Reinhard Kleber
Beiträge in merz
- Reinhard Kleber: Auseinandersetzung um Entscheidungen
Reinhard Kleber: Auseinandersetzung um Entscheidungen
Jedes zweite Jahr lockt das Festival „Goldener Spatz“ Jung und Alt nach Thüringen. Neben 60 Beiträgen in sieben Wettbewerbskategorien bot das größte deutsche Kinderfilm- und -fernsehfestival in diesem Frühjahr etliche Informationsreihen, Retrospektiven und Diskussionsrunden sowie einen Filmmarkt. Es kamen rund 10.000 kleine und große Zuschauer zum Festival, das erstmals einen Web-Spatz für die beste film- und fernsehbezogene Web-Page vergab.
Zeitgemäße FSK?
Für heftige Diskussionen sorgte die Entscheidung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), den Kinderfilm „Die grüne Wolke“ (siehe auch die merz-Besprechung auf S. 186) erst ab zwölf Jahren freizugeben und nicht - wie vom Verleih Constantin beantragt - ab sechs Jahren. Constantin legte den geplanten Kinostart erstmal auf Eis, was voraussichtlich auf einen Verzicht hinausläuft. Das Spatzenfestival hatte den Film dagegen ab acht Jahren empfohlen. Der Münchner Autor, Regisseur und Produzent Claus Strigel hat den Roman „The Last Man Alive“ von Alexander S. Neill, dem Begründer von Summerhill, in freier Form adaptiert. Darin erzählt ein Lehrer seinen acht ungeduldigen Schülern eine phantastische Geschichte, in deren Verlauf sie selbst die letzten Überlebenden einer mysteriösen Katastrophe auf der Erde sind. Zwischen den Episoden mit den bizarren Abenteuern, die die Kinder in einer versteinerten Welt erleben, kehrt der Erzähler immer wieder zur Ausgangssituation zurück. Aus informierten Kreisen verlautete, dass sich die FSK-Prüfer vor allem an einigen Gewaltszenen und der ambitionierten Erzählweise stießen, die für kleinere Kinder das Unterscheiden zwischen Fiktion und Wirklichkeit schwer mache. Da die FSK aber nach ihren Vorschriften keine Unterschiede zwischen den Altersstufen ab sechs und ab zwölf machen darf, setzte sie die Freigabe notgedrungen auf zwölf, um jüngere Kinder vor Schädigungen zu schützen. Für Produzenten und Verleiher ein herber Rückschlag, zumal eine parallel gedrehte TV-Serie in die ARD-Programme kommen soll!
Nun mag man gegen den Film ästhetische Einwände oder qualitative Bedenken erheben - einig waren sich die Kinderfilmexperten in Gera, dass die „Grüne Wolke“ sich an Kinder zwischen acht und 13 Jahre wendet, die dem Film in der Regel auch folgen können. Es bildete sich daher eine Gruppe, die eine „Vorlage für eine Petition“ mit dem Ziel der „Revision der Altersgruppen“ verfasste (www.goldener spatz.gera.de/stiftung/presse). Darin sprechen sich die Initiatoren für eine Überarbeitung des Jugendschutzgesetzes aus. „Die Altersfreigaben, wie sie seit 1951 rechtsverbindlich sind (ab 6, ab 12, ab 16 und nicht unter 18 Jahren), entsprechen nicht mehr der heutigen Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen“ heißt es darin. Der selbstverständliche Umgang mit Medien verschiebe die Altersgrenzen und mache eine Neudefinition der Entwicklungsetappen in der individuellen Mediensozialisation notwendig. Was etwa noch vor 50 Jahren erst ab 12 Jahren zugemutet werden konnte, sei „heute bereits für 7-Jährige eine Unterforderung.“ Das Thesenpapier empfiehlt, die Altersfreigaben künftig so zu gestalten: ohne Altersbeschränkung, ab 8, ab 14 und nicht unter 18 Jahren. Denkbar wäre aber auch, neue Grenzen einzuschieben, um zielgruppenorientierte Bewertungen durch die FSK zu ermöglichen: ohne Altersangabe (o.A.), ab 8, ab 10, ab 12, ab 16 und nicht unter 18 Jahren.
Jury-EntscheidungenDa inzwischen immer mehr Kinder im Internet unterwegs sind, war die Etablierung einer eigenen Web-Jury nur folgerichtig. Sie zeichnete das ZDF-Angebot www.tivi.de als beste film- und fernsehbezogene Web-Seite aus. Bei der Preisverleihung zeigte sich das Fachpublikum überrascht über die Kompetenz, mit der die Netz-Juroren Inhalt, Gestaltung, Technik, Unterhaltungswert, Interaktivität und Sicherheit der preisgekrönten Seite unter die Lupe genommen hatten. Ungeachtet ihrer Preisentscheidung monierten sie in ihrer Begründung Schwachstellen wie lästige Hintergrundfarben oder schlechte Video-Auflösungen.
Hatte die Jury des jungen Publikums in den Vorjahren mit mutigen Entscheiden hin und wieder für Überraschung gesorgt, so ging der Preisregen diesmal auf die erwarteten Kandidaten nieder. Als bester langer Spielfilm wurde die Kästner-Verfilmung „Emil und die Detektive“ ausgezeichnet und als bester langer Animationsfilm „Tobias Totz“. Innovative Leistungen oder überraschende Ansätze waren allerdings im Wettbewerb nicht zu entdecken, in dem die Privatsender diesmal mit immerhin acht Beiträgen vertreten waren.Die Experten-Jury zeichnete Dagmar Hirtz für die ZDF-Märchenkomödie „Küss’ mich, Frosch“ als beste Regisseurin aus - eine plausible Entscheidung. Weniger erfreulich war dagegen die mangelnde Beachtung, die die Expertenjury sowohl bei der Preisverleihung als auch in der abschließenden Presseerklärung erfuhr. Bei allem Respekt für die Beschlüsse der Kinder-Jury, die naürlich näher am Zielpublikum ist als die erwachsenen Profis: gerade die diesjährige Bevorzugung glatter Mainstream-Produktionen und gar gefälliger Hochglanzware durch die Jury-Kinder zeigt die Notwendigkeit eines Korrektivs durch Fachleute, die in kritischer Distanz die Meßlatte der Qualität höher legen müssen.
- Reinhard Kleber: Klein aber oho!
Reinhard Kleber: Klein aber oho!
Während andernorts Filmfestivals aus Spargründen ihre Laufzeit verkürzen, Programmteile streichen und stagnierende Besucherzahlen verkraften müssen, zeigt das Kinderfilmfestival "Schlingel" in Chemnitz Flagge. Bei ihrer jüngsten Ausgabe konnte die kleine, aber feine Filmschau ihre Besucherzahlen auf mehr als 7.000 gegenüber dem Vorjahr verdoppeln. Auf Konsolidierungskurs befindet sich unter der neuen Leitung auch das renommierte Kinderfilmfestival in Frankfurt am Main, das nach konzeptionellen Änderungen in den Vorjahren ins Schlingern geraten war. Für frischen Wind in der deutschen Kinderfilmszene dürfte außerdem Thomas Hailer sorgen, der im Oktober zum neuen Chef des Kinderfilmfests der Berlinale berufen wurde. Frischer Wind kam in Chemnitz vor allem aus Prag. Rick und seine Prager Freunde Peter und Ivana sammeln in ihren Sommerferien bei phantastischen Spielen in einem Flugzeugwrack Erfahrung bei der Suche nach Außerirdischen. Als Ricks älterer Bruder und dessen Freund zu einer geheimnisvollen Mission auf's Land aufbrechen, folgen die drei ihnen heimlich mit vollgepackten Rucksäcken. Am Berg Colorado sollen bald UFOs landen.
Doch dann werden Radek und sein Freund von einem Mädchen in eine Falle gelockt. Die Halbstarkenbande der Göre sieht durch die Jungs nämlich ihr Revier bedroht. Jetzt ist die Hilfe der kleinen Alien-Jäger gefragt. Was sich die Kids so alles einfallen lassen, um die Rabauken zu überlisten und die beiden Jungs vom Marterpfahl zu befreien, das sorgt in dem tschechischen Kinderfilm "Aliens in Colorado" bei Groß und Klein für jede Menge Spaß. Die Zuschauer müssen in dem Abenteuerfilm des Drehbuchautors und Regisseurs Karel Janák zwar über etliche Unwahrscheinlichkeiten hinweg sehen, werden dafür aber mit flotten Dialogen und pointiertem Slapstick reichlich entschädigt. Auf dem 7. Internationalen Kinderfilmfestival "Schlingel" gewannen die tschechischen "Aliens" im Oktober die Herzen der Kinderjury, die der Komödie ihren Preis zusprach, sowie den Publikumspreis. Ein gutes Vorzeichen für interessierte deutsche Verleiher, die noch gesucht werden. Den Hauptpreis des Festivals errang das dänische Sozialdrama "Tinke – Kleines starkes Mädchen". Die sensible Inszenierung schildert in unspektakulären Bildern und mit sparsam eingesetzter Musik die hindernisreiche Resozialisierung eines vom Schicksal gebeutelten Mädchens, das nach dem Tod der Eltern verwildert in einem Wald haust und nach ihrer Entdeckung mühsam lernen muss, sich wieder in eine menschliche Gemeinschaft einzufügen.
In der jungen Hauptdarstellerin Sarah Juel Warner, die mit großen dunklen Augen schon über erstaunliche Ausdruckskraft verfügt, hat der dänische Regisseur Morten Kohlert ein vielversprechendes Talent entdeckt. Erst im September hatte Kohlerts Film auf dem 26. Kinderfilmfestival in Frankfurt den Hauptpreis "Lucas" und den Preis des Internationalen Kinder- und Jugendfilmzentrum CIFEJ gewonnen. Damit steigen die Chancen auch dieser sehenswerten Produktion erheblich, einen deutschen Kinoverleih zu finden. Der Besucherzuwachs des Chemnitzer Festivals, das aus einer 1996 erstmals vom Sächsischen Kinder- und Jugendfilmdienst veranstalteten Kinderfilmschau hervorging, unterstreicht eindrucksvoll den Aufschwung des kleinen Festivals, das mit wachsender Programmqualität auch in Fachkreisen zunehmend Anerkennung findet. So lud der Bundesverband Jugend und Film während des Festivals zum zweiten Mal zu einem Seminar ein. Mit dem iranischen Kinderfilm "Der kleine Vogelnarr" konnte man dieses Mal sogar eine Weltpremiere bieten. Und Frankreich schickte mit der packenden Märchenverfilmung "Der Däumling" von Olivier Dahan eine millionenschwere Produktion mit Stars wie Catherine Deneuve und Elodie Bouchez ins Wettbewerbsrennen. Mit der Auswahl dieses Gruselmärchens, das ab zehn Jahren empfohlen wurde, zeigte die Festivalleitung auch Mut zum Risiko, denn die vielen Gewaltszenen in dem Fantasy-Stück sorgten durchaus für Diskussionsstoff etwa über die Frage der Altersgrenze.
Profil gewann der "Schlingel" vor allem mit seinem Schwerpunkt auf Filmen aus dem östlichen Europa. "Wir wollen das Kinderfilmprogramm zu einem großen Teil mit Filmen aus Osteuropa besetzen," erläutert Festivalchef Michael Harbauer, "nicht mehr als die Hälfte, aber doch mit einem so großen Anteil, um diese Region zu beleuchten und ihr so die Chance zu geben, auch Filme nach Deutschland bringen zu können." In diesem Jahr stellten osteuropäische Länder vier der neun Beiträge im Kinderfilm-Wettbewerb. Als Fenster zum Osten tritt Chemnitz damit teilweise in die Fußstapfen des Festivals des osteuropäischen Films in Cottbus, das vor zwei Jahren bedauerlicherweise seinen Kinderfilmwettbewerb abgeschafft hatte. Mit diesem Schwerpunkt und der Präsentation thematisch ambitionierter Jugendfilme, die dank engagierter Betreuung auf ähnlich starke Publikumsresonanz stießen wie die Kinderfilme, ist der "Schlingel" auf dem besten Weg, in die erste Liga der deutschen Kinder- und Jugendfilmfestivals aufzusteigen. In der ersten Liga spielen Frankfurt und Berlin schon seit langem. Der Glanz der Frankfurter Schau war zuletzt jedoch verblasst. Zum einen hatte die Umstellung auf einen Zwei-Jahres-Rhythmus schon vor Jahren die Auswahl für internationale Gäste eher unattraktiv gemacht, zum anderen war das Profil des ältesten deutschen Kinderfilmfestivals durch die Erweiterung um eine Jugendfilmsektion vor sieben Jahren verwischt worden. Nachdem das erhoffte jugendliche Publikum jedoch ausgeblieben war, hatte der "Lucas" unter der neuen Leitung diese Sektion folgerichtig gestrichen.
Die Rückbesinnung auf die Wurzeln und die Konzentration auf ein qualitätsvolles aktuelles Wettbewerbsprogramm mit wenigen Nebenreihen haben dem Festival, das ausgerechnet in der wichtigsten deutschen Bankenmetropole ständig unter finanziellen Engpässen leidet, gut getan. Angesichts von rund 120 Fachbesuchern aus dem In- und Ausland zeigte sich der neue Festivalleiter Günther Kinstler jedenfalls zuversichtlich: "Durch die Neupositionierung wollen wir auch international den früheren Stellenwert des Festivals zurückgewinnen."Bei der Preisverleihung überraschte Kinstler die Gäste mit der erstmaligen Verleihung eines Ehren-"Lucas" an Walter Schobert, den altersbedingt scheidenden Direktor des Festivals. Schobert, im Hauptamt Chef des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt, hatte die Filmschau 1975 gegründet und seitdem mit bewundernswerter Beharrlichkeit am Leben erhalten. In seiner Abschiedsrede bedankte er sich beim Team und den Förderern und appellierte an die Gäste, in zwei Jahren wiederzukommen. Der abschließende Ruf der Jury nach einer Rückkehr zum jährlichen Rhythmus des Festivals, das immerhin den Namen von Schoberts jüngstem Sohn trägt, hat ihn sicher bewegt; die akuten Finanznöte der Stadt Frankfurt lassen dieses Ansinnen jedoch ziemlich unrealistisch erscheinen.
Neue Akzente darf man auch von Thomas Hailer erwarten, der im Oktober in Berlin Renate Zylla nach 16 Jahren an der Spitze des wichtigsten deutschen Kinderfilmfests ablöste. Der gelernte Dramaturg und Filmförderexperte ließ zwar zunächst keine revolutionären Veränderungseifer erkennen und legte mit der Berufung der langjährigen Filmfestmitarbeiterin Maryanne Redpath zu seiner Stellvertreterin ein Bekenntnis zur Kontinuität ab. Doch die Installation eines Auswahlausschusses mit Branchenvertretern nach dem Muster der großen Berlinale-Gremien legt den Schluss nahe, dass an die Stelle subjektiver Individualentscheidungen künftig Konsensbeschlüsse rücken sollen. Trat der neue Berlinale-Chef Dieter Kosslick im Vorjahr mit der Maxime an, dem deutschen Film auf dem Großfestival der Hauptstadt mehr Gehör zu verschaffen, so beabsichtigt Hailer nun, "die Beziehungen zur deutschen Kinderfilmszene und den Kinderfilmproduzenten zu intensivieren". Offenkundig will der 43-Jährige nicht zuletzt das Kinderfilm-Image aufpolieren, das hierzulande leider noch immer mit dem Makel der kommerziellen und künstlerischen Nische behaftet ist.
Die Branche, monierte Hailer in einen Interview, "nimmt nicht so recht zur Kenntnis, dass unter den fünf erfolgreichsten deutschen Filmen des letzten Jahres drei Kinderfilme waren." Da in der Vergangenheit auf der Berlinale so mancher deutsche Kinder- und Familienfilm aus diversen Gründen außerhalb des Kinderfest-Wettbewerbs blieb oder bleiben musste, sieht die 'Szene' erwartungsvoll der nächsten Festivalausgabe im Februar entgegen.Weitere Infos im Netz: www.ff-schlingel.de, www.berlinale.de, www.lucasfilmfestival.de