Eric van der Beek
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- Eric van der Beek: Überwachung, digitale Gewalt und die Architektur von Online-Räumen
Eric van der Beek: Überwachung, digitale Gewalt und die Architektur von Online-Räumen
Digitale Gewalt und Überwachung gehören zu den Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche mitunter in Online-Räumen machen. Der Ansatz der handlungsorientierten Medienpädagogik besteht darin, die damit verbundenen Risiken und Gefahren aus der Perspektive der subjektiven Aneignungsweisen zu verstehen und Heranwachsende zu einem souveränen und selbstbestimmten Umgang mit Medien zu befähigen. Ihre Maxime ist aber auch, sie vor potenziell entwicklungsgefährdenden Inhalten zu schützen und dabei ihre digitalen Teilhabeinteressen zu wahren. Francesca Schmidt setzt sich in ihrem Werk aus feministischer und intersektionaler Perspektive mit der Frage auseinander, wie Formen der Diskriminierung und Marginalisierung mit der Architektur des Netzes verwoben sind. Digitale Gewalt und Überwachung versteht Schmidt als Folge einer Netzpolitik, die den Prinzipien der De-Regulierung und Privatisierung folgt.
Im ersten Teil geht Schmidt auf ‚Konzepte & Geschichten‘ des Cyber- und Netzfeminismus und der Netzpolitik ein. Hier begründet sie die These, dass Technologie konstruiert und das Internet folglich ein hegemonialer Raum ist. Schmidt zeigt, dass das Netz als Artikulations- und Vernetzungsraum ein Potenzial für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen darstellt. Jedoch begünstigen der normativ-strukturelle Rahmen der Netzregulierung sowie die Internetgesetzgebung Exklusionsrisiken und Diskriminierungen im Internet. Im zweiten Teil stellt Schmidt ‚Feministische Netzpolitik im Einsatz‘ dar. Sie kritisiert, dass die Zugangsmöglichkeiten zur bürgerlichen Öffentlichkeit im Netz entlang sozialer, kultureller und ethnischer Grenzen ungleich verteilt sind. Mit der Idee einer reflexiven Öffentlichkeit entwickelt sie die politische Forderung, die Betroffenheit von Marginalisierung und Diskriminierung und deren strukturelle Bedingungen stärker in öffentlichen Diskursen zu betonen. Die Überlegungen zur digitalen Öffentlichkeit wendet Schmidt zunächst auf das Problemfeld der digitalen Gewalt an. Im Umgang damit fordert sie eine stärkere staatliche Regulierung und ein Verbandklagerecht zur Durchsetzung bestehender Gesetze. Sie zeigt aber auch auf, dass digitale Gewalt fern von der Gesetzgebung und den Absichten der Plattformbetreiber*innen zivilgesellschaftlich reguliert werden kann. Ansätze sieht Schmidt in der Mobilisierung von Gegenrede und Communitymanagement.
Danach wendet sich Schmidt dem Problemfeld der Überwachung zu. Sie argumentiert, dass die Voraussetzungen des algorithmischen Trackings und Cyber-Stalkings in den Algorithmen von Social-Media-Plattformen verankert sind. Dadurch bestehe die Gefahr eines sogenannten Chilling-Effects, also einer vorauseilenden Anpassung der individuellen Verhaltensweisen (Selbstzensur), die aus der Erwartung entsteht, dass man überwacht wird. Schmidt kann aufzeigen, dass digitale Gewalt und Überwachung tief in die Funktionsweise des Netzes eingeschrieben sind. Damit haben sie strukturelle Ursachen, die weit über die subjektiven Aneignungsweisen der Nutzenden hinausgehen. Die Medienpädagogik steht hier vor einem Dilemma. Die Verwirklichung von Teilhabeinteressen Heranwachsender kommt dort an die Grenzen, wo digitale Gewalt und Überwachung ihre Entwicklung gefährden kann. Die Maxime der Befähigung zu einem souveränen und selbstbestimmten Umgang mit Medien kann daher nur Teil der Antwort sein, was die Aufgabe der Medienpädagogik im Netz ist.
Aus den Ausführungen von Schmidt lassen sich meines Erachtens mindestens drei Aufgaben für die Medienpädagogik ableiten. Erstens müssen neben den Aneignungsweisen von Kindern und Jugendlichen die hegemonialen Strukturen der Online-Räume in den Blick genommen und die Interessen der Akteur*innen besser verstanden werden. Zweitens sind wir herausgefordert, anwaltschaftlich die Teilhabeinteressen Heranwachsender in diesen Räumen zu vertreten und an der Gestaltung von Regeln und Normen in Politik und Zivilgesellschaft aktiv mitzuwirken. Drittens brauchen wir in der Medienpädagogik eine reflexive Auseinandersetzung mit Überwachung und digitaler Gewalt als Prinzipien der Medienerziehung. Digitale Gewalt wird beispielsweise dort ausgeübt, wo Jugendschutzfilter den Zugang zu Inhalten versperren oder Medien zur Durchsetzung erzieherischer Sanktionen genutzt werden. Risiken durch Überwachung entstehen beispielsweise dort, wo der Umgang mit digitalen Medien durch Fachkräfte kontrolliert wird. Eignen sich Jugendliche in der aktiven Medienarbeit Social-Media-Plattformen als Identitätsspielräume und zur Artikulation ihrer politischen Interessen an, sind sie mit den Risiken von Überwachung und digitaler Gewalt konfrontiert. Die handlungsorientierte Medienpädagogik muss sich daher intensiv mit der Frage beschäftigen, wie hegemonial strukturierte Technologien mit den pädagogischen Zielen und Handlungsweisen verflochten sind.
Schmidt, Francesca (2021). Netzpolitik. Eine feministische Einführung. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich. 188 S., 18,90 €.
Beitrag aus Heft »2022/05 Medien.Pädagogik und Rassismus.Kritik – Impulse einer Auseinandersetzung«
Autor: Eric van der Beek
Beitrag als PDF - Erik van der Beek: Kinder und Jugendliche im Unmarked Space der Leitmedien?
Erik van der Beek: Kinder und Jugendliche im Unmarked Space der Leitmedien?
Precht, Richard David/ Welzer, Harald (2022). Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. Frankfurt a. M.: S. Fischer. 288 S., 22,00 €.
Mit ihrer Veröffentlichung legen Richard David Precht und Harald Welzer ein populärwissenschaftliches Buch zur Bedeutung der Massenmedien für das politische Geschehen und die öffentliche Meinungsbildung in Deutschland vor. Damit wenden sie sich wichtigen kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen zu, welche die digitale Transformation der Leitmedien und ihre Funktion in der Demokratie betreffen. Die zwölf Kapitel bilden eine Dramaturgie von der Problembeschreibung über dessen Analyse bis hin zu Lösungsansätzen. Argumentativ beziehen sich Precht und Welzer auf Studien, Begriffe und Theorien der Kommunikationswissenschaft, Sozialwissenschaft und Sozialpsychologie. Die Verknüpfung dieser Quellen mit den Beobachtungen und Erfahrungen der Autoren sowie die Zuspitzung von Argumenten verweisen auf die Textform des Essays. Precht und Welzer eröffnen das Buch mit einer persönlichen Note: der Schilderung des medialen Theaters rund um den Offenen Brief an Olaf Scholz zum Krieg in der Ukraine, den die Autoren mitgezeichnet haben. Danach gehen sie analytischer vor. Sie arbeiten pointiert heraus, dass die Repräsentation von vielfältigen Meinungen konstitutiv für den öffentlichen Diskurs in einer liberalen Demokratie ist. Anhand der Berichterstattung über gesellschaftlich wichtige Themen problematisieren die Autoren eine wachsende Differenz zwischen der Meinungsvielfalt in der deutschen Gesellschaft und der veröffentlichten Meinung der Leitmedien. Sie konstatieren, dass die Leitmedien immer seltener die Meinungsvielfalt zu gesellschaftlich wichtigen Themen abbilden. Als ‚Unmarked Space‘ bezeichnen sie die wachsende Repräsentationslücke zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung.
Precht und Welzer beobachten, dass sich die Leitmedien zu politischen Akteuren entwickeln. Diese ‚amtierenden Medien‘ kolonialisieren das politische System, nehmen Einfluss auf die politische Willensbildung und nutzen die veröffentlichte Meinung als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Das gelingt, weil sie sich in ihrer Berichterstattung in Krisenzeiten, die durch Unsicherheit und Ungewissheit gekennzeichnet sind, aneinander orientieren. In diesem ‚Cursor-Journalismus‘ konstruieren die amtierenden Medien eine Phantomwirklichkeit jenseits der Öffentlichen Meinung, die durch Aufregerthemen und einen polarisierten Diskurs bestimmt ist. ‚Direktmedien‘ wie Twitter spielen dabei eine zentrale Rolle. Hier sind Politik und Journalismus miteinander vernetzt, der Cursor wird von den amtierenden Medien gesetzt und die personalisierte Kommunikation führt zur Ent-sachlichung von Diskursen.
Die Thesen von Precht und Welzer sind nicht neu und halten einer wissenschaftlichen Überprüfung kaum stand. Es gelingt ihnen nicht, die vielfältige Landschaft der Bürger*innen- und Alternativmedien in den Blick zu nehmen, die in Form von Podcasts, YouTube-Videos und Blogs für viele Menschen alternative Deutungsangebote bereitstellen. Dennoch stellen die Autoren wichtige Fragen und bearbeiten diese populärwissenschaftlich. Die mediale Aufmerksamkeit, die das Buch im Spätsommer 2022 erlangte, hat kaum dazu beigetragen, dass diese wichtigen Fragen kritisch in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden. Vielmehr standen die Akteur*innen der Leitmedien, der Politik und die Autoren selbst im Fokus. Dennoch: Precht und Welzer tragen eine Vielzahl von Beobachtungen zusammen, die durchaus geeignet sind, die Funktion der Leitmedien für den öffentlichen Diskurs zu problematisieren. Es ist jedoch nötig, sich – ganz im Sinne von Habermas – vernünftig mit ihren Thesen auseinander zu setzen.
Für die Medienpädagogik ergeben sich drei Anknüpfungspunkte. Erstens stellen Precht und Welzer Fragen, die das Verhältnis von Medien und Öffentlichkeit sowie politische Partizipation in der Demokratie betreffen. Diese Fragen tangieren den Kernbereich der Medienpädagogik: das gute Aufwachsen mit Medien und Medienkompetenz als Voraussetzung zur gesellschaftlichen Teilhabe. Daher sollte sich die Medienpädagogik intensiv mit solchen populärwissenschaftlichen Thesen auseinandersetzen und sich in das mediale Theater einbringen. Zweitens kann die Medienpädagogik auf der Ebene der Förderung eines kritisch-reflexiven Umgangs mit Medien ansetzen. Die Beobachtungen, die die Autoren machen, laden dazu ein, mit Kindern und Jugendlichen das Mediensystem zu analysieren und dessen Funktion zu reflektieren. Drittens sollte die Medienpädagogik die Repräsentation von Problemlagen und Meinungen junger Menschen in den Leitmedien stärker in den Blick nehmen. In den vielen Krisen der Gegenwart befinden sich junge Menschen und ihre riskanten Lebenslagen tatsächlich im Unmarked Space der Leit-medien. Kinder und Jugendliche müssen dort sichtbar sein, damit sie im öffentlichen Diskurs und in der Politik wahrgenommen werden.
Beitrag aus Heft »2023/01: Für Demokratie, gegen Polarisierung. Impulse für die politische Medienbildung«
Autor: Eric van der Beek
Beitrag als PDF - Eric van der Beek: Die Mandate medienpädagogischer Professionalität
Eric van der Beek: Die Mandate medienpädagogischer Professionalität
Die Medienpädagogik ist ein vielfältiges Arbeitsfeld, in dem eine Vielzahl professioneller Akteur*innen in Praxis, Forschung und Transfer tätig sind. Die Bedingungen ihres professionellen Handelns verändern sich stetig. Im trans- und interdisziplinären Feld der Medienpädagogik stellt sich daher die Frage, wie übergreifende Maxime der Professionalität formuliert werden können.
Im Sammelband Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung suchen 20 Autor*innen in 16 Beiträgen Antworten. Die Artikel sind in Arbeitsgruppen des GEW Bundesforums Bildung in der digitalen Welt entstanden und eröffnen eine Bandbreite aktueller theoretischer und praktischer Überlegungen in diversen Handlungsfeldern der Medienpädagogik. Dazu werden theoretische, ethische und praktische Herausforderungen der Digitalisierung unter dem Primat der Pädagogik formuliert und explizit Forderungen an die Politik abgeleitet. Die Beiträge durchzieht deutlich eine politische Dimension. Die Hürden des föderalen Bildungssystems werden aufgegriffen und Forderungen an Bund und Länder abgeleitet. Diese umfassen unter anderem die Finanzierung und Verstetigung medienpädagogischer Bildungsangebote, die Verbesserung digitaler Teilhabemöglichkeiten und die Demokratisierung der (digitalen) Bildung in der Medienpädagogik. Es wird aber auch das politische Mandat der Medienpädagogik zur Medienkompetenzförderung deutlich. Besonders sichtbar wird dieses Mandat in den Beiträgen über die schulischen Handlungsfelder. Hier setzen sich die Autor*innen kritisch mit der KMK-Strategie Bildung in der Digitalen Welt und ihren Implikationen auseinander.
Die Beiträge zeigen außerdem auf, dass sich in medienpädagogischen Handlungsfeldern durch die digitale Transformation vielfältige theoretische und ethische Fragen eröffnen. Kapitel 2 wendet sich der bildungstheoretischen Ebene zu. Es wird diskutiert, inwiefern sich die Voraussetzungen des Lernens durch die Integration digitaler Technologien in Lernsettings verändern, wie die wachsenden Orientierungsanforderungen an Subjekte in fragilen Medienumgebungen adressiert werden können und welche medienpädagogischen Kompetenzen in einer Kultur der Digitalität zu entwickeln sind. Weitere Beiträge wenden sich der ethischen Dimension zu und diskutieren beispielsweise die Ausbreitung kapitalistischer Strukturen und Datafizierung im Bildungsbereich. Um den Herausforderungen zu begegnen, wird das Primat der Pädagogik angesichts digitaler Spaltung und ungleicher Teilhabechancen in der demokratischen Gesellschaft kritisch diskutiert.
Neben der politischen Dimension und den disziplinären Verortungen eröffnen die Buchbeiträge tiefe Einblicke in die vielfältigen Handlungsansätze der Medienpädagogik. Hier rücken insbesondere die in Kapitel 3 dargestellten Praxisfelder in den Fokus. Bereits in der Krippe und im Kindergarten ist es beispielsweise relevant, mediale Bildungsprozesse und die kritisch-reflexive Auseinandersetzung von Kindern mit Alltagstechnologien zu fördern. Die Schulsozialarbeit eröffnet inklusive und demokratische Räume, in denen sie Heranwachsende bei der souveränen und selbstbestimmten Aneignung von Medien unterstützt. Betrachtet man das Feld der Erwachsenenbildung, sind medienpädagogische Angebote bisher rar gesät. Dabei ist Medienbildung als Teil der beruflichen Aus -und Weiterbildung für die Arbeitswelt hoch relevant. Auch für ältere Menschen werden bisher nur wenige Angebote bereitgestellt.
Das Buch zeigt, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur*innen im Feld der Medienpädagogik tätig ist. Alle erheben den Anspruch, die digitale Transformation mitzugestalten – und tun dies auch. Die vielfältigen Perspektiven und die politischen Forderungen, die daraus abgeleitet werden, bleiben jedoch disparat. Ein Orientierungsangebot, das Feld der Medienpädagogik zu ordnen, die politischen Forderungen zu bündeln und sie als gesellschaftliche Akteurin zu adressieren ist das aus der Sozialen Arbeit bekannte Trippelmandat1 professionellen Handelns: Übergreifend wird in den Beiträgen deutlich, dass die Medienpädagogik durch Bund und Länder erstens ein politisches Mandat zur Förderung der Medienkompetenz aller Zielgruppen erhält. Zweitens zeigen die Buchbeiträge, dass die Medienpädagogik ein Mandat durch ihre Adressat*innen erhält, sich für eine gelingende digitale Teilhabe innerhalb bestehender gesellschaftlicher Strukturen einzusetzen. Das dritte Mandat entsteht aus der theoretisch und ethisch begründeten Fachlichkeit der Medienpädagogik, die sich angesichts ihrer politischen Dimension und des digitalen Wandels stets weiterentwickelt.
Über eine solche Bestimmung medienpädagogischer Fachlichkeit ist es möglich, die Disziplin und Profession der Medienpädagogik als eine gesellschaftliche Akteurin und strategische Partnerin der GEW weiterzuentwickeln. Ziel ihres professionellen Handelns ist die Sicherstellung digitaler Teilhabe aller durch den souveränen und selbstbestimmten Umgang mit Medien und Partizipationsmöglichkeiten am digitalen Wandel zu eröffnen.
1Definition von Ronald Lutz unter www.socialnet.de/lexikon/Tripelmandat [Zugriff: 10.03.2023]Schorb, Bernd/Bensinger-Stolze, Anja/Schell, Fred/Dusse, Birgita/Antritter, Wolfgang (Hrsg.) (2022). Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung. München: kopaed. 208 S., 18,00 €.
- Eric van der Beek: Die Rolle der Medienpädagogik im nächsten Internet
Eric van der Beek: Die Rolle der Medienpädagogik im nächsten Internet
Ball, Matthew (2022). Das Metaverse. Und wie es alles revolutionieren wird. München: Vahlen. 328 S., 24,90 €.
Mit der Entwicklung neuer Technologien sind stets Projektionen über die Zukunft der Menschheit verbunden. Die gesellschaftliche Etablierung solcher Technologien folgt einer gezielten Disruptionsdynamik, die von den Tech-Konzernen ausgeht. Matthew Ball – selbst Akteur in der Tech-Branche – entwickelt in Das Metaverse seine Vorstellungen vom ‚nächsten Internet‘: eine integrierte Plattform, die alle Nutzer*innen, Angebote und Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten in einem digital-vernetzten Raum zusammenfassen und erweitern soll. Im ersten von insgesamt drei Teilen des Buches setzt sich Ball mit der Frage auseinander, was das Metaverse sein wird und was es leisten soll. Ball definiert das Metaverse hier als „massiv skaliertes und interoperables Netzwerk von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten, die synchron und dauerhaft von einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Nutzern mit einem individuellen Gefühl der Präsenz und mit einer Kontinuität der Daten wie Identität, Geschichte, Berechtigungen, Objekte, Kommunikation und Zahlungen erlebt werden können“ (S. 43). Im zweiten Teil beschäftigt sich der Autor dann mit den Problemen bei der Entwicklung dieser integrierten Plattform. Bei der Verwirklichung sieht er Videospiele als treibende Kraft, die Nutzenden schon jetzt vielfältige Erlebniswelten eröffnen. Um das Gefühl der Präsenz herzustellen, ist es wichtig, dass die Verarbeitung der Daten im globalen Internet möglichst verzögerungsfrei abläuft. Eingeschränkte Server-Ressourcen und die physikalischen Grenzen der Lichtgeschwindigkeit bei der Datenübertragung stehen dem (noch) im Weg. Um möglichst vielen Menschen einen Zugang zum Metaverse zu eröffnen, muss zudem Hardware entwickelt werden, die die Datenmenge verarbeiten und eine hohe Grafikqualität darstellen kann. Außerdem sollte sie bezahlbar sein. Die größere Herausforderung sieht Ball jedoch in der Entwicklung technischer und ökonomischer Standards. Betrachtet man die gegenwärtige Landschaft digitaler Plattformen im Netz, bestehen diese aus weitgehend getrennten Social-Media-Angeboten, Gamingwelten und Konsumplattformen. Im Metaverse soll es jedoch möglich sein, „sich als Neymar zu verkleiden, einen Baby-Yoda- oder Air-Jordan-Rucksack zu tragen, den Dreizack von Aquaman in der Hand zu halten und virtuell Stark-Industries zu erkunden“ (S. 148). Dazu müssen Standards vereinbart werden, die die Eigenschaften eines digitalen Körpers, seiner Kleidung und Accessoires und seine Interaktionsmöglichkeiten mit der Umwelt definieren. Darüber hinaus sind die Besitz- und Verwertungsrechte und deren Monetarisierung zu klären. Apple und Google blockieren diese Entwicklung als mächtige Marktteilnehmer durch die Zentralisierung von Angeboten. Im dritten Teil wendet sich Ball der Frage zu, wie das Metaverse die Gesellschaft verändern wird. In seiner Vision liegt dessen Wert im integrierten Meta-Business, in dem neben Bildung, Lifestyle und Unterhaltung auch Sexarbeit, Mode und Industrie vereint werden. Der Autor geht davon aus, dass wenige Unternehmen diesen Markt dominieren werden. Um diesen zu regulieren, fordert er Gesetze, die auf das Metaverse zugeschnitten sind. Angesichts der zunehmenden Regionalisierung des Internets durch nationalstaatliche Gesetzgebungen wird es im Metaverse wohl keine einheitlichen Regeln geben – womit das Metaverse als global integrierte Plattform eine Vision bleiben wird. Das Buch gibt einen tiefen Einblick in die ökonomische und technische Logik des kommerziellen Internets, die die Entwicklungspfade des Metaverse darstellen. Die Parallelen zur Entwicklung kommerzieller Spiele und mobiler Endgeräte helfen dabei, die Herausforderungen zu verstehen. Der Autor zeigt, wie GAFAM1 durch Marktmacht die Entstehung des Metaverse noch verhindern. Es wird deutlich, dass die Vision eines global ausgedehnten, interoperablen Netzwerks nur verwirklicht wird, wenn es gelingt, dezentrale Technologien (Stichwort Blockchain) zu etablieren und supranational zu regulieren. Balls zentrale Prämisse ist, dass das Metaverse in jeder Hinsicht durch Menschen erschaffen wird. Das gilt für die Regeln der Physik, die Verteilung virtueller Güter und die Möglichkeiten, an der Ausgestaltung dieser Welt zu partizipieren. Sollte sich dieser Raum eines Tages tatsächlich zum Lebensmittelpunkt für viele Menschen entwickeln, kommt der Medienpädagogik eine enorme Bedeutung zu. Denn das Metaverse wird in jeder Hinsicht ein hyperkommerzialisierter Raum sein, in dem die Relationen von Menschen und virtuellen Objekten einer ökonomischen Logik unterworfen sind. Es ist ein Raum, in dem sich die Gesellschaft nicht unbedingt durch demokratisch legitimierte und staatlich durchgesetzte Regeln oder universelle Menschenrechte konstituieren wird. Die Aneignung des Metaverse, die Partizipation an seiner Ausgestaltung und die Möglichkeiten, in ihm Bildungsräume zu initiieren, werden noch mehr als im Plattformkapitalismus einer radikalen Marktlogik unterworfen sein. Um die Disruptionsdynamik neuer Technologien zu überwinden ist es daher wichtig, dass wir Balls Metaverse kritisch rezipieren und die neoliberale Eigenlogik eines solchen hyperkommerzialisierten Raums schon jetzt antizipieren.
1 Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft
Beitrag aus Heft »2023/04: Ökonomie und Medien. Entwicklungen - Zusammenhänge - Herausforderungen«
Autor: Eric van der Beek
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