„Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die ihr über uns auszuüben anstrebt.“ Dieser vielzitierte und pathetische Satz stammt aus der von John Perry Barlow veröffentlichten Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace aus dem Jahr 1996. Gerade einmal 25 Jahre später ist die Verantwortung von allen, auch von diesen Regierungen bei der Suche nach Lösungen gefordert, wie diese neue Heimat eines Geistes zu (maß-)regeln ist, der selbst zum Tyrannen geworden ist. Die Zeiten, aus denen die Unabhängigkeitserklärung stammt, war verbunden mit der Idee eines neuen sozialen, kreativen und gemeinschaftlichen Miteinanders ‚im Internet‘, einer neuen Welt im Cyberspace. Abgesehen davon, dass sich die Begrifflichkeiten gewandelt haben (der Begriff Cyberspace mutet fast schon unzeitgemäß an), ist heute unverkennbar: Digitale Interaktionen bieten nicht nur Möglichkeiten für eine sinnstiftende, konstruktive und kreative Nutzung, sondern auch für Formen des zerstörerischen Gegenteils. In der öffentlichen Diskussion erscheint dieses Internet immer wieder als Nährboden für Hass und Hetze, als Sprachrohr für extreme Ansichten und als Herd für eine ‚verbale Giftsuppe‘. Aber auch weit über die Gewalt der Sprache hinaus werden digitale Instrumentarien des Netzes für die Überwachung, Kontrolle, Verleumdung oder anderweitige Bedrohungen gegenüber einzelnen Personen genutzt. Eine Übersicht über derzeit bekannte Phänomene in diesem Heft (siehe Glossar, S. 24 ff.) zeigt, wie breit das Spektrum digitaler Gewalt sein kann. Und es deutet an, wie weit digitale Aggression in das Leben eindringt. Die Eskalation von Gewalt gegenüber öffentlichen Personen und der Übergang von digitalen Attacken in den physischen, öffentlichen Raum finden regelmäßig ihren Platz in der medialen Berichterstattung. Was aber passiert bei digitaler Gewalt im häuslichen, alltäglichen Umfeld? Welche Aufmerksamkeit und Hilfe erfahren die Betroffenen von digitaler Aggression, die aus dem privaten Beziehungsumfeld ausgeübt wurden? Was passiert mit Ex-Partnerinnen bzw. Ex-Partnern, die privates Bildmaterial veröffentlichen? Oder mit Kindern, die selbst in den privatesten Momenten zum Postingmaterial ihrer Eltern werden? Mit Jugendlichen, die von ihren Eltern permanent digital kontrolliert und überwacht werden? Eltern, die von ihren Kindern in Sozialen Netzwerken verleumdet werden? Kinder, die von Kindern gemobbt werden? Die Aufzählung ist lang und zeigt: Digitale Gewalt ist im Privaten angekommen und lässt sich zumindest auf zwei Ebenen verorten: Zum einen der im obigen Zitat benannten staatlichen Überwachung und Kontrolle des Netzes durch Regierungen, die in Gewalt gegen Gruppen und einzelne Bürgerinnen und Bürger münden kann. Zum anderen tangiert sie Gewalt auf der privaten, persönlichen Ebene, mit dem Ziel, die Integrität einzelner Subjekte anzugreifen. Letzteres bildet den Themenschwerpunkt dieses Heftes. Die zentrale Ausgangsfrage dabei ist, ob digital ‚nur‘ fortgesetzt wird, was in der physischen Welt ‚aus Fleisch und Stahl‘ seit langem traurige Realität ist, oder ob Gewalt-Phänomene eine neue Qualität über ihre Ausübung im digitalen Raum erreichen. Wie analog ist also digitale Gewalt? Ein Konsens aller Beiträge zeigt: Digitale Gewalt kann nicht getrennt von ‚analoger Gewalt‘ betrachtet werden. Angewendet wird sie meist in Ergänzung oder zur Verstärkung von bestehenden Gewaltverhältnissen und -dynamiken (siehe Vobbe in dieser Ausgabe, S. 29 ff.). Hinzu kommt, dass sich die digitale Medienwelt nicht mehr mit einem Appell, einem Verbot oder der Löschung von einzelnen Beiträgen eines Senders, einer Produzentin bzw. eines Produzenten ‚ins Reine bringen‘ lässt. Sie konstituiert sich durch unzählige Beiträge, Einträge und Interaktionen der Netzgemeinde. Ganz im Sinne Barlows, der diesen entstandenen Geist jedoch noch als sozialen Raum ganz ohne Tyrannei vorstellte. Doch neben organisierten Netzwerken sind es eben auch die einzelnen Individuen, die mit ihrem Hass, ihrer Hetze und Gewaltaufrufen (virtuelle) Räume miterschaffen, in denen Gewalt ‚zusammenschweißt‘ und ein Klima der Angst geschürt wird. Juristische Mittel reichen nicht, um grundlegend digitale Gewaltakte zu verhindern. Hier ist – neben anderen Disziplinen – die (Medien-)Pädagogik einmal mehr gefordert, Konzepte für die Vermittlung ethischer Fragen des (digitalen) sozialen und damit demokratischen Miteinanders zu entwickeln und umzusetzen. Für die Soziale Arbeit kristallisiert sich die Aufgabe heraus, stärker als bisher Konzepte und Maßnahmen zum Schutz für die Betroffenen solcher Gewaltakte in der Beratungs- und Hilfepraxis einzubinden. Aus diesen Überlegungen heraus ergaben sich für uns als Fachredaktion folgende, die Auswahl der Beiträge leitende Fragen:
- Welche Formen digitaler Gewalt lassen sich differenzieren?
- Was passiert, wenn sich Attacken gegen Einzelne im digitalen Raum richten? Besitzt die Gewalt eine neue Qualität, zum Beispiel durch die bleibende und ständige Präsenz der persönlichen Gewaltattacke?
- Finden die Betroffenen adäquate Hilfe? Gibt es genügend und vor allem spezielle Beratungsstellen und/oder Hilfeangebote, die Betroffene nutzen können? Welche fachlichen Kompetenzen sind für eine zielführende Prävention notwendig?
- Welche staatlichen und nicht-staatlichen Stellen sind für welche Fragen im Zusammenhang mit Formen digitaler Gewalt geeignete Partner? Und nicht zuletzt: Werden Betroffene in ihrer – vielleicht ‚nur digitalen‘ – Verletzung ernst (genug) genommen?
Handlungsbedarf
Die intensive Arbeit an diesem Themenheft zeigte deutlich: Viele Beratungsstellen und Praxiseinrichtungen sind immer stärker mit dieser Problematik konfrontiert, sie sind ebenso für die möglichen und realen Folgen für das Leben der Betroffenen sensibilisiert. Doch was fehlt, sind sowohl kurzfristige Hilfestellungen als auch langfristig greifende Konzepte des Schutzes und der Prävention. Es fehlt zudem ganz grundsätzlich an Forschungen und Studien zu digitalen Gewaltformen, zu deren Auswirkungen auf das reale Leben für verschiedene Menschengruppen, zu nachhaltigen Schutzmaßnahmen und eine Offenlegung rechtlicher Leerstellen. Eine Ausnahme stellt hier das Thema (Cyber-) Mobbing unter Jugendlichen dar, das im Vergleich dazu häufig im Forschungsfokus steht. Die Recherchen nach medien- und sozialpädagogischen Modellen und Konzepten, die sich mit Formen digitaler Aggression befassen, zeigt: Es finden sich zwar viele engagierte Projekte im lokalen Raum oder begrenzt auf ein bestimmtes Phänomen (z. B. Hate Speech oder Mobbing), jedoch fehlt es an übergreifenden Konzepten, die sich den Phänomenen digitaler Gewalt grundsätzlich annähern. Für die pädagogische Praxis relevant sind diese Phänomene allesamt zweifellos, jedoch besteht die Schwierigkeit, diesen inhaltlich komplexen, multiperspektivischen Themenkomplex angemessen zu bearbeiten. Zusammen mit einer förderpolitischen Ausgangslage, in der langfristig angelegte Projekte meist nur geringe Chancen auf Umsetzung haben, verwundert es daher nicht, dass diese Leerstellen bestehen. Doch auch in der Forschung stellt sich das Thema Digitale Gewalt als ein komplexes Geflecht aus fundierten Erkenntnissen zur Gewaltforschung und (noch) unbekannten Auswirkungen im digitalen Leben dar. Eine Folge der sich stets ändernden, teils undurchschaubaren technischen Möglichkeiten, die sowohl die Formen von Gewalt verändern als auch deren Präsenz. Trotz der Erfordernisse gestaltete sich das Auffinden von wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren für die vorliegende Ausgabe als sehr schwierig. Um die Brisanz des Themenfeldes aufzeigen zu können entschieden wir uns, Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Praxisfeldern und der Praxisforschung in Form von Interviews zu Wort kommen zu lassen, was unserer Ansicht nach der allgemeinen Lage in diesem Themenfeld gerecht wird: Derzeit existieren mehr Fragen und Bedarfe als Antworten und Lösungen.
Perspektiven auf digitale Aggression
Im einführenden Artikel geben Nicola Döring und M. Rohangis Mohseni einen fundierten Überblick über Formen digitaler Aggression, deren Ursachen und den Herausforderungen bei der Prävention. Zunächst klären sie, was unter interpersonaler Gewalt und Aggression zu verstehen ist und welche Besonderheiten digitale interpersonale Gewalt aufweist. Sie differenzieren fünf Besonderheiten: Neben der Zeit- und Ortsunabhängigkeit und der Tatsache, dass sich interpersonale Gewalt im (teil-)öffentlichen Raum mittels Text-, Foto- und Videodokumenten realisiert, ist es vor allem die Möglichkeit, digitale Gewalt in unterschiedlichen Lebensbereichen der Betroffenen auszuüben und die Tatsache, dass digitale Spuren kaum endgültig gelöscht werden können. Immer wieder neue Begrifflichkeiten sind in diesem Themenfeld zu hören und zu lesen. Die Redaktion hat eine für dieses Heft relevante Auswahl in einem Glossar zusammengestellt. Ausgehend davon, dass Akte digitaler Aggression längst in die Sphäre zwischenmenschlicher Beziehungen eingedrungen sind, ist die Beratungspraxis vor neue Herausforderungen gestellt, insbesondere vor dem Hintergrund sich rasant entwickelnder technischer Anwendungen und Möglichkeiten. merz hat dazu drei Interviews geführt: Die Brisanz bei sexualisierter Gewalt mit digitalem Medieneinsatz sieht Frederic Vobbe in der Transzendierung der Gewalt. Digitale Medien fungieren als ‚Struktur-Verstärker‘, da die Verletzungen ursprüngliche Gewalthandlungen zeitlich, räumlich, technisch und psychosozial übersteigen. Er fordert eine kritisch-emanzipatorische Haltung in Schutz- und Präventionskonzepten ein, die nicht primär am individuellen Verhalten ansetzen. Dabei müssen verschiedene Gruppen an der Verankerung beteiligt werden. Er sieht vor allem die Anbieter digitaler Kommunikationsdienste in der Pflicht, denen es „unter dem Label von Freiheit“ hauptsächlich um ihre Profitorientierung geht. Gerade sie hätten die technischen Voraussetzungen für eine personalisierte Primärprävention und Aufklärung, für systematische Eindämmung von diskreditierenden Bild- und Videoaufnahmen und für eine Vernetzung der spezialisierten Unterstützungssysteme. Daneben brauche es weiterhin fundierte Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen, die „Einsichten in die Dynamiken von Gewaltkontexten“ eröffnet. Vobbe fordert eine kollektive Haltung gegenüber sexualisierter Gewalt, was nur über umfassende Konzepte erreicht werden kann, die partizipativ erarbeitet werden. Ans Hartmann vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) stellt im Interview fest, dass geschlechtsspezifische Gewalt zunehmend digitalisiert wird und durch das Voranschreiten der Digitalisierung des Alltags auch technische Anwendungen und Medien in die Gewalthandlungen und -dynamiken integriert werden. Hartmann sieht hierdurch folgende Herausforderungen für Beratende: Sie brauchen weiterhin Zeitressourcen für eine intensive psycho- soziale Beratung und müssen über aktuelles Wissen über Formen digitaler Aggression verfügen. Immer häufiger sind sie mit technischen Aspekten konfrontiert, gleichzeitig können sie aber keine IT-Beratung leisten. Dieses Manko ortet Hartmann aber auch bei Polizei und Justiz, um effiziente und rasche Unterstützungsleistungen zu bieten. Insgesamt fordert Hartmann mehr finanzielle und personelle (Ab-)Sicherung der Beratungsstellen, aber auch der Behörden, die durch die neuen Anforderungen zum großen Teil an ihre Grenzen stoßen. Jugendliche in ihrer Lebenswelt zu verstehen, sie zu sensiblen Themen zu erreichen und ihnen bei Problemen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen ist Ziel von JUUUPORT. Susanne Neuerburg erläutert, wie die Peer-to-Peer-Beratung der gemeinnützigen Organisation funktioniert und welchen Mehrwert dies bietet: Mit einer gleichberechtigten Beratung auf Augenhöhe begleiten jugendliche Scouts Kinder und Jugendliche und sorgen mit regelmäßigen Treffen zusammen mit psychologischer Beratung durch erwachsene Expertinnen und Experten für Erfahrungsaustausch. Während reale Gewaltattacken in interpersonellen Beziehungen häufig im Verborgenen bleiben, sind Formen digitaler Aggression teilweise mit Öffentlichkeit verbunden bzw. zielen gerade auf Wirksamkeit in der Öffentlichkeit ab. Marlis Prinzing erläutert anhand zahlreicher Beispielen und Belege, wie Personen, die in „der“ Öffentlichkeit stehen, von digitaler Aggression betroffen sind und welche Vorgehensweisen die Aggressoren verfolgen. Sie argumentiert aus einer ethischen Perspektive, welche Handlungsmöglichkeiten gestärkt werden müssen, wie zivilgesellschaftliche Akteure Einfluss nehmen können und macht eindringlich klar, wo Erfordernisse auf individueller aber vor allem auf gesellschaftlicher Ebene liegen. Abschließend wird ein besonderes Beratungsangebot, das Unterstützung bei digitaler Gewalt in seinen vielfältigen Formen bietet, vorgestellt. HateAid ist eine in Berlin ansässige Beratungsstelle, welche Menschen unterstützt, die im Netz mit digitaler Gewalt angegriffen werden. Ihre Besonderheit liegt in der Unterstützung bei der Rechtsdurchsetzung. Hier übernimmt HateAid in entsprechenden Fällen auch die Finanzierung von Zivilklagen.
Conclusio
Diesen Themenschwerpunkt zu konzipieren und umzusetzen war von Herausforderungen begleitet, die auch sinnbildlich dafür stehen können, wie digitale Gewalt verhandelt wird: Eine erste Herausforderung betrifft die Diskussion um Begriffe in diesem sensiblen Themenkomplex: Wie Döring und Mohseni ausführen, sind immer wieder neue Begrifflichkeiten im Umlauf, die aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich analoge Gewalt und solche mittels technischer Hilfsmittel immer stärker verzahnt. Zweitens sind abseits des Themas (Cyber-)Mobbing deutliche Lücken sowohl in der wissenschaftlichen Beschäftigung als auch in der konzeptionellen Arbeit der Prävention zu konstatieren. Übergreifend wird deutlich, dass es zwar auf der individuellen Ebene wichtig ist, vor allem Kinder und Jugendliche stark zu machen gegen die Zumutungen, die ihnen medienvermittelt begegnen. Daneben braucht es jedoch umso mehr eine breitere gesellschaftliche Diskussion zu den sozialen Welten, in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen. So haben Kommunikations- und Medienanbieter letztlich fast freie Hand in der weiteren Verfügung über die Daten der Nutzenden und geben wenig Einblick in ihr Geschäftsgebaren mit dieser höchst wertvollen Währung. Ihre Kommunikationsdienste sind gleichzeitig für Kinder und Jugendliche äußerst attraktiv. Wenn es um die ethische Verantwortung für das Ausüben digitaler Formen von Aggression und die Folgen auf Seiten der Betroffen geht, bleiben die Anbieter aber zumeist außen vor und die Konzepte erschöpfen sich im individuellen Aushandeln und dem Schutz vor gewalthaltigen Handlungen online. Aus den Interviews wird eine dritte Herausforderung offenkundig: Die Netzwerkarbeit unter Betroffenen, Beratungsstellen und allen Einrichtungen, die mit Gewalt befasst sind, ist stärker zu forcieren. Nur durch Unterstützungsnetzwerke fühlen Betroffene, dass sie nicht alleine gelassen werden. In einem solidarischen Zusammenschluss können auch die Beratungsstellen zeigen, dass alle Formen von Gewalt zu ächten sind. So kann ein gesellschaftlicher Diskurs angestoßen werden, in dem gemeinschaftliche und partizipative Handlungsweisen zu einer solidarischen Weiterentwicklung von Gesellschaft beitragen und wieder etwas vom Ursprungsgeist des Internets zu spüren ist. Eine offene Frage bleibt, ob sich ‚die Gesellschaft‘ derzeit tatsächlich polarisiert und radikalisiert. Ist dies ein realer Trend, oder entsteht ein verzerrtes Bild der Gesellschaft durch die lautstarken und gewalttätigen Äußerungen Einzelner? Kommt vielleicht solidarisches, gemeinschaftliches Handeln ohne Lautstärke aus und vollzieht sich über andere Kanäle? Für eine Vision des globalen sozialen Raumes, in dem kreatives, gemeinschaftliches und partizipatives Handeln bestimmend ist, würde es sich lohnen, diesen Fragen aus Sicht von Forschung und Praxis nachzugehen.