Rudolf Maresch
Beiträge in merz
- Rudolf Maresch: Der Hype ist vorbei
Rudolf Maresch: Der Hype ist vorbei
Haben sich die Glücksversprechen für mehr Demokratie und Selbstbestimmung verwirklicht? Oder hat das Internet nicht doch weniger Freiheit und mehr Selbstkontrolle sowie die Kommerzialisierung von Information und Wissen gebracht?
(merz 2001-04, S. 235-242)
- Rudolf Maresch: Auf hoher See
Rudolf Maresch: Auf hoher See
MS „Deutschland“ funkt SOS. Nicht weil sein „ausgebrannter“ Entertainer plötzlich von Bord geht oder prominentes Personal das sinkende Schiff verläßt. Sondern weil Globalisierung und Vernetzung das Schiff in stürmische Gewässer bringen und dieser Umstand das Ablassen der Beiboote, sprich ein Abspecken der sozialen Sicherungssysteme notwendig macht.Wurden im Nachkriegsdeutschland Leistungswille und Anstrengungsbereitschaft noch mit höheren Löhnen und mehr Freizeit versüßt, müssen diese Anpassungen nun mit Einschnitten und Zuzahlungen, mit Abgaben und Präsenzpflichten beglichen werden. Dass all das keine Begeisterung auslöst, nur Misstrauen, Unmut und Gleichgültigkeit schafft, dürfte niemanden verwundern. Vor allem dann, wenn BILD sich zum Sprachrohr der Betroffenen aufschwingt. Schon wird im Feuilleton ein neuer Menschentyp gehandelt, einer, der in Unternehmen und Behörden Dienst nach Vorschrift verrichtet, mit der Mehrheit stimmt und sich ansonsten nirgendwo mehr einbringt.
Mit solchen desinteressierten Kräften, die gerade soviel tun, um nicht entlassen zu werden, ist das Schiff nicht wieder flott zu kriegen.Das wird auch unseren Politikern zunehmend klar. Weshalb sie neuerdings „Vaterlandsliebe“ als emotionale Quelle entdeckt haben. Sie soll das Loch füllen, das die Aussicht auf mehr Geld und Wohlstand nicht schließen kann. Die Oppositionsführerin will eine Debatte darum führen, der Wirtschaftsminister erklärt sie zur „Bürgerpflicht“ und auch Guido Westerwelle bekundet, dass er ein heimlicher Patriot ist. Mit Lippenbekenntnissen allein, das weiß man auch dort, werden die Deutschen kaum zum Ärmelaufkrempeln und zu mehr Gemeinsinn zu bewegen sein. Solange die Leistungen der Völler-Truppe dürftig sind, die Legenden um Bern und Lengede schwülstig geraten und die Suche nach „Unseren Besten“ ausnahmslos Gähnen hervorruft, wird das gemeine Volk keine paradoxen Botschaften erhören und den Griff in die Tasche mit Konsum und Mehrarbeit vergelten.Wie gut, dass es da wenigstens noch die Ressource Bildung gibt. Nach TIMSS und PISA gilt es als legitim, sie ungehemmt auszubeuten und in den Dienst der nationalen Sache zu stellen.
Vierjährige an den Schulalltag zu gewöhnen, radikale Kürzung der Schulferien, Samstags- und Ganztagsunterricht lauten mittlerweile die wohlfeilen Antworten, um das Altersproblem zu lösen und den jetzigen Wohlstand zu sichern. Auf dem Turbo-Gymnasium sollen die Soft Skills der Zukunft, Verhandlungsstrategien, Selbstmanagement und Vermarktungspraktiken gelernt werden, die Deutschland dringend braucht, um wieder zur ersten Adresse im Kampf um Köpfe, Ideen und Investitionen zu werden. Woher die Jobs dazu kommen sollen, sagen die Bildungsforscher hingegen nicht. Diese lassen sich weder durch längere Verweildauer und intensivere Betreuung, noch durch höhere Abiturientenquoten oder lebenslanges Lernen herbeizaubern. Zum Symbolanalytiker taugen nur die Wenigsten. Und ob aus Migrantenkindern, die lieber Kauderwelsch versenden statt Rechnen, Schreiben und Lesen zu lernen, jemals gute Patrioten und funktionierende Ich-AGs werden, darf zu Recht bezweifelt werden. Der Bundeskanzler scheint das zu ahnen, wenn er Gutbetuchte, die sich dem Zugriff des Finanzamtes durch Heimatflucht entziehen, vorab als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnet. Sie verleiden ihm, nach eigenem Bekunden, schon am Morgen den Joghurt. Na dann, wohl bekomm’s und guten Appetit. Alles Müller oder was?
- Rudolf Maresch: Gespenster-Pädagogik
Rudolf Maresch: Gespenster-Pädagogik
Wie alle Bindestrich-Disziplinen, die sich im Zuge neuzeitlicher Ausdifferenzierung neu gebildet und institutionell organisiert haben, hat es auch die Medien-Pädagogik schwer, sich im Kanon der Wissenschaften zu verorten und dort ihren legitimen Platz zu finden.
Unschlüssig, ob sie Menschen zum rechten Umgang mit Medien befähigen oder doch eher Auftragsforschung für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft betreiben, ob sie den Medienalltag kritisch begleiten oder nur empirisch beobachten, ob sie Eigenständigkeit demonstrieren oder dienende Funktionen für etablierte Fächer ausüben soll, pendelt das Fach zwischen wissenschaftlichem Anspruch und praktischer Ausrichtung, technischer Orientierung und pädagogischen Wunschfantasien hin und her.
(merz 2004-01, S. 46-51)
- Rudolf Maresch: "Cyborgs"
Rudolf Maresch: "Cyborgs"
Soeben sind die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City zuende gegangen. Zur besten Fernsehzeit konnten wir die Spannweiten von Oberschenkeln, Brustkörben und Oberarmen der AthletInnen bewundern, die technische Präzision, mit der sie ihre Vehikel ins Ziel lenkten ebenso, wie das modische Outfit ihrer Rennanzüge, das Männlein und Weiblein einen merkwürdig androgynen Status verlieh. Dass diese Jagd der Menschenkörper nach Rekorden, Werbeverträgen und Images nicht ganz ohne Wachstumshormone, chemische Zusätze und medizinische Tricks ablaufen würde, ist bekannt. Ernährungspläne, Trainingsprogramme und die Computer gesteuerte Abgleichung von Blut- und Laktatwerten genügen nicht, um über Nacht zum Titanen, Heroen oder Giganten aufzusteigen, der in der Hall of Fame des Weltsports Aufnahme findet.
Den Body mit Wirkstoffen und anderen Stimulantien und Drogen aufzupeppen, ihn mit künstlichem oder im Labor gezüchtetem Material zu screenen oder upzudaten, liegt im Trend. Weswegen wir dieses technische Hochtrimmen eines als mangelhaft erfahrenen Körpers zu neuen Höchstleistungen überall dort finden, wo Fitness und Non-Stop Engagement für die Firma, die Organisation oder den Verein verlangt werden oder der eigene Körper zum Kapital und Markenzeichen im Kampf um mediale Aufmerksamkeit und Prominenz wird. Reproduktionsmedizin, Diätetik und Schönheitschirurgie bieten denn auch eine Vielzahl von Praktiken und Techniken an, um Lippen oder Brüste aufzuschäumen, Häute und Wangenknochen zu glätten oder überflüssige Pfunde abzusaugen.
Der Wille zur Selbstvervollkommnung geht soweit, dass manche(r) sich giftige Substanzen unter die Haut spritzen lässt, um wieder wunderbar frisch wirkende Gesichtspartien zu erzielen. Den Nachteil, den diese subkutane Verabreichung von Bakterien hat, scheinen die auf juvenil getrimmten Personen gern in Kauf zu nehmen. Da durch das Gift die Signalübertragung zwischen Muskel und Nervenzelle gelähmt wird, ist die Person zu keiner Regung der Wut, der Angst oder der Freude mehr fähig. Auf ihre Umwelt wirkt sie daher wie ein Tagesschau-Sprecher oder eine Figur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Vor den Möglichkeiten, die Selektions- und Optimierungstechniken anbieten, verblassen die Erfolge der Forschungen zur künstlichen Intelligenz. Trotz lichtschneller und entscheidungssicherer Schach- und Kreditprüfungsprogramme, und trotz aller Tamagotchis, AIBOs und Fußball spielender Robocups, die Eigenschaften lebendiger Systeme (Autonomie, Flexibilität, Teamgeist ...) simulieren, ist es den AI-Forschern bislang nicht gelungen, eine Intelligenz zu modellieren, die der menschlichen in etwa gleichkommt oder sie gar übertrifft. Offensichtlich lässt sich Intelligenz nicht so einfach von seinem kohlenstoffbasierten Träger trennen oder auf andere Stoffe übertragen.
Damit sie selbstständig Entscheidungen treffen, situativ auf Ereignisse reagieren und Bekanntes im Lichte neuer Erkenntnisse reflektieren kann, braucht die Intelligenz die Erfahrung der Erdschwere, der Verdauung, der Bewegung usw.Wahrscheinlicher ist deshalb eine Kooperation und schrittweise Annäherung von Mensch und Maschine. Diese Cyborgisierung des Menschen vertritt beispielsweise auch Rodney Brooks in seinem Buch „Menschmaschinen“, das soeben im Campus Verlag erschienen ist. Darin wagt der Direktor des Artificial Intelligence Lab am MIT einen Ausblick, wie man sich die technische Manipulation des Menschenkörpers bald vorzustellen hat: Gehörschnecken, die eine direkte Verbindung zum Nervensystem herstellen, Netzhaut-Chips für Blinde, Arm- und Beinprothesen, die womöglich vom Gehirn aus gesteuert werden. Und während Roboter mit Menschen kommunizieren, die Gentherapie den Hautsack auf zellulärer Ebene manipuliert, machen Schulkinder ihre Hausaufgaben mit implantiertem Internetzugang.
In Philipp K. Dicks „Do Androids Dream of Electric Sheep?“, der Romanvorlage des SF-Klassikers “Blade Runner” von 1982, ist die Verschmelzung des Menschen mit der Maschine nahezu abgeschlossen. Dort sind die Replikanten bereits so perfekt, dass biologisches Original und technische Fälschung nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Nur durch einen sogenannten „Empathie-Test“ sind sie von ihren Schöpfern noch zu unterscheiden. Damit wären wir wieder am Anfang, bei den Titanen des Sports. Was sie uns so sympathisch macht, ist ja weniger das Timing, mit der sie ihre Rekorde erzielen. Vielmehr ist es ihr Blut und Schweiß, ihre Wutausbrüche und Tränen der Freude und der Enttäuschung, die uns bewegen und faszinieren. Schon wegen dieses ganzen Gefühlsmatches werden die Roboter-Menschen den Maschinen-Robotern immer eine Nasenlänge voraus sein.
- Rudolf Maresch: Öffentlichkeiten under attack
Rudolf Maresch: Öffentlichkeiten under attack
Sich von der Macht der anderenund auch nicht von der eigenen Ohnmacht dumm machen lassenTh.W.Adorno"Auflklärung als massenbetrug", so urteilen dereinst die Dialektiker der Aufklärung über die moderne Pop- und Massenkultur und mutmassten sogleich einen "geheimen Drahtzieher", der unerkannt im Hintergrund die Fäden zieht, die Realität verzerrt und das Publikum mit Botschaften manipuliert.
Eine gehörige Portion Mitschuld an dieser kulturellen Misere trugen laut Horkheimer und Adorno die Herstellungs- und VErbreitungsweisen der Massenmedien, die durch bewusste Auswahl, Darbietung und Verbreitung gängiger Themen und Gegenstände gezielt die Meinungen, den Geschmack und die Lebensstile von Zuschauern, Hörern und Lesern präformierten, steuerten und lenkten.
Statt auf ihre wahren Bedürfnisse, Interessen und Wünsche einzugehen, sie mit anspruchsvollen Programmen zu füttern und zu selbstständigenm Deken, autonomem Handeln und vernunftgemässem Urteilen zu befähigen, machten ihre Agenten und Agenturen in Reklame, Rundfunk und Film sie zu stummen, willfährigen und handlungsunfähigen Kunden und Konsumenten.
Verdummung, Zerstreuung und Desinteresse, Verkümmerung der Vorstellungskraft und Verlust von Spontaneität des Publikums seien unvermeidliche Folge undErgebnis jenes gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs, der durch massenmediale Systeme zu einem "totalen" aufgespreizt wird...
(merz 2002/01, S. 6 - 14 )
Beitrag aus Heft »2002/01: Medienwirklichkeiten: der 11. September«
Autor: Rudolf Maresch
Beitrag als PDF - Rudolf Maresch: Are you passionate?
Rudolf Maresch: Are you passionate?
Seit 50 Jahren wurde den Einwohnern der Vereinigten Staaten wiederholt und ständig gesagt, dass sie das einzig fromme, aufgeklärte und freie Volk seien. Sie [...] haben eine immens hohe Meinung von sich selbst, und es fehlt nicht viel, dass sie glauben, eine Art von Species jenseits der menschlichen Rasse zu sein.Alexis de Tocqueville, Demokratie in AmerikaPatriotismus ist eine Erfindung der europäischen Frühmoderne – auch wenn seine Wurzeln vermutlich bis ins alte Rom zurückreichen. Laut Dirk Richter zeichnet er sich dadurch aus, dass er eine strikte Trennung zwischen „Wir“ und „Ihr“ zieht, das Eigene positiv besetzt und das Andere abwertet.
Trotz dieser klaren Parteinahme für das Bekannte, Vertraute und Überlieferte hält der Patriot ein friedliches Nebeneinander (Koexistenz) zwischen Nachbarn, Staaten und Kulturen grundsätzlich für möglich. Der aufrechte Patriot ist kein „Halunke“, wie Voltaire vermutete, sondern versteht sich zugleich als Weltbürger, der „das Wohlergehen der Menschheit zu seiner Sache macht“ (Enzyklopédia). Die Kluft zwischen dem Partikularen und dem Allgemeinen überbrückt eine universalistische Moral, die im Staatsbürger konkrete Gestalt und tätige Form annimmt. Sie garantiert, dass dieser seine Rechte nicht über die der Menschheit erhebt...
( merz 2002/06, S. 347 - 355 )