheidungen? Brauchen wir nicht prinzipiell Kontrolle und Transparenz darüber, wie die Maschinen zu ihren ‚Entscheidungen’ kommen, um sie hinterfragen zu können? Müssen wir nicht auch die Konzerne und ihre Logik der Ökonomie im Auge behalten, die hinter der Entwicklung und Anwendung von KI stehen?
Es bedarf politischer und ethisch begründeter Entscheidungen, was KI darf und was nicht, wo sie eingesetzt wird und welche Bedingungen sie erfüllen muss. Diese wiederum dürfen nicht nur Staat und Wirtschaft untereinander aushandeln, vielmehr muss in einer gelebten Demokratie eine kontinuierliche öffentliche Diskussion darüber geführt werden, wie sie in Deutschland vom Ethikrat, in Europa von der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament, weltweit auch von UNO und UNESCO begonnen wurde, aber bisher kaum eine breite Öffentlichkeit erreicht hat. Das Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, ist entscheidend. Dazu müssen Bürger*innen zunächst über diese technologischen und ökonomischen Entwicklungen informiert werden, damit sie in der Lage sind, an den Entscheidungen mitzuwirken.
Eine Voraussetzung dafür, dass wir selbst in die Prozesse eingreifen, einen Rahmen setzen und sie mitgestalten können ist, dass wir uns unserer eigenen Beteiligung an der Schaffung der Digitalen Kultur durch unsere Interaktion bewusst werden, dass wir lernen zu verstehen, was da wann, wie und an welchen Orten passiert. Dies gilt insbesondere auch für die zukünftigen Generationen. Kinder und Jugendliche werden in durch die Technologie sehr veränderten sozialen und kulturellen Umgebungen aufwachsen, die von ihnen verstanden und durchschaut werden müssen. Sie müssen (weit mehr noch als die derzeitigen Erwachsenen) diese Entwicklungen verstehen, gestalten, kontrollieren und sie souverän verwenden können.
Damit ist das Schwerpunktthema des vorliegenden merz-Heftes angesprochen. Es geht um KI, um einen ethischen Rahmen für KI und darum, wie Lernen über KI stattfinden kann: Was kann KI, was soll KI, was darf KI, wohin soll die Reise mit KI gehen? Diese Themen müssen in die Medienpädagogik Einzug halten, weil sie von fundamentaler Bedeutung für unsere mediale Kultur und unseren Umgang mit den Medien sind.
Das Heft setzt sich mit diesen Themen eher grundlegend auseinander und versucht zu verdeutlichen, was hinter dem oft schon fast mystisch verwendeten Begriff der KI tatsächlich stattfindet und wie Medienpädagogik bzw. wie eine Pädagogik unter Bedingungen einer KI-Umwelt damit umgehen kann. Dabei soll es nicht darum gehen, Kinder und Jugendliche für ein Schritthalten mit den technologischen Entwicklungen fit zu machen. Ein amerikanisches Unternehmen, das einen Online-Kurs zu KI für Kids im Netz für 15 bis 240 Dollar – je nach Service – anbietet, wirbt für das Angebot: „Artificial intelligence and machine learning are going to become a huge part of our future. And kids need to be prepared for it. To make them AI-ready for the future, we’ve designed an online AI course for kids of the 21st-century“. Es wird versprochen, dass Kids durch den Kurs „fall in love with artificial intelligence“1. Darum geht es den Autor*innen dieses Heftes nicht. Sie wollen demgegenüber – auch spielerisch – Kenntnisse und Kompetenzen vermitteln, die junge Menschen befähigen, selbst zu urteilen und Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen, statt sich an die von den Konzernen entwickelte KI anzupassen.
In einem ersten Aufsatz beschäftigen sich Serge Autexier und Heidi Schelhowe aus der Innensicht der Informatik in einer nachdenklichen Weise mit der Entstehung und der bisherigen Geschichte der KI. Sie erklären, was es mit der heutigen KI und ihrem rasanten Aufstieg unter dem Begriff des ‚Maschinellen Lernens’ auf sich hat und problematisieren die schlichte Datensammelwut und die automatisierte Erkennung von Mustern durch KI statt einer grundlegenden Entwicklung und Durchdringung der Algorithmen, durch die wissenschaftlicher Fortschritt und Transparenz erst möglich würden. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, welche Vorstellungen vom ‚Lernen’ die KI von Anfang an prägen. Ein vom Konstruktivismus geprägter Ansatz von Lernen, so die beiden Autor*innen, würde auch eine andere Art der Anwendung und des Umgangs mit KI in Bildungskontexten bedeuten, anders als der Glaube, dass man mit der KI einem individualisierten Lernen gerecht werden könne.
Der dann folgende Text von Friedrich Krotz hinterfragt KI auf grundsätzliche Weise mit dem Ziel, einerseits die Diskussion zu versachlichen, andererseits um herauszuarbeiten, dass manche Entwicklungen in eine falsche Richtung gehen. KI ist in der hier eingenommenen Perspektive wesentlich damit beschäftigt, komplexe Hardware/Software-Systeme zur Bewältigung komplexer Aufgaben zu schaffen. Für solche Leistungen von Maschinen müssen aber noch eine angemessene Sprache und eine kontrollierte gesellschaftliche Einbettung gefunden werden – eine Vermenschlichung von Maschinen ist dafür nicht angebracht: Maschinen denken und entscheiden nicht, sie gehen auf eine maschinentypische Art mit Daten um. Als Problem benennt Friedrich Krotz, dass es derzeit vor allem die großen Digitalfirmen sind, die festlegen, wo und wie KI verwendet wird und wohin die derzeitige Entwicklung geht. Stattdessen wäre es notwendig, Systeme zu entwickeln, die für die Menschen, für Demokratie und Menschenrechte hilfreich sind.
Der dritte Aufsatz von Gudrun Marci-Boehnke und Matthias Rath beschäftigt sich schließlich mit KI und Ethik. Er geht von der Prämisse aus, dass die Leistungsfähigkeit von KI für das Wohl der Menschen nutzbar gemacht werden muss und dass dies auch die Erziehungsarbeit betrifft. Vor diesem Hintergrund werden Chancen, Probleme und Risiken der KI aus ethischer und pädagogischer Perspektive dargestellt und diskutiert. Als Schlüsselbegriff für die zukünftigen Diskussionen wird der Begriff der algorithmic literacy entwickelt, der an den bisher die Medienpädagogik prägenden Kompetenzkonzepten ansetzt.
Zwei weitere Beiträge gehen dann auf konkrete Projekte mit Kindern und Jugendlichen ein. Der erste Beitrag von Simone Opel, Lina Nordemann, Carsten Schulte und Claudia Tenberge entstand im Rahmen des ‚Wissenschaftsjahrs KI’ und befasst sich mit dem Simulationsspiel Mensch, Maschine!, mit dem Kinder und Jugendliche die Funktionsweisen von KI kennenlernen und konkret erfahren können, was Maschinen können und was nicht. Dazu wurden Materialien für Schüler*innen sowie für Lehrende entwickelt und bereitgestellt, die unterschiedliche Zugänge ermöglichen. Darüber hinaus werden Evaluationsergebnisse aufbereitet. Das Material ist konzipiert für den Schulunterricht, lässt sich aber aufgrund seiner Vielfalt sicherlich auch in der außerschulischen Jugendarbeit verwenden. Über webdaysmoocKI, ein Projekt der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V. (IJAB), berichten Janina Carmesin, Hannah Bunke-Emden und Kristin Narr. Es handelt sich um einen Online-Kurs zu KI für Jugendliche ab 14 Jahren. Die Materialien stehen dauerhaft zur Verfügung. Besonders interessant ist, dass der Kurs partizipativ zusammen mit Jugendlichen entwickelt wurde. Die Jugendlichen setzen sich mit KI in ihrem Alltag auseinander, stellen sich ethischen Fragen und bekommen einen Einblick in Entwicklungen der KI-Technologie weltweit.
Schließlich wird in einigen Auszügen auf weitere Materialien verwiesen. Dies sind einmal Auszüge aus dem Grundlagenpapier, das von der Ethik-Kommission, eingesetzt von der Bundesregierung, erarbeitet wurde. Es ermöglicht einen systematischen und kritisch reflektierenden Einstieg in die Thematik. Zum anderen sind es Ausschnitte aus einer von der UN veranstalteten Wissenschaftler*innenkonferenz von 2019, auf der ein Papier mit dem Titel 'Bejing Consensus on Artificial Intelligence and Education' erarbeitet wurde. Es macht die internationale Aufmerksamkeit für das Thema KI deutlich. Schließlich wird noch auf weitere Projekte und weiterführende Literatur verwiesen.Wenn die Autor*innen in den Beiträgen dieses Heftes sich in einem einig sind, dann ist es die Forderung nach einer fundamentalen Kompetenz, KI und deren ethische Implikationen begreifen zu lernen, was technologisches Wissen, Wissen um Daten und Algorithmen und die Fundamente der heutigen KI, aber auch grundlegende ethische Fragen umfasst, wie auch politischen und ökonomischen Durchblick erfordert. Klar ist, dass dieses Thema wohl nicht zum letzten Mal in der merz verhandelt werden wird.
Literatur
Rath, Matthias/Krotz, Friedrich/Karmasin, Matthias (Hrsg.) (2019). Maschinenethik. Normative Grenzen autonomer Systeme. Wiesbaden: Springer VS.
Saurwein, Florian (2019). Automatisierung, Algorithmen, Accountability. Eine Governance Perspektive. In: Rath, Matthias/Krotz, Friedrich/Karmasin, Matthias (Hrsg.), Maschinenethik. Normative Grenzen autonomer Systeme. Wiesbaden: Springer VS, S. 35–56.
Zuse, Konrad (1993). Der Computer – Mein Lebenswerk. Berlin: Springer.
Anmerkung
- Friedrich Krotz: Ziemlich falsche Richtung!
Friedrich Krotz: Ziemlich falsche Richtung!
Die Forschung zu Künstlicher Intelligenz zielt darauf ab, Hardware-/Software-Systeme zu entwickeln, die komplexe Aufgaben lösen bzw. zu deren Lösung beitragen können. Wie der Beitrag herausarbeitet, sind es derzeit allerdings vor allem die großen Digitalfirmen, die festlegen, welche Probleme wie gelöst werden und wohin die derzeitige Entwicklung geht. Zu einer Weiterentwicklung von Demokratie und den Formen des menschlichen Zusammenlebens trägt dies nicht bei. Das muss sich dringend ändern.
Literatur:
Cawsey, Alison (2002). Künstliche Intelligenz im Klartext. München: Pearson.
Chen, Jize/Wang, Changhong (2019). Reaching Cooperation using Emerging Empathy and Counter-empathy. In: Agmon, Noa/Taylor, Matthew E./Elkind, Edith/Veloso, Manuela (Hrsg.), Proceedings of the 18th International Conference on Autonomous Agents and Multiagents (AAMAS 2019), S. 746–753. www.ifaamas.org/Proceedings/aamas2019/pdfs/p746.pdf [Zugriff: 12.08.2020]
Daum, Timo (2019). Die künstliche Intelligenz des Kapitals. Hamburg: Nautilus.
Dreyfus, Hubert L. (1985). Die Grenzen künstlicher Intelligenz. Was Computer nicht können. Königstein im Taunus: Athenäum.
Ertel, Wolfgang (2018). Introduction to Artificial Intelligence. Cham, Schweiz: Springer Nature.
Eugster, Jörg (2017). Übermorgen. Eine Zeitreise in unsere digitale Zukunft. Zürich: Midasverlag.
Flasiński, Mariusz (2016). Introduction to Artificial Intelligence. Cham, Schweiz: Springer International.
Kaplan, Jerry (2017). Künstliche Intelligenz. Eine Einführung. Frechen: mitp.
Krotz, Friedrich/Despotović, Cathrin/Merle-Marie Kruse (Hrsg.) (2017). Mediatisierung als Metaprozess: Transformationen, Formen der Entwicklung und die Generierung von Neuem. Wiesbaden: Springer VS.
Lenzen, Manuela (2003). Natürliche und Künstliche Intelligenz. Frankfurt am Main: Campus.
McCarthy, John/Minsky, Marvin/Rochester, Nathaniel/Shannon, Claude E. (1955). A Proposal For The Dartmouth Summer Research Project On Artificial Intelligence.http://www-formal.stanford.edu/jmc/history/dartmouth/dartmouth.html [Zugriff: 12.08.2020]
Rath, Matthias/Krotz, Friedrich/Karmasin Matthias (Hrsg) (2019). Maschinenethik. Normative Grenzen autonomer Systeme. Wiesbaden: Springer VS.
Schell, Fred (2008). Projektorientierung. In: Sander, Uwe/von Gross, Friederike/Hugger, Kai-Uwe (Hrsg), Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: Springer VS, S. 287–291.
Searle, John R. (1994). Geist, Gehirn, Programm. In: Zimmerli, Walther C./Wolf, Stefan (Hrsg), Künstliche Intelligenz. Stuttgart: Reclam, S. 232–267.
Sielke, Sabine (2019). Der Mensch als „Gehirnmaschine“: Kognitionswissenschaft, visuelle Kultur, Subjektkonzepte. In: Thimm, Caja/Bächle, Thomas C. (Hrsg.), Die Maschine: Freund oder Feind? Wiesbaden: Springer VS, S. 41–66.
Tegmark, Max (2017). Leben 3.0. Berlin: Ullstein.
Weizenbaum, Joseph (1982). Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- BEIJING CONSENSUS ON ARTIFICIAL INTELLIGENCE AND EDUCATION
BEIJING CONSENSUS ON ARTIFICIAL INTELLIGENCE AND EDUCATION
Die folgenden Auszüge zu KI und Ethik stammen aus einem UNESCO-Dokument, das im Rahmen einer internationalen Konferenz in Peking 2019 entstand. Sie sollen auf die weltweite Bedeutung der Debatte um KI und Ethik aufmerksam machen.
BEIJING CONSENSUS ON ARTIFICIAL INTELLIGENCE AND EDUCATION
Preamble
1. We, the participants of the International Conference on Artificial Intelligence (AI) and Education, including 50 government ministers and vice ministers, as well as around 500 international representatives from more than 100 Member States, United Nations agencies, academic institutions, civil society and the private sector, met in Beijing, People’s Republic of China, from 16 to 18 May 2019. [...]
2. We reaffirmed the commitment made in the 2030 Agenda for Sustainable Development, particularly Sustainable Development Goal (SDG) 4 and its targets, and discussed the challenges faced by education and training systems in achieving SDG 4. [...]
6. We also recognize the distinctive features of human intelligence. Recalling the principles set forth in the Universal Declaration of Human Rights, we reaffirm UNESCO’s humanistic approach to the use of AI with a view towards protecting human rights and preparing all people with the appropriate values and skills needed for effective human-machine collaboration in life, learning and work, and for sustainable development.
7. We also affirm that the development of AI should be human-controlled and centred on people; that the deployment of AI should be in the service of people to enhance human capacities; [...] and that the impact of AI on people and society should be monitored and evaluated throughout the value chains. [...]
AI to Empower Teaching and Teachers
12. Be mindful that while AI provides opportunities to support teachers in their educational and pedagogical responsibilities, human interaction and collaboration between teachers and learners must remain at the core of education. Be aware that teachers cannot be displaced by machines, and ensure that their rights and working conditions are protected. [...]
Ensuring ethical, transparent and auditable use of education data and algorithms
28. Be cognizant that AI applications can impose different kinds of bias that are inherent in the data the technology is trained on and uses as input [...]. Be cognizant of the dilemmas of balancing between open access to data and data privacy protection. Be mindful of the legal issues and ethical risks related to data ownership, data privacy and data availability for public goods. [...]
29. Test and adopt emerging AI technologies and tools for ensuring teachers‘ and learners’ data privacy protection and data security. Support robust and long-term study of deeper issues of ethics in AI, ensuring AI is used for good and preventing its harmful applications. Develop comprehensive data protection laws and regulatory frameworks to guarantee the ethical, non-discriminatory, equitable, transparent and auditable use and reuse of learners’ data.
30. Adjust existing regulatory frameworks or adopt new ones to ensure responsible development and use of AI tools for education and learning. Facilitate research on issues related to AI ethics, data privacy and security, and on concerns about AI’s negative impact on human rights and gender equality.
https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000368303 [Zugriff: 21.09.2020]
- Hinweis auf weitere Praxisprojekte
Hinweis auf weitere Praxisprojekte
Neben den beiden Praxisprojekten in diesem Heft gibt es inzwischen eine Vielzahl an interessanten Initiativen, die KI und Ethik in Schulklassen und in der Jugendarbeit thematisieren. Wir möchten insbesondere auf die folgenden Projekte hinweisen:
PhiloLab
Der Kurs PhiloLab: KI am Ars Electronica Center in Linz, Österreich, richtet sich an junge Menschen ab der 7. Schulstufe und wird folgendermaßen beworben: Philosophieren, ein Deuten von dem, was in der Welt vor sich geht, ein Reflektieren der Geschehnisse und das Bilden einer Meinung – das ist in einer Zeit, in der sich durch sich rasant entwickelnde Technologien neue ethische Fragestellungen ergeben, besonders wichtig. Doch wie kann ich diesen gegenstandslosen Prozess greifbar und erlernbar machen? Im Unterrichtsformat können oft bedeutungsvolle Grundfragen nicht diskutiert werden. Im PhiloLab wird Nachdenken zum behandelbaren Prozess. In einer Kombination aus verschiedenen Programmpunkten und einer abschließenden Diskussion werden die Schüler*innen angeregt, über das technologische Phänomen Künstliche Intelligenz zu reflektieren, ihre Gedanken auszudrücken und zu argumentieren.
https://ars.electronica.art/center/de/philolab-kuenstliche-intelligenz/
Cognimates
Cognimates ist eine öffentliche und kostenlos zugängliche Bildungsplattform, in der Sieben- bis 14-Jährige Spiele oder Robots programmieren und KI-Trainings-Modelle entwickeln können. Heranwachsende nutzen in ihren Kinderzimmern inzwischen intelligente Spielzeuge und kommunizierende Agenten. Stefania Druga, Wissenschaftlerin am MIT MediaLab, entwickelte Cognimates mit dem Ziel, ihnen durch aktives Konstruieren Kenntnisse zu vermitteln, damit sie KI-Systeme begreifen, demystifizieren, sich als Gestaltende erleben und sich eine Haltung zu KI erarbeiten können, statt sich nur als Konsumierende zu verstehen. „The main goal of the Cognimates platform is to extend coding to AI education and literacy.“
Ein Beitrag von Stefania Druga zu ihrer Motivation und zur Entstehungsgeschichte von Cognimates: www.media.mit.edu/posts/kids-teach-ai-a-little-humanity-with-cognimates/
- Friedrich Krotz und Andreas Lange: Leistung und Stigmatisierung als Inszenierung im Fernsehen
Friedrich Krotz und Andreas Lange: Leistung und Stigmatisierung als Inszenierung im Fernsehen
So sehr das Fernsehen zum Massenmedium geworden ist, so sehr unterscheiden sich dennoch die Herangehensweisen und Umgangsformen seiner verschiedenen Zielgruppen damit. Gerade Reality-TV und Casting-Shows treten oft als Ratgebersendungen auf, die Regeln und Normen präsentieren, die von manchen belächelt, von anderen kritiklos übernommenwerden – vor allem aber immer wieder gesellschaftliche Strukturen und Schichtendenken spiegeln, zementieren und noch verstärken.
Literatur
Bourdieu, Pierre (1993). Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA.
Castel, Robert (2009). Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit. In: Castel, Robert/Dörre, Klaus (Hrsg.), DieWiederkehr der sozialen Unsicherheit. Frankfurt am Main:Campus, S. 21-34.
Elias, Norbert (1972). Über den Prozess der Zivilisation. 2.Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Feierabend, Sabine/Klingler, Walter (2009). Kinder und Medien: Ergebnisse der KIM-Studie 2008. Media Perspektiven(8), S. 398-412.
Hepp, Andreas/Krotz, Friedrich/Thomas, Tanja (2007) (Hrsg.).Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS Verlag.
Kramer, Torsten/Helsper, Werner/Thiersch, Sven/Ziems,Carolin (2009). Selektion und Schulkarriere. Kindliche Orientierungsrahmen beim Übergang in die Sekundarstufe I. Wiesbaden: VS Verlag.
Krok, Isabelle/Lange, Andreas (2008). Defamilialisierungoder smarte Ko-Produktion? Zum Verhältnis familialer undöffentlicher Erziehung. Vorgänge, 47, 3, S. 23-31.
Krotz, Friedrich (2007). Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag.
Lessenich, Stephan (2008). Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript.
Michel, Burkard (2010). Habitus und Lebensstil. In: Vollbrecht, Ralf/Wegener, Claudia (Hrsg.), Handbuch Mediensozialisation. Wiesbaden: VS Verlag, S. 75-84.
Rosa, Hartmut (2009). Jedes Ding hat keine Zeit? FlexibleMenschen in rasenden Verhältnissen. In: King, Vera/Gerisch, Benigna (Hrsg.), Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung. Frankfurt am Main: Campus, S. 21-39.
Thomas, Tanja (2010). Wissensordnungen im Alltag: Offerten eines populären Genres. Alltag in den Medien – Medien im Alltag. Wiesbaden: VS Verlag, S. 25-47.
von Osten, Marion (2009). Dancing the Class Away. Zum Erziehungscharakter postfordistischer Tanzfilmprojekte. In: Baxmann, Inge/Göschel, Sebastian/Gruß, Melanie/Lauf, Vera (Hrsg.). Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel. München: Fink, S. 147-168.
- Friedrich Krotz und Andreas Lange: Editorial
Friedrich Krotz und Andreas Lange: Editorial
Ein konventioneller Strang der Medienkritik arbeitet sich daran ab, dass den Medien vorgeworfen wird, ihre Darstellungen verlören zusehends den Bezug zur Realität und zeichneten daher ein irreführendes Bild der Verhältnisse. Im vorliegenden Heft geht es um das diametral entgegengesetzte Phänomen, indem mediale Formate behandelt werden, die Aspekte ausgewählter gesellschaftlicher Verhaltenserwartung und stärker noch, Verhaltenszumutungen, mehr oder wenigerdirekt spiegeln und zu den Rezipientinnen und Rezipienten transportieren. In den Fokus rücken solche Sendungen, die den Rezipientinnen und Rezipienten, zumeist vermittelt über die gezielte Auswahl und Platzierung von nichtprominenten Akteurinnen und Akteuren, „Menschen wie du und ich“, Verhaltenscodes und Werte näher bringen; nicht um des reinen Vergnügens willen. Vielmehr besteht die Überzeugung darin, dass in den Sendungsinhalten solche Codes vermittelt werden, die für den sozialen und insbesondere beruflichen Erfolg in der Marktgesellschaft unerlässlich sind. Zugespitzt formuliert werden Vorformatierungen für die alltägliche Lebensführung vorgeführt und dementsprechend evaluiert.
Eine erste explorierende Standortbestimmung dieses Komplexes ist das Ziel des vorliegenden Schwerpunktheftes.Friedrich Krotz und Andreas Lange spannen als Grundlage hierfür einen gesellschaftstheoretischen Rahmen auf, um in diesen die generelle Bedeutung des Fernsehens und speziell derjenigen Formate einzuordnen, die dezidiert Leistungsmaßstäbe und ihr Pendant, kritikwürdiges Versagen und dessen Stigmatisierung, zur Schau stellen. Dazu begreifen sie diese Sendungen als ‚Ratgeber’, trotz ihres auch unterhaltenden Charakters. Mit dieser Zuschreibung ist die Vermutung verbunden, dass ein nicht unerheblicher normativer Druck von den Inszenierungsformaten und ihren neoliberalen Subtexten ausgeht. Als primäre Adressatinnen und Adressaten werden spezielle Segmente in der Sozialstruktur ausgemacht, die eher am unteren, wenn auch nicht am untersten Rand der Gesellschaft zu finden sind. Ferner setzen sie das Funktionieren des Bildungs- und Mediensystems zueinander in Beziehung und deuten schließlich die Grenze subversiver Lesarten der Casting- undanderer Formate an.Danach entfaltet Katrin Döveling plastisch und empirisch unterfüttert das Argument, dass der Erfolg dieser Formate zu einem nicht unerheblichen Ausmaß dadurch mit bedingt ist, dass es ihnen gelingt, Emotionen zu mobilisieren. Kurzgefasst: Medienmacht ist Emotionsmacht. Zentraler Punkt für die hohe Attraktivität insbesondere der Castingshows ist, dass die Dramaturgie weniger darauf abzielt, sich kognitiv abwägend mit den Qualitäten der Bewerberinnen und Bewerber auseinanderzusetzen, als vielmehr die Zuseherinnen und Zuseher in den Zustand des Miterlebens und Mitfühlens zu versetzen.
Hierfür wiederum kommt dem Publikum vor Ort eine wichtige Funktion zu – es agiert in seiner gesamten Mimik und Gestik stellvertretend und vorführend. Für den Verlauf der emotionalen ‚Ansteckung’ wegweisend ist dabei, wie die Autorin herausarbeitet, dass Casting-Shows wenige Leerstellen enthalten. ‚Sehnsuchtsofferten’, die aufgrund des ‚teledarwinistischen’ Schemas generiert werden, betreffen die vermeintlich schnelle Chance auf Aufmerksamkeit sowie das kollektive Begehren nach Überschreiten der Grenzen. Aber auch die Kehrseiten, das Scheitern an den Maßstäben und der damit einhergehende Prozess der Stigmatisierung, werden emotional aufgeladen und bewirken bei den Rezipierenden eine Bejahung der vorgeführten Leistungsideologie.Miriam Stehling und Tanja Thomas sondieren die Fruchtbarkeit einer transkulturellen Perspektive für das Verständnis des Erfolgs der Leistungsratgeber. Sie betten diese Rekonstruktion ein in den allgemeinen Trend der Zunahme der global gehandelten Fernsehformate, in dessen Verlauf insbesondere das Lifestyle-Fernsehen zu einem internationalen Markenartikel wurde. Konkret untersucht werden die Mechanismen und Zusammenhänge am Beispiel von Germany‘s Next Topmodel, das auf der Ebene der Produktion als Resultat strategischer Transkulturalität zu verorten ist. Für das Argument der transkulturellen Anschlussfähigkeit liefern die Autorinnen lehrreiches indirektes Material aus einer Studie mit Medizinstudentinnen und Berufsschülerinnen. Dabei erweist sich zum einen durch angeeignetes Genrewissen ein kritisch-reflektierendes Vergnügen an der Machart der Shows, beispielsweise mit Blick auf Techniken der Montage und der Dramatisierung. Andererseits offenbart sich ein unreflektiertes Akzeptieren der Terms of Trade des Modelgeschäfts. Diese widersprüchliche Gemengelage verweist auf einen wichtigen Forschungsbedarf für die Zukunft.
Paula-Irene Villa schließlich setzt sich mit der (Selbst-)pornografisierung in Jugendkulturen auseinander. Dabei rückt sie aber nicht die Pornografie in den Mittelpunkt, sondern die damit verbundenen und angesprochenen Kontexte: Einerseits begreift sie Pornografie als eine umkämpfte Arena geschlechtertheoretischer und -politischer Codes, die die allgemeinen Grundlagen des Verhältnisses von Mann und Frau mit thematisiert, andererseits analysiert sie die Selbstpornografisierung der Jugendszenen im Hinblick auf das unternehmerische Selbst, das zunehmend zum gesellschaftlichen Ideal stilisiert wird. Über die Notwendigkeit weiterer Forschung hinaus unterstreichen die Beiträge insgesamt, welche große pädagogische Bedeutung – nicht nur für die Medienpädagogik – dem hier aufgerissenen Themenfeld zukommt. Die eben auch medial platzierten Neuverhandlungen des Leistungsprinzips sind umso notwendiger, desto stärker manmit Neckel (2008) von einer Ausweitung des sozialen Wettbewerbs sprechen kann, der sich über die Wirtschaft hinaus verallgemeinert hat. Ideen kooperativer Sozialbeziehungen und die Solidarnormen verlieren an Bedeutung, um Platz zu machen für die Gewinner/Verlierer-Unterscheidung, welche die öffentliche und auch die private Wahrnehmung sozialer Beziehungen prägt.
Literatur
Neckel, Sighard (2008). Einleitung: Fluchtpunkte von ‚Erfolg‘. In: ders. (Hrsg.). Flucht nach vorn: Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft. S. Neckel. Frankfurt, Campus, S. 7-17.
- Friedrich Krotz: Editorial 2010
Friedrich Krotz: Editorial 2010
Massenmedien werden und sind immer schon von den Gesellschaften, in denen sie genutzt werden, kontrolliert und geregelt worden. Zensur und Scheiterhaufen, Geheimräte und Innenministerien, Landesmedienanstalten, Zivil-, Straf- und Schutzgesetze machten zu allen Zeiten erwartbar, was man lesen, hören, sehen konnte. Dadurch werden Medien zugleich aber auch zu verlässlichen Institutionen und zum vertrauten Teil des Alltags der Menschen und darüber wird auch dafür gesorgt, dass die Medien am gesellschaftlichen Rahmen immer nur kratzen, ihn aber fast nie fundamental in Frage stellen. Neue Medien und neue Entwicklungen der alten Medien unterliegen solchen Regelungen oft erst einmal nicht, sie stiften Unruhe und sind deshalb immer schon verdächtig. Die neue Möglichkeit zu Zeiten der Reformation, Flugblätter zu drucken und zu verbreiten, hat die katholische Kirche irritiert, die Rotationspresse und die Fotografie im 19. Jahrhundert diente einer neuartigen politischen Öffentlichkeit und setzte den autoritären Staat unter Druck. Was das Internet und die digitalen Medien alles möglich machen – da stecken wir derzeit mitten drin und das hängt auch davon ab, wie wir als Zivilgesellschaft damit umgehen.
Deshalb war und ist mit den Potenzialen neuer Medien verbunden, dass sie in Grenzbereicheder Gesellschaft vordringen oder Grenzen überschreiten. Berichte aus den Kriegen des 19.Jahrhunderts warfen die Frage auf, ob Soldaten Mörder sind, die Vorstellung, eine Frau wolleMedizin und Anatomie an der Universität studieren, galt als obszön und auf der anderen Seite wurde der Respekt vor dem Papst mit Feuer und Schwert aufrecht erhalten oder der Tatbestandder Majestätsbeleidigung polizeilich überwacht. Vor allem die im christlichen Abendland so tabuisierte Sexualität ist mit jedem neuen Medium wieder ein Thema. Casanova, Lolita und de Sade als Buchevents, Fotografien aus den Boudoirs der Damen, Schlüpfriges in den Journalen,Rotlichtabteilungen im Internet wurden und werden angeboten und nachgefragt. Wer darfwas wissen, denken, sehen, fühlen, fantasieren und insbesondere, was passiert mit Kindern und Jugendlichen, wenn sie immer leichter Zugang zu sexuellen Informationen, Kontakten, Bildernund Fantasien haben? Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich das vorliegende Heft mit Sexualität in den und Sexualisierung durch die elektronischen und elektrischen Medien von heute. In Musik und Chats, im Fernsehen, per Handy und im Internet. Wie bei allen neuen Medien werden Besorgnisse massiv thematisiert: All das verändere die Gehirnwellen (die offensichtlich unbedingt so bleiben müssen, wie sie sind), mache die Jugendlichen kaputt und leistungsfeindlich und führe zur Medien-, zur Jugend- und insbesondere zur sexuellen Verwahrlosung.
Das Argument für solche pauschalen Befürchtungen ist allerdings erst einmal das alte Missverständnis, bei dem Zugang und Wirkung verwechselt werden: Gewiss haben Jugendliche mit den digitalen Medien auf neue und leichte Weise Zugang zu sexuellen Inhalten, Bildern, Gedanken. Die Frage ist aber, ob sie das von sich aus eigentlich interessiert, was sie damit machen und was sich daraus für sie selbst und für die Gesellschaft ergibt. Drei Ebenen müssen hier unterschieden werden. Erstens geht die Sexualisierung der Gesellschaft nicht von den Jugendlichen aus, sondern entsteht in der Gesellschaft der Erwachsenen und unter dem Diktat der Werbung. Jugendliche, so die Studievon Dagmar Hoffmann, interessieren sich gerade deswegen für sexuelle Darstellungen im deutschen Fernsehen, weil sie erwarten, dass sie hier akzeptierte Formen von Sexualität vorgeführt bekommen, die Exzentrizitäten im Internet bleiben ihnen in der Regel eher fremd. Dass es trotzdem gefährdete Gruppen gibt und dass Jugendliche sexuelle Darstellungen auch benutzen, um sich von den Erwachsenen abzugrenzen, ändert daran nichts. In eine ähnliche Richtung geht der Text von Wolfgang Reißmann, der die Bedeutung von Bildern, insbesondere von sexuellen Bildern im Leben von Jugendlichen untersucht. Zweitens gehört es natürlich zu den Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen, sich ein Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität und zum je anderen Geschlecht zu erarbeiten.
Dass jeder, der im Internet unterwegs ist, an jeder Ecke in sexuell inszenierte Angebote hineingelockt werden oder sie mit dem berühmten Klick erreichen kann, dass Jugendliche bekanntlich auch im Internet häufig sexuell angemacht werden, dass die Handy- und Klingeltondienste aufdringlich Angebote nahe legen und deren Coolness behaupten, macht die Dinge für sie nicht leichter. Auch dafür lassen sich die Texte von Hoffmann und Reißmann als Beleg anführen. Darüber hinaus macht der Aufsatz von Michael Ahlers und Christoph Jacke deutlich, dass Popmusik und Musik, Emotion und Sex unter den Bedingungen von heute zusammen gehören; die beiden Autoren entwickeln ein Forschungsprogramm, mit dem solche Zusammenhänge untersucht werden können und setzen es in einzelnen Teilen mit Studentinnen und Studenten um. Und schließlich drittens lässt sich aus all dem einmal mehr die Forderung ableiten, die Jugendlichen mit der Lösung ihrer Entwicklungsaufgaben auch auf diesem Gebiet nicht alleine zu lassen. Fünf Praktikerinnen und Praktiker nehmen zu diesen Fragen Stellung und berichten aus ihrer Arbeit: Lukas Geiser von der Fachstelle für Sexualpädagogik in Zürich gibt einen Überblick über sexuelle Sozialisationsprozesse bei Jugendlichen, deren eigenen Umgang mit Angeboten sowie wichtige Rahmenbedingungen. Barbara Flotho und Daniel Hajok setzen sich mit Pornografie in der Jugendarbeit auseinander, Johann Hartl vom pro familiaLandesverband Bayern stellt die neuen Herausforderungen für die Sexualpädagogik dar und Arnfried Böker von der Landesstelle Kinder- und Jugendschutz in Sachsen-Anhalt berichtet abschließend von seinen praktischen Erfahrungen im Jugendschutz.
- Friedrich Krotz: Orientierung durch Medien
Friedrich Krotz: Orientierung durch Medien
Der Begriff der Orientierung war mit seinem Aufkommen mit "sich orientieren" verbunden. Es wird aufgezeigt, wie die Medien in der prädigitalen Zeit welche Orientierungsleistungen über ihre journalistischen Inhalte anboten, und dass auch ein Rezipieren von Geschichten in den Medien Orientierung vermitteln kann. Im Zeitalter einer computergesteuerten digitalen Infrastruktur, wie wir sie heute vorfinden, haben sich aber die Bedingungen geändert. Orientierungsleistungen von Monopolen wie zum Beispiel Google sind den Geschäftsinteressen der Unternehmen untergeordnet: Die Orientierungsleistungen der Medien sind infolgedessen in der heutigen Infrastruktur ausgesprochen fraglich geworden.
Literatur
Drosdowski, Günther (1989). Duden-Etymologie. Das Herkunftswörterbuch. 2., völlig neu bearbeietete und erweiterte Auflage. Mannheim: Duden Verlag.
Ebersbach, Anja/Glaser, Markus/Heigl, Richard (2008). Social Web. Konstanz: UVK.
Gerbner, George (1978). Über die Ängstlichkeit von Vielsehern. Fernsehen und Bildung, 12, (1–2), S. 48–58.
Habermas, Jürgen (1987). Theorie kommunikativen Handelns. 2 Bände. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Herzog, Herta (1955). Motivations and Gratifications of Daily Serial Listeners. In: Schramm, Wilbur (Hrsg.), The process and effects of mass media. Urbana, Ill., University of Illinois Press, S. 50-55.
Illich, Ivan (2010). Im Weinberg des Textes. München: C. H. Beck.
Jäckel, Michael/Mai, Manfred (Hrsg.)(2005). Online-Vergesellschaftung? Wiesbaden: Springer VS.
Krotz, Friedrich (2001): Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Krotz, Friedrich/Despotovic, Cathrin/Kruse, Merle-Marie (Hrsg.) (2017). Mediatisierung als Metaprozess. Transformationen, Formen der Entwicklung und die Generierung von Neuem. Wiesbaden: Springer VS.
Neuberger, Christoph/Gehrau, Volker (Hrsg.)(2010): StudiVZ. Wiesbaden: Springer VS.Beitrag aus Heft »2018/03 Orientierung in der komplexen Welt«
Autor: Friedrich Krotz
Beitrag als PDF - Friedrich Krotz: Hate Speech und Fake News im Netz
Friedrich Krotz: Hate Speech und Fake News im Netz
Hate Speech im Netz wird heute vor allem als Handlungsweise einzelner Menschen diskutiert – es geht um ideologische Verblendung, gefühllose Dummheit und fehlende Medienkompetenz. Die kommunikativen Netze sind aber auch sonst zum Kampfplatz geworden: Unternehmen und staatliche Stellen setzen sich dort über berechtigte Interessen der Menschen hinweg, missbrauchen ihre Daten und versuchen, sie zu manipulieren und über den Tisch zu ziehen. Dies muss in diesem Zusammenhang ebenfalls thematisiert werden, wenn sich etwas ändern soll: Es bedarf nicht nur individueller, sondern auch gesellschaftlicher Medienkompetenz und einer gerechteren Organisation der Netze.
Literatur:
Crouch, Colin (2004). Post-Democracy. Cambridge: Polity Press.
Galtung, Johan (2004). Gewalt, Krieg und deren Nachwirkungen. Über sichtbare und unsichtbare Folgen der Gewalt. In: polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 5. www.them.polylog.org/5/fgj-de.htm [Zugriff: 19.04.2017].
Habermas, Jürgen (1987). Theorie kommunikativen Handelns. 2 Bde., 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Krotz, Friedrich (2017). Mediatisierung: Ein Forschungskonzept. In: Krotz, Friedrich/Despotovic, Cathrin/Kruse, Merle-Marie (Hrsg.), Mediatisierung als Metaprozess. Wiesbaden: Springer VS, S. 13–32.
Marcuse, Herbert (1965). Repressive Toleranz. In: Wolff, Paul/Moore, Barrington/Marcuse, Herbert (Hrsg.), Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt am Main: Suhrkamp. www.marcuse.org/herbert/pubs/60spubs/65reprtoleranzdt.htm [Zugriff: 02.05.2017].
Mau, Steffen (2017). Die Fliehkräfte des Sozialen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt heute. In: Forschung und Lehre, 24 (5) , S. 300–302.
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs) (Hrsg.) (2016). JIM 2016. Jugend, Information, (Multi-)Media. www.mpfs.de/studien/jim-studie/2016 [Zugriff: 18.04.2017].
Saurwein, Florian (2017, im Druck). Automatisierung, Algorithmen, Accountability – Eine Governance Perspective. In: Karmasin, Matthias/Krotz, Friedrich/Rath, Matthias (Hrsg.), Brauchen Maschinen Ethik – und wenn ja, welche? Wiesbaden: Springer VS.
- Friedrich Krotz: Forschung und Praxis heute
Friedrich Krotz: Forschung und Praxis heute
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Medienpädagogische Forschung und Praxis (MF&P) muss, wenn sie ihre Zielgruppe erreichen will, vor allem aktuell sein und bleiben. Dies ist vor dem Hintergrund der oft zu beobachtende Gemächlichkeit und Traditionsorientierung anderer Disziplinen oder Institutionen ihr erstes wichtiges Charakteristikum. MF&P muss deswegen als ein sich immer weiter entwickelnder Prozess der Analyse und des Verständnisses sich entwickelnder und aufkommender neuer Medien in der Perspektive der jugendlichen Nutzenden verstanden und betrieben werden. Sie ist dadurch gleichzeitig Seismograph für die mit dem Medien- und Kommunikationswandel verbundenen tiefgreifenden Veränderungen – die zu untersuchen und zu ordnen auch Anliegen der Mediatisierungsforschung ist. Denn MF&P lässt sich so immer neu auf neue Kohorten und Generationen ein, für die die Medienumgebung, die sie entdecken, erproben und weiter gestalten, quasi natürlich vorgegeben ist. MF&P hat also ihr Ohr am Puls der Entwicklung – weit mehr, als die meisten anderen wissenschaftlichen oder praktischen Zugänge.
Ein zweites Charakteristikum von MF&P liegt in ihrer zivilgesellschaftlichen Orientierung, die den Wissenschaften an der Universität im Zeitalter einer ökonomisch und staatlich ausgerichteten Restrukturierung immer mehr abhanden kommt. Zumindest von ihrem Anspruch her fühlt sich MF&P weder primär den Medieninstitutionen, den ökonomischen Zielen und staatlichen Anpassungen, den Algorithmikern und Auftraggebenden verpflichtet noch den Internetgiganten wie Facebook, Amazon oder Google oder der die Entwicklung vorantreibenden Wirtschaft, Industrie und Technik. Sondern den Kindern und Jugendlichen und ihrer Zukunft.An ihrem dritten Charakteristikum muss die MF&P noch etwas arbeiten. Nämlich an einer kontinuierlichen und lauten Teilhabe an den öffentlichen Diskussionen über weitere Entwicklungspfade der Mediatisierung. Immer noch werden Entscheidungen etwa über Netzneutralität oder nicht zwischen Staat und Ökonomie ausgehandelt, die Zivilgesellschaft wird dabei erfolgreich übersehen.
Immer noch weigern sich die Schulen und andere jugendbezogene Einrichtungen sowie die dafür verantwortlichen Institutionen überwiegend, der Medienpädagogik einen angemessenen Platz einzuräumen und ihr die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Immer noch wird MF&P darauf verkürzt, dass sie eine enge Medienkompetenz zu untersuchen und zu vermitteln habe, obwohl sie mittlerweile eine Pädagogik für das Aufwachsen in mediatisierten Welten geworden ist: Sie will und kann ein mediensouveränes Handeln vermitteln, mittels dessen sich Kinder und Jugendliche ein selbstbestimmtes Leben in einer demokratischen Gesellschaft erarbeiten können. Sie wird auch angesichts ihrer Ziele und ihres Engagements dafür gebraucht, zusammen mit sozialen Basisbewegungen, mit den diffamierten Hackerinnen und Hackern oder auch einer Kommunikationsguerilla gegen die Machtstukturen anzugehen, die das Internet auf Überwachung und Konsum beschränken wollen.
Dr. Friedrich Krotz ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt soziale Kommunikation und Mediatisierungsforschung an der Universität Bremen. Er ist Koordinator des DFG-Schwerpunktprogramms 1505 „Mediatisierte Welten“.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Friedrich Krotz
Beitrag als PDF - Friedrich Krotz und Eike Rösch: Apps verändern die Medienpädagogik
Friedrich Krotz und Eike Rösch: Apps verändern die Medienpädagogik
Als vor nur sieben Jahren das iPhone vorgestellt wurde, sagten viele ein schnelles Ende der Neuentwicklung voraus. Apps spielten in der damaligen Diskussion kaum eine Rolle und in Apples Entwurf waren sie noch nicht mal vorgesehen. Heute hat das Smartphone Technik, Arbeit und Leben und die Nutzung des Internet revolutioniert; genau genommen, die Art und Weise, wie die Menschen den mobilen Minicomputer „Smartphone“ nutzen, der gleichzeitig am Telefonnetz sowie am Internet hängt und dabei auch nicht selten Ortungsinformationen preisgibt, hat Arbeit und Alltag, Leben und soziale Beziehungen in Kultur und Gesellschaft schnell und in vielfältiger Weise verändert. Dafür spielten und spielen insbesondere Apps eine wichtige Rolle: Sie schaffen eine Fülle von meist einzelnen Anwendungen, von denen manche immens funktional und hilfreich sind, während andere kaum vernünftig brauchbar sind oder gar nur dazu dienen, den Userinnen und Usern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Diese Vielfalt untermauert das geflügelte Wort, es gebe für alles eine App. Natürlich werfen Apps wie alle Programme auch viele alte und neue Fragen auf, so einmal mehr die nach den Potenzialen für Kommunikation und Medienproduktion, aber auch nach dem Verhältnis von Datenschutz und Ausspähung. Hier ist Medienpädagogik nicht nur pädagogisch, sondern auch politisch gefragt. Für die pädagogische Arbeit und die Medienpädagogik im Speziellen haben sich auch die Rahmenbedingungen menschlichen Handelns grundlegend gewandelt, von denen sie ausgehen müssen: Smartphone-Nutzende haben ständig multifunktionale Minicomputer dabei, mit denen sie auf das Wissen der Welt zugreifen können, soweit es im Internet verfügbar ist, mit der Welt kommunizieren können, sofern ihre Kommunikationspartnerinnen oder -partner ebenfalls vernetzt Apps verändern die Medienpädagogik sind, und/oder Medienprodukte herstellen und mindestens in ihren Bekanntenkreisen distribuieren können, für die früher aufwändige Technik bereitgestellt werden musste. Dass man mit Apps auch sonst noch viel mehr machen kann, dass Apps aber auch ausgesprochen eindringlich sind, alle möglichen Rechte verlangen, zum Teil ständig auf die Userinnen und User Einfluss zu nehmen versuchen und an den Konsumkapitalismus anschließen, weiß, wer über ein Smartphone verfügt. Mit dem Schwerpunkt dieser merz-Ausgabe soll daher betrachtet werden, was Apps im Leben der Menschen und insbesondere von Kindern und Jugendlichen bedeuten, an welche Potenziale Medienpädagogik anknüpfen und mit welchen sie sich auseinandersetzen muss und welche Bedeutung sie somit für spezifische Bereiche der Medienpädagogik haben. Dabei ist einschränkend zu sagen, dass die Entwicklung hier derzeit sehr schnell geht, bisher noch wenige belastbare empirische Studien und theoretische Überlegungen vorliegen und auch im Bereich der Medienpädagogik vor allem neue Ideen erprobt werden – über fertige Rezepte verfügt auch hier niemand. Im ersten Aufsatz begreift Friedrich Krotz die Trägermedien Smartphone und Tabletcomputer, auf denen die Idee von Apps entstanden ist, im Sinne des Mediatisierungsansatzes als eine Weiterentwicklung des Mobiltelefons, das unter anderem schon mit Kamera und Kalender ausgerüstet war, bei dem das Telefonieren und SMS-schreiben aber noch im Vordergrund standen. Auf dieser Basis lassen sich Apps dann in ihrer Vielfalt etwas systematischer beschreiben, insofern es darum geht, die damit verbundenen Forschungsfragen zu identifizieren und vielleicht auch erste Antworten auf der Basis explorativer Studien zu entwickeln. Dabei stehen die Potenziale und die Risiken für die Nutzenden im Vordergrund. Die Auseinandersetzung mit diesen Risiken im Umgang mit Apps ist auch ein wichtiger Gegenstand der Medienerziehung. Die trotz aller Skandale weiter wachsenden Zahlen der Nutzerinnen und Nutzer von WhatsApp etwa zeigen, dass es nicht leicht ist, Nutzende zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Manuel Neunkirchen und Jeffrey Wimmer entwickeln mit ihrem Beitrag „Es könnte ja passieren, dass …“ eine wichtige Grundlage für pädagogische Angebote im Hinblick auf Apps: In einer Studie der TU Ilmenau wurde untersucht, welche Risiken im Zusammenhang mit Apps wahrgenommen werden und durch welche Faktoren das Risikobewusstsein beeinflusst wird. Auch in der Schule hat die Diskussion über Lernen mit digitalen Medien durch Smartphones und Tablets eine neue Dynamik bekommen: Apps spielen dabei eine zentrale Rolle.
Eike Rösch und Björn Maurer betrachten die Hintergründe dieser Entwicklung und stellen pädagogische Überlegungen in den Mittelpunkt. In der aktiven Medienarbeit haben Apps eine ganz eigene praktische Relevanz, etwa indem ‚klassische‘ Projektformen mit mitgebrachten Geräten und Apps realisiert werden können, aber auch weil völlig neue Produktionen möglich geworden sind. Björn Friedrich und Daniel Seitz beleuchten die Potenziale und Knackpunkte dieser Entwicklung und kommen unter anderem zu dem Schluss, dass das mediale und pädagogische Know-how der Fachkräfte gefragter ist denn je. An Apps und Smartphones manifestieren sich alle aktuellen Herausforderungen für den Jugendschutz: die zunehmende Dominanz von Konzernen, die Versäumnisse bei gesetzlichen Regelungen sowie die zunehmende Internationalität. Darum und was das für jugendschützerische Aktivitäten bedeutet, geht es in einem Interview, das Swenja Wütscher mit Markus Gerstmann geführt hat. Einen bedeutenden Teil von Apps machen Spiele aus und mit Smartphones sind Games endgültig im Alltag angekommen und überall präsent – gespielt werden kann auf dem Sofa, auf dem Klo, im Bus und auf dem Schulhof. Tobias Miller und Anne Sauer betrachten verschiedene Spielformen im Mobile Gaming und deren jeweilige Attraktivität für die Nutzenden. Als pädagogisches Moment bringen sie Beurteilungskriterien für mobile Spiele in die Diskussion ein.
Steffen Griesinger und die Beteiligten in seinem Projekt haben den Spieß umgedreht und selbst eine App programmiert, mit der sich lokalisierte Spielszenarien realisieren lassen. In seinem Artikel skizziert er die Rahmenbedingungen, den Ablauf und pädagogische Empfehlungen für ein solches Projekt. Abschließend skizziert Christine Feil im Gespräch mit Kati Struckmeyer das Konzept der neuen Datenbank des DJI Apps für Kinder, erläutert Beurteilungskriterien und Entwicklungspläne und gibt generelle Einschätzungen zur App-Welt. Die Datenbank soll einen Orientierungspunkt im immer größer werdenden Ozean von Apps für Kinder bieten. Nicht fehlen dürfen in einer Ausgabe über Apps Empfehlungen zu ebendiesen. Swenja Wütscher hat Medienpädagoginnen und -pädagogen nach ihren Erfahrungen gefragt und einige empfohlene Apps einer kritischen Betrachtung unterzogen. In der Gesamtschau der Einschätzungen aus den verschiedenen Bereichen wird deutlich, dass sich die Medienpädagogik einmal mehr neu erfunden hat: Durch Smartphones, Apps und das mobile Internet erleben Medienpädagoginnen und Medienpädagogen eine neue Phase der Medienevolution, in der einiges neu definiert wird, teilweise aber auch auf alte Erfahrungen zurückgegriffen werden kann.
Mit den genannten Schlaglichtern möchten wir die Diskussion über die Relevanz von Apps für die medienpädagogische Forschung und Praxis anregen, Erfahrung sammeln und offene Fragen stellen. Denn eins ist klar: Auch in diesem Feld bleibt es spannend. Und dies wird auch sicher nicht das letzte Heft sein, das sich mit den Möglichkeiten und Problemen von Programmen auf dem Smartphone beschäftigt.
- Friedrich Krotz: Apps und die Mediatisierung der Wirklichkeit
Friedrich Krotz: Apps und die Mediatisierung der Wirklichkeit
Apps sind zu einem festen Bestandteil der heutigen Zeit geworden. Doch was genau sind Apps überhaupt? Worin besteht der Unterschied zu herkömmlichen Computerprogrammen und -spielen? Wie groß ist die Vielfalt von Apps wirklich und welche Konsequenzen bringen sie für das Individuum und die Gesellschaft mit sich?
Literatur:
Bitkom (Hrsg.) (2011). Mobile Anwendungen der ITK Branche. Umfrageergebnisse. www.bitkom.org [Zugriff: 14.10.2012].
Hall, Edward T. (1976). Beyond Culture. New York: Anchor.
Krotz, Friedrich (2012). Von der Entdeckung der Zentralperspektive zur Augmented Reality. In: Friedrich Krotz /Andreas Hepp (Hrsg.), Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. Wiesbaden: Springer VS. S. 27-58.
Krotz, Friedrich (2014a im Druck). Augmented Reality und informelle Vereinbarungen. Überlegungen zu einer Theorie des Smartphones. In: Caja Thimm (Hrsg.), Mobilkommunikation. Münster: LIT.
Krotz, Friedrich (2014b im Druck). Einführung: Mediatisierte soziale Welten. In: Friedrich Krotz/ Cathrin Despotovic/ Merle Marie Kruse (Hrsg), Die Mediatisierung sozialer Welten: Synergien empirischer Forschung. Wiesbaden: VS Verlag.
Krotz, Friedrich/Schulz, Iren (2006). Niemals allein und in neu interpretierten Realitäten: Die Bedeutung des Mobiltelefons in Alltag, Kultur und Gesellschaft. In: Ästhetik und Kommunikation, 135, S. 59-66.
Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) (Hrsg.) (2012). Mobil ins Netz. Heft 3 von Digitalkompakt LfM. www.lfm-nrw.de/fileadmin/lfm-nrw/nrw_digital/DK_Mobil_ins_Netz.pdf [Zugriff: 10.04.2014]
- Friedrich Krotz: Die Institutionalisierung des Internets und warum und wie wir uns dagegen wehren sollten
Friedrich Krotz: Die Institutionalisierung des Internets und warum und wie wir uns dagegen wehren sollten
Wie sich ein Medium entwickelt ist nicht von vornherein festgelegt. Es besteht zunächst aus praktischen und technischen Möglichkeiten. Welche Bedeutung und Funktion es in einer Gesellschaft hat, hängt von seiner sozialen Einbettung ab, die gesellschaftlichen Aushandlungs- und Entwicklungsprozessen unterliegt.
Literatur:
Blisset, Lothar/Brünzels, Sonja (2012). Handbuch der Kommunikationsguerilla. Berlin/Hamburg: Assoziation A.
Cambria, Erik/Chandra, Praphul/Sharma, Avinash/Amir Hussain (2012). Do Not Feel the Trolls. cs.stir.ac.uk/~eca/sentics [Zugriff: 15.10.2013].
Dahl, Peter (1983). Radio. Sozialgeschichte des Rundfunks für Sender und Empfänger. Reinbek: Rowohlt.
Faulstich, Werner (1998). Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht.
Grassmuck, Volker (2004). Freie Software. Zwischen Privateigentum und Gemeineigentum. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung. freie-software.bpb.de/Grassmuck.pdf [Zugriff: 15.10.2013].
Himanen, Pekka (2001). Die Hacker-Ethik und der Geist des Informationszeitalters. München: Riemann.
Hörisch, Jochen (2004). Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet. Frankfurt: Suhrkamp.
Imhorst, Christian (2004). Die Anarchie der Hacker. Richard Stallman und die Freie Software Bewegung. Marburg: Tectum.
Krappitz, Stefan (2009). Troll Culture. Diplomarbeit. wwwwwwwww.at/downloads/troll-culture.pdf [Zugriff: 10.10.2013].
Krotz, Friedrich (2011). Mediatisierung als Metaprozess. In: Jörg Hagenah/Heiner Meulemann (Hrsg.), Mediatisierung der Gesellschaft? Berlin: LIT. S. 19-41.
Krotz, Friedrich (2012). Von der Entdeckung der Zentralperspektive zur Augmented Reality: Wie Mediatisierung funktioniert. In: Friedrich Krotz/Andreas Hepp (Hrsg.), Mediatisierte Welten: Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. Wiesbaden: VS Verlag. S. 27-58.
Levy, Steven (2007). Die Hacker Ethik. In: Karin Bruns/Ramón Reichert (Hrsg.), Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunkation. Bielefeld: transkript. S 325-334.
Lobinger, Katharina (2012). Visuelle Kommunikationsforschung. Wiesbaden: VS Verlag.
Mayer-Uellner, Robert (2003). Das Schweigen der Lurker. Baden-Baden: Nomos.
Raible, Wolfgang (2006). Medien-Kulturgeschichte. Mediatisierung als Grundlage unserer kulturellen Entwicklung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.
Scholzel, Hagen (2013). Guerilla Kommunikation. Genealogie einer politischen Konfliktform. Bielefeld: transkript.
Stein, Peter (2010). Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens. Darmstadt: Primus.
Stöber, Rudolf (2003). Mediengeschichte. 2 Bände. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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Beitrag aus Heft »2014/01: Machtmittel Medien – Pädagogik ohne Macht«
Autor: Friedrich Krotz
Beitrag als PDF - Friedrich Krotz: Editorial 2012
Friedrich Krotz: Editorial 2012
„Immer mehr Lebensbereiche werden immer grundlegender von Medien durchdrungen. Durch diesen Mediatisierungsprozess verändern sich die Rahmenbedingungen für Erleben, Handeln und Kommunizieren der Menschen. Es entstehen neue Kommunikationsformen und Kommunikationsmöglichkeiten: Zum Beispiel erlauben die neuen Smartphones und Tablets ein in hohem Maße flexibles Medienhandeln – man kann sich unabhängig von Ort und Zeit mit medialen Inhalten beschäftigen, mit Menschen kommunizieren und eigene Botschaften artikulieren. Vor allem mobile Geräte erweitern die Zugriffsmöglichkeiten auf mediale Inhalte und kommunikative Werkzeuge; Individual- und Massenkommunikation wachsen dabei immer enger zusammen. Handeln und Kommunizieren werden so zunehmend multi- und translokal. Gleichzeitig geraten Handeln und Kommunizieren aber auch in einem neuen Sinn in einen ökonomischen Kontext: Wer seine Handlungsspielräume für eine souveräne Lebensführung ausloten will, muss sich immer auch vorgegebene mediale Inhalte und Werkzeuge aneignen und sich auf damit verbundene kommunikative Strukturen einlassen. (…) Globalisierung und Ökonomisierung gehen so Hand in Hand mit Prozessen der Mediatisierung.
Die daraus resultierenden kulturellen, politischen, ökonomischen und medialen Entwicklungen erweisen sich als eng miteinander verzahnt und verändern die Art, wie die Welt konstruiert und rekonstruiert wird. Die Subjekte als Interpreten und Gestalter ihrer Lebenswelt sind obendrein immer mehr gefordert, ihre Lebensführung mit all diesen Anforderungen „von außen“ in Einklang zu bringen. (…) Insofern tragen diese sich wandelnden Rahmenbedingungen von Sozialisation und sozialem Handeln und Erleben einerseits zu neuen Beziehungsformen, andererseits aber unter Umständen auch zu einer Verengung auf strukturell Zugelassenes und zu grundlegender, am kommunikativen Handeln ansetzender Verunsicherung bei. (…) merzWissenschaft 2012 lädt ein zur Einreichung von Beiträgen, die entweder aus einer handlungsorientierten Perspektive Medienaneignungsprozesse unter den Vorzeichen globalisierter Medienmärkte und -strukturen und (multi-) lokalen Bezügen beleuchten, sich auf die Analyse von medialen Strukturen unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen konzentrieren oder sich in einer anderen Weise mit diesen Fragestellungen empirisch oder theoretisch auseinandersetzen.“Soweit der Call for Papers, der der diesjährigen Ausgabe von merzWissenschaft zugrunde liegt. Auf diesen Call hin wurden 15 Abstracts eingereicht, wurden – mit Hilfe von Reviewerinnen und Reviewern – zwölf Autorinnen und Autoren bzw. Autorenteams zur Ausarbeitung eines vollen Textes eingeladen, wurden zehn Beiträge eingereicht, die zunächst double blind peer reviewed und dann entweder akzeptiert, zur Änderung zurückgereicht oder abgelehnt wurden. Die folgenden Aufsätze sind – mit Ausnahme der eröffnenden Einführung – das Ergebnis dieses Prozesses. Thematisch hat merzWissenschaft mit dem Call eine neue, breit angelegte und grundlegende Fragestellung in Angriff genommen, nämlich die Medienentwicklung in ihrer Bedeutung für Individuum und Gesellschaft in einen Zusammenhang zu stellen und mit den unabhängigen, aber gleichzeitig und auch im Kontext der Medienentwicklung stattfindenden Langzeitprozessen der Globalisierung und der ökonomischen Entwicklung zu analysieren. Das Wissenschaftsheft gibt damit der Kommunikations- und Medienwissenschaft Impulse, die über die sonst im Mittelpunkt stehenden Inhalte von merz hinausreichen, gleichzeitig aber auch den Titel von merz, nämlich Medien und Erziehung, in einem neuen Zusammenhang zu verhandeln und in einem neuen und übergreifenden Sinn ernst zu nehmen.
Denn die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen geschieht vor dem Hintergrund der Leitfrage, wie Aufwachsen und Sozialisation unter diesen Bedingungen möglich ist, auf welche Ressourcen dabei zurückgegriffen werden kann und welche Konsequenzen aus diesen Analysen gezogen werden müssen. All dies geschieht in den folgenden Aufsätzen, die aber natürlich wie immer, wenn sie per Call for Papers eingesammelt werden, die damit verbundenen Fragestellungen exemplarisch abhandeln, insofern sowohl empirische Studien wie konzeptionelle Entwicklungen immer konkret und damit für übergreifende Fragestellungen exemplarisch sein müssen.Zunächst entwickelt die Einleitung von Friedrich Krotz eine Reihe von Überlegungen und definiert Konzepte, die dazu beitragen sollen, die Überlegungen in den einzelnen Aufsätzen fruchtbar zu machen. Sodann beschäftigt sich der erste Beitrag von Michaela Pfadenhauer und Tilo Grenz mit der Frage, ob sich das Aufkommen mediatisierter Geschäftsmodelle als Indiz für eine Integration der Kunden und damit für die Entstehung einer neuen Partizipationskultur verstehen lässt. Dabei verlassen sich Pfadenhauer und Grenz nicht auf subjektive Bewusstseinszustände der Nutzenden, denen ja in Anlehnung an die Überlegungen von Daniel Bell und Alwin Toffler eine neue Prosumentenrolle zukommen könnte, sondern gehen der Frage nach, ob denn die Produzenten mediatisierter Unternehmen den Nutzenden eine neue Rolle anbieten und sie in ihr Geschäftsmodell als aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer integrieren.
Die beiden untersuchten Fallstudien, eine aus der Fankultur entwickelte Online-Plattform und eine Fitnessstudio-Kette, unterscheiden sich aber im Hinblick auf die je angestrebte Konsumentenkultur deutlich, woraus die Autorin und der Autor schließen, dass Mediatisierung jedenfalls nicht automatisch als Treiber einer neuen Konsumentenkultur verstanden werden kann. Der Frage, wie Jugendliche und Eltern im Kontext des Erziehungsprozesses mit sozialen Netzwerken bzw. der zunehmend dort zu findenden Werbung umgehen, gehen Sven Jöckel und Sandra Fleischer mit zwei kleinen, explorativen Studien unter dem Stichwort der elterlichen Mediation nach. Auf der Basis einer Unterscheidung von zwei möglichen familiären Kommunikationsstilen, nämlich „konzeptorientiert“ (wenn die Familie über Sachverhalte gemeinsam diskutiert) oder „sozioorientiert“ (wenn die Familie eher als Einheit begriffen wird, die klaren und vorgegebenen Regeln folgt) analysieren sie, wie die Jugendlichen die darauf bezogenen Aktivitäten der Eltern erleben bzw. in einer zweiten Studie, welche Strategien die Eltern in dieser Hinsicht praktizieren. Es zeigt sich, dass konzeptorientierte und aktivierende Strategien der Eltern häufiger sind und dass die Eltern mit zunehmendem Alter der Jugendlichen diesen mehr Freiraum lassen. Man kann gespannt darauf sein, ob diese Ergebnisse auch bei repräsentativen Befragungen und bei einer Berücksichtigung weiterer familiärer Kommunikationsstile gelten.
In einem weiteren Aufsatz beschäftigt sich Thomas Döbler mit dem zunehmenden medienvermittelten Einfluss des Arbeitslebens auf die Freizeit. Die mittlerweile kommunikationstechnologisch mögliche Flexibilität in der Gestaltung von Arbeitsprozessen und in Abgrenzung zur Freizeit kann ja, wie es sich die Individuen in der Regel vorstellen, zu mehr Freiheit des Einzelnen führen, oder aber im Sinne von Richard Sennetts Beschreibung des „Flexiblen Menschen“ zu mehr Druck auf den Einzelnen von seinem Arbeitsverhältnis her. Das Fazit der Analyse Döblers ist hier nicht sehr hoffnungsfroh; allerdings argumentiert er vor allem aus einer Perspektive, die die Möglichkeiten von Arbeitgebern und Unternehmen in den Mittelpunkt rückt. Kommunikationswissenschaftliche Untersuchungen könnten hier weiterführend sein, weil sie zum Teil zeigen, wie frühere Diktate einer abstrakten Zeit von Nutzenden durch interpersonale Kommunikation ausgehebelt werden können und so zumindest auch oppositionelle Strategien möglich sind. Wie multilokale Familien, vor allem solche mit Migrationshintergrund, mit ihren spezifischen, aus der Moblität erwachsenden Belastungen umgehen und dazu Medien verwenden, ist dann das Thema von Katrin Schlör. Sie geht von einem Ansatz des „doing family“ aus, versteht also Familie als durch Alltagspraktiken hergestellte Einrichtung, die dementsprechend auch auf intergenerativem Medienhandeln beruht, und fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen medienbezogener Strategien sowie nach den sich daraus ergebenden medienpädagogischen Handlungsfeldern. (Eine interessante theoretische weitere Fragestellung könnte es sein, wie denn die Familien unter dieser Bedingung Normalität als Familie überhaupt noch herstellen können.) Unter dem Titel Freunde fürs Leben? stellen Ruth Festl, Emese Domahidi und Thorsten Quandt die Ergebnisse einer Studie zum Wandel sozialer Beziehungen Jugendlicher durch die Nutzung von Computerspielen vor. Diese Studie geht von einer Mediatisierung der Lebenswelten Jugendlicher aus und verwendet eine mit EU Unterstützung erhobene repräsentative Stichprobe Jugendlicher, in der deren egozentrierte Beziehungsnetzwerke und ihr Computerspielverhalten erhoben wurden. Es zeigt sich hier einmal mehr, dass die früher weit verbreitete Besorgnis, dass Computer spielen zur Vereinsamung führt, nicht haltbar ist; Computerspiele tragen vielmehr wesentlich zur sozialen Vernetzung Jugendlicher bei. Marc Witzel beschäftigt sich im darauf folgenden Aufsatz mit dem Zusammenhang von Mediennutzung und Distinktion.
Auf der Basis seiner Ausgangsthese, für die er zahlreiche Untersuchungen als Belege beibringt, macht er deutlich, dass die anfängliche Freiheit der Nutzung digitaler Medien gerade auch bei Social Network Sites inzwischen in immer mehr Reglementierungen gezwängt wird, was man darf und soll und was nicht. Dahinter steht seiner Auffassung nach eine Optimierung von Internetangeboten auf Geschäftsmodelle, die auch die weiter bestehenden digitalen Spaltungen unsichtbar macht, weil das im Hinblick auf Social Network Sites mögliche Handeln immer weiter standardisiert wird. Damit rücken aber auch auf der Seite der Mediennutzerinnen und -nutzer neue Kommunikationsmotive in den Vordergrund, insbesondere, so der Autor in Anlehnung an Pierre Bourdieu, die Unterscheidung zur Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen und Klassen, die sich zunehmend in der Art des Kommunizierens ausdrückt. Sandra Hofhues und Mandy Schiefner-Rohs befassen sich mit dem Zusammenhang von Medienentwicklung und wachsender Bedeutung auch der Wirtschaft aus einer ganz anderen Perspektive: Sie setzen sich mit der Frage auseinander, wie eher funktional verstandene Medienkompetenz bzw. eher integral und humanistisch verstandene Medienbildung in der Schule vermittelt werden kann; dabei gehen sie davon aus, dass die formalen Bildungseinrichtungen zukünftig auch ökonomische Bildung vermitteln müssen und dass dies, etwa als Projektunterricht, unter bestimmten Bedingungen zusammen geschehen kann. Abschließend geht André Donk der Frage nach, ob durch den Wandel der Medien und der Kommunikation ein „Global Science Village“ entsteht, ob also diese Berufsgruppe sich durch die Medien in einer neuen internationalen Form vergemeinschaftet.
Auf der Basis der Annahme einer Medienlogik als Wirkfaktor berichtet er über eine Befragung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern und Disziplinen über ihren Bezug zu Kolleginnen und Kollegen im Ausland. Die Lage erweist sich als heterogen, insofern es bei manchen Disziplinen so und bei anderen anders ist; er findet aber insgesamt keine Indizien dafür, dass die lokale und regionale Ausrichtung von Wissenschaft sich tendenziell abbaut. Ob dieses Ergebnis der Langsamkeit der Entwicklung der Wissenschaft geschuldet ist oder ob es auch für längere Zeiträume gilt, werden weitere Untersuchungen zeigen müssen. Insgesamt kreisen die Texte in dem vorgelegten Wissenschaftsheft um fundamentale Fragen alltäglichen Lebens unter den mediatisierten Bedingungen von heute, wobei sich insbesondere das Verhältnis von Medienentwicklung und darüber realisierten ökonomischen Bedingungen durch fast alle Beiträge zieht. So geht es immer wieder um die Entgrenzung der Ökonomie, die in zahlreichen Dimensionen in den Alltag und ins Familienleben hineinregiert, und darum, wie sich dies empirisch zeigt. Im Hinblick auf die Handlungsweisen der Menschen stehen dagegen Folgen und Bewältigungsstrategien solcher und damit verbundener Probleme im Vordergrund. Auch geht es immer wieder um die Frage, wie die Familien als eine der nach wie vor fundamentalen Institutionen, nicht zuletzt für Erziehung und Sozialisation, demgegenüber unter spezifischen Bedingungen ihren Zusammenhalt wahren und die wachsende Zahl ihrer Aufgaben lösen.
Behandelt wird auch, wie sich die klassische Frage nach digitaler Spaltung in neue Ungleichheiten aufzulösen scheint, insofern sich die Anforderungen mit der zunehmenden Normalität einer Alltagspraxis mit digitalen Medien verändern, indem die Reglementierung im Netz wächst, sich aber leichter Distinktionsgewinne als Abgrenzung und Identifikation realisieren lassen. Ferner fehlt natürlich auch der Blick auf die formalen Bildungsinstitutionen nicht, so geht es etwa um die Frage, welche Rolle die Schule hier spiele, wenn sie sich heute vielleicht nicht mehr so sehr nur auf technische Kompetenzen und andere operationale Ziele konzentriert, sondern einen breiteren Begriff der Medienbildung anwendet. Medienvermittelte Globalisierungsaspekte spielen dabei insgesamt eine geringere Rolle – selbst in der Wissenschaft geht die Entwicklung hier nur langsam voran.
Beitrag aus Heft »2012/06: Medienhandeln in globalisierten und multilokalen Lebenswelten«
Autor: Friedrich Krotz
Beitrag als PDF - Friedrich Krotz: Computerspielen als Handeln in sozialen Welten
Friedrich Krotz: Computerspielen als Handeln in sozialen Welten
Lange Zeit wurde von einer Jugendkultur der Computerspielerinnen und -spieler ausgegangen. Doch heute wird immer deutlicher, dass auch Erwachsene Computerspiele nutzen und dass die unterschiedlichen Arten von Computerspielen kaum in einer Sub- oder Cokultur zusammengefasst werden können. Zudem spielt hier auch der soziale Aspekt digitaler Spiele eine Rolle.
Literatur:
Grüninger, Helmut/Quandt, Thorsten/Wimmer, Jeffrey (2008). Generation 35 plus. Eine explorative Interviewstudie zu den Spezifika älterer Computerspieler. In: Quandt, Thorsten/Wimmer, Jeffrey/Wolling, Jens (Hrsg.), Die Computerspieler. Wiesbaden: VS Verlag, S. 113-134.
Hall, Stuart (1999). Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Hörning, Karl H./Winter, Rainer (Hrsg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 393-442.
Hitzler, Ronald/Honer, Anne/Pfadenhauser, Michaela (Hrsg.) (2008). Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnographische Erkundungen. Wiesbaden: VS Verlag.
Knoblauch, Hubert (2008). Kommunikationsgemeinschaften. In: Hitzler, Ronald/Honer, Anne/Pfadenhauser, Michaela (Hrsg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnographische Erkundungen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 73-88.
Krotz, Friedrich (2008). Computerspiele als neuer Kommunikationstypus. Interaktive Kommunikation als Zugang zu komplexen Welten. In: Quandt, Thorsten/Wimmer, Jeffrey/Wolling, Jens (Hrsg.), Die Computerspieler. Wiesbaden: VS Verlag, S. 25-40.
Krotz, Friedrich/Hasebrink, Uwe (1998). The Analysis of People Meter Data: Individual Patterns of Viewing Behaviour of People with different Cultural Backgrounds. In: Communications: The European Journal of Communication Research, 23(2), S. 151-174.
Krotz, Friedrich/Hepp, Andreas (Hrsg.) (2012). Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. Wiesbaden: Springer VS.Mead, Margaret (1971). Konflikt der Generationen. Freiburg: Olten.
Peiser, Wolfram (1999). Die Verbreitung von Medien in der Gesellschaft: Langfristiger Wandel durch Kohortensukzession. In: Rundfunk und Fernsehen, 47, S. 485-498.
Quandt, Thorsten/Wimmer, Jeffrey/Wolling, Jens (Hrsg.) (2008). Die Computerspieler. Wiesbaden: VS Verlag.
Schmidt-Denter, Ulrich (1996). Soziale Entwicklung. Ein Lehrbuch über soziale Beziehungen. 3. Korrigierte und aktualisierte Aufl. Weinheim: Beltz.
Shibutani, Tamotsu (1955). Reference Groups as Perspectives. American Journal of Sociology LX, S. 562–569 (auch in: Manis, J. G./Meltzer, Bernard N. (Hrsg.) (1967). Symbolic Interaction. A Reader in Social Psychology, Boston, S. 159-170.)
Strauss, Anselm L. (1978). A Social World Perspective. In: Denzin, Norman K. (Hrsg.), Studies in Symbolic Interaction, Vol. 1, S. 119-128.
- Friedrich Krotz: Editorial 2011
Friedrich Krotz: Editorial 2011
Es ist nicht ganz einfach zu sagen, was heute eigentlich genau „Radio“ bezeichnet. Früher war Radio Hörfunk, noch früher wurde er Rundfunk genannt, und gemeint war damit ausgestrahlter und technisch empfangener Ton. Heute wird zunehmend das Internet zu einem zweiten Bein dessen, was früher Radio hieß: Wenn etwa Radiomacher ihre Sendungen ins Netz stellen, mit Texten und Bildern versehen, dann werden so Hörerdiskussionen möglich und immer selbstverständlicher. Ist es vielleicht auch Radio, wenn jemand regelmäßig jede Woche einen kleinen Podcast, also ein Hörangebot via Internet zugänglich macht? Wenn jemand hunderte Stunden Musik und Texte auf seinen iPod lädt und dies an andere weitergibt? Wieso ist es Radio, wenn ein Computer aus einem vorgegebenen Musikvorrat und gesprochenen Texten rund um die Uhr irgendetwas zusammensetzt? Was hat es mit Radio zu tun, wenn wir ein Internetradio anschließen, das uns jederzeit allein schon ein paar hundert Sender der Welt anbietet, die Bluesmusik ausstrahlen? Und überhaupt, was passiert eigentlich mit dem Hören und Zuhören als ein Typus kommunikativen Handelns, den wir alle kennen, aber vielleicht nicht immer alle gleich praktizieren? Gibt es noch ein Radio hören (und ein Radio machen), das etwas Eigenes und Besonderes ist?
Immerhin, unter Lokalradio kann man sich auch heute noch vorstellen, dass es sich um Musik und gesprochene Texte handelt, die in einem lokalen Raum gehört werden können. Oft ist es aber auch beim Lokalradio so, dass die Musik, die ausgestrahlt wird, sich von der, die Radios 1.000 Kilometer weiter ausstrahlen, nicht weiter unterscheidet: konfektionierte, erwartete Tonfolgen, die überall zu hören sind, der Rest sind vielleicht nur standardisierte Nachrichten und Staumeldungen, die sich dann immerhin auf unterschiedliche Autobahnkreuze beziehen. Darauf beschränkt sich ihr lokaler Bezug dann aber oft weitgehend. Also schränken wir noch ein wenig weiter ein – es gibt unter den lokalen Radios auch nichtkommerzielle Privatsender, offene Kanäle und Campusradios bzw. Ausbildungskanäle, die sich von den kommerziellen und auch von den öffentlichrechtlichen unterscheiden. Sie sind die unscheinbaren unter den Radiokanälen. Sie sind in der Regel von Landesmedienanstalten, Hochschulen und anderen Institutionen abhängig. Manchmal senden sie auch schwarz und ohne Lizenz. Aber das, was sie klein macht – die Zahl ihrer Hörerinnen und Hörer – ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass sie oft ein großes Programm komponieren und verteilen. Denn sie sind es, die lokal bekannt und vernetzt sind. Auf sie bündeln sich die Hoffnungen von Bürgerinitiativen, zu Wort zu kommen und Öffentlichkeit herzustellen. Dort werden sonst vergessene Jubiläen lokaler Bedeutung und verschwiegene Hintergründe berichtet. Sie arbeiten in der Regel mit lokalen Institutionen, mit Schulen, Jugendzentren und Stadtteilkomitees, Basisorganisationen und Umweltinitiativen zusammen. Auf offenen Kanälen kann sogar wie im berühmten Londoner Hydepark jeder Einzelne zu Wort kommen und die Kraft der eigenen Argumente erproben. Hier machen auch Jugendliche erste Erfahrungen, wie es denn ist, wenn man selbst eine Sendung entwirft und umsetzt, wenn man am Mikrofon sitzt und den anderen etwas zu sagen hat.
Klar – im Internet oder auf YouTube kann man glatt zwei Milliarden Menschen erreichen. Aber die erreicht man nie, dort geht das Einzelne unter, während Radio sozial über die eigene und oft einzelne Stimme im lokalen Netzwerk funktioniert und dort gehört wird. Es geht im lokalen Radio dabei nicht nur um Information und Mitteilung, vielmehr ist es gegen die Beliebigkeit der Milliarden Websites im Internet auf Verständigung hin angelegt.Schade, dass die zuständige Landesmedienanstalt – gewiss mit Einverständnis des Hamburger Senats – den offenen Kanal Hamburg schon vor Jahren eingestellt hat und die Gelder für andere Zwecke verwendet werden. Ärgerlich ist dies auch unter dem Aspekt, dass viele Gelder der Landesmedienanstalt über die Medienstiftung dann doch wieder in die gigantischen Töpfe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fließen. Schade auch, dass viele von den Landesmedienanstalten unterstützte offene Kanäle oder Lokalradios kein Geld haben, ihre Sendungen, die oft hervorragend sind, ins Internet zu stellen – Geld braucht man auch deswegen, weil dann immer auch GEMA-Gebühren anfallen und Rechtsfragen zu klären sind. Man kann wohl sagen, dass die Landesmedienanstalten die ihnen anvertrauten und von ihnen lizensierten nichtkommerziellen Radios, offenen Kanäle und Ausbildungsradios in der Regel weder finanziell noch organisatorisch hinreichend unterstützen, auch dann nicht, wenn diese nicht auf Profit ausgelegt sind.Wir leben heute in einer Postdemokratie, wie der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch die politischen Verhältnisse in den Industrieländern von heute nennt, mit denen wir zurechtkommen sollen.
Damit ist gemeint: Es gibt dort heute zwar Recht und Gesetz, es sind demokratische Institutionen zu finden und die Gerichte wachen über die Einhaltung von Regeln. Aber trotzdem finden immer mehr politische Prozesse nicht mehr auf nachprüfbare Weise statt. Sie sind für die breite Öffentlichkeit nicht mehr transparent, denn Entscheidungen werden immer häufiger hinter der Bühne und in immer graueren Rechtszonen, also jenseits gerichtlicher Nachprüfbarkeit und demokratisch notwendiger Partizipation von Betroffenen und Bevölkerung ausgehandelt. Dazu gehört auch, dass die Parteien in wachsendem Maße die öffentlichrechtlichen Sender kontrollieren, während die privaten in der Regel ohnehin nur gnadenlos den Mainstreamgeschmack bedienen, um die Quote hochzuhalten. Der Bürgerrundfunk gehört hingegen noch der Zivilgesellschaft – als letztes der klassischen Massenmedien. Wenn überhaupt, dann wird hier das gesagt, was nicht im Interesse von Staat und Wirtschaft, sondern im Interesse der Bürgerinnen und Bürger ist. Das ist ein Grund, warum es des Bürgerrundfunks bedarf und warum wir unbedingt einen gut ausgestatteten Bürgerrundfunk brauchen. Auch dann, wenn nur wenige aus den lokalen Netzen zuhören, was wohl meistens der Fall ist.Das Lokalradio ist aber nicht nur ein wichtiges Medium der Zivilgesellschaft, das leicht zugänglich ist und nur beschränkt technische Kenntnisse als Voraussetzungen für seine Verwendung verlangt. Es eignet sich aufgrund dieser Eigenschaften insbesondere auch hervorragend dazu, als Erfahrungsraum für Kinder und Jugendliche zu dienen und sie in die Möglichkeiten und Problematiken einer gesellschaftlichen Partizipation in Demokratie einzuführen. Es ist ein Erfahrungsraum, der Zugang zum Medienmachen ermöglicht und zugleich auch einen Zugang in die lokale Gesellschaft, in der sie leben. Dabei finden diese ersten die alltägliche Lebenswelt übergreifenden Partizipationserfahrungen nicht allein und isoliert wie vor dem Fernseher oder ohne direkte Rückmeldung wie meist im Internet statt, sondern sozial vermittelt in der Gruppe. Obendrein ist dieser Erfahrungsraum „Lokalradio“ auch einer, an dem man lernen kann, wie Demokratie in unseren Breiten funktioniert – strukturell ist sie heute fest an Institutionen gebunden, die ihren eigenen Interessen folgen und die die Sphären von Alltag und Gesellschaft fest in der Hand haben: Vermachtet, hat der frühe Habermas das noch genannt. Partizipation ist da nie so recht erwünscht, wenn sie sich den vorgegebenen Regeln nicht unterwirft, sondern Interessenskonflikte deutlich werden lässt. Nicht lebendige Demokratie, sondern Anpassung an die Regeln sind verlangt, und wer sich nicht daran hält, bekommt Schwierigkeiten. Auch das wird man lernen, wenn man Lokalradio macht, diese Konfliktfähigkeit braucht, wer Demokratin oder Demokrat werden will.
Das hier vorgelegte Heft setzt sich mit Radio, insbesondere Lokalradio und Jugendlichen auseinander. In einem ersten Beitrag geht Wolf-Dieter Roth der Geschichte der freien Radios in Deutschland nach. Erstaunlicherweise gab es selbst im ordentlichen Deutschland auch immer wieder ganz unterschiedliche Piratensender, bei denen es mal um Musik und ein spezifisches Lebensgefühl, mal um lokale Praxis und Betroffenheiten, mal um politische Stellungnahmen und Aktivierung ging – es ist sein Resümee, dass politische Piratensender, die noch einen wichtigen Beitrag zur Formierung der Ökologiebewegung geleistet hatten, in den letzten Jahrzehnten kaum mehr eine Rolle spielten – der Text wirft somit implizit auch die Frage auf, welche politische Rolle das genehmigte Lokalradio heute noch spielt. Wolfgang Reißmann und Anja Hartung berichten in ihrem Text von den Ergebnissen einer umfangreichen Studie über Hörfunk- und Musikmedienaneignung durch Jugendliche. Dabei ging es nicht nur um die Feststellung, welchen Stellenwert Radio heute im Alltag der Jugendlichen hat, sondern auch um das Erproben neuer Formen des kollektiven Radiomachens; sie attestieren dem Radio insgesamt ein Nischendasein, in dem aber auch wichtige Teilhabechancen angelegt sind.
Theresa Steffens und Thomas Gottweiss sind in einer einjährigen Projektarbeit zusammen mit weiteren Studierenden der Universität Erfurt der Frage nachgegangen, welchen Sinn Bürgerrundfunk im Zeitalter des Internet eigentlich noch haben kann; sie haben dazu Fallstudien zum Bürgerrundfunk sowie zu lokal angelegten Internetangeboten durchgeführt und die Ergebnisse miteinander verglichen. Sie stellen vor allem die lokale Vernetzung des Bürgerrundfunks in den Vordergrund, wenn sie über die Zukunft solcher Sender nachdenken. Schließlich geht Steffen Griesinger den vielfältigen Möglichkeiten nach, heute in einer medienpädagogischen Absicht Radio gemeinsam mit Jugendlichen zu machen und ihnen so neue Erfahrungsräume zu eröffnen, die zu ihrer Medienkompetenz wesentlich beitragen können. Er stellt auch eine ganze Reihe von Internetsites vor, die solche Radioarbeit unterstützen.
Abgerundet wird das Thema durch Kurzinterviews mit Jürgen Linke, Geschäftsführer des Bundesverbands Offener Kanäle e. V. , und Markus Schennach, Geschäftsführer des Freien Radio Innsbruck FREIRAD 105.9 und Obmann des Verbands der Freien Radios Österreich (VFRÖ). Sie nehmen Stellung dazu, welche Veränderungen aus Sicht des Radios mit der Etablierung des Internets einhergehen und inwiefern das Radio dennoch eine wichtige Rolle hinsichtlich eines partizipativen Medienumgangs gerade Jugendlicher und junger Erwachsener spielt.Lokales, nichtkommerzielles Radio als Medium der Zivilgesellschaft könnte also eine Zukunft haben, insofern hier lokale Vernetzungen ihren Ausdruck finden und so Partizipation ermöglichen. Dabei kommt heute zum Hören immer auch das Internet dazu, das sich immer mehr zu einem Basismedium entwickelt, auf das sich andere Medien beziehen: Medien substituieren und verdrängen sich nicht, so die immer wieder ignorierte Lehre auch hier, sondern sie befruchten und entwickeln sich in Auseinandersetzung miteinander. Es wäre wichtig, dass die zuständigen Institutionen wie die Landesmedienanstalten diese Schritte unterstützen. Es wäre allerdings auch wichtig, dass sich das Lokalradio mehr bemerkbar macht. Man gewinnt leicht den Eindruck, dass das Radio immer weiter aus dem Blickfeld der Jugendlichen verschwindet, weil sie es nicht erleben, weil ihre Medienmenüs sehr viel komplexer angelegt sind und zwischen privat organisierter Musik und medienbezogener Information deutlich unterscheiden. Sie sehen die Chancen für Partizipation und lokale Vernetzung nicht mehr oder immer weniger. Das sollte nicht sein, und das wird sich ändern, wenn die Radios sich aktiv in der sich verändernden Medienlandschaft positionieren – und dazu auch die Möglichkeiten erhalten.
Beitrag aus Heft »2011/02: Nichtkommerzielle Lokalradios heute«
Autor: Friedrich Krotz
Beitrag als PDF - Auszüge aus der Kurzfassung des Gutachtens der Datenethikkommission der Bundesregierung von 2019 als Anregung für die Jugendarbeit zu KI und Ethik
Auszüge aus der Kurzfassung des Gutachtens der Datenethikkommission der Bundesregierung von 2019 als Anregung für die Jugendarbeit zu KI und Ethik
Leitgedanken
Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft tiefgreifend. Neuartige datenbasierte Technologien können für das Leben des Einzelnen und das gesellschaftliche Zusammenleben Nutzen stiften, die Produktivität der Wirtschaft steigern, zu mehr Nachhaltigkeit und zu grundlegenden Fortschritten in der Wissenschaft beitragen. Gleichzeitig zeigen sich jedoch auch Risiken der Digitalisierung für grundlegende Rechte und Freiheiten. Es stellen sich damit zahlreiche ethische und rechtliche Fragen, in deren Mittelpunkt die gewünschte Rolle und die Gestaltung der neuen Technologien stehen. Wenn der digitale Wandel dem Wohl der gesamten Gesellschaft dienen soll, müssen sich Gesellschaft und Politik mit der Gestaltung datenbasierter Technologien einschließlich der Künstlichen Intelligenz (KI) befassen. [...]
Die DEK hat sich für ihr Gutachten an den folgenden Leitgedanken orientiert:
Menschenzentrierte und werteorientierte Gestaltung von Technologie | Förderung digitaler Kompetenzen und kritischer Reflexion in der digitalen Welt | Stärkung des Schutzes von persönlicher Freiheit, Selbstbestimmung und Integrität | Förderung verantwortungsvoller und gemeinwohlverträglicher Datennutzungen | Risikoadaptierte Regulierung und wirksame Kontrolle algorithmischer Systeme | Wahrung und Förderung von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt | Ausrichtung digitaler Strategien an Zielen der Nachhaltigkeit | Stärkung der digitalen Souveränität Deutschlands und Europas [...]
Im Folgenden führt dann die Kommission die ethischen Aspekte, die sie für die Datenhaltung wie auch für die Algorithmik im Hinblick auf KI sieht, detailliert aus. Dies ist in der Vollversion nachzulesen unter: https://datenethikkommission.de/wp-content/uploads/191128_DEK_Gutachten_bf_b.pdf Bedauerlich ist, dass die Kommission den Bildungsanliegen kein explizites Kapitel widmet.
https://datenethikkommission.de/wp-content/uploads/191023_DEK_Gutachten_Kurzfassung_dt_bf.pdf [Zugriff: 01.08.2020]