Thomas Kupser
Beiträge in merz
Thomas Kupser und Mareike Schemmerling: KAMPAGNEN FÜR ALLE
Anhand von Zweikultur, einem Projekt im Rahmen von KAJUTO (Kampagnen von Jugendlichen für Toleranz), wird in diesem Artikel dargestellt, wie man mit Jugendlichen gemeinsam eine Sozialkampagne entwickeln und einem breiten Publikum präsentieren kann.Thomas Kupser ist Mitarbeiter im JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis.Mareike Schemmerling ist medienpädagogische Referentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am JFF.
Literatur:
Forst, Rainer (2003). Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Berlin: Suhrkamp.
Kohl, Wiebke/Seibring, Anne (Hrsg.) (2012). Unsichtbares Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von „bildungsfernen“ Jugendlichen im Alter von 14-19 Jahren. Bonn: Bundeszentrale Politische Bildung.
Röttger, Ulrike (2006). Campaigns (f)or a better world? In: Röttger, Ulrike (Hrsg.), PR-Kampagnen. Über die Inszenierung von Öffentlichkeit. Wiesbaden: VS Verlag.
Zick, Andrea/Küpper, Beate/Höverman, Andreas (2011). Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.Die Kampagnenprodukte können unter www.kajuto.de angesehen werden.
Thomas Kupser/Jonas Lutz: Das filmische Planspiel als Methode digitalen Storytellings am Beispiel von PARLAMENSCH
Stell dir vor, du könntest die Gesellschaft verändern – was würdest du tun? Vor dieser Frage standen im Sommer 2019 neun jugendliche Filmgruppen aus Bayern. Ihre Antworten auf diese und weitere Fragen des demokratischen Zusammenlebens gaben sie in PARLAMENSCH, einem filmischen Planspiel mit hohem Partizipationsanteil und viel künstlerischer Freiheit. Im Folgenden sollen nun am Beispiel von Parlamensch das filmische Planspiel als Methode kollektiven, digitalen Storytellings modellhaft skizziert und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten wie auch Problematiken diskutiert werden.
Das filmische Planspiel als Methode digitalen Storytellings am Beispiel von PARLAMENSCH
Thomas Kupser und Jonas Lutz
Der junge Bürgermeister ist sichtlich wenig angetan von Z-241-35, dem Neustrukturierungsprogramm der Bundesregierung eines fiktiven Deutschlands der näheren Zukunft. Er, der sich monatelang mit den Problemen der Gemeinde befasst und ein halbes Jahr Wahlkampf betrieben hat, soll nun durch Losverfahren die Macht erhalten Gesetze zu erlassen?! „Das ist doch keine Demokratie!“ schnaubt er, zerreißt wutentbrannt das Schreiben und macht kehrt. Während ihm ein Abgeordneter noch ratlos hierherblickt, sinken die letzten Fetzen der Legitimation langsam zu Boden.
Der Startschuss
Um den Grund für die Aufregung des Bürgermeisters besser nachvollziehen zu können, müssen wir zwei Schritte zurück nach München in das Frühjahr des Jahres 2019 machen. Dort trafen sich im Pixel – Raum für Medien, Kultur und Partizipation acht jugendliche Filmemacher*innen aus der Region, um angeleitet von Thomas Kupser (JFF – Institut für Medienpädagogik) über das Szenario eines filmischen Planspiels zu debattieren. Vorgaben gab es nur wenige, das Planspiel sollte eine Kooperation von Filmgruppen aus ganz Bayern darstellen und möglichst in Eigenregie realisiert werden. Geplantes Endresultat: eine dreiteilige Webserie. Der Weg dahin: noch ungewiss, Ausgang offen.
Das Ausgangszenario
PARLAMENSCH spielt in einem fiktiven, dem heutigen Deutschland sehr ähnlichen Staat in naher Zukunft. Kultur, Wirtschaft und Politik stagnieren. Die Gesellschaft ist unzufrieden und wird immer unruhiger. Etwas muss sich ändern. Die Regierung fasst einen Notfallplan: Zwanzig zufällig ausgewählten Bürger*innen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, wird Souveränität verliehen: Sie können entweder ein Gesetz erlassen oder über ein Budget verfügen. Es gibt nur eine Vorgabe: Ihr Handeln muss die Gesellschaft voranbringen. Die Auserwählten werden von der Regierung mit einem Brief über ihre Aufgabe informiert.
Dieses Szenario wurde zusammen mit einer bunten Auswahl verschiedener Charaktere sowie einigen organisatorischen Informationen ausgeschrieben und im Sommer 2019 von neun Filmgruppen im Alter von 16 bis 24 Jahren aus ganz Bayern bearbeitet. Im Endergebnis entstand die erste Staffel einer dreiteiligen Webserie, die am 25. Oktober ihre feierliche Premiere im NS-Dokumentationszentrum in München feierte.
Das filmische Planspiel im Unterschied zum analogen
Die Bundeszentrale für politische Bildung bpb beschreibt Planspiele als „eine handlungsorientierte Lehr- und Lernmethode, die sich wie kaum eine andere zur Vermittlung politischer Zusammenhänge eignet“ und deren „Hintergrund ein Szenario [bildet], das fiktiv oder dem aktuellen politischen Geschehen entlehnt sein kann“ (bpb 2015). Innerhalb dieses Szenarios „übernehmen [die Teilnehmenden] die Rollen von Akteuren und spielen die durch das Szenario vorgegebenen Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse nach“. Das Planspiel erstreckt sich hierbei auf vier Phasen: Vorbereitung, Einführung und Rollenvergabe, Spielphase und Nachbereitung.
Überführt man diese Vorgaben nun auf ein filmisches Planspiel, so ergeben sich in jeder Phase Änderungen, es verbleiben aber auch einige Gemeinsamkeiten. Beide sollen nun exemplarisch erörtert werden, der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Phase, in welcher sich wohl die größten Unterschiede zeigen: der Spielphase.
Am Anfang eines jeden Planspiels steht die Konzeption. In dieser werden die Rahmenbedingungen erdacht und festgelegt. Hierunter fallen auszugsweise das Szenario, die Charaktere und natürlich auch die Zielgruppe. Während sich beim Szenario und den daraus resultierenden Charakteren nicht zwangsläufig Unterschiede ergeben müssen, so wird bei der Zielgruppe eines politischen und filmischen Planspiels, neben dem politischen Vorwissen, ein gewisses filmisches Vorwissen vorausgesetzt. Hierunter fällt sowohl technisches Wissen (sowie der Zugang zu Filmtechnik) als auch kinematographisches Wissen in Form von Inszenierung und Storytelling. Dieses muss entweder als vorhanden vorausgesetzt oder im Vorfeld vermittelt werden. Hieraus ergibt sich für die Teilnehmer*innen eine spürbar höhere Mitmachschwelle im Vergleich zum analogen, politischen Planspiel, welches zwar politisches, aber sonst kein spezielles Vorwissen außerhalb des Szenarios erfordert.
Hinter PARLAMENSCH stehen die Idee, jungen Menschen eine Filmförderung zukommen zu lassen sowie das Vorhaben, mit möglichst vielen jugendlichen Akteuren gemeinsam an einer filmischen Auseinandersetzung zum Thema Demokratie zu arbeiten. Hierbei gab es kein Drehbuch oder einen konkreten Rahmen, sondern lediglich ein grobes Konzept sowie das Ziel, eine Bühne für jugendliche Filmemacher*innen zu kreieren.
Im Bereich der Einführung und der Rollenvergabe lassen sich im Vergleich von analogem und filmischem Rollenspiel keine charakteristischen Unterschiede feststellen.
Die Einführung der Filmgruppen in das Projekt erfolgte durch eine Ausschreibung. Diese bestand aus zwei Dokumenten: Einer mehrseitigen Projektbeschreibung, sowie einem vermeintlich offiziellen Brief der Regierung, welcher auch im Storytelling von PARLAMENSCH ein entscheidendes, wiederkehrendes, erzählerisches Mittel darstellen sollte. Zusätzlich wurde mit jeder interessierten Filmgruppe ein persönliches Telefonat geführt, in welchem Fragen beantwortet und das Szenario erneut erklärt sowie auf wichtige organisatorische Aspekte hingewiesen wurde. Die Auswahl der Charaktere erfolgte durch die Filmgruppen selbst. Sie hatten freie Wahl aus einem Pool von etwa 20 vorgegebenen ‚Auserwählten‘, konnten aber auch eigene Vorschläge einreichen.
In der Spielphase zeigen sich die größten und bedeutsamsten Unterschiede im Vergleich zum analogen Planspiel. Während bei diesem das Spielen durch die Teilnehmenden selbst geschieht, in dem diese in Rollen schlüpfen und innerhalb des Szenarios agieren, übernehmen die Teilnehmenden im filmischen Planspiel eine gestaltende, erzählerische Funktion. Sie spielen nicht unmittelbar einen Charakter, sondern sie lassen diesen Charakter im Rahmen einer, durch das Szenario, die Charakterzeichnung sowie auch das Drehbuch bestimmten Rolle agieren. Charakter und Teilnehmer*in sind somit nicht mehr eine Person.
Im Vergleich zum analogen Planspiel wird dem Konstrukt des filmischen Planspiels durch die Filmgruppe eine weitere administrative Ebene hinzugefügt: Während normalerweise die Organisator*innen des Planspiels über die Teilnehmenden wachen, wachen beim filmischen Pendant die Organisator*innen über die Filmgruppe, die dann wiederrum über ihren Charakter ‚wacht‘.
Ebenfalls ein wichtiger Unterschied: Beim analogen Planspiel können die Organisator*innen in das Geschehen eingreifen und moderieren. Beim filmischen Planspiel ist dies bei realistischer Betrachtung nur vor dem Dreh möglich. Mit der ersten gefallenen Klappe übernehmen die Filmgruppen das Zepter des Handelns und übergeben dieses erst wieder mit dem fertigen Film. Somit wird der Filmgruppe auch eine große Verantwortung übertragen.
Wie groß diese Verantwortung ist, hängt auch vom Grad der Partizipation ab. PARLAMENSCH verstand sich als ein Projekt, das hauptsächlich durch die Jugendlichen gestaltet werden sollte. Die Ausgestaltung der Spielphase wurde somit in die Hand der Filmgruppen übergeben und nur durch wenige, rahmengebende Faktoren, wie beispielsweise Laufzeitbeschränkungen, limitiert.
Dies äußerte sich bereits bei der Entwicklung des Ausgangsszenarios und fand seine Fortsetzung in der Charakterwahl. Abgesehen von einer groben Bezeichnung, wie der eingangs erwähnte ‚junge Bürgermeister‘, der auch eine junge Bürgermeister*in hätte sein dürfen, wurden keine weiteren Vorgaben gemacht. Die Charakterentwicklung wurde vollständig in die Hand der Teilnehmenden übergeben.
Diese Gestaltungsfreiheit setzte sich auch beim Filmdreh fort: Genre, Drehbuch, Thema – all diese und weitere Faktoren wurden durch die Filmemacher*innen festgelegt. Diese Freiheiten äußerten sich auch in den filmischen Ergebnissen: Von Experimentalfilm bis hin zur Instagram-Story waren verschiedenste Erzähl- und Inszenierungsformen vertreten.
In der abschließenden Phase des Planspiels, in welcher Projektergebnisse präsentiert und reflektiert werden, lassen sich teilweise charakteristische Unterschiede festhalten. Diese zeigen sich vor allem in der Ergebnispräsentation, die im filmischen Planspiel den Moment beschreibt, in welcher die Filmteams erstmals ihre Werke und die der anderen Gruppen im filmischen Gesamtgefüge zu Gesicht bekommen. Außerdem werden durch den mehrschrittigen Schaffensprozess von der Idee zum Drehbuch zum Film im Vergleich zum analogen Planspiel weitere Reflexionsebenen hinzugefügt.
Die Ergebnisse von PARLAMENSCH wurden im Rahmen einer feierlichen Premiere im NS-Dokumentationszentrum in München vor Publikum präsentiert. Anwesend waren alle Filmgruppen, Organisator*innen, die Presse und externe Interessierte. Im Anschluss an die Premiere luden die Organisator*innen die Filmgruppen zur Diskussion der ersten und Planung der zweiten Staffel ein.
Digitales Storytelling am Beispiel von PARLAMENSCH
Aufgrund der hohen Gestaltungsfreiheit und dem Übertragen von inhaltlichen wie inszenatorischen Entscheidungen an die jugendlichen Teilnehmer*innen zeigt sich die erste Staffel von PARLAMENSCH sehr vielseitig. Dies äußert sich in der Wahl des Genres, der Art der filmischen Inszenierungen, in den Erzählformen und auch in den behandelten Themen. In diesem Kapitel sollen die unterschiedlichen Herangehensweisen der Filmgruppen beschrieben, der Einfluss von Lebenswelt und jugendlicher Popkultur analysiert und wiederkehrende Muster interpretiert werden.
Von Nerds und Agenturen
Die Filmgruppen konnten aus über 25 verschiedenen Charakteren auswählen oder, nach Absprache, ihre eigenen Auserwählten schaffen. In ihrer Auswahl waren sie dabei sehr frei und nur durch die der anderen Filmgruppen beeinflusst – jeden Charakter gab es nur einmal. Die Auswahl fiel auf folgende Charaktere: Rentner, Technikjünger, Kiffer, junger Bürgermeister, Obdachloser, Influencerin, 18-Jähriger, Modedesignerin und eine Agentur. Hierbei wurden sechs vorgegebe Charaktere und drei Wunschcharaktere (Influencerin, Modedesignerin und Agentur) ausgewählt. Ein Planspiel ermöglicht das Ausprobieren von Rollen und Kontexten, die dem jugendlichen Alltag sonst eher fern sind. Diese Möglichkeit wurde teilweise genutzt, tendenziell wählten die Filmgruppen jedoch eher jugendliche Charaktere oder versetzten altersunabhängige Charaktere wie beispielsweise den Kiffer oder den Technikjünger in ein jugendliches Alter. Ob dies dem Alter der verfügbaren Darsteller*innen geschuldet war oder ob es sich hierbei um eine bewusste Entscheidung handelte, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Auserwählten tendenziell eher im Jugendalter waren.
Experimentierfreude und Tradition
Eine Betrachtung der ausgewählten Genres zeigt eine Zweiteilung in Experimentalfilm und Spielfilm: Drei Filmgruppen wählten eine experimentelle Herangehensweise und fünf Filmgruppen erzählten ihre Geschichte in eher klassischer Spielfilmmanier. Ein Filmteam bewegt sich zwischen beiden Polen und bedient sich beider Spielarten. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit allen Episoden würde an dieser Stelle sicherlich zu weit führen, daher sollen nun exemplarisch drei Episoden skizziert werden, um einen Einblick in die unterschiedlichen Genres und die inszenatorische Herangehensweise zu geben.
Die Filmgruppe ‚Agentur‘ schuf einen Werbespot für eine Agentur, der die Auserwählten ihre Legitimationen und somit auch ihre Verantwortung übertragen konnten. Diese Episode ist sehr experimentell gestaltet. Vor düsterer Raum- und Soundkulisse wiederholt das Agentur-Duo beinahe mantraartig Aufforderungen an die Zuschauenden, ihnen ihre Legitimation zu überschreiben. Dabei wird viel mit Projektionen wie beispielsweise Flammen gearbeitet, unter denen sich ein Darsteller unter Schmerzen windet. Aufgelöst wird das düstere Szenario durch einen Stimmungswechsel: Die Farben werden heller, die Musik freundlicher und das Duo wendet sich direkt an die Zuschauenden: „Übertragen Sie die Last ihrer Verantwortung einfach an uns.“
In der Machart experimentell, in der Erzählstruktur eher klassisch-chronologisch, dreht sich die Episode der Gruppe ‚Influencerin‘ um eine Ebensolche. Wie für Influencer*innen üblich wendet sie sich über ein soziales Netzwerk (Instagram) an ihre Community. Diese soll ihr bei der Entscheidung behilflich sein und Vorschläge für Gesetzesänderungen posten. Die Episode wird in Form einer Instagram Story erzählt. In den ersten Schnipseln wird ihr Charakter vorgestellt und die Zuschauenden lernen sie und ihr Umfeld kennen. Im Anschluss erfährt und berichtet sie von ihrer Legitimation, bevor sie schlussendlich von dem Ergebnis der Abstimmung erzählt: Die User*innen haben sich für kostenlose Fernverbindungen mit der Bahn entschieden, der Reise der Influencerin nach Budapest steht folglich nichts mehr im Wege.
Sehr klassisch erzählt und inszeniert ist die Geschichte des ‚Wohnungslosen‘. Der Charakter wird eingeführt, die Zuschauenden begleiten ihn in seinem alltäglichen Kampf und am Ende der Episode erhält er den Brief mit der Legitimation, die Kamera fährt an ihn heran und er blickt direkt in diese. Fortsetzung folgt.
Die Betrachtung der Genres und der Herangehensweisen zeigt, dass auch bei völlig freier Auswahl die Mehrheit der Filmgruppen eine klassische Herangehensweise auswählte. Aber auch die freie künstlerische Entfaltung und das Ausprobieren, welches wichtiger Bestandteil des Konstrukts Planspiel ist, war durchaus reizvoll für die Teilnehmer*innen. Ein Blick auf die Hintergründe der Filmteams zeigt auch, dass der Experimentalfilm vor allem von eher erfahrenen Filmgruppen gewählt wurde.
Influencing, Schulalltag und Dystopie
So bunt wie die Auswahl der Charaktere, so bunt sind auch die Inhalte der Episoden. Vom wenig beachteten Jugendlichen, der vom schulischen Außenseiter zum Mädchenschwarm wird, bis hin zur Modedesignerin, die vor der Verlagerung der Macht hin zur Technologie warnt, ist vieles geboten. Anders als die Genres lassen sich die Themen jedoch weniger eindeutig kategorisieren.
Social Media, Schulalltag, Außenseiter*innendasein und Kiffen – dies sind jugendliche Themen und eine gewisse Tendenz dahingehend lässt sich in vier der neun Episoden erkennen. Neben diesen jugendlichen Themen finden sich aber auch einige erwachsene Themen wieder: Übertragung von Verantwortung, das Leben und die Sorgen eines Wohnungslosen, der perspektivlos von Tag zu Tag (über-)lebt und das Zweifeln an der Demokratie.
Über all dem schwebt noch lose das übergeordnete Thema Demokratie, welches vor allem durch das Szenario im Allgemeinen und durch die daraus folgenden Überlegungen Einfluss auf die Serie nimmt. Was, wenn ich plötzlich die Macht hätte ein Gesetz zu erlassen? Was würde ich tun? Was würde es mit mir machen? Und was macht das mit einer Gesellschaft? Diese Überlegungen werden nicht in jeder Folge laut ausgesprochen, spiegeln sich jedoch spürbar im Ergebnis wider.
Einfluss durch Jugend- und Popkultur
Auch die Jugend- und Popkultur hat sicherlich einen Einfluss auf so manche Episode gehabt. Offensichtlich wird dies vor allem bei der Betrachtung des 18-jährigen Schulaußenseiters: Sein bester Freund leidet unter dem Tourette-Syndrom, was sich im Film durch viele körperliche und akustische Ticks äußert. Etwa im Zeitraum der Entstehung des Films gewann der YouTube-Kanal GewitterimKopf, auf welchem ein jugendlicher YouTuber sehr offen und humorvoll mit ebendieser Behinderung umging, stark an Popularität.
Auch die schon erwähnte Episode mit der Influencerin, die ihre Follower*innen über Gesetze abstimmen lässt, ist ein sicherlich überspitztes, aber vom jugendlichen Alltag wohl gar nicht so weit entferntes Beispiel für die Einflussnahme jugendlicher Kommunikationskultur in Social Media.
Weniger eindeutig, aber denkbar, ist der Einfluss der Science-Fiction-Serie BlackMirror, die sich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen recht großer Beliebtheit erfreut. Ebenfalls episodisch aufgebaut, erzählt sie dystopische Geschichten des Konflikts zwischen Mensch und Technik. Dieser Konflikt spiegelt sich auch in PARLAMENSCH in der Episode der Modedesignerin wieder, in welcher explizit davor gewarnt wird, dass „mit der Verlagerung der Macht in Richtung der Technologie der Mensch zu Werkzeug [wird]“, was früher die Rolle der Maschinen war.
Ein Brief als konfliktinitiierendes Moment
Ebenfalls fester Bestandteil des Storytellings von PARLAMENSCH ist ein immer wiederkehrendes, charakteristisches Stilmittel der Serie: der Brief. Jeder Charakter in PARLAMENSCH wird von der Regierung mit einem Brief über seine Legitimation benachrichtigt. Manchmal liest die*der Auserwählte den Brief laut vor, mal wird er nur am Rande gezeigt und in mancher Episode wird er auch als gelesen vorausgesetzt. Hierbei handelt es sich um eine der wenigen organisatorischen Vorgaben der inhaltlichen Gestaltung der Episoden: Der Brief als konfliktinitiierendes Moment sollte fester Bestandteil der Episode sein. Hintergedanke hierbei war die dadurch besser zu gewährleistende Verknüpfbarkeit der einzelnen Episoden zu einer Serie – über den im Folgenden beschriebenen Rahmen herrschte im Vorfeld des Planspiels nämlich noch Ungewissheit.
Das rahmende Element
Um die Analyse des Storytellings von PARLAMENSCH abzuschließen, ein Blick auf das animierte Intro von PARLAMENSCH: Hierbei handelt es sich um eine Kamerafahrt durch den Reichstag. In dieser etwa 30-sekündigen Sequenz tagt der Bundestag, repräsentiert durch gesichtslose, wage angedeutete Abgeordnete. Zu Beginn jeder Episode richtet sich die Kamera auf einen Redner am Pult, in dessen Gesichtskonturen nun das Bild der*des nächsten Auserwählten erscheint. Konzipiert und animiert wurde diese aufwendige Sequenz durch ein ambitioniertes, aufstrebendes VFX Studio aus München.
Übertragung der Ergebnisse von PARLAMENSCHauf das Modell
An dieser Stelle sollen die Ergebnisse und Erkenntnisse von Parlamensch auf das Modell des filmischen, politischen Planspiels im Allgemeinen übertragen werden. Da es sich beim filmischen Pendant um eine neuartige und weniger etablierte Form des Planspiels handelt, muss die Übertragbarkeit der Erkenntnisse natürlich etwas eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung lassen sich folgende Thesen formulieren:
1. Notwendigkeit technischen Vorwissens erhöht die Mitmachschwelle
Während politische Planspiele grundsätzlich ein Vorwissen der Teilnehmer*innen voraussetzen, so wird beim filmischen Planspiel zusätzlich noch technisches und cinematographisches Vorwissen benötigt. Diese Schwelle kann durch Vermittlung im Vorfeld oder durch aktive Begleitung der Filmgruppen durch medienpädagogische Fachkräfte herabgesetzt werden. Zudem kann der Fokus des filmischen Planspiels auch durchaus mehr auf den kreativen Schaffensprozess, als auf das reine Nettoergebnis gelenkt werden.
2. Filmische Planspiele sollten durch medienpädagogische Fachkräfte betreut werden
Auch auf Seite der Organisation ist technisches und filmisches Vorwissen wichtig. Dieses hilft dabei im Vorfeld Machbarkeiten abzuschätzen, ermöglicht die Beratung und tatkräftige Unterstützung der Filmgruppen und befähigt zur Steuerung und Koordinierung, insbesondere dann, wenn Unvorhergesehenes eintritt.
3. Ein hoher Grad an jugendlicher Partizipation ist möglich
Setzt man beide vorangegangenen Punkte als gegeben voraus, dann ist es durchaus möglich, Jugendliche bereits im Vorfeld des Planspiels miteinzubeziehen und ihre Wünsche und Ideen zu berücksichtigen. Je involvierter Jugendliche auch in grundlegende Fragen und Prozesse sind, desto motivierter werden sie bei der Ausführung sein.
4. Filmische Planspiele fördern die Reflexion
Bis aus einer Idee ein fertiger Film entstanden ist, mussten mit Charakterentwicklung, Drehbuch, Filmdreh und -schnitt mehrere, gedankliche wie auch praktische Hürden genommen werden. Dies führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Materie: Wer ist mein Charakter? Wie verhält er sich im Film? Wie setze ich filmische Mittel ein, um de Zuschauenden genau dieses Bild meines Charakters zu vermitteln? Wie reagieren Zuschauende auf das Endergebnis? Das filmische Planspiel fügt dem Konstrukt durch seine Komplexität weitere Reflexionsebenen hinzu und fördert eine tiefergehende thematische Auseinandersetzung.
5. Jugendliche probieren sich auch filmisch aus
Ein wichtiger Aspekt des Planspiels ist es, dass Jugendliche neuartige Rollen einnehmen und sich ausprobieren können. Im filmischen Planspiel nehmen die Teilnehmer*innen sogar zwei Rollen ein: Die des filmischen Ichs und die der*des gestaltenden Filmemacher*in*s. Diese Freiheiten spiegeln sich auch in den Ergebnissen wider, wie die experimentelle Herangehensweise einiger Episoden eindrucksvoll zeigt.
6. Erzählungen werden durch jugendlichen Alltag und Popkultur beeinflusst
Obwohl das filmische Planspiel sich im Vergleich zum jugendlichen Spielfilm in einem thematisch strikteren und erwachseneren Rahmen bewegt, so fließen dennoch viele Elemente aus dem Alltag und der Jugendkultur in die Erzählungen ein.
Ausblick in die Zukunft von PARLAMENSCH
PARLAMENSCH ist längst nicht mehr nur eine Webserie, sondern entwickelt sich auch außerhalb des filmischen roten Fadens weiter: So haben bereits mehrere Autor*innen in der fiktiven, gleichnamigen Zeitung Artikel und Kommentare zum aktuellen Geschehen veröffentlicht. Eine anonymisierte Auserwählte gibt im Interview intime Einblicke in ihr Leben nach dem Tag X, während in einem anderen Artikel munter darüber spekuliert wird, dass es bei der Verteilung der Legitimationen so gar nicht mit dem Zufall zugegangen sein kann. Nachzulesen sind diese und weitere Artikel auf der Website von PARLAMENSCH.
Auch abseits der Fiktion expandiert das Projekt. So wird derzeit an einem niedrigschwelligen Konzept für einen eintägigen Schulworkshop getüftelt, und auch im Hochschulkontext fand PARLAMENSCH bereits anklang: Auf Grundlage der Web-Serie entstand durch eine Studierendengruppe der Katholischen Stiftungshochschule München eine interaktive Ausstellung im Kulturraum Pixel im Münchner Gasteig, die die Themen ‚Politische Entscheidungsfindung‘ und ‚Du hast die Macht‘ behandelte.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels befindet sich die zweite Staffel von PARLAMENSCH in der Produktion, muss jedoch aufgrund der aktuellen Covid-19-Situation pausieren. Staffel II knüpft an die Geschehnisse von Staffel I an: Erste Auserwählte haben ihre Entscheidungen getroffen, bei anderen steht diese kurz bevor. Die Bevölkerung wird immer unruhiger und die Skepsis gegenüber dem Programm wächst. Die Presse hat einige Namen veröffentlicht und der Druck auf die Auserwählten steigt. Es bleibt weiterhin spannend, der Ausgang ist erneut ungewiss. Genauso ungewiss wie die Zukunft des jungen Bürgermeisters. Dieser wird nämlich im Parkhaus von düsteren, maskierten Gestalten entführt und in eine karge Waldhütte verschleppt. Während der Bürgermeister durch den Sack über seinem Kopf noch im Dunkeln tappt, bringt seine Entführerin wenigstens etwas Licht in die Sache. Sie müsse sich mal mit ihm über ein paar Gesetzvorschläge unterhalten…
Literatur
Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2015). Handlungsorientierte Großmethoden im Unterricht – Szenario, Plan- und Rollenspiel. Bonn. www.bpb.de/lernen/formate/schulnewsletter-archiv/213844/szenario-plan-und-rollenspiel [Zugriff: 15.06.2020]
PARLAMENSCH ist ein Projekt des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis in Kooperation mit dem Bayerischen Jugendring. Finanziert wird PARLAMENSCH durch die Bayerische Sparkassenstiftung und das Kulturreferat der Landeshauptstadt München.
DE, 2019
Laufzeit Staffel I: 37:42
Steckbrief: PARLAMENSCH. Ein filmisches Planspiel zur Auseinandersetzung mit den Grundfragen einer demokratischen Gesellschaft | Thomas Kupser
Zielgruppe junge Menschen von 16 bis 24 Jahren
Durchführende Institutionen JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis
Finanziers und Partner Bayerischer Jugendring (BJR), Bayerische Sparkassenstiftung, Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales
Laufzeit 2019 bis 2022
Unsere Staatsform Demokratie ist ein spannendes und gleichzeitig verflochtenes und stellenweise unübersichtliches Konstrukt. Filme brauchen einen mitreisenden Plot, eine gute Story. Liegt hier vielleicht eine Symbiose vor? Von jungen Filmschaffenden und in medienpädagogischen Workshops wurde gemeinsam die Webvideoserie PARLAMENSCH geschaffen, innerhalb derer man die Demokratie seziert und reflektiert, aber auch gleichzeitig für das Publikum erlebbar macht: ein partizipatives Filmexperiment. Über 400 Jugendliche aus ganz Bayern arbeiten von Januar 2019 bis Sommer 2022 parallel und gemeinsam an einer Webvideoserie, die mittlerweile in einem 90-minütigen Langfilm mündete. PARLAMENSCH war von Beginn an auf allen Ebenen partizipativ konzeptioniert und organisiert. So trafen sich erstmals im Frühjahr 2019 acht jugendliche Filmemacher*innen aus der Region München, um das Szenario eines filmischen Planspiels zu erarbeiten. Es sollte dabei eine filmische Auseinandersetzung mit den Grundfragen der demokratischen Gesellschaft bei Jugendlichen initiiert werden. Vorgaben gab es nur wenige, das Planspiel sollte eine Kooperation von Filmgruppen aus ganz Bayern darstellen und möglichst in Eigenregie realisiert werden. Gemeinsam wurde sich auf eine dreiteilige Webserie, auf das Ausgangsszenario und auf den Titel PARLAMENSCH verständigt.
„Wenn du die Gesellschaft verändern könntest, was würdest du tun…?“. Die Antworten auf diese und weitere Fragen des Lebens in einem politischen System, welches einfache Bürger*innen zu Entscheider*innen werden lässt, gaben die jungen Filmschaffenden in Form von Episodenfilmen. Gerahmt und feingeschliffen lassen sich die Schicksale der Auserwählten nun in waschechter Webserienform unter www.parlamensch.de mitverfolgen. Zum einen waren junge Filmschaffende im Alter zwischen 16 und 24 Jahren am Projekt beteiligt, zum anderen wurden aber auch medienpädagogische Workshops zu diesem Themenspektrum durchgeführt.
PARLAMENSCH verstand sich von Anfang an als Projekt, das maßgeblich durch Jugendliche gestaltet wurde, koordiniert durch ein Team im JFF – Institut für Medienpädagogik in Kooperation mit dem Bayerischen Jugendring (BJR). So wurden bereits das Ausgangsszenario sowie die verschiedenen Hauptprotagonist*innen im Rahmen eines Kick-Off-Treffens von einem jugendlichen Team erdacht. Die inhaltliche Ausgestaltung ihrer Episoden stand den jugendlichen Filmgruppen völlig frei, auch bei der Postproduktion wurden nur wenige rahmengebende Vorgaben gemacht, die eine Montierbarkeit der Episoden zu einer Serie sicherstellten. Im Anschluss an die Premieren von Staffel I und Staffel II wurden die Filmgruppen eingeladen, um auf Basis dieser über das Szenario der folgenden Staffel zu diskutieren.
Wesentliches Ziel bei PARLAMENSCH ist es, mit möglichst vielen jugendlichen Akteur*innen an einer gemeinsamen filmischen Auseinandersetzung zum Thema Demokratie zu arbeiten. Unsere Demokratie und die damit verbundenen Machtprozesse sind stark durch Medien geprägt. Gerade durch das Ausgangsszenario werden die damit verbundenen, komplexen Zusammenhänge den beteiligten Jugendlichen deutlich. Zudem werden diese Verstrickungen innerhalb der einzelnen Episoden thematisiert.
Darüber hinaus fanden fünf stärker medienpädagogisch angeleitete Projekte in Aschaffenburg, Schweinfurt, Würzburg, Wörth und München statt. Hier wurde mit vielen Kooperationspartnern gearbeitet. Dazu gehörten die Medienfachberatung in der Oberpfalz und in Schwaben, dem Jugendkulturzentrum (JUKUZ) Aschaffenburg, der Staatliches Berufliches Schulzentrum Alfons Goppel Schweinfurt und das Medienzentrum Parabol Nürnberg. Bei allen Episoden dieser Gruppen wurden Protagonist*innen gewählt, die nah an der Lebenswelt der Jugendlichen sind. Jede einzelne Filmgruppe hat wiederum mit diversen Institutionen kooperiert, um die jeweiligen Episoden verfilmen zu können.
Im November 2022 wurde von einem jungen Cutter aus allen Episoden ein Langfilm geschnitten, der 2023 auf der Webseite bewundert werden kann. PARLAMENSCH kann als Modell dienen um mit vielen Jugendlichen gemeinsam an einem komplexen Thema zu arbeiten und damit die Vielschichtigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Das Prinzip Planspiel als Fundament für ein Drehbuch von vielen hat sich bei PARLAMENSCH sehr bewährt.