Erwin Schaar
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- Erwin Schaar: Kurt Schwitters. Aller Anfang ist MERZ - Von Kurt Schwitters bis heute
Erwin Schaar: Kurt Schwitters. Aller Anfang ist MERZ - Von Kurt Schwitters bis heute
Manche nennen es „Karriere“, manche weniger wertbesetzt „Lebenslauf“, diese Collage von Einflüssen, Ereignissen, Glück und Unglück, Schicksal, Förderung und Missachtung. Der Wegbereiter der Collage in der modernen Kunst, Kurt Schwitters, mag Leben als das Zusammengeschnittene, Geklebte, Zusammengeklaubte als Voraussetzung für ein Ausdrucksverlangen angesehen haben, das es dann in Formen zu bringen gilt, die einen gewissen ästhetischen Anspruch erfüllen. Und sein Schaffensmotto „merzen“ entnahm er dem zufällig gefundenen Kürzel MERZ, als er die Autoaufschrift „COMMERZ“ in einer Lücke entdeckte. Eine kleine Anekdote, auch dem Zufall des Lebens entnommen.
München als letzte Ausstellungsort nach Düsseldorf und Hannover dieser in der Form konzipierten Ausstellung um den Mitbegründer des Dadaismus zeigt neben den gegenständlichen Bildern von Schwitters’ Anfängen, die durchaus passable wenn auch keine eigenständige Malerei sind, die Werke seiner MERZ-Phase, also die Collagen, gemischt mit den Bildern, Objekten, Installationen und Videos weiterer 37 Künstler, die in seiner Nachfolge ‘eingeordnet’ werden können. Dazu steht buchstäblich im Mittelpunkt der Präsentation die Rekonstruktion von Schwitters’ Merzbau, einem Ambiente, das sich einst in seiner Wohnung in Hannover über mehrere Stockwerke erstreckte und das Ausdruck seiner Collage-Phantasien in einer räumlichen Gestaltung war.
Die Bomben des 2. Weltkriegs zerstörten das Original.Schwitters wollte das Leben „entformeln und vermerzen“. Vielleicht könnte man ihn, auf den sich so viele Stilarten der modernen Kunst beziehen - Abstrakter Expressionismus, Pop Art, Neo-Dada, Nouveau Réalisme, Fluxus -, auch einen Dekonstruktivisten nennen, der mit seinem Prinzip auch Architekturstile und womöglich die Filmkunst beeinflusste. Ganz zu schweigen von seinen literarischen Experimenten und Toncollagen, von deren Anregungen heute noch mehr oder weniger experimentelle Hörstücke leben.Schwitters (1887 - 1948) floh als ‘entarteter’ Künstler 1937 aus Deutschland und kehrte auch nie mehr zurück. Er erlebte seine Wiederentdeckung und die ersten Versuche derer, die von seinem Stil beeinflusst wurden, nicht mehr. Und von diesen Nachfolgern, denen nichts Epigonales eigen ist, kann man in dieser Ausstellung eine Menge zu sehen bekommen.
Fast gilt es sie in der Zusammenschau mit Schwitters’ Werken neu zu entdecken, mit Lust und Spaß zu betrachten: ob es sich nun um die Schichtungen von Gläsern von Tony Cragg, die Objektkästen von Beuys, die fulminante Ansammlung von Kitschobjekten durch die Kanadierin Laura Kikauka oder das sich wie durch enge Räume windende Videobild des Deutschen Gregor Schneider handelt, der sein Haus immer mehr verschachtelt und zum Irrgarten werden lässt, den er mit der Kamera wie einen unbekannten Höhlengang durchmisst.Man möchte eigentlich nur wünschen, dass die Ausstellung mehr von dem alltäglichen Leben hereingeholt hätte, um Schwitters’ Aussage zu verwirklichen: „Merz ist Konsequenz. Merz bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt“.
Und wenn der Pressetext vom Künstler und Antikünstler, Revolutionär und Traditionalisten, Bürgerschreck und Kleinbürger spricht, hoffte man, dass dieser kreative Spötter und künstlerische Phantast auch in seiner sozialen Dimension gesehen und den nur Kunstsinnigen und Ästheten entrissen würde. Denn Kunst ist Leben und Leben muss auch - zumindest ein wenig - Kunst sein.Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1, 80538 München, Tel. 089/ 21127123. Der Katalog, herausgegeben von Susanne Meyer-Büser und Karin Orchard (347 S. mit vielen Abb.) ist im Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2000 erschienen und kostet in der Ausstellung DM 68,-, im Buchhandel DM 98,-.
- Erwin Schaar: Die Welt in unseren Gedanken
Erwin Schaar: Die Welt in unseren Gedanken
Gebundene und geheftete HerausforderungenEs war in den frühen 50er Jahren, der gefürchtete Gymnasial-Direktor betrat mit heftiger Bewegung das Klassenzimmer und forderte die sofort aus ihren Bänken geschossenen und nun aufrecht stehenden Kinder auf, den gesamten Inhalt ihrer Schultaschen zu entleeren. Der Zweck der intimen Durchsuchung war die Sicherstellung sogenannter Schundhefte mit Abenteuer- oder Cowboy-Geschichten. Billy Jenkins oder Tom Prox hießen z.B. die Helden unserer einfachen Sehnsüchte - geächtet von Lehrern und Eltern. Die Schund und Schmutz-Hysterie - was Film und Literatur betraf - trieb wenige Jahre nach der Diktatur absonderliche Blüten. Mit den restaurativen Tendenzen und der Wiedereinsetzung alter Kämpfer in ihre früheren Stellungen suchte ein rigider 'Jugendschutz' einen leicht zu bekämpfenden Feind.Zensur wurde und wird immer noch als ein probates Mittel angesehen, eine Gesellschaft in die Bahnen lenken zu wollen, die Machtausübenden für ihre Ziele gezogen haben. Und den sogenannten Sittenwächtern soll sie die Gewissheit geben, unlautere, zerstörende Gedanken und Handlungen für die Zukunft ungeschehen zu machen.Die Bayerische Staatsbibliothek hat in ihrer Reihe kleiner und feiner Ausstellungen eine Auswahl ihrer einst weggesperrten, also zensurierten Bücher in der Schau "Der Giftschrank. Remota" zusammengestellt. Die Bibliothek bezeichnet mit dem lateinischen Begriff Remota (weit entfernt, unbekannt) die Drucke, die aus verschiedenen Gründen und zu verschiedenen Zeitpunkten gesondert archiviert wurden.
Es waren Schriften, die nicht im öffentlichen Katalog verzeichnet und sehr schwer zugänglich waren.In sechs Abteilungen werden die einmal verbotenen Schriften präsentiert. Wie man sich denken kann, stehen die erotischen und politischen Bücher im Mittelpunkt der Ausstellung. Erstere begegnen uns als "gemeinschädliche erotische und sogenannte sexualwissenschaftliche Werke", wobei als zeitliche Schwerpunkte 1920 bis 1933 und 1950 bis 1970 gewählt sind. Die Zeit der Nazidiktatur brachte eine andere Art von Zensur: sie betraf die "antinationalsozialistische Literatur". Übrigens treffen wir bei den "gemeinschädlichen" Werken wieder die erwähnten Wildwest-Heftchen, denen die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in den Fünfzigern besonders hinterher war. Die sittlich entrüstende Literatur reichte vom Roman der Wiener Dirne Josefine Mutzenbacher (ca. 1905) über Georg Queris "Kraftbayrisch" (1912) zu Hermann Kestens "Casanova" (1952) und des Sexualforschers Volkmar Sigusch "Exzitation und Orgasmus bei der Frau" (1970). Aber auch der "Weckruf für Eheleute! Mittel und Methoden zur wirksamen Empfängnisverhütung" (1951 !) hatte die Zensoren auf den Plan gerufen.In einer Exkursion in weiter zurückliegende Jahrhunderte wird Einblick in die Bibliothek eines hohen bayerischen Finanzbeamten (1762 - 1819) der Montgelas-Zeit gegeben: "Franz von Krenners schlüpfrige und schmutzige Bücher".
Dort mag der sittliche Kleingeist genügend erotisches Material finden, dem er auch heute keine Existenzberechtigung zubilligen wird.Die "Antinationalsozialistische Literatur" 1933 bis 1945 enthält u.a. Schriften zum Reichstagsbrand, zur Lage der Kirchen, zur Rassenpolitik ("Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933"). Fach Remota V "Nur für den Dienstgebrauch", etwa 1955 entstanden, beinhaltet neben Publikationen für den Dienstgebrauch auch Schriften wie "Texte: der RAF", die 1977 in Malmö erschienen sind und 1978 in bundesdeutschen Buchläden beschlagnahmt wurden. Was bei den Bücherverbrennungen 1933 von der neuen 'Elite' vernichtet wurde, bildet Remota VI: "Bolschewistische, marxistische oder pazifistische Schriften". Dafür mögen Namen wie Annette Kolb, Irmgard Keun, Anna Seghers, Ernst Glaeser, Klaus Mann, Egon Erwin Kisch, George Grosz und und und stehen. Das deutsche Geistesleben wurde von Leuten bekämpft, die auch nach 1945 nicht alle verschwunden waren, nur frisch maskiert erneut tätig wurden.Gleichwohl sollte nicht verkannt werden, dass die heute noch oder wieder indizierten Bücher wie "Der Holocaust-Schwindel" oder "Kriegshetze gegen Deutschland" das Missfallen an der Zensur schon problematisieren. Eine gebildete, humane und tolerante Gesellschaft würde eigentlich keine benötigen, aber... Doch wer gibt dann die Kriterien vor?Medien-Trompe-l'OEilDer im Oktober in Italien angelaufene neue Film von Roberto Benigni, "Pinocchio", der als teuerster italienischer Film aller Zeiten gilt und das ganze Land in Begeisterung versetzte, hat vor allem an der Ausstattung nicht gespart. Kutschen, Möbel, Spielsachen wurden nicht als Kulissengegenstände erstellt, sondern mussten dem Wirklichkeitsanspruch Stand halten.
Die Filmgeschichte kennt mehrere solcher Fälle, in denen Utensilien oder das Ambiente trotz nur kurzen Auftauchens im Bild wie zum alltäglichen Gebrauch hergestellt oder gestaltet wurden. Der Täuschungsmöglichkeit des Filmbildes wurde nicht entsprochen, so als ob die wirkliche Wirklichkeit abgebildet werden sollte. Regisseure und Schauspieler scheinen dabei aus den 'harten Fakten' die Sicherheit für ihre Gestaltung gewinnen zu wollen, um den Zusehern bildlich zurufen zu können "Alles echt!".Aber es gibt auch die theoretisch reflektierenden Künstler, die gerade mit dem Gegenteil überzeugen möchten, die Alltägliches mit künstlichen Mitteln konstruieren und mittels der Bilder, die sie davon erstellen, uns davon überzeugen wollen, wie Bilder die Wirklichkeit real werden lassen können, wenn sie die Täuschung beabsichtigen. Der Österreicher Lois Renner versteht es, so den Betrachter in die Irre zu führen, wenn er mit kleinsten Modellen chaotisch ausstaffierte Räume in großformatigen Fotografien präsentiert, die sich erst durch bewusst gesetzte Details als Modellaufnahmen enttarnen. Die abfotografierte Puppenstubenwirklichkeit und das große Bildformat entsprechen Vexierbildern, bei denen eine Figur in eine andere umkippt, die ein ständiges Hin und Her beim Betrachten erzeugen können. Man erkennt die Winzigkeit der Gegenstände im Detail und hat wieder einen großen Raum vor sich, wenn das Bild als Ganzes rezipiert wird.
Der Müncher Thomas Demand, dessen Bilder und Filme noch bis 19. Januar im Münchner Lenbachhaus zu betrachten sind, konstruiert ebenso augentäuschende Bilder, die aber noch mit inhaltlichen Assoziationen der Betrachter gefüllt werden können oder sollen. Der Bildhauer Demand baut Räume und Gegenstände nahezu in realer Größe nach und markiert damit meist Ereignisse, die als reale Bilder in die Köpfe der Medienkonsumenten eingegangen sind. Was aber fehlt, sind die Personen, die diesen Räumen ihre kollektive Bedeutung verschafft haben. Dadurch müssen diese Bilder aber nicht mit medial geprägten Bedeutungen gefüllt werden. Sie können auch als Realitätsausschnitte abstrakt bleiben, als reines Trompe l'OEil verstanden bzw. erkannt werden. Die Abwesenheit von Personen irritiert zudem Kunstrezipienten durch den ästhetischen Minimalismus. Langsam mag sich dann die scheinbare Bedeutungslosigkeit der Abbildungen mit Assoziationen füllen, die aber individuell trotzdem verschieden sein werden, weil das gezeigte Ambiente als alltägliches figuriert, erst mit den unsichtbaren Protagonisten die konkrete Zuweisung erhalten würde.Der Blick in ein Badezimmer mit halb verdeckter wassergefüllter Wanne; die Pulte mit nummernlosen Telefonen und nicht angeschlossenen Kabeln, Lochkarten und Taschenlampen; Fahraufnahmen durch einen leeren Tunnel (mit zwei Einstellungen in einer Filmschleife) - die Werke heißen "Badezimmer" (1997), "Poll" (2001) und "Tunnel" (1999).
Die Bilder wurden von Thomas Demand den Vorgängen um den Tod Uwe Barschels, die umstrittene Wahl George W. Bushs bei der Lochkartenauszählung, den Tod von Lady Diana entnommen, mit Pappe im Atelier rekonstruiert, höchst artifiziell ausgeleuchtet und dann in Fotos und Filmen festgehalten. "Wir finden uns vor der Struktur eines Ereignisses wieder, aus dem alle Ereignishaftigkeit systematisch entfernt wurde, um uns an einen Ort zu entlassen, an dem Handlung und Chronologie zu fiktiven Größen werden, die allein unserem eigenen Vorstellungsvermögen entspringen." (Neville Wakefield im Katalog).Bilder dienen Demand eben auch als Aufforderung zu Assoziationen - das Kunstwerk vollendet sich immer erst mit den Gedanken des Betrachters, bleibt ansonsten so wichtig oder unwichtig wie ein x-beliebiger Detailausriss. Dabei darf an eine Ausstellung der "Stern"-Anzeigenabteilung 1987 erinnert werden, die 38 schwarze Tafeln mit Texten zu bekannten Bildern präsentierte, wie z.B. "Mitglieder der Kommune I nackt von hinten", was aber den Wissenden und Informierten sofort die entsprechende Fotografie im Gedächtnis abrufen ließ. Wer Demands Verlangen folgt, muss nicht dessen ursächliche Gedanken teilen, die Auflösung wird nicht gegeben. Die Bilder werden nur zu Metaphern einer letztlich doch nicht objektiv bestehenden Realität des Lebens.Der Giftschrank. Remota: Die weggesperrten Bücher der Bayerischen Staatsbibliothek. Ausstellung bis 17. Dezember 2002. Der vorzügliche Katalog, hrsg. von Stephan Kellner (232 S. mit über 300 Abb.), mit vielen Beiträgen kostet 14,80 EuroThomas Demand. Ausstellung im Lenbachhaus, München bis 19. Januar 2003. Katalog bei Schirmer/ Mosel, München 2002, 173 S. + Bildanhang, 25,00 Euro
- Erwin Schaar: Exhibierte Trauer -
Erwin Schaar: Exhibierte Trauer -
Nanni Moretti ist ein Regisseur, dessen Filme auch unmittelbar von ihm leben. Ein Autorenfilmer, der seine Person in die Handlung integriert, die also auch von seinen Gefühlen, von seinen Beobachtungen lebt. Als engagierter Linker hat er sich in seinen beiden Filmen "Caro diario" (1993) und "Aprile" (1998) mit seiner Heimatstadt Rom dezidiert politisch und sozial, aber auch sehr humorvoll auseinandergesetzt. Dabei nie auf seine ganz persönlichen Erfahrungen verzichtet. Morettis Filme drehen sich auch immer um Moretti. Sie sind visuelle Versuche, der eigenen Biografie nachzuforschen. Seine zudem vorhandene pädagogische Ader versucht er mit seinem Kino in Trastevere zu beweisen, in dem er die Filme zeigt und zeigen will, die er einer Vermittlung für wert befindet."La stanze del figlio" transportiert eine Idee von ihm, die er den Zuschauer zum Reflektieren anbieten möchte: "Es drängte mich dazu, vom Schmerz zu erzählen, den man bei Tod eines geliebten Menschen empfindet, die Verhaltensweisen auszuloten, mit denen die Angehörigen darauf reagieren.
Es war mir ein großes Anliegen, diesen Stoff zu inszenieren. Nie zuvor habe ich mich so intensiv mit den Gefühlen, die ein Film auslöst, identifiziert wie diesmal."Aus Glück wird SchmerzEine Stadt mit einem intimen Charakter, in der Einzelne noch wahrgenommen werden können; die Familie des Psychotherapeuten Giovanni mit Tochter und Sohn, beide fast erwachsen; die alltägliche Arbeit mit den Patienten, deren Nöte Giovanni zumindest anzuhören versucht; die Liebe Giovannis zu seiner Frau Paola; die sportlichen Betätigungen - Giovanni und sein Sohn Andrea beim Joggen, Andrea beim Tennisspiel, Tochter Irene beim Basketball; Paola als Bindeglied der Familie. Ein gemeinsamer Sonntag ist vorgesehen, aber Giovanni erfüllt den Wunsch eines leidenden Patienten, ihn unbedingt zu besuchen, und Andrea geht daher zum Tauchen. Das hätte alles Episode bleiben können. Doch Andrea verunglückt tödlich und das so homogene Zusammensein von Menschen wird beendet. Jeder sucht für sich den Verlust zu bewältigen. Giovanni, Paola, Irene haben die Koordinaten ihrer liebenden Geborgenheit verloren. Giovanni hat nun Schwierigkeiten, dem Patienten, der ihn gerufen hat, helfend gegenüberzutreten; hat nicht mehr die Konzentration, sich den alltäglichen Nöten anderer zu widmen und gibt vorerst seine Tätigkeit auf.
Noch einmal wird das Bild einer sich verstehenden und einträchtigen Familie angetönt, als die Urlaubsfreundin Andreas auftaucht - eine Erinnerung an die Zeit, als alle noch in der Einheit lebten. Vielleicht wird es wieder eine Art geregelten Zusammenlebens geben - es wird aber immer mit der Erinnerung an den Verlust verbunden sein.Ein Abschied für immerMorettis gefühlvolle Bilder und die Geborgenheit vermittelnder Schauspieler zeichnen eine in sich ruhende Familie, in der die Figur Andreas aber seltsam blass bleibt, nicht als starke Persönlichkeit gezeichnet wird. Es gibt keine Sentimentalitäten, die Räume der unaufdringlich dezent möblierten Wohnung vermitteln Wärme, sind aber in ihrer Zusammengehörigkeit schwer in den Filmbildern auszumachen. Eine dezente routinierte Hintergrundmusik von Nicola Piovani lässt Vertrauen fassen. Aber schon die Episoden mit den Patienten, die auf der Couch ihre psychischen Konflikte erzählen oder Giovanni gegenübersitzen und von zerstörerischen Wünschen berichten, verweisen auf eine nicht haltbare Präsenz des Glücklichseins.Dass geliebte Menschen verschwinden werden und diese Trennung endgültig sein wird, versucht der Regisseur Moretti mit den bildfüllenden Tätigkeiten des Verschweißens und Verschraubens des Sarges dann fast zu eindringlich zu beschwören.
Die wie handwerkliche Unterweisungen gefilmten Handgriffe werden im Zusammenhang mit der Geschichte zur Absage an jegliche religiöse Tröstung oder Hoffnung, die ein Priester mit platten Symbolismen zu vermitteln versucht.Das Zimmer meines SohnesEs mag dem Titelgeber der deutschen (untertitelten) Fassung sicher nicht von ungefähr eingefallen sein, das Posessivpronomen "mein" zu verwenden, das im Original nicht vorkommt. Morettis Präsenz als Schauspieler hat etwas Egomanisches an sich, so dass seine Figur ständig im Vordergrund des Geschehens steht, was die anderen Hauptfiguren einengt. Dadurch mag sich auch auf die Dauer des Films die Handlung zu sehr auf das Gefühlsleben Giovannis verlagern, was dem Film eine eher männliche Sichtweise gibt. Die wenig prägnannte Figur Andreas, dem zudem der Vater wenig Siegeswillen (beim Tennisspiel) unterstellt und der durch einen kleinen Diebstahl einen moralischen Flecken bekommt, lässt Moretti selbst zum Star des Films werden, ähnlich wie in Woody Allens Filmen auch dieser bei seinem Auftreten die Story prägnant in den Griff nimmt. Gelingt Allen durch sein komödiantisch geniales Talent eine Abstraktion seines Erzählens, d.h. der Zuseher wird zum Genuss von Allens Darstellung aufgefordert, erleben wir bei Moretti ganz die Einbindung auf seine außerfilmische Person.
Die Geschichte wird zum Träger der Emotionen der Starfigur Moretti, auf die er uns fixieren möchte. So als ob er diese Selbstverliebtheit durchaus selbst erkannt hätte, äußert er: "Eine weitere Neuerung besteht darin, dass die Person, zu denen Giovanni Beziehungen unterhält, diesmal nicht bloße Randfiguren sind, die um den Hauptcharakter kreisen. Meine Frau Paola, mein Sohn und meine Tochter sind hier absolut eigenständige Charaktere.""Das Zimmer meines Sohnes" wurde als "Bester Film" bei den Filfestspielen in Cannes 2001 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.Das Zimmer meines Sohnes(La stanza del figlio)Regie und Idee: Nanni MorettiBuch: Linda Ferri, Nanni Moretti, Heidrun SchleefKamera: Giuseppe LanciMusik: Nicola PiovaniDarsteller: Nanni Moretti, Laura Montes, Jasmin Trinca, Giuseppe SanfeliceProduktion: Italien (Sacher Film, Bac Film, Studio Canal) 2001Länge: 99 MinutenVerleih: Prokino Filmverleih
- Erwin Schaar: Filme vom internationalen Filmfestival in München
Erwin Schaar: Filme vom internationalen Filmfestival in München
Die verflogenen IllusionenDer kanadische Geschichtsprofessor und ehemalige Sozialist Rémy liegt trotz seiner kregeligen Aufwallungen auf dem Sterbebett, was Freunde, Geliebte, Ex-Frau und Kinder in seine Nähe treibt. Sein Sohn Sébastien eilt aus London herbei, die Tochter meldet sich über Computerbilder von einem Segeltörn auf den Weltmeeren - raum- und zeitlos wie von einem Astronautenflug. Ist sie die Repräsentantin für den Aufbruch in die neue Welt?Sébastien, widerwillig angereist, scheffelt im Aktiengeschäft Geld. Er kann es nicht goutieren, dass sein Vater wegen verquerer Maßnahmen einer sogenannten Gesundheitsreform, die eher vom Zusammenbruch des Systems künden, mit vielen anderen Patienten einen Raum teilen muss. Chuzpe und Geld bringen dem Vater einen feudalen Raum in einem bereits geschlossenen Trakt ein. Und dort kann das Defilee der Freunde beginnen, das meist mit großem Gelächter über die Stars und Idole ihrer Jugendzeit – Lenin, Stalin, Karl Marx – endet. Diesen Idolen haben sie zwar ihre ertragreichen und bequemen Positionen zu verdanken, mit ihrem Gedankengut haben sie Karriere gemacht, doch die Ideen von damals sind die Jugendsünden von heute.Der Kanadier Denys Arcand ("Der Untergang des amerikanischen Imperiums", 1986) versammelt in Les invasions barbares die intellektuelle Schickeria zu einem großen Sterbefest, das sie ebenso ungerührt zu feiern scheinen wie einst ihre wohlfeilen Erlösungsvorstellungen. Das von dem großkapitalistischen Sohn illegal beschaffte Heroin ermöglicht seinem Vater wenigstens ein weitgehend schmerzfreies Sterben.
Zur gleichen Zeit führt uns der sozialkritische englische Regisseur Stephen Frears mit Dirty Pretty Things in ein Londoner Milieu, in dem legale und illegale Zuwanderer ihr Leben fristen. Ein Gewerbe steht im Mittelpunkt, das zu den medizinisch spektakulären und zugleich zu den kriminellen Auswüchsen zählt. Okwe, illegal aus Nigeria eingereist, jobbt als Nachtportier und als Taxifahrer, ist eigentlich Arzt und muss entdecken, dass in seinem feinen Hotel den unerlaubt im Land Existierenden aus der "Dritten Welt" für einen gefälschten Pass als Gegenleistung eine Niere entfernt wird. Das türkische Zimmermädchen Senay, mit dem Okwe ohne erotische Bindung eine Wohnung teilt, möchte auf diese Weise ebenfalls an das Papier kommen, um in die USA auswandern zu können. Um diese zwei Schicksale gruppiert Frears eine detailreiche Handlung, die fast an ihrer Action-Dichte zu ersticken droht. Da mag der Zwiespalt eines für das Fernsehen arbeitenden Regisseurs sichtbar werden, der auf verbrecherische Eigenheiten des Kapitalismus aufmerksam machen möchte, dazu aber übermächtiger Handlungen bedarf, um das Publikum bei Laune zu halten. Doch die schauspielerische Besetzung muss begeistert gelobt werden, weil der Schüler von Karel Reisz und Lindsay Anderson Gespür für die alltägliche Ausdruckskraft von Menschen besitzt und mit Chiwetel Ejiofor und Audrey Tautou Könner ausgewählt hat.AbschiedsprogrammAuch wenn der Hinweis von minimalem öffentlichen Interesse ist beim Überschreiten von Münchens Stadtgrenzen: dieses 21. Filmfest war das letzte, das Festivalleiter Eberhard Hauff seit der Gründung verantwortet hat. Viele Jahre war er der Kritik ausgesetzt ob der ungezügelten Anzahl von Filmen und Reihen, die kaum eine Leitlinie für das nicht fachlich gebundene Publikum bildeten. Sein Nachfolger Andreas Ströhl, der vom Goethe-Institut kommt, wird sich bemühen müssen, eine etwas stringentere Auswahl zu finden, um der Beliebigkeit zu entgehen.
Das heißt nicht, dass Hauff Indiskutables ins Programm gerückt hat, aber sein Festivalmotto 2003 "Träumen mit offenen Augen" streifte doch zu sehr die Unverbindlichkeit. Undiskutiert müssen dabei die Fragen bleiben, welche merkantilen Interessen im Gefüge eines Festivals bedient werden müssen, welchen Einfluss Sponsoren nehmen.Mit dem Eröffnungsfilm Dom Durakov (Das Irrenhaus) des russischen Regisseurs Andrei Konchalovsky gelang Hauff dann zumindest die Irritation der Zuschauer. Bilder aus einer psychiatrischen Klinik an der Grenze Russlands zu Tschetschenien zeigen Menschen, die die Grenze zwischen Normalität und Irrealität überschritten haben. Ihr aller täglich sehnsüchtig erwarteter Fixpunkt ist der Nachtexpress, der eine von ihrer Anstalt aus einsehbare Brücke quert. Die beleuchteten Waggons nähern sich und verschwinden nach kurzer Zeit im Dunkeln. Eine die Geschichte integrierende Figur spielt Julia Vysotsky als Janna, die sich mit dem Pop-Sänger Bryan Adams verlobt wähnt. Sie verbindet mit ihren Exaltationen und Beziehungen Handlungen zu einer Geschichte, in der die kriegerischen Auseinandersetzungen immer bestimmender werden, einmal wenn tschetschenische Rebellen und dann russische Soldaten in die Enklave einbrechen, deren Bewohner mit ihren Sehnsüchten, Wünschen und Konflikten symbolhaft für die Gesellschaft stehen können. Die Kriegsrealität erscheint als die zerstörerische Gewalt, der eine Gesellschaft dumpf ausgeliefert ist. Die in gedämpft grünlichen Bildern inszenierte Handlung wechselt nur manchmal zur vollen Farbe, wenn Sehnsüchte nach sozialer Geborgenheit durchscheinen. Konchalovskys Regiearbeit ist prägnant in den Bildfindungen und deren Abfolge und im Einsatz der Schauspieler, die mit einer schon fast erschreckenden Bandbreite ihres Könnens brillieren. Dahinter stecken handwerkliches Können, Sensitivität für die Auswahl der Darsteller und ihre Führung, Musikalität für das Visuelle und der Wille zur sozialen Kritik. Erstaunlich, dass trotz der hohen Emotionalität des Geschehens keinerlei oberflächliche Tränendrüseneffekte stimuliert werden.
Die Inszenierung behält ihre analytische Geschlossenheit. Eigentlich ein Film aus dem 'alten' Europa, der auch nicht nach dem anders gearteten Glanz Hollywoods schielt.Deutsche EmpfindungenFilme von Regisseuren, die in Deutschland am Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit stehen, können im Vergleich mit solchen gereiften Produktionen in den meisten Fällen höchstens ihre Lauterkeit offenbaren. Die Bilder bleiben platt, weisen nicht über sich hinaus, wie man so schön sagt, werden nicht zu Zeichen einer Idee.Da ist zum Beispiel Susanne Schneider, die auch als Dozentin für Drehbuch an Filmakademien arbeitet, die ihre Geschichte von einem Jungen, der von drei Mitschülerinnen aus Eigennutz der Vergewaltigung beschuldigt wird, in einem boulevardjournalistischen Informationsstil bebildert (In einer Nacht wie dieser). Schauspieler, Landschaften und Requisiten werden für die Erzählung vor die Kamera gereiht. Dem Zuschauer wird kein Raum für Phantasie gegeben. Ein Feeling für die Personen existiert nicht, weil die Story sonst nicht in einer Und-dann-Abfolge präsentiert werden könnte. Das akademische Drehbuch wird nicht zur Phantasie des Visuellen. Außerdem ist die geringe darstellerische Bandbreite der Schauspieler zu spüren, deren Können für ein TV-Movie ausreichen mag, die aber der Regisseurin keinerlei Mitarbeit an der Entwicklung der Geschichte anbieten können.Von einem Entgegenkommen der Darsteller profitiert dagegen ein entsprechend selbstbewusster Regisseur wie Hans Steinbichler, dessen Film Hierankl von einer jungen Frau, Lene, berichtet, die nach vielen Jahren zu ihren Eltern auf das gutbürgerliche idyllisch gelegene Anwesen zurückkehrt.
Der geliebte Vater feiert seinen 60. Geburtstag, mit der Mutter besteht immer noch kein Einverständnis. Der überraschend auftauchende Jugendfreund der beiden zieht mit seiner Souveränität Lene in seinen Bann und sie beginnt mit ihm ein intimes Verhältnis, bis sie auf der Feier erfahren muss, dass er ihr Vater ist. Diese Geschichte über irrationale Beziehungen gewinnt durch die Kraft und das Selbstverständnis des Spiels von Barbara Sukowa, Josef Bierbichler, Peter Simonischek und vor allem durch die hingebungsvolle Darstellung von Johanna Wokalek (Lene) überzeugende dramatische Dimensionen, die Steinbichler in Kinobilder umzusetzen weiß. Ein Drama, das ganz selten pathetisch wird und zudem Humor nicht ausspart: Förderpreise Deutscher Film für Steinbichler und Wokalek.Es kann nicht an sogenannten relevanten Themen liegen, ob ein Kunstwerk für Schicksale sensibilisiert und einnimmt. Diese müssen mit je adäquaten Mitteln auf der Bühne dargestellt, in Literatur gefasst oder in Filmbildern inszeniert werden, um zu bewegen. Sonst könnten sie auch anekdotenhaft in wenigen Worten berichtet werden. Die analytische Dimension muss sich über die Kraft der künstlerischen Inspiration ergeben.Wir sind wieder werDiese Inspiration scheint bei zwei neuen Kinofilmen von allzu aufdringlichem Mitteilungswillen unterlaufen worden zu sein. Der eigentlich viel gelobte Lichter von Hans-Christian Schmid berichtet von jungen Ukrainern, die über die Oder von Polen nach Deutschland gelangen wollen. Episodenhaft aneinander gereiht, werden deren Bemühungen und die Probleme der Menschen in diesem Grenzgebiet zu einer emotional und moralisch niederschmetternden Konstellation.
Die Redundanz der Gefühle macht den Zuseher platt, die Darstellung schlägt in larmoyantes Klagen um. Schmid spielt mit Schicksalen ein Gänseliesl-Spiel, die Menschen interessieren nur dramaturgisch. Er möchte mehr mit seiner inzwischen erreichten handwerklichen Professionalität überzeugen.Heikel wird die Erzählung deutscher Geschichte bei Sönke Wortmann, der in Das Wunder von Bern den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 durch die Bundesrepublik mit dem Schicksal einer Familie im Ruhrpott verbindet, die von der späten Heimkehr des Vaters aus russischer Gefangenschaft geprägt wird. Die fußballerischen Ehren, die heute Legende sind und damals für die junge Bundesrepublik auch den Gewinn von Selbstbewusstsein bedeuteten und die Wiedereingliederung der Heimkehrer-Väter in das für sie ungewohnte gesellschaftliche Milieu werden mit scheinbar realistischen Bildern oberflächlich und ohne Sinn für das Zeitgefühl erzählt. Eine pompöse Musik und der schauspielerische Gestus der 50er-Jahre-Filme sollen als Zeitgeist überzeugen. Dabei war die Pappwelt von Opas Kino eben schon damals der Versuch, Wirklichkeit nicht wahrzunehmen.
Erwin Schaar
Die Filme
Les invasions barbares
Regie/ Buch: Denys Arcand - Kamera: Guy Dufaux - Darsteller: Rémy Girard, Stéphane Rousseau, Marie-Josèe Croze - Kanada 2003 - 99 Minuten - Verleih: ProkinoDirty Pretty Things (Kleine schmutzige Tricks)
Regie: Stephen Frears - Buch: Steven Knight - Kamera: Chris Menges - Darsteller: Chiwetel Ejiofor, Audrey Tautou - Großbritannien 2002 - 97 Minuten - Verleih: Buena Vista InternationalDom Durakov
Regie/ Buch: Andrei Konchalovsky - Kamera: Sergei Kozlov - Darsteller: Julia Vysotsky, Bryan Adams - Russland/ Frankreich 2002 - 104 MinutenIn einer Nacht wie dieser
Regie/ Buch: Susanne Schneider - Kamera: Andreas Doub - Darsteller: Katrin Bühring, Martin Kiefer - Deutschland 2003 - 84 MinutenHierankl
Regie/ Buch: Hans Steinbichler - Kamera: Bella Halben - Darsteller: Barbara Sukowa, Josef Bierbichler, Johanna Wokalek, Peter Simonischek - Deutschland 2003 - 93 Minuten - Verleih: Movienet FilmLichter
Regie: Hans-Christian Schmid - Buch: H.-Ch. Schmid, Michael Gutmann - Kamera: Bogumil Godfrejow - Deutschland 2002 - 105 Minuten- Verleih: ProkinoDas Wunder von Bern
Regie: Sönke Wortmann - Buch: S. Wortmann, Rochus Hahn - Kamera: Tom Fährmann - Darsteller: Louis Klamroth, Peter Lohmeyer - Deutschland 2003 - 118 Minuten - Verleih: SenatorBeitrag aus Heft »2003/04: Medienpraxis - Konzepte und Perspektiven«
Autor: Erwin Schaar
Beitrag als PDF - Erwin Schaar: Im Reich der Schatten
Erwin Schaar: Im Reich der Schatten
Der Kenner der Filmgeschichte wird sich vor allem an Lotte Reinigers „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1923) erinnern, wenn er nach einem Silhouettenfilm gefragt wird. Die Schattenfiguren mussten dabei die Handlung im Profil vorstellen, daher konnte sich das Geschehen nicht mit psychologischer Feinheit entwickeln, sondern die Umrisslinien der Figuren bestimmten den Lauf der Ereignisse.Nur ein scheinbarer Widerspruch dazu ist die Physiognomielehre Caspar Lavaters (1741 - 1801), der in seinen Gesichtssilhouetten das wahrhaftigste Abbild des Menschen, also geradezu die offen gelegte Psyche sah; er stilisierte den Schattenriss zum „Gotteswort“! Aber Lavaters Gesichter bewegten sich nicht und so konnte er in deren Begrenzungslinien das seiner Ansicht nach Objektive des Geistes und des Charakters zum Ausdruck bringen.
Der große Spötter Lichtenberg hat als Herausforderung an Lavater einen „Beytrag zu den Physiognomischen Fragmenten“, sein „Fragment von Schwänzen“ dagegengesetzt!Mit solchen Wahrnehmungsfragen kann man sich im Kunstbau des Münchner Lenbachhauses auseinandersetzen, in dem noch bis Anfang Mai eine (er)kenntnisreiche Ausstellung zu durchwandern ist, der diese Aufforderung zum Nachdenken über unser visuelles Kommunikationsvermögen beim Lesen des Ausstellungstitels gar nicht zugetraut wird. Ist doch die Herstellung von Schattenbildern oder Scherenschnitten eher mit dem kindlichen Spiel gedanklich verbunden. Was aber wiederum kein Widerspruch zu sein braucht, weil doch Kinder die Wahrnehmung Erprobende und Lernende sind.Die vorzüglich präsentierte Ausstellung in dem mächtigen Raum des Kunstbaus - das ist Museumsdidaktik ohne dass sie als solche dem Betrachter bewusst wird - geleitet uns von Lavaters Fragmenten über Goethes lebensgroße Schattenrisse hin zu den aktuellen künstlerischen Umsetzungen des Verfahrens bei Felix Droese oder Mario Merz, zum Beispiel. Fotogramme von Floris Neusüss zeigen fotografische Verfahren, die auch Picasso angewandt hat (auch in der Ausstellung), Cutouts von den dem Ornamentalen ergebenen Künstlern und - sehr überzeugend als Wahrnehmungsexperiment - die großflächigen Figuren-Schnitte einer Kara Walker, die wegen ihrer charakteristischen Silhouettenhaftigkeit auf den ersten Blick wie Kinderbuchillustrationen wirken, bis man die knallharten Inhalte der schwarzen Gestalten erkennt.
Die Darstellungen in der Schwebe, zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, werden durch ihre „schwarze, undifferenzierte Binnenform zur Projektionsfläche für den Betrachter, während ihre äußere Grenzlinie alleiniger Informationsträger bleibt“ meint das Presseblatt zur Ausstellung, deren genau zu betrachtende Vielfalt auch eine Herausforderung an das Zeitbudget des Betrachters stellt. Ein schöner und erklärungstüchtiger Katalog bringt Abbildungen vieler Exponate und gibt über die historische Entwicklung und die Wirkung Aufklärung.Marion Ackermann: SchattenRisse. Silhouetten und Cutouts. Hatje-Cantz Verlag, Ostfildern 2001, 323 S., DM 68,- an der Museumskasse, sonst DM 98,-Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, Luisenstr. 33, 80333 München; Tel. 089/ 233320,
- Erwin Schaar: Ist der Rucksack eine Weltanschauung?
Erwin Schaar: Ist der Rucksack eine Weltanschauung?
Es war mir gerade noch gelungen, meine Brille vor dem Verschwinden unter den Sitzbänken der U-Bahn zu retten, als eine junge Mitfahrerin ihren Rucksack ohne Rücksicht auf Verluste schwungvoll in Position brachte und dabei meine Gesichtshälfte touchierte. Obwohl geübt im Beobachten und vorsichtig beim Auftauchen solcher Mitmenschen, die ihren Handlungsraum mit dem so beliebt gewordenen Verstauungsutensil erweitern, gelingt es doch nicht immer, dieser neuen Körperkompetenz geschickt zu entgehen. Ich frage mich immer wieder, was denn diese Menschen, die so viel Gefallen an diesem hässlichen Rückenaufbau finden, alles mit sich herumschleppen, dass es diese mächtigen Ausbuchtungen ergibt. Denn meist sind es ja keine Bergsteiger und Bergsteigerinnen oder alternaiven Reisenden, die diese mächtigen Inhalte mit sich tragen. In Parenthese: Ich wundere mich auch über die Erstklässler mit mächtigen und schweren Schultaschen auf dem Rücken. Brauchen die das alles im Unterricht oder haben die ihre Kinderzimmer griffbereit verpackt?Meine natürliche Abneigung gegen die Rückenmonster der meist jungen Leute rührt eigentlich noch von der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945!) her, als Scharen von Hamsterern und Hamsterinnen unterwegs waren, um die gegen gute Ware des Hausstands eingetauschten Lebensmittel vom Bauernhof in die Stadt zurückzubefördern.
Leider hing uns dieser Sack meist etwas schlapp am Rücken und zeigte eher die geringe Kompetenz zu handeln oder den Mangel an brauchbarer Tauschware. Aber diese Erinnerung kann für die jüngeren Generationen eher als obsolet gelten, weil für sie nicht existent.Vielleicht hängt diese körpererweiternde Rückenkonfiguration, die ja auch das bei gesellschaftlichen Anlässen tragbare Bonsai-Format kennt, mit dem Willen nach körperbewusster Ausdehnung zusammen, mit dem Verlangen nach Machtkompetenz, die meist rücksichtslos den Nachbarn, die Nachbarin in menschlichen Ansammlungen zur Seite drängen lässt. Eigentlich müssten die Träger dieser zum modischen Objekt aufgewerteten Behältnisse für den ländlichen oder den Wandergebrauch doch wissen, dass ihr neuer Körperteil nicht Luft sein kann. Oder stelle ich zum Beispiel einen Handkoffer, den ich mit mir schleppe, anderen Leuten in öffentlichen Verkehrsmitteln ungefragt auf die Füße? Und denke mir, sie werden sie schon wegziehen ihre Latschen, wenn ihnen das hinderlich ist!Früher hat man von einer Ellenbogengesellschaft gesprochen, wenn die Menschen glaubten, sich auf Kosten ihrer Mitbürger profilieren zu müssen. Heute könnte man von einer Rucksackgesellschaft im gleichen Zusammenhang sprechen.
Die sogenannte soziale Kompetenz bedürfte keiner großen ethischen Verlautbarungen und PR-gesteuerter Aktionen, wenn Alltägliches und natürlich fürs gesellschaftlich große Ganze Randständiges einfacher Rücksichtnahme unterliegen würde. Die politisch geforderten Ich-AGs haben schon ihr psychisches Pendant, die Ego-AGs. Die Beachtung des Nebenmanns, der Nebenfrau (die kann allerdings auch was anderes bedeuten) wird zum outgesourcten Verhalten.Es ist mal ganz interessant, die Geschichte der letzten Jahrzehnte mit dem ständig gestiegenen Wohlstand und der gewachsenen Gier nach Geld und Gütern mit in die Betrachtungen der auf den ersten Blick nebensächlichen Verhaltensweisen einzubeziehen. Da hat uns leider die emanzipative 68er-Bewegung mit dem nachfolgenden larmoyanten Gutmenschentum auch nicht weitergeholfen. Vor lauter Aufklärung haben wir die Entwicklung unserer eigenen Sozialität vergessen. Aber zumindest können wir in Zukunft, wenn die wirtschaftliche Situation sich weiter in die Miesen entwickelt, den Rucksack trotzdem weiterhin - diesmal mit Begründung - benützen: Wir können die Sorgen in ihn hineinpacken - denn jeder muss doch wohl sein Päckchen tragen. Und die je nach gesellschaftlichem Status angemessenen Modelle aus ordinärer Plane oder feinem Leder sind schon längst am Markt.
- Erwin Schaar: Literaturhinweise zu „Medienwelt und Religion“
Erwin Schaar: Literaturhinweise zu „Medienwelt und Religion“
Das Thema könnte mit ewig langen Listen von Buch- und Zeitschriftentiteln ergänzt werden, wenn auch zu bestimmten Aspekten die Ausbeute dann doch wieder gering bzw. dürftig ist, z.B. zum Bilderverbot. Hier werden ganz unsystematisch einige Titel aufgeführt, die neu erschienen sind und möglicherweise weitere interessante Fragestellungen eröffnen. (merz 2001-01, S. 42-43)
- Erwin Schaar: Magie oder Reflexion der Bilder?
Erwin Schaar: Magie oder Reflexion der Bilder?
Wer eine Präsentation von unzähligen Filmen im Jahr 2002 unter dem Motto "The Magic of Movies" verkauft, dem ist eher daran gelegen, einen Event zu gestalten, denn die Reflexion über Bilder, Inszenierung, Ästhetik des zeitgenössischen Films anzuregen. Obwohl, das muss gerechterweise gesagt werden, als randständiges Feigenblatt beim 20.Filmfest München auch ein Symposium " Tatort Bild" angeboten oder in der Sparte "VideoArt & Experimental Film" über die Magie der Bilder diskutiert wurde.Natürlich liegt es beim Zuseher, welche Auswahl er trifft, aber ein Publikumsfestival, als das sich das Münchner Filmfest bezeichnet, möchte kino doch mehr als zeitvertreibende Unterhaltung verstanden wissen denn als Auseinandersetzung mit einer inflationären Bilderwelt.
Clark Gable und Vivian Leigh auf dem Festivalplakat lassen eher die historische Sicht auf die Bilder ahnen als eine intelektuelle Begegnung mit einer Regisseurgeneration, der die Bilderflut Überlegungen abverlangt, welche Erzählform für welche Geschichte geeignet ist. Aber schliesslich muss ein Produkt wie es derSpielfilm ist vor allem verkauft werden und damit ist die Kommerziellste aller Künste auch wieder vor zu viel reflexiver Betrachtung geschützt, die eben dann doch wieder an die akademien verwiesen wird. Das Manko von Filmfestivals dürfte sein, dass diese Veranstaltungen mit ihrem Ende abgehakt sind, die Spuren sich im Sand verlaufen. Das Profil der dieses Jahr rund150 angebotene Titel wird zwar durch Reihen wie "World Cinema" oder "American Independents" gestaltet, aber trotzdem wird dies nicht über die örtlichen Grenzen hinausweisen.
Beitrag aus Heft »2002/04: Medienpädagogik heute - Eine Diskussionsrunde«
Autor: Erwin Schaar
Beitrag als PDF - Erwin Schaar: New York
Erwin Schaar: New York
Ahnungslos fuhr ich mit dem Boot der Linie 82 den Canale Grande hinunter zu den Giardini, um mir ein zweites Mal die Länderpavillons der Kunstbiennale in Venedig zu Gemüte zu führen, eventuell doch ohne zu langes Warten in das "Tote Haus" von Gregor Schneider im deutschen Pavillon eingelassen zu werden. Aufdringlich erschien mir das Grölen von italienischen Liedern durch japanische Touristen in einer Flotte von Gondeln, an denen das Passagierboot vorbeizog. Es war Donnerstagnachmittag, der 13. September. Vor Gregor Schneiders künstlerischer Geisterbahn versprach die Schlange der Anstehenden leider wieder mehr als eine Stunde Wartezeit, also begab ich mich lieber zur Kaffeepause in die Cafeteria. Ein etwas entfernt sitzender Besucher las die "Frankfurter Rundschau", deren Schlagzeile, die die Angst vor einem Krieg thematisierte, ich gerade noch entziffern konnte.Eingemietet in einer Wohnung in einem Palazzetto an einem Seitenkanal, ohne TV und ihne Radio, hatte ich seit Tagen keinen Blick in eine Zeitung oder auf einen Zeitungsstand geworfen, konnte also mit dieser Schlagzeile nichts anfangen. Fand sie unsinnig.
Trotzdem neugierig, kaufte ich mir die "Neue Zürcher", um zwei Tage nach dem unglaublichen Geschehen in New York und Washington darüber zu erfahren. Ohne Medienkonsum, ohne Verlangen danach stromerte ich zuvor informationslos und naiv durch die Gegend und auch das Verhalten der Touristenmassen ließ keine Rückschlüsse auf das grausige Geschehen zu. Ohne Medien war das Verbrechen kein Thema. Nicht einmal den Herostratenstatus konnten die Kamikazeattentäter dem Medienverweigerrer vermitteln. Medien sind die unvermeindlichen Helfer, um die Untat der Welt mitzuteilen, sie in das Gefühl der Angst und der Bedrohung einzubinden.Eigentlich war die Editorialsglosse für dieses Heft schon geschrieben und im Druck, aber deren Thema - die Reaktion der Medien auf die Wisconsin-Erkenntnisse von Hessens Ministerpräsident Koch - erschien mir angesichts der Ereignisse, die den Krieg beschworen, dann doch zu nebensächlich und unangemessen süffisant formuliert.
Einmal in das Informationsnetzwerk geraten, kann man sich dem Ereignis und den Bildern des mörderischen Geschehens nicht mehr entziehen. Die Globalisierung dieser Nachrichten hat die Emotionen erreicht und fatalerweise diese mehr stimuliert als die Meldungen des Grauens aus Erdteilen, deren Kultur und soziales Gefüge uns fremd erscheinen.
- Erwin Schaar: Recht als Entertainment
Erwin Schaar: Recht als Entertainment
Das Nachmittagsprogramm der (privaten) Fernsehanstalten ist einmal an die Älteren gerichtet, die aber als Zielgruppe für die werbliche Ansprache weniger interessant sind. Die Forscher der Konsumgüterindustrie haben nämlich herausgefunden, dass die alten Menschen ein beharrendes Markenbewusstsein haben und weniger ansprechbar sind für spontanes oder sich änderndes Kaufverhalten. Es mangelt ihnen nicht an Geld, aber das stecken sie entweder in den Sparstrumpf oder stellen es der Enkelgeneration zur Verfügung. Und diese Enkel sind die andere Zuschauerschicht, die zudem für den Verkauf von Waren eminent wichtig ist. Deren eigenes Taschengeld ist meist gar nicht so gering, zudem wird es durch die Gaben der Grosseltern nicht unerheblich aufgepolstert.Der Rückschluss für die Programmgestalter kann also nur sein, ansprechende Sendungen für unseren Nachwuchs zu kreieren. Waren bis vor kurzem die Talkshows mit der Verhandlung allerlei intimer Themen die Renner, so stagniert dieses Gewerbe in letzter Zeit auffallend. Ausser ein paar Proll-Jugendlichen sind kaum vermarktbare Talk-Gäste zu finden, die Themen werden rar oder sind abgenudelt. Die Spannung ist raus.
Langsam aber sicher verschwinden die Artikulationsversuche und werden von einem neuen Genre besetzt: den Gerichtshows.Um die fiktionalen Gerichtsverhandlungen nicht nur den Gockeln vom Show-Business zu überlassen, wurden hochprofessionelle Vertreter des justizialen Gewerbes gewonnen, die für die Realität meist viel zu gut waren und die sich jetzt verdientermassen an das Nachmittagsprogramm, unseren Kindern gewidmet, verdingt haben. Nachhilfe in sozialer Kunde kann auch für die Bildung Gutes leisten.Beim Betrachten der Justiz-Shows tauchen aber dann doch Zweifel auf, ob unserem rechtstaatlichen System mit diesen Vorführungen richterlicher Unabhängigkeit gedient wird. In 45 Minuten werden zwei bis drei Fälle mit Zeugenvernehmung, Anklage, Verteidigung, Richterspruch durchgezogen. Dabei handelt es sich weiss Gott um keine Minimaldelikte, da sind Vergewaltigung, Raub, Zuhälterei im Spiel, was allein schon auf das Schielen auf die Neugierde des Publikums hindeutet. Das Spektakel im Schnelldurchlauf, das von diesen echten Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern geliefert wird, kann den wenig Wissenden doch kaum vertrauensvoll auf das Bestreben der Wahrheitsfindung einstimmen.
Die Vorsitzende des Hamburgischen Richtervereins, Inga Schmidt-Syaßen, hat schon im März 2000 im Hmburger Abendblatt gewarnt: "Ich bin erschrocken, wie dort Verfahren im Zeitraffer zusammengeschnitten werden." Der unerfahrene Zuschauer werde über den ungeheuren Zeitaufwand für einen Richter durch Aktenstudium und Beweisaufnahme getäuscht. Und es darf hinzugefügt werden: die Gewichtung auf spektakuläre sexuelle Vergehen verbiegt den Blick auf die Gesellschaft. Die Talkshows am Nachmittag haben sich der gleichen Strategie bedient. (Im Übrigen haben diese trotz vieler Diskussionen bei den Landesmedienanstalten ihre Anzüglichkeit noch getoppt!)Das Auftreten eines Alexander Hold oder einer Barbara Salesch ( beide SAT 1) lässt zudem die Verteidiger nur als Randfiguren erscheinen, als ob sie in unserem Rechtsystem ein notwendiges Übel wären. Da wächst Vertrauen! Nicht ein starker Strafverteidiger vertritt den angeklagten Bürger, der Richter ist der alleinige Herr des Geschehens. Die vom Staatsdienst beurlaubten Roben-Stars erscheinen nahezu unfehlbar.
Die Show eskaliert in einer Überheblichkeit - Richter Schill wäre auch eine ganz gute Besetzung. Einzig Dr. Ruth Herz vom "Jugendgericht" (RTL) kann durch ihr zurückhaltendes Agieren wenigstens ein paar positive Punkte sammeln. Und jetzt sollen diese Shows noch vermehrt in den Programmen lanciert werden!Um auf unsere Heranwachsenden zurückzukommen, die das Zielpublikum des Nachmittags sind und denen soziales Leben nahegebracht werden soll: Mit Hans Wollschläger, der von einem "zerpoppten Geschichtsbewusstsein" der jungen Leute gesprochen hat, könnte hier die Förderung eines ebensolchen Rechtsbewusstseins konstatiert werden, wenn nicht gar eine Analphabetisierung in der rechtlichen Sichtweise.
Beitrag aus Heft »2002/04: Medienpädagogik heute - Eine Diskussionsrunde«
Autor: Erwin Schaar
Beitrag als PDF - Erwin Schaar: Unsicherheit bei den erzählerischen Mitteln
Erwin Schaar: Unsicherheit bei den erzählerischen Mitteln
Die angebotene Auswahl bei einem Filmfestival ist so subjektiv wie die bei anderen Veranstaltungen. Da mischen das Lokalpatriotische mit und Interessen, die auf persönlichen Beziehungen beruhen. Das muss und kann gar nicht geändert werden, nur vergessen sollte man es nicht bei der Beurteilung.Wie die deutsche Reihe beim Filmfest München zustande kam, das entzieht sich meiner Kenntnis, aber es darf festgestellt werden, dass die Auswahl zumindest interessant war. Einen ernsten Einspruch würde ich nur bei Clemens Kubys Dokumentation „Unterwegs zur nächsten Dimension“ wagen, die uns esoterische und andere medizinische Gaukler in der ganzen Welt als höchst seriöse Vertreter einer ‘anderen Dimension’ vermitteln will. Soll denn die Volksverdummung wieder damit beginnen, dass man jetzt die manipulativen Tricks anderer Religionsgemeinschaften als die Erlösung feiert?Keine Propaganda für diesen Film, der wohl klammheimlich in die Auswahl rutschte.Zu viel ModischesDie gesehenen Filme Revue passieren lassen, nach acht Tagen Eintauchen in die schnellen Bilder, bedarf einer erhöhten Konzentration, weil zu viele der ‘jungen’ Filme noch nicht ihren Stil gefunden haben, die heute vielfältigen technischen Möglichkeiten zu deren üppigen Gebrauch verführen, und eine aggressive Schwenk- und Schnitttechnik analog der Videoclips eine Bilderflut erzeugt, was auf ein souveränes Aneignen modischer Vorbilder schließen lässt, aber wenig mit eigenen Bildfindungen zu tun hat. Die gegenwärtig keineswegs minimalen Finanzmittel der Förderinstitutionen der verschiedenen Bundesländer verführen junge Regisseure gar oft zu einem kaum überlegt sparsamen disziplinierten Filmen, was auch den Geschichten, die erzählt werden wollen, eine längere Präsenz im Gedächtnis des Zusehers verschaffen würde.
Aber auch die Unsicherheit im Aufbau von Szenen und im Führen von Schauspielern wird durch die Spot-Ästhetik weg’inszeniert’. In einem SZ-Interview (3. Juli 2001) meinte der Regisseur Hans-Christian Schmid („Nach fünf im Urwald“, „Crazy“): „Ich denke nicht, dass durch mehr finanzielle Förderung die besseren Filme entstehen...Bei den deutschen Filmschulen habe ich das Gefühl, dass eine Unsicherheit vorherrscht, was den Einsatz erzählerischer Mittel betrifft“.Ein etwas reduziertes WeltbildDie Filmgeschichten beginnen zwar immer wieder ganz originell, verlieren aber meist durch die Überfrachtung des Erzählflusses mit Details, die die Prägnanz der Personenentwicklung hemmen. Am Ende ist man dann doch etwas ratlos über den Versuch: was war nun wohl die Botschaft des jungen Filmemachers? Da die filmischen Personen mangels Inszenierungskraft die Aufmerksamkeit an ihnen erlahmen lassen, versucht man als Zuschauer sich an die Geschichte zu halten, die die zwei Stunden Filmzeit dann zu strukturieren hat bzw. hätte.Das kann man bei dem langen Erstlingsspielfilm „Nichts bereuen“ von Benjamin Quabeck genauso feststellen wie bei Christian Züberts „Lammbock“, Buket Alakus’ „Anam“ wie Simon Verhoevens „100 Pro“, aber auch bei Ralf Huettners „Mondscheintarif“, obwohl Huettner ein schon wesentlich länger gedienter Regisseur ist. Geschichten über Discos, schöne Mädchen, Rauschstimulantien, dazu viele erheiternde Dialoge bzw. Sprüche der schnoddrigen Art mögen einen jugendlichen Insiderkreis bei Laune halten, menschlich berühren sie kaum. Haben uns doch schon die unendlichen TV-Comedies den Nerv getötet. Mir wird in diesem Zusammenhang auch die oft von Vertretern der Jugendfilmarbeit geäußerte Meinung verständlich, ihre von ihnen betreuten Produkte könnten sich durchaus mit denen der Profis messen: eben, weil diese sich genauso noch in der Phase der Selbstfindung befinden, die ja nicht unbedingt der großen Öffentlichkeit bedarf, um zu reifen.KreisverkehrWie gesagt, Stories sollen über sich hinausweisen, wenn sie nicht zu Anekdoten verkommen, in Selbstverliebtheit verkümmern wollen. Was für ein bestimmtes Entwicklungsalter seine Bedeutung hat, das Lernen der Bildsprache, der Versuch der jugendlichen Selbstfindung, muss in einem Werk, das auch ohne intime Kenntnis des Autors seinen Weg machen muss, anders beurteilt werden.Da erzählt also „100 Pro“ den Versuch zweier Jungen, Mädchen zu imponieren, in eine In-Disco eigelassen zu werden, um am Ende ihre Jungenfreundschaft wieder zum Lebensmittelpunkt zu machen; in „Lammbock“ versorgt der illegale Anbau von Cannabis zwei junge Männer mit dem dringend benötigten Lebensunterhalt und die Story mit oft aufdringlichen Witzen; in „Mondscheintarif“ will ein Mädchen einen Typ für sich interessieren und gewinnen; und auch in „Nichts bereuen“ geht es um Beziehungen - ein Junge zwischen zwei jungen Frauen, wobei die eine eher die Mütterlichkeit, die andere die eher Extrovertierte verkörpert. Auch wenn der entscheidungsgeplagte 19jährige Daniel mit einer begrenzten Profession als Pfleger im Zivildienst zu kämpfen hat, ist dieses soziale Moment eher ein Zugeständnis an die Geschichte und kaum mehr als ein Sozialschlenker.
Aus dieser erzählerischen Rolle fällt sicher „Anam“ der in Istanbul geborenen Buket Alakus, die das Leben einer türkischen Familie in Deutschland mit den persönlichen und gesellschaftlichen Widrigkeiten schildert. Aber wenn das ethnische Moment nicht wäre, hätte die Erzählung wenig Eigenes und könnte den populärtheaterhaften Duktus kaum verbergen. Verkleidung in Türkisch, ein Lob nur dann, wenn den Zuseher der Vorwurf ‘Türkische Familie in Deutschland’ schon befriedigt.Wiener Prägnanz und deutscher BrechtEinem Film wurde etwas zu wenig Aufmerksamkeit zuteil, der eindeutig der profundeste war: „Lovely Rita“ der 1972 geborenen Wienerin Jessica Hausner, die sowohl für das Buch und die Regie verantwortlich zeichnet. Mit ihrem Kameramann Martin Gschlacht schildert sie das das Leben und ein Weltbild suchende 15jährige Mädchen, dem die Enge des Elternhauses, wo die formale Reglementierung von Handlungen Lebensinhalt ist, zu keiner Entfaltung verhilft. So sucht Rita Verständnis und Zuneigung bei dafür ungeeigneten Menschen, die ihre Suche nicht verstehen können oder wollen. Das Ergebnis könnte katastrophaler nicht sein.Eine morbide Atmosphäre, eine genaue Beobachtung der Menschen, das prägnante Timing der Schilderung, eine excellente Führung der Schauspieler, besonders der beeindruckenden Barbara Osika als Rita: fast hat es den Anschein, als ob die künstlerischen Voraussetzungen im Nachbarland Österreich andere wären. Oder ist es bei Hausner das Fehlen der männlichen Selbstverliebtheit, die die Stringenz einer so reichen Erzählweise befördern? Der Wiener Arnold Schönberg hat gesagt, dass der Künstler den Notschrei des Menschen in seinem Produkt verarbeite, das dann als Widerhall, eben als Kunst nach außen dringe. Das Verständnis nicht verweigern möchte ich auch dem Film „Boots“ des alten Fassbinderschauspielers Ulli Lommel, der die Geschichte eines deutschen Dirigenten erzählt, der seine geschiedene Frau und seinen Sohn in Los Angeles besucht, wo die beiden mit dem neuen Ehemann und Vater, einem rassistischen Richter, leben. Der Sohn, Neonazi und Judenhasser, muss seine jüdische Abstammung erfahren, der rassistische Siefvater wird mit dem ‘schwarzen’ Blut eines Vorfahren konfrontiert. Gewiss, sehr konstruiert, aber in Brechtscher Manier abgehandelt gewinnt dieser Independent-Film doch auch durch die eindringliche Darstellung des heute 57jährigen Lommel. Er zeigt auf eine einfache Weise, wie begründungslos Klischees zu lebensfeindlichem Verhalten führen.Von den genannten Filmen sind im Verleih: „100 Pro“ bei Zephir Film, „Lammbock“ und „Mondscheintarif“ bei Senator. Sie werden in der nächsten Zeit in die Kinos kommen.
- Erwin Schaar: Visuelle Herausforderungen
Erwin Schaar: Visuelle Herausforderungen
„Das Kino, das mich zum Kino gebracht hat, existiert immer weniger“ hat Romuald Karmakar in einem Interview zu seinem neuen Film „Manila“ geäußert1. Und er fährt fort: „Es fällt mir schwer, in meinen Filmen Bilder zu integrieren, die keinen Zweck erfüllen, so wie Aufnahmen von schönen Landschaften...“Solche knappen Urteile lassen vielleicht darüber nachdenken, was denn Kino für einen Zweck hat, ob die Bilder nur eine Geschichte zu erzählen haben, die ausdauernde Filmgeschichten-Erzähler in enervierender Eindringlichkeit auch am Biertisch oder an der Bar widergeben können. Das zumindest wird diesen cineastischen Plagegeistern mit Lars von Triers neuem Film kaum gelingen. Sein Plot verweigert sich weitgehend der mündlichen Erzählung wie Karmakars „Manila“, weil beide Regisseure den Bildern das Eigene zutrauen, durch das die Geschichte erst zu einer wird. Wobei noch nichts über eine gelungene Inszenierung ausgesagt ist. Es mag eine mutige Entscheidung der Jury beim diesjährigen Filmfestival in Cannes gewesen sein, dem Trier-Film die Goldene Palme zuzusprechen. Immerhin hat man damit auch den Wert des Umstrittenen anerkannt.Und da von Trier sich mit Björk einen Star der jungen Musikszene ausgesucht hat, zudem mit seiner Bildästhetik der von Videoclips doch sehr nahe ist, könnte erwartet werden, dass „Dancer in the dark“ auch Jugendliche animiert, meinetwegen als inszenatorische Herausforderung.Doch ‘ne Story Also so ganz kann dann doch nicht darauf verzichtet werden, den Handlungsleitfaden in ein paar Worten wiederzugeben, sonst ist das filmisch Gestaltete nirgends festzumachen. Und Trier gefällt sich in üppigen Handlungsdetails - die eben durch seine Bilddramaturgie keine alltägliche Fixierung erfahren.Die tschechische Immigrantin Selva arbeitet bis zur Aufopferung in einer nordamerikanischen Blechstanzfabrik, um ihrem Sohn eine Operation zu ermöglichen, die ihm das Augenlicht erhalten soll. Beide leiden unter derselben Erbkrankheit. Und Selva hat schon verloren.
Mühsam sucht sie ihre nur noch geringe Sehfähigkeit bei der Arbeit und bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Singen in einer Liebhaberaufführung eines Musicals, zu kaschieren.Die wundervollen Nachbarn, er ist Polizist, sie aufstiegswillig, bringen sie um ihr Geld und ein brutaler Coup des Diebs bringt ihn um sein Leben. Wie Melodramen so spielen, Selma wird zur Schuldigen, zum Tod durch den Strang verurteilt und hingerichtet.Tanzen, Singen, Weinen„Die Stücke behandeln eine gegenwartsnahe, dem Alltag des Publikums entnommene Thematik in realistischer Darstellung“ schreibt der „Brockhaus“ u.a. zum Begriff „Musical“ und widerspricht damit nicht der Einordnung von „Dancer in the dark“ als solchem.Wie weggewischt ist der Kanon der Dogmen-Leute (siehe merz 1/99), die unter Führung von Trier und Vinterberg 1998 den absoluten Film oder zumindest die absoluten Regeln kreierten, die dem Medium die Wahrheit und nichts als die Wahrheit aufbürdeten. „Keine unnötige Action ist erlaubt...“ war eine der apodiktischen Aussagen. Trier hat dem in einer Art und Weise zuwidergehandelt - dass sich sein einmal in der späten Nachfolge Gottscheds entworfener Regelplan als PR-Gag entlarvt.Peter Körte hat ihn in der „Frankfurter Rundschau“ einen visuellen Bastler genannt. Das ist nicht gerade sehr viel, wenn die Auslotung experimenteller Vorstellungen zur Diskussion steht.Das vorzügliche, Anteilnahme fordernde Spiel von Björk braucht Zeit bis es in den Zuschaueraugen fixiert ist, weil Trier solch hastige Kamerabewegungen vorgibt, dass erst die Sehnerven den Widerstand überwinden müssen, eine solche Fülle von Bildern und noch dazu in dieser Bewegungsmanie aufzunehmen. Bewegung und Schnitt nehmen dem Geschehen dann auch das Süßlich-Emotionale des Melodrams, bzw. machen es durch das zusätzliche Hinübergleiten in die Gesangs- und Tanzeinlagen zu einer eher einer Bühnenkonstruktion vergleichbaren Handlung, die nicht das Wirklichkeitsmoment bewegter fotografierter Bilder besitzt.
Bis zum Schluss: Als ein den Zuseher und die Zuseherin kaum vorhersehbarer Schnitt die Endgültigkeit der Strafe schockierend vollzieht, nachdem vorher der Kampf der Heldin gegen den Galgen ein Meer der Tränen bei den von den Bildern Gebannten ausgelöst hat.Das ist dann der Punkt, der mir diese Inszenierung etwas obskur erscheinen lässt und ließ, auch wenn ich mir sagen muss, dass die Videoclip-Ästhetik heutiger Tage kein Tabu kennt und Sentiments als eye-food verarbeitet.Aber vielleicht kann das der Aufhänger sein, den Film zur Auseinandersetzung über Inszenierungskünste und -möglichkeiten zu nützen. Man kann trotz aller gegenteiliger Ansichten zu Trier über die großartige Besetzungsliste der Schauspieler schwärmen, die darstellerische Leistung und die exaltierte Singstimme Björks genießen. Die Tränen, glaube ich, gelten einer Art pornographischer Erzählfreude.
- Erwin Schaar: Die Stars sind keine Vorbilder
Erwin Schaar: Die Stars sind keine Vorbilder
War die Spiegel-Story "Das Ende der Gutmenschen" nun eine Analyse einer neuen Hollywood-Sicht der Dinge oder soll in die fast unentwirrbare Anzahl neuer Filme, die wöchentlich ins Kino kommen, nur ein roter Faden zur Strukturierung des Angebots gezogen werden? Mit der Schlagzeile "Amerikas düstere Helden: Die Stars entdecken die Lust an Mord und Totschlag" (Der Spiegel, 26.8.02) werden dem Leser Einsichten suggeriert, die er als Zuchauer nachvollziehen und damit der feuilletonistisch belegten Mundpropaganda für eine neue Kinomode zum Durchbruch verhelfen soll. Bekannte und beliebte Schauspieler verändern ihre darstellerische Physiognomie im Dienste des Bösen und da diese Art Paradigmenwechsel ein Geschäft wie Hollywood, das den Weltgeschmack vorgibt, betreibt, wird natürlich gleich ein Phänomen konstatiert, das zu einer Welle anwachsen könnte.Da aber die Faszination des Bösen zum täglichen Medienthema geworden ist, sicher nicht mit gleichbleibender Stringenz, dürfte eine solche Erweiterung des Ausdrucks nicht unbedingt ein Risiko für die Popularität bedeuten, wie das Magazin betont. Es könnte auch die Veränderung des Images der Stars anzeigen, die der kinokundige Zuseher nicht mehr ganz so naiv in seine Verehrung einbezieht. Außerdem darf an den Filmhistoriker Robert Warshow erinnert werden, der schon in den 50-er Jahren den Gangstermythos als das "große 'Nein', das quer über das offizielle Gesicht Amerikas gestempelt ist" definierte (zitiert nach U. Gregor, Geschichte des Films ab 1960. München 1978).
Diesen Herbst werden wir uns - soweit wir das Kino interessiert verfolgen - mit mehreren Filmen auseinandersetzen können, an denen die These vom Ende des nur das Gute verkörperten Stars zu überprüfen wäre. Zwei der aufwändig beworbenen Filme seien hier vorgestellt.Road to PerditionTom Hanks und Paul Newman sind in dieser "Straße zur Hölle" die Bad Guys, die unser fiktionales Weltbild erzittern lassen sollen. Das Städtchen Rock Island und die große Stadt Chicago in den 3o-er Jahren: Hanks ist Michael Sullivan, verheiratet, zwei Söhne in mittelständischem Ambiente, wie wir es nach 1945 in den Home and House-Journals bewundern konnten: das Materielle zeichnet Wohlbehagen und Friede mit der Umwelt. Sullivan arbeitet für John Rooney (Paul Newman) und muss wohl einer wichtigen Beschäftigung nachgehen, wenn er tadellos gekleidet das Heim verlässt. Aber sein ältester Sohn Michael jr. wird irritiert sehen, wie der Vater nach getaner Arbeit seine Taschen leert und dabei auch eine Pistole zu seinen Sachen legt. Das ist der Beginn der Geschichte, die böse und doch wieder gut enden wird. Der junge Michael, misstrauisch geworden, wohnt versteckt einer Exekution bei und erfährt dabei, dass sein Vater als Auftragskiller arbeitet.
Da das Kind entdeckt wird, ist nun auch die Familie Sullivans in Gefahr, obwohl doch der Boss an Michael jr. seinen Narren gefressen hat. Sullivan erkennt die Gefahr, trotzdem werden seine Frau und sein jüngster Sohn ermordet. Um Michael jr. zu retten, will ihn Sullivan zu einer Tante in dem Städtchen "Perdition" in Sicherheit bringen. Für das nötige Geld auf der Flucht sorgen eine Reihe von Banküberfällen, wobei Michel jr. am Steuer des Fluchtautos sitzt. Unterwegs können sie einem alten Farmerehepaar mit dem geraubten Geld aus dem armen Leben helfen.In "Perdition" wird Sullivan der Tod doch noch ereilen, weil der Killer Maguire sie aufspürt. Michael jr. kann mit dem Auto entkommen und zu der Farm fahren, wo die guten Leute wohnen, um dort sein junges Leben positiv auf die Zukunft einzustimmen.Die Geschichte wird in dunklen, bräunlich getönten Bildern erzählt, die die schon historische Gegebenheit betonen, aber auch einen einheitlichen emotionalen Grundton stimulieren, damit wiederum den Zuseher in filmhistorische Zeiten versetzen, als die Gangsterfilme, der "Film noir", noch in schwarzweißen Bildern gedreht wurden. "Road to Perdition" mutet in seinem Stil eben wie ein Werk an, das noch einmal rekapituliert, wie es gewesen ist und damit auch holzschnittartig seine Figuren zeichnet. Ein Tom Hanks, ein Paul Newman sind ob ihrer darstellerischen Qualitäten zu bewundern und agieren nicht als Identifikationsobjekte, denen die Zuneigung des Publikums gelten soll.Sam Mendes - vor zwei Jahren erhielt sein Film "American Beauty" fünf Oscars - kann mit des Knaben Rückkehr auf die Farm und zum einfachen Leben einen Schlusspunkt setzen, der wie eine Anekdote wirkt.
Die seitdem vergangene Zeit hat ja gezeigt, dass ein solches hoffnungsfrohes Kinogefühl immer ein Trugschluss war.InsomniaDa verhält es sich mit Christopher Nolans Film "Insomnia - Schlaflos" etwas anders. Dessen Wirkung ist auf das hier und heute berechnet und keine historische Künstlichkeit der Bilder ermüdet.Die beiden Star-Ermittler Will Dormer (Al Pacino) und Hap Eckhart (Martin Donovan) werden zur Klärung eines Mordfalls an einer jungen Frau von Los Angeles in ein abgelegenes Nest in Alaska abkommandiert. Eher eine Strafaktion, weil beide der Unkorrektheiten bezichtigt werden. In Nightmute aber ist man stolz auf die Anwesenheit einer Berühmtheit wie Dormer, der der örtlichen Polizei Glanz verleiht. Bei einer fehlgeschlagenen Aktion gegen den Mörder erschießt Dormer aus Versehen seine Kollegen. Seine ganze Aktion ist nun darauf gerichtet, diese fatale Fehlleistung zu vertuschen und dem bereits erkannten Mörder des Mädchens, dem Schriftsteller Walter Finch (Robin Williams), anzulasten . Mit Hilfe der sympathischen jungen Polizistin Ellie Burr (Hilary Swank) wird der zu Tode kommen, aber auch Dormer überlebt seinen Auftrag nicht.Der Film hat durch seine in der Jetztzeit spielenden Handlung einen ganz anderen Zugriff auf die Schauspieler, die viel mehr ihre Persönlichkeit in die Figuren integrieren müssen als die Darsteller historischer Personen. Ihre Verkörperung einer Rolle erweckt beim Zuschauer eher eine Einheit mit ihrer Individualität.
Also müsste sich Robin Williams wesentlich mehr Gedanken um sein Image mache als dies Tom Hanks oder Paul Newman zu tun hätten. Wer Williams als Disc-Jockey in "Good Morning, Vietnam" oder als Lehrer in "Der Club der toten Dichter" erinnert, er wird den mörderischen Schriftsteller Finch mit seinem teuflischen Grinsen gar nicht einnehmend finden. Aber wird ihm dieser Eindruck als Schauspieler Schaden bringen? Die Autoren der Spiegel-Story entlarven ihre Ausführungen dann doch eher als einen Versuch, eine Welle herbeizuschreiben, wenn sie ihren Beitrag mit der Feststellung enden: "Zurzeit sind die größten Stars ganz versessen darauf, das Böse zu verkörpern: Das Schlechte im Menschen, so scheinen sie zu glauben, bringt das Beste in den Schauspielern zum Vorschein". Also: alles wie gehabt. Der Brave und Gute wird auch im Film ganz schnell langweilig.Road to PerditionRegie: Sam Mendes - Buch: David Self - Kamera: Conrad L. Hall - Musik: Thomas Newman - Darsteller: Tom Hanks, Paul Newman, Jude Law, Jennifer Jason Leigh, Stanley Tucci, Daniel Craig, Tyler Hoechlin, Liam Aiken - Produktion: USA (Zanuck Company) 2002 - Länge: 119 Minuten - Verleih: 20th Century FoxInsomnia Regie: Christopher Nolan - Buch: Hillary Seitz - Kamera: Wally Pfister - Musik: David Julyan - Darsteller: Al Pacino, Robin Williams, Hilary Swank, Martin Donovan, Paul Dooley, Maura Tierney - Produktion: USA (Witt/ Thomas Section Eight) 2002 - Länge: 118 Minuten - Verleih: Warner Bros.
- Erwin Schaar: Die globalisierten Künste?
Erwin Schaar: Die globalisierten Künste?
"Die D 10 war ein dunstiges Elendstal vermeintlich kritischer, in Wahrheit meist nur wehleidiger Manifestationen. Ein einziges Video-Meer der Plagen, bildlose Bilderflut" - die Meinung des Kunstkritikers der "Frankfurter Rundschau", Peter Iden, zur Schau der Catherine David, die 1997 die künstlerischen Anstrengungen als Erklärungsmodelle für eine vielfältige Welt kompilierte, wird zu Okwui Enwezors Schaubühne der Weltkunst insgesamt kaum positiver ausgefallen sein. Zumindest waren seine Kommentare in einer TV-Dokumentation zu einzelnen Ausstellungsobjekten fast schon rüde herabwürdigend. Die Generation der kritischen Betrachter, die an die durchgearbeiteten statischen Bildwerke gewöhnt ist, deren Kunstverstand auch für die Auktionshäuser von Interesse ist, wurde auf der Documenta11 von dem Nigerianer Enwezor, der meist in New York agiert, kaum mehr bedient. Kunst ist für ihn und sein Team mit dem Nachdenken über die politische und soziale Welt verbunden. Und die bewegt sich ständig in einer Vielfalt und Unübersichtlichkeit, dass man von Information zu Information getrieben wird. Was sich in Enwezors Austellungskonzeption "The Short Century" in München (siehe merz 2/2001) ankündigte, hat er in den weitläufigen Ausstellungshallen in Kassel großflächig verwirklicht: die radikale Diversifikation, die ständig das Ungenügen aufkommen lässt, nicht mehr als eine knappe Impression in einem bestimmten Zeitraum erhaschen zu können. Die Schau der realen Attraktionen kennt nicht den beschaulichen Betrachter, weil der weiß, dass sein Zuwendung immer eine eingeschränkte ist. Wenn er bei einem Problem verharrt, wird er das übrige Spektrum aus dem Blickfeld verlieren. *Enwezor hat das Ereignis in Kassel mit vier so genannten Plattformen vorbereitet: Symposien in Neu-Dehli, Lagos, Berlin und Santa Lucia handelten über die unvollendete Demokratie, Rechtssysteme im Wandel und die Wahrheitsfindung, die Kreolisierung und die Urbanisierung am Beispiel große Städte in Afrika. Die Plattform 5 war die Visualisierung des Brainstorms in aller Welt: die Ausstellung in Kassel.
Das Manko - wenn man es so nennen will - des zeitgenössischen Künstlers ist das Ahnen oder Wissen um die Auflösung der festgefügten Wahrnehmung, den Einfluss der Sozial- und Biowissenschaften. Er möchte in dieser Welt, die die Probleme zuhauf jeden Tag ins Bewusstsein spült, als Gleichberechtigter wahrgenommen werden. Seine Sicht der Dinge soll von der gestalterischen Phantasie her ins Blickfeld geraten, soll die trügerische Sicherheit der wissenschaftlichen Behauptungen befragen und in die Welt des sozialen Lebens einbringen. Ein Verweis auf die aktuelle Diskussion um den Bildungsbegriff sei hier gestattet, zu der der Evolutionsbiologe Hubert Markl in einem "Spiegel"-Essay bemerkt hat: "Ein ganzheitlicher Bildungsbegriff kann niemals Vollständigkeit, niemals 'Auslernen' zum Ziel haben. Ein ganzheitlicher Bildungsbegriff muss vielmehr immer offen sein für verschiedenartige Verständnis- und Erfahrungsformen. für die Bahnung von sehr verschiedenen Zugangswegen zum Leben, die dann jeder Einzelne nach Begabung, Neigung und Anregung in freier Entscheidung zu weiterer Erkundung wählen und weiter erkunden mag." (Der Spiegel 32/2002). *Die Dritte Welt mehr zum Mittelpunkt rücken, das wurde von dem Afrikaner Enwezor erhofft. Und daraus resultierte ein Vorwurf, den Bazon Brock in seiner Talk-Runde "Bilderstreit" (3sat) aufs Tapet brachte: das Vorzeigen einzelner Künstler und Werke dieser 'fremden' Kulturen entspräche eher der Tradition europäischer Ausstellungsmacher, verwandle die Objekte zu Artekfakten hiesiger Ausstellungskultur. Diese Überlegung ist nachzuvollziehen und dürfte auch das leise Ungenügen an der Präsentation der 'naiven' Künstler ausmachen. Wer sich noch an die Documenta 6 im Jahr 1977 erinnert, dem müsste durch die Installationsvorgabe des großen Beuys schier das ästhetische Herz zersprungen sein ob der in die Statik eines Raums gezwungenen Objekte aus dem schwarzen Kontinent.
Damals durchzog die Beuys'sche Honigpumpe mit ihrem Schlauchsystem Räume und Stockwerke des Fridericianums, um die Ausstellung als sozialen Organismus zu präsentieren. Eine Idee, die weltläufiger nicht hätte sein können. Bei der elften Weltschau der Kunst haben aber zum Beispiel afrikanische Künstler Raum und Zeigen in europäischer Manier übernommen oder zugewiesen bekommen. Bei Georges Adéagbo werden Fundstücke aus verschiedenen Kulturen - Bücher, Bilder, Skulpturen, Plakate, Zeitungen - um ein selbst gezimmertes Boot versammelt, so als ob der in Europa gebildete Beniner seine Kenntnisse, sein Weltbild ausstellen möchte, das erst in diesem Konglomerat den exotischen Touch erhält, der die Beschauer auf diese Welt fixiert. Die Fühler für eine weiter greifende soziale Aufnahme können in dieser Geschlossenheit nicht erkannt werden. Adéagbo hat sich damit geradewegs in die Wunderkammeridee der Renaissance begeben. Das kann kein Ansatzpunkt für neues Denken aus den neuen Welten sein. Diese Art der Selbstreferenz fesselt sich selbst. *Welche Zukunft haben die bewegten Bilder, die vorgeben, ein abgeschlossenes Statement zu präsentieren, in der bildenden Kunst? Die zahlreichen Videokabinette, Bildschirminstallationen - beeindruckten sie nur wegen der ständigen Aktivität, die sie ausstrahlen? Hatten sie eine eigenständige Funktion, die uns mehr als Bildfetzen zu übermitteln hatte? Sich alle Bilderzählungen von Anfang bis Ende anzusehen, hätten wir Tage damit zubringen müssen.Georg Seeßlen hat in einem Aufsatz in "epd Film" (8/2002) die Vermutung aufgestellt, dass neben dem Mainstream und dem Autorenfilm diese Art von bewegten Bildern in der Kunst ein eigenes Genre werden würde: das dritte Kino, das den "narzisstisch gebrochenen Blick der Kunst wieder auf die Welt" richten könnte. Dann wäre aber auf jeden Fall nach einer adäquaten Präsentationsform zu fragen. Kabinett für Kabinett mit mehr oder weniger langen Filmen nebeneinander zu stellen kann nicht die Aufmerksamkeit für ein Einzelwerk fördern. Dieses Massenangebot ermüdete schon bei der letztjährigen Biennale in Venedig, wo es auch einem so geübten Ausstellungsmacher wie Harald Szeemann nicht gelang, über diese übliche Vorführform hinaus eine innovative Konzeption zu erstellen. Das beim TV-Konsum geübte Zapping fördert eine ebenso oberflächliche Rezeption in der bildenden Kunst und kann nur zu einer Nivellierung von Qualität führen.Die avantgardistische Filmemacherin Chantal Akermann ("Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles", 1975) führte auf 18 Monitoren und zwei Leinwänden ihren Film "From the Other Side" vor, der die meist vergeblichen Versuche mexikanischer Wanderarbeiter dokumentiert, die die penibel gesicherte Grenze nach Nordamerika hin zu passieren versuchen.
Die gesamte Dokumentation war auf einem Monitor zu betrachten, während die anderen Wiedergabegeräte einzelne Sequenzen daraus zeigten. Man mag nun darüber streiten, ob diese gesplittete Bilderflut auf engstem Raum die Eindringlichkeit der Bilder verstärkt oder die Konzeption des Films ad absurdum führt. Das ästhetische Konzept der Installation mit seinen politisch gemeinten sequentiellen Hervorhebungen kann dann aufgehen, wenn auch der ganze Film rezipiert wird, ansonsten ist L'art pour l'art nicht fern. *Wie schwierig es oft ist, Kunst und 'normales' Leben in Verbindung zu bringen, zeigte der in Paris lebende Schweizer Bildhauer Thomas Hirschhorn mit seinem Bataille Monument in einer gettoähnlichen Vorstadt von Kassel, die hauptsächlich von Türken bewohnt wird. Mit Sperrholz, Pappe, Folie und Klebeband fertigt Hirschhorn Denkmäler für von ihm verehrte Personen der Geistesgeschichte, ohne den Glanz eines konsumorientierten Lebens zu bemühen. 'Arme' Mittel sollen in einer adäquaten Umwelt trotzdem die Exzeptionalität der Geehrten zum Ausdruck bringen. "Ich will das Publikum nicht von den Gedanken Georges Batailles überzeugen, sondern den Leuten vermitteln, dass ich diesen Denker liebe". Und so erarbeitete Hirschhorn mit Freiwilligen, hauptsächlich jungen Leuten der Wohnumgebung, gegen Entgelt aus seinen bevorzugten Materialien Hütten, die er in eine Bibliothek, ein Fernsehstudio, einen Ausstellungsraum umwidmete, die auch von den Bewohnern des Viertels mit Beschlag belegt werden sollten. Meist fläzten sich in den Sesseln der Bibliothek und der Ausstellung aber nur Halbwüchsige, denen ihre künstlerische Umgebung herzlich egal war. Und die Distanz der Anwohner, denen ihr ärmliches Leben noch ärmlicher erscheinen musste. dürfte nicht nur auf ihre Unkenntnis von Bataille zurückgeführt werden! Wie aufdringliche Schaulustige drangen täglich die mit einem eigenen Zubringerdienst beförderten Kunstfreaks in einen sonst geschlossenen städtischen Raum ein. Um welche Erkennntisse bereichert? Wenn man sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß zum Besuch aufmachte, konnte man zumindest die Tristesse sonst nie besuchter Stadtteile erfahren. Ansonsten erlaube ich mir, die Denkmal-Idee des hochgelobten und medienpräsenten Hirschhorn eher als monomanische Scharlatanerie zu bezeichnen. Immerhin ist angesichts seiner gewählten Umgebung positiv zu registrieren, dass er es weit von sich gewiesen hat, als Sozialpädagoge fungieren zu wollen.
*Catherine David hatte in ihrer Konzeption der 10. Documenta Artefakte und Theoriegedanken aus aller Welt zusammengestellt, den Aufbruch zu einer Weltkultur, wo Anregungen aus bisher exotischen Bereichen in die bisher sakrosankten europäischen Kunstvorstellungen eindringen und weiterwirken, postuliert. Sie musste den Vorwurf des Konglomerats, der puren Ansammlung von Einflüssen verkraften. Enwezors Schau und gedankliche Voraussetzungen, die vor allem in sozialen und politischen Entwicklungen ihre Grundlage hatten, wurden trotz vieler Brüche insgesamt schon wesentlich positiver hingenommen, auch wenn alte Kunstgediente sich in abfälligen Bemerkungen ergingen. Was wird aus diesem Aufbruch in diese vielfältigen Welten der ästhetischen Bemühungen, die sich mit Lebenszielen und Lebensentwürfen paaren, in Zukunft an ästhetischen Ausdrucksformen entstehen? Wird die Globalisierung des ästhetischen Denkens den Begriff von Kunst aufweichen, verändern, modifizieren? Wird die herkömmliche Kunst des meisterhaften Gestaltens obsolet werden? Oder ist die Diskussion neu zu beginnen, weil es auch Kulturen gibt, die abstoßende Züge tragen, und der Dialog der Kulturen ein "intellektueller Volksglaube" ist (Thomas Steinfeld in der SZ vom 23.8.02 in einem Bericht über das Buch von Roger Sandall: The Culture Cult). Der Leiter der nächsten Documenta wird es schwer haben, die bisher nur angedachten Veränderungen in eine profunde Idee einzuschließen.
Empfohlene Literatur
Kunstforum International, Bd. 161, August - Oktober 2002: "Die Documenta11" (Postfach 1147, 53805 Ruppichteroth; Euro 17,70).
- Erwin Schaar: Abschied vom Job
Erwin Schaar: Abschied vom Job
"Was werden Sie denn machen?" gehört/e fast schon zur Regelanfrage, wenn man sich outet, sich in naher Zukunft in den Rentenstand verstzen zu lassen. Kann es denn sein, dass sich einer, der so viele Jahre an der regelmäßigen Publizierung einer Zeitschrift arbeitete, sich von seiner Arbeit verabschiedet, ohne Pläne für die Zukunft ausgearbeitet zu haben? Er wird seine Zeit doch nicht damit verbringen, die Deckel der Kochtöpfe zu lupfen, in denen eine zu Hause herrschende Frau, so sie vorhanden ist, täglich Nahrung zubereitet, deren Verzehr dann Lebenszeit strukturiert? Der aus diesem tiefen Loch des Nichtstuns, in das er unweigerlich fällt, seltsame Marotten ausbrütet, die seine Umwelt zur Verzweiflung treiben werden?Wollen wir den Albtraum verlassen, der so oft mit dem Eintritt in den Ruhestand assoziiert wird. Es sit ja zuzugeben, Begriffe wie "Rente" oder "Ruhestand" beinhalten die unbeweglichkeit des Geistes und des Körpers, lassen Stagnation und daraus sich ergebende Rüchwärtsgewandheit erwarten. Andererseits hört man auch immer wieder: "Jetzt kann ich das nachholen, wozu ich vorher die Zeit nicht aufbrachte" - die vielen Bücher lesen, die Reisen in Angriff nehmen, die so genannten Interessen pflegen.
Das wäre dann die aktivere Form des Zeitverbringens.Der nue Lebensabschnitt - gleich wie lange er dauern wird - dürfte zumindest eine neue erfahrung bringen, die nicht immer Zuckerschlecken sein wird, auch wenn der Schrebergarten im Kopf erklärter Feind sein soll. Vorsätze hängen immer von Körper und Geist ab.Diie Rückschau auf die langjährige Tätigkeit schrumpft bedenklich, wenn ein Fazit gezogen werden soll. Die vielen gebundenen Jahresbände der Zeitschrift lassen eigentlich eine Vielfalt vermuten, die mit Arbeit in Verbindung gebracht werden könnte - aber warum ist die Zeit so schnell vergangen, in der das Bemühen um jedes einzelne Heft gar nicht mehr aufscheint? So viel möchte man noch sagen, zur Entwicklung der Medien, dem Selbstverständnis der Medienpädagogik, die sich parallel dazu entwickelt hat und wo man doch so viele Lücken entdeckt, die nicht gesehen wurden, denen kein Eingang in die Auseinandersetzung gewährt wurde. Besucht man aber ab und zu ein Referat einer Ringvorlesung einer Hochschule, die interessiert, muss man immer wieder feststellen, wie abgekapselt meist vor sich hin gedacht wird, weil das Vertreten der eigenen fachlichen Belange nicht nur mit dem Gegenstand zusammenhängt, sondern dessen Eingebundenheit in wirtschaftliche und soziale Gegebenheiten schon viel Kraft verlangt.
Die eigene Notwendigkeit muss deutlich, andere von der eigenen Wichtigkeit überzeugt werden.Der Abschied fällt in eine Zeit, in der auch die geistige Bindung an die politische Linke in Frage gestellt wird durch die "uneingeschränkte Solidarität" zu einem Krieg, der viele Fragen aufwirft, die kritische Haltung erfordern, deren Wert aber ofiziell immer mehr angezweifelt wird. Doch die intelektuelle Freiheit und die geistige Vielfalt der Medien sind zu nicht mehr wegzudenken Bestandteilen des politischen Lebens geworden.Die Medien sind in positives Geschehen eingebunden. Und sie sind durch ihr dasein auch Auslöser für Phantasien und Taten, die ohne sie einfach nicht vorstellbar wären. Das hat nichts mit Schuld an etwas zu tun, das ist eine wertneutrale Feststellung, die aber in die Anlyse der Taten mit einbezogen werden muss. Der französische Medienphilosoph Paul Virilio hat 1986 über 2Krieg und Kino" geschrieben, was auch für das Fernsehen gelten dürfte: "Kino ist Krieg, weil Gustav Le Bon 1916 schreibt, 'der Krieg nicht nur das materielle Leben der Völker erfasst, sondern auch ihr Denken...
Und hier kommt man wieder auf die grundsätzliche Vorstellung, daß die Welt nicht vom vom Rationalen gelenkt wird, sondern von Kräften affektiven, mystischen oder kollektiven Ursprungs, die die Menschen führen, den mitreißenden Suggestionen dieser mystischen Formeln, die umso mächtiger sind, als sie sehr vage bleiben... Die immaterliellen Kräfte sind die wahren Lenker der Kämpfe."Widersprüche und Sprünge meiner Ausführungen müssenso stehen bleiben. Sie sollen und müssen auch die weiteren Auseinandersetzungen prägen. So weit ersichtlich werde ich Mitheruasgeber von merz bleiben und als eher zurückgezogener Berater tätig sein. Meine Kollegin Claudia Schmiderer wird die Redaktion übernehmen mit einem neuen Team, das sie in der nächsten merz-Ausgabe vostellen wird. Ihr und dem Team viel Erfolg.
- Erwin Schaar: Ausstellung David Goldblatt Fifty-One Years
Erwin Schaar: Ausstellung David Goldblatt Fifty-One Years
In der Flut der spektakulären Bilder, die im dokumentarischen Bereich einen gehörigen Teil ausmachen, ist im Lenbachhaus in München ein Fotograf zu entdecken, der ein penibler und diskreter Beobachter der südafrikanischen Geschichte seit 1948 ist, als die Nationale Partei mit ihrer Machtübernahme auch die Apartheid-Politik proklamierte. Beeinflusst von der Farm Security Fotografie eines Walker Evans, der Detailgenauigkeit eines William Eggleston, manchmal auch von der ausschnitthaften Körperfotografie eines Lucien Clergue, konzentriert sich der "weiße englisch sprechende südafrikanische Jude" David Goldblatt (wie er sich vor Jahren selbst vorstellte, weil die Rassenfrage einfach zur Gesellschaft gehörte) auf die Alltäglichkeit der Menschen und der Umwelt.
Die Akzentuierung gilt dem Bildausschnitt und dabei behalten die Personen, Landschaften, Architektur ihr unmittelbares Erscheinungsbild. Was gezeigt wird, gewinnt die Bedeutung aus sich selbst. Goldblatts Fotografie lässt den Betrachter nicht vor einem Kunstwollen erstarren. Seine Fotografien registrieren Menschen im Alltag, bei der Arbeit in den Minen, die Architektur der Denkmäler, die Landschaften und vermitteln dem genauen Hinseher eine Geschichte der Apartheid-Politik. Die Bilder vermeiden stimulierende ästhetische Oberflächenreize: "It was important to me that my photographs be used or seen in contexts that respected the integrity of the subjects and that were true to my intentions."Auch wenn Goldblatt ein ausgewiesener Gegner der Apartheid-Politik war, ließ er sich nie dazu verführen, deren Befürworter in den fotografischen Hinterhalt zu locken, um sie vordergründig zu entlarven. Es mag pathetisch klingen, aber sein Stil ist der der Menschlichkeit. Und das ist umso beachtenswerter, weil Goldblatt viel für Zeitungen und Magazine gearbeitet hat. Klischees waren und sind seine Sache nicht. Die Frage, was ist Kunst in der Fotografie, beantwortet sich ohne aufgeregte Theoriegebilde in seinen Bildern von selbst.
- Erwin Schaar: Ausstellung Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit
Erwin Schaar: Ausstellung Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit
Über das italienische "grottesco" ("seltsam, im Stil der ausgegrabenen antiken Malerei") und das französische "grotesque" zu uns gekommen, steht "grotesk" für das Wunderliche, Überspannte, Verzerrte. Dafür mag die Bühne bevorzugt den Raum bieten und geboten haben. Die Bestimmung, was als grotesk bezeichnet wird, sollte aber individuell verschieden ausfallen. Der Künstler kann sein Tun als normal empfinden oder zur Provokation gebrauchen. Auf jeden Fall wird mit dem Begriff ein weites Feld bestrichen.
Eine Ansammlung von Exponaten kann eine historische Gliederung erlauben, aber eine überfrachtete Schaustellung wird einzelnen Werken auch den rebellischen Zahn ziehen. Dieses Unbehagen überkommt einen bei der Münchner Ausstellung Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit, die, weil sie als Publikumsausstellung konzipiert ist, eine für das Nachdenken dienliche Reduktion des Zeigens vermissen lässt. Es gibt Videos, Filme, Plakate, Fotografien, Gemälde, Karikaturen, Collagen, Installationen. Es begegnen uns Böcklin und Kippenberger, Dadaismus und Wiener Aktionismus, Valentin und Achternbusch, Fischli & Weiss und Maria Lassnig.
- Erwin Schaar: Ausstellung Theatrum Mundi - Die Welt als Bühne
Erwin Schaar: Ausstellung Theatrum Mundi - Die Welt als Bühne
Wer auf der Suche nach der historischen Verankerung von Film, Fernsehen und Video ist, dem wird die Ausstellung Theatrum Mundi, die anlässlich 350 Jahre Oper in München im Haus der Kunst zu sehen ist, eine übersichtliche Einführung in die Beziehung von Kunst, Bühne und Leben im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts bieten. Diejenigen, die von Desillusionierung als Ziel des aufgeklärten oder kompetenten Mediennutzers sprechen, sollten sich belehren lassen, dass sich das Barocktheater schon darin gefiel, perfekte Illusionen zu erzeugen. Diese mögen uns heute naiv erscheinen, weil unsere Wahrnehmung ganz anders geschult ist, aber wer beispielsweise in Vicenza im Teatro Olimpico des Palladio die perspektivischen Illusionen betrachtet, erahnt den Spaß, den damalige Zuseher gehabt haben müssen. Sich virtuell erzeugten Illusionen lustvoll hinzugeben, muss noch lange nicht Verführung oder Inkompetenz bedeuten.
Was die Ausstellung hervorragend zeigt – und der prachtvolle Katalog kann durchaus als Ersatz dazu betrachtet werden – ist die Entwicklung der Theaterarchitektur als Medium für die Präsentation von Tragödien und Komödien. Die Herleitung der Filmtheaterkonzeption in der frühen Zeit des Kinos wird zu einer sinnfälligen Übernahme. Und Theaterräume wurden auch für Spektakel konzipiert, "die dem heutigen Betrachter auf den ersten Blick eher befremdlich und kurios erscheinen mögen: Anatomietheater und Universitätsaulen, die Versammlungs- und Lehrräume, wo sowohl die Vermittlung von Wissen durch Anschauung als auch Feierlichkeiten in einem repräsentativen Rahmen stattfanden" (17). Im Barocktheater sollte sich aber auch die Rezitation zur Interpretation einer Rolle wandeln, was wiederum die Stars kreierte, die heute in rasendem Tempo an den Himmel gezaubert werden.uns heute naiv erscheinen, weil unsere Wahrnehmung ganz anders geschult ist, aber wer beispielsweise in Vicenza im Teatro Olimpico des Palladio die perspektivischen Illusionen betrachtet, erahnt den Spaß, den damalige Zuseher gehabt haben müssen. Sich virtuell erzeugten Illusionen lustvoll hinzugeben, muss noch lange nicht Verführung oder Inkompetenz bedeuten.
Was die Ausstellung hervorragend zeigt – und der prachtvolle Katalog kann durchaus als Ersatz dazu betrachtet werden – ist die Entwicklung der Theaterarchitektur als Medium für die Präsentation von Tragödien und Komödien. Die Herleitung der Filmtheaterkonzeption in der frühen Zeit des Kinos wird zu einer sinnfälligen Übernahme. Und Theaterräume wurden auch für Spektakel konzipiert, "die dem heutigen Betrachter auf den ersten Blick eher befremdlich und kurios erscheinen mögen: Anatomietheater und Universitätsaulen, die Versammlungs- und Lehrräume, wo sowohl die Vermittlung von Wissen durch Anschauung als auch Feierlichkeiten in einem repräsentativen Rahmen stattfanden" (17). Im Barocktheater sollte sich aber auch die Rezitation zur Interpretation einer Rolle wandeln, was wiederum die Stars kreierte, die heute in rasendem Tempo an den Himmel gezaubert werden.
- Erwin Schaar: (Ein)geschlossene Gesellschaft
Erwin Schaar: (Ein)geschlossene Gesellschaft
Zurück in die Kälte
Aus der soeben auf dem Frankfurter Rhein/Main-Flughafen gelandeten Boeing 747 gelangen die Passagiere in ein für sie unwirtliches Klima, was sie noch gar nicht wahrhaben wollen. Zumindest ist ihre Kleidung noch nicht der kalten Temperatur angepasst. Kommen sie doch aus einer Gegend, die mit ihren Wärmegraden die Erholung verspricht, die auch von den Reisekatalogen bestätigt wird. Fast unbeteiligt steigen sie die Gangway herunter, als ob all die Verstörungen, Gefühlsausbrüche, Exzesse, die noch Stunden vorher stattgefunden haben, sie nicht im geringsten berührt hätten.
Und dabei führte der unfreiwillig längere Aufenthalt im Flughafen von Manila zu einer Vorführung psychischer Verhaltensweisen, die nur in Ausnahmezuständen hervorbrechen.Aus der ganz zufällig versammelten Urlaubergemeinde strukturierte sich ein Beziehungsgeflecht, das Verdrängtes hervorbrechen ließ. Aus Verklemmten wurden vor Lustigkeit Auftrumpfende und Grossmäuler brachen an ihren Schwächen zusammen. Der außergewöhnliche und sich den herkömmlichen moralischen Vorstellungen von Kunst entziehende Regisseur Romuald Karmakar hat sich mit seinem Ko-Autor Bodo Kirchhoff die Konfiguration der Eingeschlossenen vorgenommen, um auch ein Sittenbild bundesrepublikanischen (Tourismus-)Verhaltens zu rekonstruieren, Menschen ihr Verhalten offenlegen zu lassen, die der sonst öffentlich nicht auffälligen Mittelschicht angehören. Deren Bildung und finanzielle Mittel ausreichen, um den Ferntourismus zu bedienen, die aber nicht auf Reisen gehen, weil sie der Wille der Erkenntnis in die Ferne treibt, sondern die meist in der weiten Welt das suchen, was sie in ihrer Heimat nicht mehr zu finden glauben - und das sind nicht die Werte, die in offiziellen Reden immer beschworen werden.In Manila hat sie ein Defekt an ihrer Maschine für Stunden auf dem Flughafen zusammengeschlossen, ihre Distanz zu einem eher unwirklichen Kennenlernen verwandelt.
Ein Regisseur ist ein RegisseurKarmakar (Jahrgang 1965) hat mit seinen Inszenierungen zwar nie Skandale verursacht, aber doch gegensätzliche Beurteilungen herausgefordert. Erinnert sei da nur an seinen Dokumentarfilm „Warheads“, ein Porträt eines deutschen Fremdenlegionärs und Beobachtungen zu den Kriegsereignissen im ehemaligen Jugoslawien, der 1993 auf dem Berliner Forum des jungen Films schon deswegen Beachtung fand, weil ihn vorher das „Kleine Fernsehspiel“ des ZDF und das Filmbüro Nordrhein Westfalen als militaristisch abgelehnt hatten. Aber gerade weil Karmakar nicht bewertend in die Rollen eingreift, fast teilnahmslos aufzeichnet, gewinnen seine Beobachtungen dieses Unbestimmte, das den Zuschauer zur eigenen Beurteilung treibt, ihm keinen Kanon „Wie zu sehen, wie zu hören, wie zu fühlen“ vorgibt. Diese „aktive Teilhabe“ verlangt reflektierende Zuseher. So betrachtet, ist Karmakars Kino ein intellektuelle Herausforderung. Vielleicht hat das Götz George nicht verstanden, als er seinen Silbernen Löwen für die Beste Darstellerleistung 1995 bei den Filmfestspielen in Venedig für „Der Totmacher“ kommentierte, und den Gewinn dieses Preises nur seinen eigenen Verdiensten aufs Panier schrieb. Als ob Karmakar nur als Organisator tätig gewesen wäre. Aber er behandelt Schauspieler wie vorgefundene Realitäten. Er scheint sie das spielen zu lassen, was ihnen zu den Rollen einfällt und hat eben Georges Interpretation des Massenmörders goutiert. Eine Art Geburtshelfer für schauspielerische Leistungen.
Gleich, ob diese Regiehaltung aus einer theoretischen Konzeption resultiert oder aus einem Unvermögen, Darsteller anzuleiten, Charaktere zu geben. Das Ergebnis, der fertige Film, erfordert die Beurteilung nach „geglückt“ oder „misslungen“. Auf alle Fälle setzt diese Methode eine sorgfältige Wahl der Darstellenden voraus, die in ihren Interpretationen auch nicht das Gefüge der formalen Inszenierung verlassen dürfen. Oder der Cutter ist gewöhnt, auch aus outriertem Material eine vorzügliche Montage zu fertigen. Und mit Peter Przygodda hat Karmakar sicher einen vorzüglichen Schnittmeister angeheuert, der ihm schon beim „Totmacher“ behilflich war und der auch für die Wenders-Filme tätig ist.
KlassengesellschaftIm Wartebereich des Manila International Airport also schälen sich fast wie auf einer übervollen Bühne aus der Ansammlung von Menschen die Individuen heraus, an denen die Veränderungen dargestellt werden sollen: das ältliche Ehepaar aus dem Osten Deutschlands auf Bildungsreise (Margit Carstensen und Peter Rühring), wobei der mit einer philippinischen Frau verheiratete Aussteiger Walter, der jetzt ein Vergnügungsetablissement betreibt, den Mann zu einem gehörigen Alkoholkonsum verführen kann. Jürgen Vogel (Rudi) ist mit Manfred Zapatka (Herbert) verwandt, beiden gefällt die reservierte deutsch-amerikanische Journalistin Elisabeth (Elizabeth McGovern), die aber nur Rudi gefällig sein wird, während der Ältere seinen Frust allein auf der Toilette zu bewältigen sucht. Was wiederum Franz (Martin Semmelrogge) zu einer gewaltsamen Tat gegen Sachen treibt, hat er, der Frührentner mit spätem Abitur doch mit geilen Fotos die Männer für sich einzunehmen versucht und jedem, der es hören wollte, die Geschichte von seinen beiden philippinischen Freundinnen - eine für den Sommer, eine für den Winter - erzählt.Zur Weißglut kann alle der Stewart Osterfeld (Sky Du Mont) treiben. Mit Arroganz sucht er seinen servilen Job zu meistern. Standesdünkel unter Menschen, die alle der Maschinerie dienen, dem Kapitalismus ergeben, der ihnen die engen Grenzen zieht, sie aber auch belohnt.
Massensozialität
„Erzählmodule“ hat das Presseheft Karmakars Personenkonstellationen in der Abflughalle, an der Bar, in der Toilette genannt - und daraus ergibt sich ein Sittenbild einer Gesellschaft, der die Contenance sehr schnell abhanden kommt. Die Gefangenen von Manila werden sich erst wieder zusammenfinden, wenn sie alkoholenthemmt zu einer gemeinsamen Gesangsleistung animiert werden können. Fischerchöregleich plärren sie mit kindischer Begeisterung pubertär Gereimtes zum „Gefangenenchor“ aus Nabucco und machen die Wartehalle zur Fankurve.
Karmakars Bildern ist keine Sucht nach Kunstwollen zu entnehmen, sie bleiben aber trotzdem im Gedächtnis. Sie schlagen zu wie das platte Leben. Und: Karmakars männlicher Blick verbirgt sich nicht hinter inszenierter Emotionalität. Die Bilder zeigen, was sie zeigen wollen und können. Ihre Eindringlichkeit ist der Lohn. Und die minutenlangen Folgen von Einstellungen der gesanglichen Darstellung eines individuellen und gesellschaftlichen Zustandes sind fast genial.
- Erwin Schaar: B-Science im B-Movie
Erwin Schaar: B-Science im B-Movie
Magisches KinoDie Existenz des Kinos ist untrennbar mit Effekten verbunden, die damit auch die Ingredienz der Lichtspiele sind: Verzauberung der Zusehenden durch die Vorgabe von Identifikationsmöglichkeiten oder durch die technischen Eigenarten des Mediums bei der Verwandlung der Wirklichkeit. Wie die Erzähler von Helden- und Schauermärchen mit pathetischer oder mit spannungsvoller Stimme agieren, haben die Bilderzähler vergleichbarer Stories ein ihrem Metier adäquates Timing und einen Blickwinkel zu finden, der Menschen schaudern macht oder in Gefühlen versinken lässt. Dass der Film körperlich Unwirkliches geschehen machen kann, hat mit Zauberei zu tun. So wie jeder weiß, dass die Tricks des Magiers erklärbar sind, weiss jeder, dass Filmtricks keine ungewöhnlichen Voraussetzungen haben. Aber das Ergebnis jeglicher Zauberei setzt phnatastiegeneigte Kräfte in uns frei, die nach der Unwahrscheinlichkeit der Tricks gieren, und sei es nur, dass man sich die Ausführung nicht erklären kann. Davon leben die Zauberer auf der Bühne und im Film.Brachten zu Anfangszeiten des Films die Gebrüder Lumière Bilder von fernen Ereignissen und nahen Begebenheiten in den dunklen Saal, meldete sich zugleich der Magier, das Genie Méliès mit seinen Trickfilmen, die unwahrscheinliche Verwandlungen in kurzer Zeit bewerkstelligten.
Nicht anders als ein Méliès arbeitet heute ein Paul Verhoeven, wenn er nach dem modernsten Stand der Dinge mit elektronischen Tricks zaubert und uns unsichtbare Lebewesen in ungewöhnlichen Situationen vorführt.Ein amerikanischer EuropäerBei der fast schon kindlichen Art, eine Filmgeschichte von den aus dem sichtbaren Bereich verschwundenen Lebewesen als eine Actionstory zu erzählen, die dann krud mit den Figuren verfährt, darf es nicht verwundern, wenn die sogenannte seriöse amerikanische Presse, die intellektuell europäischer urteilt als Europäer, dem geborenen Holländer Verhoeven die Aneignung der Stilmittel amerikanischer Volks(film)kultur verübelt und diesen Film verreißt. Während das Blatt des Showbiz, „Variety“, durchaus die Stärken dieses auch philosophisch deutbaren Spektakels zu erkennen fähig ist. Und, aufgepasst, auch die Filmfreaks des Locarneser Filmfestivals wussten dieses Jahr den Trivialfilmer Verhoeven für sein Gesamtwerk(!) mit dem Ehrenleoparden zu würdigen.
Eine seltsame Kluft zwischen den schlechten Kritiken, die diesem Meister des Actionsfilms, Thrillers, Sci-Fis, des erotischen Dramoletts ausgestellt werden und der Achtung, die diesem skandalös inszenierenden Altmeister von den Cinephilen entgegenschlägt. Wurde sein Film „Show-Girl“ doch 1996 in den USA gar als der schlechteste Film des Jahres ‘ausgezeichnet’, wobei natürlich die üblichen visuellen Abfallprodukte der Trash-Szene gar nicht bis zur Minus-Wertung gelangen.Existenz und VernichtungWenn den diversen Interviews mit Paul Verhoeven zu glauben ist, dann möchte er als eine Grundaussage in seinen Filmgeschichten vermitteln, dass Menschen an sich nicht gut sind, sondern erst die sozialen Kontakte sie unter Umständen dazu machen. Und dann ist da die Macht und deren Strukturen, denen er auf die Schliche kommen will. Es mögen solche Problemstellungen zwar eher philosophisch angegangen werden, andererseits sind sie die Bestandteile jeder großen und kleinen Dichtung, Vorlagen für jegliche Art von Show-Wertigkeit. Also kann es nur die Machart des Spektakels sein, die uns diese Basisprobleme jedes Menschseins anrührend/fesselnd und damit in ästhetisch anzuerkennender Weise vermittelt. Meist ist es eh nur der kurzzeitige Thrill der Geschichte, der uns gefangen hält, ohne Anspruch auf Läuterung natürlich, denn da würden wir in unserem Zeitalter der Bilderfluten ganz schön hin und her gerüttelt, wenn moralische Kräfte wirksam werden sollten.
Verhoevens Filmstory - die Grundlage liefert der Autor Andrew. W. Marlowe, der auch für „End of Days“ und „Air Force One“ verantwortlich zeichnete - ist spannend und daher hervorragend inszeniert und geschnitten, wobei Jost Vacano wie gewohnt ein glänzender Kameramann ist. Der Filmbeginn ist auch ein solcher, weil wir geschockt in die Geschichte hineingezogen werden und schon in den ersten Minuten das erleben, was die Story uns erzählen will: Die Geschichte von dem Unsichtbarmachen von Lebewesen. Hier im Wortsinn exekutiert an einer Ratte. Denn dem Futurology-Spezialisten Sebastian Caine, für Regierung und Militär forschend, ist es gelungen, ein Elexier zu entwickeln, das den Körper von Lebewesen unsichtbar macht, ihn aber greifbar im Raum lässt. Bisher im Extrem nur an so großen Tieren wie Gorillas erprobt, möchte Caine das Serum auch in einem Selbstversuch testen. Aber seine Rematerialisierung misslingt, muss auf halber Distanz abgebrochen und rückgängig gemacht werden und diese Unsichtbarkeit macht den frustrierten Wissenschaftler zu einem Einzelgänger und zunehmend asozialen Wesen, der/ das gegen Kollegen und Mitmenschen wütet und seine ehemalige Freundin und Kollegin Linda und deren jetzigen Partner Matthew schon wegen der von Linda nicht mehr erwiderten Liebe zu Gegnern erklärt. Dem können beide in einem quälend breit ausgespielten und wie in einem altmodischen B-Movie inszenierten Show-down entkommen.
Die hypertroph gewordene ‘Laborratte’ wird vernichtet.Körper und MoralDie Unwahrscheinlichkeit von Science Fiction-Geschichten und die uralte Reflexion über moralisches Verhalten und das emotionale Mitgehen des Zusehers - eine Konstellation, der Zukunft habhaft zu werden und uns der ewigen Polaritäten gut und Böse zu vergewissern: eine schöne Kinovorlage. Und die Unsichtbarkeit des Körpers ins Spiel zu bringen, da muss nicht erst an die Tarnkappe der deutschen und nordischen Sagenwelt erinnert werden, die den Träger unsichtbar macht und diesen Zustand für das Verschwinden der Mitmenschlichkeit mitschuldig erklärt. Der Körper wird zur sichtbaren Seele des Menschen und wir erfreuen uns, wenn die Körper regeneriert werden und können den Zusammenbruch des Experiments nur als Fiasko ausdenken. Schließlich ist ja auch Jesus körperlich in den Himmel aufgefahren und Maria folgte ihm leiblich nach.Genug der Spekulationen und Assoziationen, aber das sind die Momemente, die dem Film die erzählerische Kraft verleihen, neben den wirklich exorbitanten special effects, die uns den Aufbau des menschlichen und tierischen Körpers wie in einem belebten Medizinbuch nahebringen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den phänomenalen Erfolg der Ausstellung „Körperwelten“, in der die Plastinationen des Anatomen Gunther von Hagens in Kunsthallen (!) Deutschlands gezeigt wurden.
Wer es als naiv erachtet, Filme wie Verhoevens „Hollow Man“ zu goutieren, dem sei ein Interview mit dem amerikanischen Physiker Michio Kaku (Autor von „Hyperspace“ und „Zukunftsvisionen“) empfohlen, das DER SPIEGEL in seiner Nummer 35/2000 veröffentlichte: „Eine Welt wie im Disney-Film“. Kaku meinte unter vielem anderen: „Innerhalb der nächsten 100 Jahre werden wir jeden Teil unseres Körpers biologisch ersetzen können...ich glaube, die Biotechnologie wird es uns ermöglichen, das Altern zu besiegen“.Damit wir uns recht verstehen: „Hollow Man“ ist nicht Kunstkino, aber ein glänzend inszenierter, unterhaltsamer Film des trivialen Kinos.
Beitrag aus Heft »2000/05: Aktuelle Medientheoretische Reflexionen«
Autor: Erwin Schaar
Beitrag als PDF - Erwin Schaar: Bilder für Kinder?
Erwin Schaar: Bilder für Kinder?
Der amerikanische Fotograf Edward Steichen hat 1930 sein Buch „The First Picture Book. Everyday Things for Babies“ veröfffentlicht, das die Gegenstände einer Kleinkinderumwelt statuarisch ins Bild setzte, den Kindern anhand der Fotografien einen dingfixierten Zugang zur Welt schaffen/erleichtern sollte. Viele Bilderbücher für das Kleinkindalter ‘funktionieren’ so, wenn sie auf einer Seite einen Gegenstand abbilden, auf den sich Kinder fixieren sollten, auch um darüber zu sprechen, um zur Schilderung dieser reduzierten Umwelt animiert zu werden. Weil man glaubte/glaubt, dass Kinder die/ihre Welt in Ausschnitten besser begreifen lernen, oder weil man fixiert auf eine reine Kinderseele einen reinen Gegenstand als adäquat ansah. Steichens pädagogisches Verlangen mag damit auch seine Bewandnis gehabt haben.
Als das Buch 1991 vom Scalo Verlag in Zürich nachgedruckt wurde, konnte damit sowieso nur historisches Fotografierinteresse geweckt werden.Der deutsche Fotograf Reinhard Matz hat sich nun eine ‘Übersetzung’ von Steichens Fotoblick in die Jetztzeit vorgenommen, ohne allerdings für die abgebildeten historischen Spielzeuge und Gegenstände die neuartigen einzutauschen, weil sich mit den Dingen auch die Welten, die durch die Gegenstände widergespiegelt werden, verändert haben. Also hat Matz versucht, die strengen Bildwelten von Steichen, die in ihrer Kargheit an die Ästhetik des Bauhauses erinnern, gegen Analoges zu tauschen, das strenge Schwarzweiß der kargen Kunstfotos aus den 30ern mit einem bunten Bildkaleidoskop zu konterkarieren. Die Plastikwelten, die Spielzeugmassenware, die neuen Technologien, sie sollen den Kindern ihre jetzige Umwelt erkenntlich machen. Aber waren zu Steichens Zeit die Bilder noch rar, war das abstrakte strakte Abbild vielleicht gar nicht so abstrakt wie es heute wirkt, so treffen die Bilder von Matz auf eine Welt, die sich vor den Bildern kaum mehr retten kann.
So dürften die farbigen Widergaben unserer Konsumwelt für Kinder nur zusätzliche Bilder bedeuten, ohne dass ihnen die Ästhetik dieses Bilderbuchs widersprechen oder gar etwas bedeuten könnte. Und zweitens ist dieser pädagogische Anspruch Steichens gar nicht mehr vorhanden, weil die Bilder von Matz uns (Erwachsene) wie kulturkritische Bildmetonyme entgegenspringen und Eltern schon gar nicht dazu motivieren können, mit ihren kleinen Kindern vorurteilslos über das Gezeigte zu sprechen. Den Farbfotos ist meist schon die pädagogische Kritik heutiger Lebensumwelt impliziert und den erwachsenen Menschen möchte ich sehen, der mit Kindern der ersten Lebensjahre über diese aufgeladenen Abbilder ein im guten Sinn naives Reden beginnen möchte. Das McDonalds-Mahl z.B. ist unberührt in strenger Ordnung fotografiert, um auf der Rückseite abgegessen und hingeworfen wie auf den Straßen der Umgebung eines solchen Lokals abgelichet zu werden.
Es mag zudem meine Aversion gegen kindliche Weltverbesserer sein, die diesem kritischen Konzept von Matz nichts abgewinnen kann. Auch die Bilder Steichens waren nicht heil, nur hat er halt, ohne jetzt Einwände zurückzunehmen, die Dingwelt des Kindes nicht als Wegwerfware abgebildet. Und diesem Ex-und-hopp-Standard sollten wir auch heute so wenig Spielraum wie möglich einräumen.
Beitrag aus Heft »2000/05: Aktuelle Medientheoretische Reflexionen«
Autor: Erwin Schaar
Beitrag als PDF - Erwin Schaar: Das Abbild der Körper und die Reflexion der Wahrnehmung
Erwin Schaar: Das Abbild der Körper und die Reflexion der Wahrnehmung
Wenn der voyeuristische Fernsehzuschauer um Mitternacht intime erotische Bilder zu sehen wünscht, kann er den Sender „Neun Live“ einschalten., wo bis 6 Uhr früh „la notte – sexy night“ läuft. Im Minutentakt entkleiden sich dort Frauen aller Hautfarben bis zum buchstäblichen Nichts. Wenn er nun glaubt, dass er das der sexuellen Libertinage des frühen 21. Jahrhunderts zu verdanken hat, sitzt er natürlich einem Irrtum auf, weil schon das beginnende 20. Jahrhundert die Erfindung des Films dazu nutzte, die Entblößung des weiblichen Körpers in bewegten Bildern vorzuführen. Diese 100 Jahre und mehr alten Reminiszenzen können in der AusstellungPrüderie und Leidenschaft – der Akt in der viktorianischen ZeitIm Münchner Haus der Kunst betrachtet werden. Die von der Tate Gallery London übernommene Ausstellung, die noch in New York und in Japan in Kobe und Tokio zu sehen sein wird, möchte zeigen, dass das 19. Jahrhundert in England nicht nur von der sprichwörtlichen viktorianischen Prüderie beherrscht wurde.
Das heißt, dass die vielen, oft großformatigen Gemälde mit nackten Körpern nicht zur alltäglichen Bildkultur der Briten gehörten. Dabei dürften die sittlichen Ansichten des niederen Volkes nicht mit denen höherer gesellschaftlicher Stände identisch gewesen sein. Es ist zu vermuten, dass durch die als mindere Kunst verachtete Photographie einem Abbildverbot des nackten Körpers entgegengewirkt wurde, dem sich die malenden Künstler nicht widersetzen mochten und sie sich daher mit camouflierenden klassischen Szenerien dem Thema näherten, um die Auftraggeber, die naturgemäß aus den höheren Schichten stammten, von der dargestellten Nacktheit zu überzeugen. Diese konnten sich dann mit gutem Gewissen öffentlich an dem gemalten Fleisch ergötzen.Die Prüderie in England des 19. Jahrhunderts mochte aus der puritanischen religiösen Entwicklung auf der Insel resultieren und so wurden in Kunstausstellungen meist nur Porträts, Landschaften oder historische und literarische Szenen gezeigt. Die ersten Anfänge der Globalisierung brachten die Kunststudierenden aber Mitte des Jahrhunderts nach Paris – und dort mussten sie ja infiziert werden!Diese Ausstellung versucht nun die Entwicklung der Aktmalerei zu systematisieren und macht uns zuerst mit Versuchen bekannt, die naturalistische Darstellungen von weiblichen Körpern in klassische Bildthemen einbanden. Die griechische Klassik oder Shakespeare Dramen boten genügend Anlässe und die darin eingebundenen nackten Frauenkörper entbehrten jeglicher an die Wirklichkeit gemahnenden Sexualität.
Es wird ja kolportiert, dass John Ruskin in der Hochzeitsnacht beim Anblick von Effie Grays Schamhaar vor Abscheu ins Wanken geriet, weil seinem Gemüt das haarlose Ideal antiker Skulpturen entsprach.Aber die Entwicklung hin zum Lasziven war nicht aufzuhalten, wobei der männliche Akt kaum mit dem Sittenkodex in Konflikte geriet – das bevorzugte virile Ideal von Männlichkeit konnte ja nur vollkommen unterdrückten homosexuellen Neigungen, die nur im geheimen ausgelebt werden konnten, zur Versuchung gereichen.Was nicht zu verhindern war trat ein, der Akt löste sich den bürgerlichen Bildzusammenhängen und wurde zu einem eigenständigen Sujet bildnerischen Gestaltens, wobei natürlich die filmischen und photographischen Nacktaufnahmen das verlangen einer ganz anderen Klientel stillten. Sie erblickten nicht so intensiv das Licht der Öffentlichkeit. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte ihre massenhafte Verbreitung.Das Material der Ausstellung bietet genügend Anknüpfungspunkte, um über nackte Körperdarstellungen zu reflektieren, da muss gar nicht über die Historie nachgedacht werden. Das beweisen die Aufnahmen nackter kleiner Mädchen, die vom Verfasser von „Alice im Wunderland“, Lewis Carroll, stammen.
Die Fotos aus dem Jahr 1879 könnten ihn, wenn er heute leben würde, ganz schön in die Bredouille bringen.Kann diese Ausstellung in ihrer Systematik wenig überzeugen, weil die Verbindungen von Geschichte, Wahrnehmung, Moral, trivialen Kulturäußerungen sich erst dem erschließen, dem die Themen nicht ganz fremd sind – zu viele schwer erträgliche kitschige Bilder werden als Ausstellungsobjekte zu ernst genommen -, dann wird der Betrachter mit der parallel laufenden Präsentation im selben HausMalerei und Skulptur im Wettstreit. Von Dürer bis Daumiereine stringent aufgebaute Lektion in Wahrnehmungs- und Mediengeschichte erwarten, die zudem noch viel Freude und Lust beim Betrachten einzelner Exponate bereit hält. Mit dem individuellen Erwachen in der westlichen Kultur ging auch die Emanzipation der Künste einher. Die mediale Vermittlung löste sich von der Abhängigkeit der Religion und machte das bildnerische Schaffen, das mediales schaffen war, zum Inhalt des Nachdenkens über skulpturale und malerische Darstellungen. Natürlich muten historische Konstruktionen im Nachhinein meist sinnfällig an, weil Ausklammerungen immer bewusst getätigt werden, um linear darzustellen. Aber solch bewusst angestrebten Konstruktionen erleichtern uns das Nachdenken über zurückliegende Geschichtsprozesse, wenn wir unser Bewusstsein auch über die Vergangenheit definieren. Dieser rationale Prozess scheint mir in der christlichen Kultur ein gesellschaftliches Movens zu sein, im Gegensatz zur islamischen Kultur, die bald nach ihrer Entfaltung in gewolltes stagnatives Denken verfiel.„Malerei und Skulptur im Wettstreit“ beschränkt sich auf die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, als die Medien Malerei und Skulptur ihr Selbstverständnis und ihre Selbstdefinition artikuliert haben.
Beide Medien traten in Wettstreit miteinander, welches wohl die wirklichkeitsnähere Darstellung zuwege bringe. Ein häufig gemaltes Sujet war der Blinde, der die Skulptur begreifen kann und damit eine Ahnung der künstlerischen Reproduktion erhält.Die Ausstellung, die sich erstmals dieser Selbstreflexion widmet ist schon von der konzeptionellen Seite her ein Ereignis. Die über 200 Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen und Grafiken kommen aus Sammlungen in Los Angeles, Washington, New York, Helsinki, St. Petersburg, Rom, Paris, Wien, London, Kopenhagen und Madrid. Christoph Vitali vom Haus der Kunst ist in Zusammenarbeit mit dem Wallraf-Richartz-Museum Köln eine wahre Glanzleistung gelungen. Nur ein agiler Ausstellungsmacher schafft solche umfangreichen Zusammenstellungen. Die Exponate stammen von Dürer, Spranger, Giambologna, Brueghel, Teniers, Rubens, Rembrandt, Ribera, Giordano, Daumier und anderen: schon von daher eine bewundernswerte Exposition.In der Renaissance begannen die bildenden Künstler über ihre Rolle nachzudenken, bisher waren sie im Gegensatz zu den Dichtern und Musikern nur als Handwerker, als ideenlose Nachahmer der Natur eingestuft. Zunehmend sahen sie sich aber als Überhöher der Wirklichkeit und Neuschöpfer, wie eine in dieser zeit oft gemalte Episode belegt: Der griechische Maler Apelles portätierte die Mätresse Alexanders des Großen, Kampaste, und verliebte sich dabei in sie. Da das Bildnis so hervorragend ausfiel, tauschte Alexander dieses gegen die Frau.Mit der Aufnahme der Skulptur und Malerei in den Kanon der Künste wandelten sich die Zünfte in Akademien, um den gehobenen Status auch in der Ausbildung deutlich werden zu lassen.
Mit Vorlagen aus der griechischen Götter- und Sagenwelt veredelten die Künstler ihre Bildinhalte im humanistischen Geist. Bei Hofe erlangten sie zudem gesellschaftlichen Aufstieg, wenn sie auf Grund ihres Könnens, das von den Herrschenden anerkannt wurde, in den Adelsstand erhoben wurden.Mit dieser Beachtung bei den höchsten Ständen erweiterte die neue akademische Kaste ihr Metier mit selbstgefälligen Bespiegelungen ihrer eigenen Person. Die Selbstbildnisse sollten nunmehr von ihrer Schöpfergabe und ihrem Nachdenken über die Welt Zeugnis geben. Die Zeichen für eine musische und gelehrte Welt wurden zu Bildbeigaben ihrer eigenen Porträts. Kunstsammlungen und Verkaufsräume ihrer Werke wurden in Bildern dargestellt. Das neu gewonnene Selbstbewusstsein und die gesellschaftliche Anerkennung werden aber bald durch Daumiers Karikaturen oder durch Bilder wie das von Chardin, der einen Affen als Maler vor seiner Staffelei zeigt, konterkariert. Die Erhabenheit des Künstlers wird auch als brüchige Existenz imaginiert, wie Rembrandts Selbstbildnis aus seinem letzten Lebensjahr zeigt. Vor der Entblößung des Körpers fand bereits die Entblößung der Psyche statt.Prüderie und Leidenschaft. Der Akt in viktorianischer Zeit. Ausstellung bis 2. Juni 2002 im Haus der Kunst, München. Katalog bei Hatje-Cantz, Ostfildern (288 S., Preis in der Ausstellung: EUR 25,00)Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Ausstellung bis 5. Mai im Haus der Kunst, München; vom 25. Mai bis 25. August 2002 im Wallraf-Richartz-Museum – Fondation Corboud, Köln. Katalog bei edition Minerva, München (472 S., EUR 29,50).
- Erwin Schaar: Das kurze 20. Jahrhundert in Afrika
Erwin Schaar: Das kurze 20. Jahrhundert in Afrika
Seit der Nigerianer Okwui Enwezor zum Direktor der 11., der kommenden documenta bestellt wurde, scheint auch die moderne Kunst Schwarzafrikas in den Intellektuellenzirkeln mehr wahrgenommen, bzw. ernster genommen zu werden als all die Jahre zuvor. Die Liebhaber, Sammler und Kenner der sogenannten Stammeskunst, der primitiven Kunst, die selbst schon ein ritualisiertes Verhältnis zu diesen Masken, Figuren, Fetischen, Gebrauchsgegenständen entwickelt hatten, brachten das Verständnis für Afrika damit keinen Deut weiter, weil sie diese von ihnen verehrten Artefakte einem eurozentrischen Auswahlverfahren unterwarfen, was noch dazu in feinsinniges Spezialistentum abtriftete und eine Entwicklung nicht zuließ, bzw. nicht zur Kenntnis nahm. Sie wollten Anhänger des Exotismus bleiben.Nun kommt ein Kurator aus dem immer noch unbekannten Erdteil des Weges, der seine Ausbildung zwar in Amerika absolviert hat, für den trotzdem vorrangigen Stellenwert hat, was Afrikaner der verschiedensten Staaten, nicht unabhängig von der weißen Welt, aber in Reflexion mit deren Einflüssen, als ihren Ausdruck reklamieren und deklamieren.
Die Ausstellung und das dickleibige englischsprachige Katalogbuch müssen in gegenseitiger Ergänzung gesehen werden. Enwezor hat dazu in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (28.2.01) gesagt: „So wie die Ausstellung die Unabhängigkeitsbewegung in Afrika seit 1945 in einer visuellen Sprache vermittelt, präsentiert das Buch eine präzise Grundlage der gegenwärtigen afrikanischen Ästhetik in den einzelnen Ländern...Ausstellung und Buch sollen den Bildern, die der Kolonialismus hinterlassen hat, eine neue Sicht entgegensetzen auf das, was afrikanische Identität sein könnte oder sein wird.“ Und das ist vielleicht der wichtige Ansatz Enwezors, der der einstigen Ideologie der Négritude (Aimé Césaire, Léopold Sédar Senghor) eine politisch und wirtschaftlich zukunftsweisende Überzeugung entgegensetzt, oder besser, diese Ideologie öffnet: „Es geht nicht um die Geschichte der Schwarzen Afrikas, sondern um die komplexen Beziehungen der Volksgruppen untereinander, seien es Araber, Inder, Schwarze oder Weiße, die alle Afrika ausmachen.“Enwezor hat an dieser Ausstellung noch vor seine Berufung zum Ausrichter der documenta zu arbeiten begonnen. In drei Jahren Arbeit hat er eine Dokumentation von Malerei, Grafik, Textilien, Fotos, Videos, Skulpturen, Architekturmodellen, Literatur zusammengestellt, die in einer solchen Dichte und Mischung präsentiert wird, dass oft ein Exponat das andere auditiv oder visuell übertönt. Also nicht die Bewunderung des Einzelnen steht bei Enwezor im Vordergurnd, sondern die Betrachtung einer kulturellen Bewegung, deren Dinge ineinander greifen, wo das ästhetische Objekt nicht von der politischen Bewegung zu trennen ist. Enwezor wird, nach dem Augenschein dieser Präsentation, wahrscheinlich für die nächste documenta ein noch radikaleres Konzept entwickeln als Catherine David für die 10te.
Gar mancher Besucher dürfte dort wohl nach der Galeriekunst vergeblich suchen. Und vorbereitet wird dieses Konzept auf dezentralen Diskussionskongressen, sogenannten Plattformen in vielen Städten der ganzen Welt, in Wien, Berlin, Neu Dehli, Dakar, Kinshasa oder Johannesburg, wo überall die „Story of my Experiment with Truth“ geschrieben wird, wie das Katalogbuch in Kassel heißen wird, und welcher Titel einem Buch Gandhis entlehnt ist.Museum Villa Stuck, Prinzregentenstr. 60, 81675 München, Tel. 089/ 4555510.Die Ausstellung wird nach München in Berlin gezeigt und dann nach Chicago (Museum of Contemporary Art) und New York (Museum of Modern Art) weiterwandern.Das Katalogbuch „The Short Century“ ist im Prestel Verlag, München erschienen, 484 S. mit ca. 450 Abb., DM 128,-, als Katalog in der Ausstellung DM 68,-)
- Erwin Schaar: Das Trugbild Leitkultur
Erwin Schaar: Das Trugbild Leitkultur
Regie und Buch: Michael Haneke - Kamera: Jürgen Jürges - Musik: Giba Gonçalves - Darsteller: Juliette Binoche, Thierry Neuvic, Sepp Bierbichler, Alexandre Hamidi, Ona Lu Yenke, Luminita Gheorghiu - Produktion: Frankreich (MK2 Productions, Les films Alain Sarde) 2000 - Länge: 117 Minuten - Verleih: Prokino/ Twentieth Century Fox of GermanyMichael Hanekes Filme sind pessimistisch und doch dem Leben zugewandt. Sie sind grüblerisch. Sie sind zeichenhaft stilisierend, dann aber doch nicht so abstrakt, dass sie der Emotion nicht zugänglich wären, dass sie nur aufzeigen würden, um den Intellekt zu beschäftigen. Hanekes Filme bedürfen wacher, nicht unbedingt schon von Gefühlen gebeutelter Zuseher. Rekreation beim Zusehen kann nur im Nachvollziehen einer als gelungen angesehen Konzeption des Regisseurs gelingen. Jeder auf den schnellen Gag lauernde, auf Action getrimmte Kinogeher wird oder müsste genervt die Vorstellung verlassen. Diejenigen, denen Filmbilder auch Anlass für Nachdenken sind, finden genug Stoff für ästhetische und soziale Auseinandersetzungen.All dies gilt vornehmlich für Hanekes neuesten Film „Code inconnu“.Keine letzten WahrheitenDie Handlung des Films ist natürlich dramaturgisch verbunden, auch wenn es viele Begebenheiten sind, die sie ausmachen, und die grundsätzlich nichts miteinander zu tun haben oder hätten, denen aber der Autor eine erzählerische Klammer gegeben hat, damit wir Zuschauer an den Figuren bleiben können, die filmischen Botschaften sich nicht in Unverbindlichkeiten, also an Figuren ohne Geschichte auflösen:
Ein Boulevard in Paris. Jean trifft seine Schwägerin Anne, der er seinen Entschluss mitteilt, den ihm zugedachten Bauernhof nicht zu übernehmen. Anne, eine Schaupielerin, eilt zu einem Vorsprechtermin und schickt Jean in ihre Wohnung. Auf dem Weg dorthin demütigt er durch eine pubertäre Geste die rumänische Bettlerin Maria, die illegal in Frankreich ist. Amandou, malinesischer Abstammung, stellt Jean zur Rede, der sich widerspenstig zeigt. Es entwickelt sich eine Schlägerei, die damit endet, dass der Schwarze Amadou mit zur Polizei muss, Maria ausgewiesen wird. All diesen Gestalten begegnen wir im Laufe des Films immer wieder, werden mit weiteren Partikelchen aus ihrer Lebensgeschichte bekannt. Zu diesen Personen werden sich noch Annes Mann Georges, der als Kriegsreporter im Kosovo arbeitet, der Vater von Georges und Jean und weitere Personen, die mit diesen Protagonisten in Verbindung gebracht werden können, gesellen.Wir wechseln innerhalb der Erzählung ein paar Mal den Ort, gehen von Paris aufs Land, aber auch nach Mali, in den Kosovo, nach Rumänien, verfolgen so die Personen ein Stück ihres Lebens.Die erste Schwarzblende, die unvermittelt der Eingangssequenz folgt, lässt an einen Fehler bei der Projektion des Films denken, bis man die dramaturgische Konzeption Hanekes erkannt hat, lange und kurze Sequenzen, manchmal auch in einer Einstellung gedreht, durch Schwarzblenden abzubrechen. Es soll kein stringenter Handlungsablauf entstehen, der den Eindruck einer mit letzter Wahrheit erzählten Geschichte vermitteln würde. „Man kann nicht so tun, als wäre man im 19. Jahrhundert und als ließe sich Wirklichkeit in toto wiedergeben. Das ist absurd.Aber genau das machen ja 90 Prozent der Regisseure und beziehen aus diesem Erklärungsmodell natürlich auch ihre Publikumswirksamkeit“ (aus einem Interview mit M. Haneke, abgedruckt in „Austrian Film News“, Juni 2000).Einsamkeit„Code: Unbekannt“ ist ein Film über die Schwierigkeiten der zwischenmenschlichen Verständigung, über die Fallstricke des partnerschaftlichen Zusammenlebens, über das Auslöschen von Menschenleben im Krieg und die Informierung der Welt darüber, über Fremdenfeindlichkeit, zwischenmenschliche Provokationen, über die Ästhetik der Wahrnehmung und über deren Relativität selbst. Haneke liebt es, die im ersten Augenblick sich auch so darstellende Normalität als ein Trugbild zu entlarven, immer wieder zu zeigen, dass das nur gelernte (oder vielmehr zu spielen gelernte) Konvention ist. Jeder Mensch ist allein! Hilfe erwächst ihm nicht durch sogenannte Mitmenschlichkeit oder Liebe - bei der Behauptung solcher Gefühle würden sich Hanekes Bilder abwehrend aufstülpen wie die Materie bei einem Erdbeben. Und trotzdem wird menschliche Existenz von Haneke nicht dekonstruiert, sondern hat ihren Wert als diese Einzelexistenz, als die sie vor- und in das Geschehen eingeführt wird. Da scheint Haneke seit dem den Zorn auf seelenlose Quäler und Mördertypen herausfordernden „Funny Games“ doch eine gnädigere Haltung dem menschlichen Wesen gegenüber gefunden zu haben. Zumindest lässt er seine von ihm gewählten und beschriebenen Figuren nicht in Bösartigkeit erstarren: Jean, der der Bettlerin aus Rumänien achtlos eine zusammengeknüllte Tüte in ihre bittenden Hände schmeißt, tut das eher beiläufig, unbedacht denn gezielt, die jugendlichen Provokateure in der Metro, die Anne herauszufordern versuchen, erscheinen zwar aggressiv, reagieren aber wider nur den Frust ab, der sich in sie gefressen hat, weil die Gesellschaft ihnen als Emigranten keinerlei Chancen der Entfaltung bietet.Sprechende TrommelnHaneke beginnt seinen Film mit der pantomimischen Darstellung eines Seelenzustandes durch ein taubstummes Kind. Auch die ratenden Kinder, die die Darstellung verfolgen, können nicht sprechen und geben ihre Auflösungen der Rätselfigur in der Gebärdensprache.
Der Film schließt wieder mit der Darstellung eines Zustandes durch ein Kind, der leichter, aber auch oberflächlicher erscheint als das Psychorätsel zu Beginn. Und überlagert wird dieses Ende durch die Trommeln einer mächtigen Drum-Band, die in koordinierter Formation erregende Rhythmen produziert. Die Besetzung dieses Orchesters der sprechenden Trommeln ist multiethnisch und der Rhythmus ist nicht französisch. Trommelnd scheinen Menschen verschiedener kultureller Herkunft einen gemeinsamen Weg oder zumindest einen Anfang gefunden zu haben. Und wie sie gegen das nervtötende Geseiere von einer Leitkultur antrommeln können.Zum Regisseur: Michael Haneke ist 1942 in München geboren, nach seinem Studium der Psychologie in Wien war er Redakteur beim Südwestfunk und arbeitet seit 1970 als Autor und Regisseur für Film und Theater. Bekannt wurde er durch seine Filme „Benny’s Video“ (1992) und „Funny Games (1997).
- merz-Videokritik: Videos, zusammengestellt und kommentiert von Erwin Schaar
merz-Videokritik: Videos, zusammengestellt und kommentiert von Erwin Schaar
Die Sache mit der Werbung
Als die Werbung flimmern lernte
Die Geschichte des deutschen Werbefernsehens (Teil 1: Die Wirtschaftswunderjahre; Teil 2: Sixties pur)
Regie: Ulrich Wünsch - Produktion: Tacker Film, Deutschland 1998 - VHS, Teil 1: 65 Minuten, Teil 2: 55 Minuten - Verkauf: Tacker Film (Marienburger Str. 41 A, 50968 Köln) - Kaufpreis: DM 79,90 (für beide Kassetten)
Ein Junge bringt seinem Vater das Feuerzeug, damit sich der genüsslich eine Zigarette anzünden kann, die Mutter gesellt sich dazu, um mitzurauchen und das Kind blickt zufrieden auf seine Eltern. Das schaffte in den 60er Jahren die „Milde Sorte“, eine „Zigarette für lebensfrohe Menschen“. Einiges hat sich da doch verändert im Laufe der Jahrzehnte! Aber es gibt auch Wiedersehensfreude: mit den damals noch so jungen Carrells, Fuchsbergers, Tillers, Kesslers, Kochs!Die etwas willkürliche und langatmige Zusammenstellung von TV-Werbespots, die ab 1956 über den Bildschirm „flimmerten“ (wobei das doch wohl eher auf der Filmleinwand der Fall war), muss bei diesem zeitlichen Abstand natürlich viel kulturgeschichtlich Interessantes beinhalten. Dass die Spots gelegentlich gekürzt sind, verfälscht ihre Dramaturgie, die ja erst nach 1970 eine schnellere Gangart bevorzugte.
Für Ältere mag vieles zum Wiedererkennen und Reflektieren dabei sein, ob es auch Jüngere zum längeren Hinsehen motiviert? Wenn man sich auf diese Historie einlässt, muss man das Herausfiltern lernen: Warum haben die so viel gereimt in den 50er Jahren, als all die Herrlichkeiten auf den Markt kamen, die auf uns aber heute schon wieder abgestanden wirken. Waren diese Trivialreime eine Art Zauberformel für den Wohlstand: Simsalabim und Tichlein deck dich? Die Frauen erfüllen auch noch das Bild der KKK-Anschauung und erst in den späten 60ern werden kleine Veränderungen wahrnehmbar: beim Rauchen zum Beispiel (siehe oben).
Der Tchibo-Kaffee-Experte bereiste für uns noch die weite Welt, heute für Jedermann und Jedefrau ohne weiteres selbst durchführbar. Immerhin: 1968 flog Neckermann schon und noch nach Beirut! Und zu den Ruinen von Baalbek.In den 50er Jahren lernen wir viel über Suppen, Eierlikör und Küchengeräte, dann werden die Waschmaschine zum Thema und der Plattenspieler. In den 60er Jahren zaubert Beckenbauer „Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch“, der Omo-Reporter macht das Ruhrgebiet unsicher und entfernt dort den Schmutz, den Willy Brandt dann vom Himmel verbannte. 1967 kam die Farbe ins TV und immer mehr Freizügigkeit.Ja, in dem Durcheinander geht es durch die Jahre und man kann keine Aussage treffen, wie repräsentativ diese Auswahl ist. Aber sie soll ja auch eher unterhaltsam sein. Da die „Hörzu“ gar so präsent ist, dürfte Springer zumindest gesponsort haben.Maus & Co.Regie: Michael Schomers - Produktion: Lighthouse-Film, Köln 1997 - VHS, 10 Minuten - Verleih: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
„Apropos - Videos & Texte zur politischen Bildung“ nennt sich eine Reihe mit vielen, vielen Videos, die die Bundeszentrale für politische Bildung rund um gesellschaftliche Fakten und Probleme produzieren lässt. Neben einem kurzen Film gibt es zu jedem Titel auch ein Begleitheft, dem weitere Informationen, didaktische Ratschläge und Literaturhinweise zu entnehmen sind.Die Kürze des Videobands verweist schon darauf, dass es sich um eine Art Anspielfilm handelt, der das zu behandelnde Thema mit Fakten und Bildern ins Gespräch bringen soll und will, um Lehrenden den Einstieg zu erleichtern. Mehr ist da nicht. Bei „Maus & Co.“ stehen knappste Spielszenen neben einer langen Erklärung eines Fachmannes über Merchandising-Produkte und wie sie auf den Markt gebracht werden. Die Ausführungen dieses Werbemannes, der sich die allseits beliebte Kinder-“Sendung mit der Maus“ vornimmt, sind gedanklich verständlich vorgetragen. Man merkt den Profi, der Wissen vermitteln kann und betrachtet angesichts der erfolgreichen Bemühungen der Wirtschaft mit Maus-Nachfolgeprodukten auch diese Sendung mit kritischeren Augen. Ansonsten gibt es noch Hinweise auf andere Formen der Werbung, aber diese sind dann doch zu rudimentär. Meine Idole - Deine IdoleRegie, Buch und Kamera: Katrin Kramer und Heinz Richter - Produktion: telekult Film- und Medienproduktion, Deutschland 1997 - VHS, 10 Minuten - Verleih: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
Auch ein Video aus der „Apropos“-Reihe. Diesmal gibt es Aufklärung über Verkaufsstrategien für populäre Musik. Wenn diese weniger mit sich selbst, mehr mit dem Aussehen der sie Ausübenden zu tun hat, dann werden Personenverehrung und Devotionalien zum Mittelpunkt der ‘musikalischen’ Beschäftigung. Natürlich müssen die Angebeteten den Geschmack für Rhythmus und Melodie der Fans schon treffen, damit diese Hingezogenheit auch begründet werden kann. Aber Mittelpunkt werden immer die Stars in ihrer Körperlichkeit sein, die dann auch als Ausstrahlung bezeichnet wird.Dieses Verehrungsphänomen kann besonders intensiv bei (meist) jungen Mädchen beobachtet werden, die sich ehrfürchtig den Boy-Groups nähern. Das neue „Duden-Wörterbuch der Szenesprache“ merkt an, dass vor allem in England diese Gruppen markt- und marketinggerecht konzipiert werden. Und von einer solchen Gruppe berichtet die 15-jährige Antonia in diesem Tape, von der Gruppe „East 17“. Antonia zeigt Bilder von den Bandmitgliedern, Konzertplakate, eine Unterhose, die sie als Souvenir von der Gruppe zugeschickt bekommen hat. Sie erzählt von ihrer England-Reise, wo sie mit ihrer verständnisvollen Mutter auf die Suche nach den Jungs gegangen ist. Mehr als ihre Wohnhäuser haben sie allerdings nicht zu Gesicht bekommen.
Es ist nicht gerade spannend, was Antonia zu erzählen weiß, aber das mag - da das Video kurz ist - als Anreiz verwendet werden, junge Leute zu motivieren, über ihr Verhältnis zu dieser speziellen Form von Idolen zu berichten, die mit Musik zum Markenartikel gestylt wurden. Ein Film zum Thema Jugendkultur und Werbung.Zielgruppe: Kind. Werbung in der DiskussionRealisation: Dieter Baacke, Walter Blohm (Regie), Jochen Kopp (Kamera) - Produktion: Audiovisuelles Zentrum der Universität Bielefeld 1997 - Herausgabe: FWU Institut für Film und Bild, 1999 - VHS, 30 Minuten - Verleih: Bildstellen und Medienzentren - Verkauf: FWU
Grundlage des Films war eine Studie, die die Uni Bielefeld im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt hat. Die Einstellung der 6- bis 13-Jährigen zur Werbung sollte dabei erforscht werden, ihre Kompetenz ergründet, inwieweit sie diesen unverzichtbaren Bestandteil der freien Marktwirtschaft beurteilen können. Nein, um diese zweischneidige Diskussion geht es natürlich nicht. Das pädagogische Modell lebt immer noch von der Gegensätzlichkeit: hie Werbung, da Kindheit - zumindest im Grundsätzlichen, auch wenn man sich sonst liberal gibt, weil ja Kinder doch schon viel erkennen (können). Da werden dann natürlich die kritischen Bemerkungen gegen die Werbung von den Kindern reproduziert. Aber wenn es diesen um ihre Kleidung geht, werden mit aller Selbstverständlichkeit die (teueren) Markenklamotten eingefordert - so, als wenn da nichts an kritischer Einsicht gewesen wäre. Wie eben auch Erwachsene handeln, die das kritische Beurteilen draufhaben, solange es nicht ihre Belange betrifft.
Also: Kinder werden eben auch nicht aus sich selbst die Mechanismen der Beeinflussung durchschauen lernen. Ein wenig Aufklärung darf schon sein. Und eine Diskussion um Werbung müsste auch immer deren Qualität im Blickfeld haben. Manch einfältige Überredungstechnik ist eben leicht zu durchschauen und manche geschickte Strategie der Manipulation mag auch dem honorigen Forscher unentdeckt bleiben. Manchmal beschleicht einen die Vermutung, dass Gegenstände gar zu einfach gesehen werden, weil man sich nur in der Zeit ihrer Erforschung mit ihnen befasst hat.Auch wenn dieses Video für einen Einstieg in eine Diskussion (z.B. mit Eltern) um das Problem geeignet sein dürfte, halte ich es für zu lang. die vielen Statements ermüden zunehmend.
- Erwin Schaar: Was ein Mensch wert ist...
Erwin Schaar: Was ein Mensch wert ist...
„Beim black box-Problem geht es um die Erforschung der Verhaltenscharakteristika und der inneren Struktur eines Systems, dessen Eingangs- und Ausgangsgrößen beobachtbar sind“ ist im „Handbuch psychologischer Grundbegriffe“ (Theo Herrmann u.a., München 1977) nachzulesen. Der diplomierte Psychologe Andres Veiel, 1959 geboren, der mit den Dokumentarfilmen „Balagan“ (1993) und „Die Überlebenden“ (1995) reüssierte, hat sich also als Titel für seinen neuen Versuch der Wirklichkeitserforschung einen Begriff aus seinem Fachgebiet gewählt, der keine Lösung des vorgestellten Systems verspricht, es eher mit Bildern, Dialogen, Musik zur weiteren Bearbeitung vorstellt.1989 wird der Bankier Alfred Herrhausen, alleiniger Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank durch ein Attentat in seinem Auto getötet, für das die RAF die Verantwortung übernimmt. 1993 stirbt das RAF-Mitglied Wolfgang Grams im Bahnhof von Bad Kleinen. Wie, dafür gibt es zwei Versionen: die offizielle, die von Selbstmord spricht, und die von Grams’ Bruder, der im Film von einem gezielten Polizistenschuss in den Hinterkopf aus unmittelbarer Nähe berichtet. Aber dazu wird im Film nicht weiter Stellung genommen. Es beschleicht einen das Gefühl, dass die Tabuzone um die Auseinandersetzungen von RAF und Staat immer noch nicht ohne Sanktionen betreten werden darf, Bekennertum und Sympathiebekundungen die Sprache der Sympathisanten, Staatsräson die Sprache der Veröfffentlichungen und der Analysen lenken. Die Öffnung der Black Box wird noch hinausgeschoben, damit aus ihr nicht eine Büchse der Pandora wird. Dieses Verhalten oder Vorgehen scheinen alle politischen Systeme verinnerlicht zu haben - vielleicht dient es der sozialen Gesundheit, der Überlebensfähigkeit eines Sozialwesens.
Etwas bisher Unmögliches„Mir war klar, dass der Film damit etwas bisher Unmögliches versucht“ meinte Andres Veiel in einem Interview zu seiner Konzeption, die Leben eines Terroristen und eines Opfers zusammenzubringen. Wobei Grams keine Bezüge zum Attentat gegen Herrhausen unterstellt werden können.*
Beide sind Protagonisten eines historischen Segments der BRD. Beider Tod löst bei den Angehörigen immer noch Schmerz aus. Die Bezugspunkte des Zusehers erreicht der Film mit der verschachtelten Montage des Schicksals beider Menschen, er stimuliert Gefühle dafür oder dagegen - und das bei beiden Männern.
Der musisch veranlagte Wolfgang Grams, der zum gesuchten RAF-Terroristen wird und der alerte Karrieremann Alfred Herrhausen, der in seinen letzten Lebensjahren einen Kurs in der Deutschen Bank steuert, den sein geistlicher Freund im Film so kennzeichnet: Es kann nicht sein, dass wenige Profit aus der Armut der vielen ziehen. Woraus diese Einsicht resultierte? Herrhausen hatte jedenfalls diesen Kurs der gerechten Sache gegen den Widerstand des Managements eingeschlagen, ohne ihn lange verfolgen zu können. Und Grams kämpfte für die Gerechtigkeit in der Welt, gegen alle Mächtigen mit allen Mitteln und erlitt den Tod in frühen Jahren. Sollen wir damit eine Art Parallelität im Opfertod sehen? MontagenIn den abwechselnd montierten Viten werden wir von Angehörigen, Freunden, Kollegen mit Impressionen bedient, die manchmal sehr persönlich und sympathisch geraten, wie bei Traudl Herrhausen, der zweiten Frau des Bankers, deren Selbstverständnis vor der Kamera Vertrauen für diejeningen hinter der Kamera voraussetzt. Kühl und selbstgefällig, machmal kritisch distanziert die Kollegen von der Bank, Thomas R. Fischer, Vorstandsmitglied, Hilmar Kopper, Aufsichtsratsvorsitzender und Rolf E. Breuer, Vorstandssprecher. Zeitweise enervierend und kleinbürgerlich Mutter und Vater von Wolfgang Grams, wenn auch der Schmerz um den Verlust des Sohnes spürbar wird und ihr Stehen zu ihm für sie einnimmt. Erschreckend in ihrer steifen Konventionalität die Schweter von Herrhausen, politisch unbestimmt die ehemaligen Freunde von Wolfgang. Private Aufnahmen und Bilder der TV-Berichte über die Szene zeigen den weichen Habitus von Wolfgang Grams in seiner Jugend, die vornehme Lebensweise des den Reichtum genießenden Herrhausen, der in der NS-Eliteschule im oberbayerischen Herrsching seine Ausbildung erhielt (1930 geboren), eine schnelle Karriere bis an die Spitze schaffte, dann mit seiner Fürsprache für die 3. Welt für Irritationen im Gewerbe sorgte.Wenig Bilder über Grams, dessen soziale Empathie eher ohne Maß war und dessen Gesicht in seiner aussichtslosen Lage immer härter wurde.Die Zeit der Reife?
Die Sympathie des Films scheint eher Grams zu gehören, wenn ich denn richtig zugehört und zugesehen habe. Die musikalische Untermalung beider Porträts drückt bei den Sequenzen über Grams doch mehr das traurige Mitfühlen aus. Herrhausen wirkt immer steif und reich und vergnügungssüchtig, zumindest in frühen Jahren - ein seltsamer undefinierter Freund berichtet über Besuche einschlägiger Etablissements - und bringt dem Zuseher das Gefühl, als Auslöser für die Bewegung gedient zu haben. „Alfred Herrhausen war ein besonderes Hassobjekt, weil er sich aus Sicht der radikalen Linken eine scheinsoziale Maske aufsetzte“ (Veiel im schon erwähnten Interview in „Filmecho/ Filmwoche 19/2001).
Wann werden wir die Sprache und das Selbstverständnis gewinnen, diese Geschehnisse vorurteilslos zu analysieren - ohne Angst, ohne Beschuldigungen, ohne Angst vor Beschuldigungen? Nur zur Lösung dieser Frage kann der Film doch gemacht worden sein. Die Black Box muss also doch geöffnet werden. Der Lebenslauf von Grams scheint eher klar, gern mehr erfahren hätte ich über Alfred Herrhausen, denn er hatte die Macht in seinen Händen, einflussreiche Freunde und bestimmte mit in unserer Gesellschaft.