Margret Köhler
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- Magret Köhler: Erfolg mit der Vergangenheit
Magret Köhler: Erfolg mit der Vergangenheit
Damit hatte niemand gerechnet: Ein Film über das Ende des Dritten Reichs wurde zum Publikumsrenner. Der Untergang von Oliver Hirschbiegel brachte es bis Anfang Januar auf gut 4,5 Mio. Zuschauer. Während sonst Polit-Dramen über Nazi-Deutschland in Programmkinos ein klägliches Dasein fristeten, traf Der Untergang auf großes Interesse, nicht nur national, sondern auch international. In Frankreich überrundete er am Startwochenende sogar Oliver Stones Alexander. Es sind zunehmend Regisseure der mittleren und jüngeren Generation, die sich des Themas annehmen. Vielleicht haben auch Fernseh-Dokumentationen über Graf von Stauffenberg oder Albert Speer den Weg bereitet. Im Gegensatz zu den an Wissensvermittlung orientierten älteren Spielfilmen wird Geschichte und Anspruch an breite Unterhaltung verknüpft, wollen die jungen Regisseure anhand fiktionalisierter, aber historisch genau recherchierter Geschichten die Menschen erreichen. Gerade die 30- bis 40-jährigen Filmemacher entwickeln ein Faible für das, was unter den Nazis geschah. Sechzig Jahre nach Kriegsende ist der Blick zurück nicht mehr von politischer Bewältigung oder pädagogischer Aufarbeitung geprägt, sondern von einer manchmal unbekümmert wirkenden Neugier und Herangehensweise wie in Dennis Gansels Napola über die Elite-Zuchtanstalten Hitlers.
Wohl das beeindruckendste und ehrlichste Drama aus der Zeit des braunen Terrors ist Marc Rothemunds Sophie Scholl - Die letzten Tage. Aufgegriffen wurde das Schicksal der Widerstandskämpferin schon in Michael Verhoevens Die weiße Rose mit Augenmerk auf die Entwicklung der gesamten Widerstandsgruppe und in Percy Adlons Fünf letzte Tage (beide 1982), primär erzählt aus der Perspektive von Else Gebel, Sophies Zellengenossin. Rothemunds Ansatz ist ein anderer, ein mehr persönlicher. Er geht weiter, endet mit der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl sowie ihres Mitstreiters Christoph Probst im Februar 1943. Während Sophie bei Verhoeven nicht weinen durfte, ist hier die innere Reise der Protagonistin auf Emotionalität angelegt. So wird die Studentin als ganz normales Mädchen eingeführt, das die Natur liebt, ausgelassen zur Swing-Musik aus dem Feindsender tanzt und vor Lebenslust nur so sprüht. Sie ist gläubig, aber nicht frömmelnd. Die Handlung stellt sich aus ihrem Blickwinkel dar - die Verhaftung der Geschwister nach einer Flugblattaktion im Lichthof der Uni München, ihr verbales Kräftemessen mit dem Ermittlungsbeamten Hans Mohr, den sie fast von ihrer Unschuld überzeugen kann, das Warten in der Zelle auf die Hinrichtung, ihr mutiges Auftreten gegenüber Blutrichter Freisler in einer Farce von Gerichtsverhandlung, der rührende Abschied von den Eltern, die letzte Zigarette mit ihrem Bruder und Probst, der aufrechte Gang zum Schafott. Leise Trauer über ein zu kurzes Leben. Der 36-jährige Regisseur stützt sich auf bis zur Wende in der DDR unter Verschluss gehaltene Protokolle, die die Verhöre aus der Sicht des Gestapo-Beamten wiedergeben. Aber nicht nur.
So wurde sogar mit Uhr gestoppt, wie lange es dauerte vom Schließen des Vorhangs bis zum Fallbeil. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Sophie Scholl wurde nur 22 Jahre alt.Großen Stellenwert räumt Rothemund dem gewieften Verhörspezialisten Mohr ein, eine nicht ganz durchschaubare Persönlichkeit, die auf der einen Seite den Nazis treu dient, aber dennoch seine Zweifel ahnen lässt, vielleicht weil er persönlich betroffen war, sein Sohn an der Front kämpfte. Ein Höhepunkt des Film ist die „Verhandlung“ unter Roland Freisler persönlich, der extra mit dem Flugzeug nach München kam. Die Darstellung eines der schlimmsten Nazi-Verbrechers (André Hennicke), der 6000 Todesurteile fällte, mag übertrieben wirken, entspricht aber den zum Vergleich herangezogenen Originalaufnahmen.Rothemund und seine wunderbare Hauptdarstellerin Julia Jentsch schufen eine Vorstellung des Menschen und des Charakters Sophie Scholl. Die junge Frau ist keine Märtyrerin, sondern jemand, der das Leben in allen Facetten liebt und leben möchte, erst nach und nach wird sie zur Heldin, verzichtet auf Brücken, die ihr Mohr baut, trotz aller Angst steht sie zu ihrer Überzeugung und schützt mit ihren Aussagen die anderen Mitglieder der Widerstandsorganisation. Und immer wieder der Blick aus dem Fenster, in den Himmel – Symbol der Freiheit. Aufwühlend die Szene, in der Sophie sich von den Eltern verabschiedet, keine falsche Sentimentalität, sondern nachvollziehbares Gefühl.
Die Kamera unterstreicht die Entwicklung: Am Anfang hell ausgeleuchtet, in der Zelle und während der Vernehmung erscheint alles farbloser und kälter, am Ende wird es immer weißer – eine Reise ins Licht. Von der anfänglichen Offenheit der Bilder entwickelt sich der Film sukzessive zu einem atmosphärisch dichten Kammerspiel, zu einem sensiblen Porträt. Dass dies hundertprozentig gelingt, liegt auch an Julia Jentsch, die mit großer Intensität und Glaubwürdigkeit die Figur verkörpert. Sophie Scholl - Die letzten Tage ist ein Glücksfall für das deutsche Kino. Selten wurde ein Stück jüngster Vergangenheit so eindringlich vermittelt. Die Botschaft Widerstand leisten, Zivilcourage zeigen, gilt noch heute.
- Margret Köhler : Das Ende des amerikanischen Traums
Margret Köhler : Das Ende des amerikanischen Traums
Das Kino als Zerstörer?„We are family“, diese beschwörende Mär wird zwar von den US-Medien, vor allem von Fernseh-Serien verbreitet, ist in Wirklichkeit jedoch schon lange Makulatur. Auch wenn einige Studiobosse immer noch das traditionelle Happy End für das Nonplusultra eines erfolgreichen Films halten. In „God’s own country“ ist die heile Welt auf dem Rückzug oder - wie in Peter Weirs „Die Truman Show“ nur noch für das TV inszeniertes Spektakel. Die Fassaden des Glücks zersplittern, nicht nur im Weissen Haus bei der „First Family“, sondern auch auf der Leinwand. Die Familie, einst Rückgrat der amerikanischen Gesellschaft, stellt sich für viele inzwischen als Ort der Hölle dar. Auch Regiedebutant Sam Mendes zerpflückt in seinem Meisterwerk sarkastisch heimelige Klischees des american way of life.
Scheinlösungen und -freiheitenHübsche Häuschen, gepflegte Vorgärten, geräumige Garagen und mittendrin reizende Menschen, die vor Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit nur so strotzen. Doch der Eindruck täuscht. Nichts ist, wie es einmal war. Hinter den adretten Fassaden herrscht Frust statt Fröhlichkeit, kocht das Glück auf Sparflamme. Lester Burnham (Kevin Spacey) ist jenseits der 40 und ausgebrannt. Seine Frau Carolyn (Anette Bening), eine mäßig erfolgreiche Immobilienmaklerin, nervt und zetert den lieben Tag lang, die Liebe ist so kalt wie ein Eisbeutel. Auch intensivste Handarbeit bringt Lester nur wenig Erleichterung. Töchterchen Jane (Thora Birch) verachtet ihre Eltern und deren scheinheiliges Verhalten. Die Wende kommt, als der Familienvater ihre Freundin, die frühreife Angela (Mena Suvari) erblickt. Da überwältigen ihn Hormone, Phantasie und Erinnerungen an seine Jugendzeit. Und er realisiert: Das Leben ist zu kurz, um im Alltagstrott zu ersticken. Er kündigt seinen langweiligen Job, erpresst den Vorgesetzten um eine lukrative Abfindung, kauft sich einen flotten Sportwagen und malträtiert seinen nicht mehr ganz so straffen Körper mit Fitness-Übungen.
Erst einmal aber haut er mit der Faust auf den heimischen Tisch und sagt der verdutzten Weiblichkeit, wer der Herr im Haus ist. Gleichzeitig freundet sich der Mannin der Midlifecrisis mit dem liebenwürdigen Nachbarsjungen Ricky (Wes Bentley), Sohn eines Ex-Colonels an, der mit seiner Videokamera alles aufnimmt, was ihm in die Quere kommt. Und ganz nebenbei mit Drogen dealt. Bald raucht Lester mit dem Youngster Marihuana und entdeckt die Bierdose als Begleiter. Demontage und GenussDas muss böse enden, schon die ständig wiederkehrenden blutig roten Blätter der von Carolyn akribisch gepflegten Rosen künden Unheil an - zumal sich langsam die Strukturen auflösen. Der Konflikt zwischen dem in Jane verliebten Ricky und seinem autoritären Vater (der ihn und Lester für schwul hält und seine eigenen homoerotischen Neigungen unterdrückt) eskaliert, Carolyn legt sich einen Geliebten zu und Lester wird von heißen Sexträumen mit dem angebeteten Teenie verfolgt. Die einzig ‘Normalen’ scheinen zwei schwule Nachbarn zu sein. Der rasante Ritt durch seelische Abgründe ist alles andere als political correct. Die Demontage von zu Ritual erstarrten Konventionen zelebriert der Brite Mendes genussvoll und mit perfider Lust an Zerstörung bürgerlicher Ideale. Mittelschicht und Materialismus sind für ihn Boten des Untergangs.
Anständige Spießer
Wer immer noch puristisch gegen Hollywood wettert, wird bei dieser intelligenten und komplexen Tragikomödie über das Subversive im Alltag eines Besseren belehrt. Brillante Dialoge, rabenschwarzer Humor, beste schauspielerische Leistung von Kevin Spacey und Anette Bening im gnadenlosen Rosenkrieg - wie einst Michael Douglas und Katherine Turner, fast surreale Momente durch die Ich-Form der Erzählung machen „American Beauty“ zu perfekter und gleichzeitig anspruchsvoller Unterhaltung. Und wenn am Ende die Kamera über die scheinbar friedliche Vorstadtidylle schwebt, ahnt man was der wirkliche Horror ist: wohlanständige Spießbürgerlichkeit.
Der Titel ist bewusst mehrdeutig gehalten. Er könnte eine Anspielung auf Carolyns Rosenzucht „American Beauty“ sein, auf den Charakter der jungen Angela als Prototyp des amerikanischen Schönheitsideals oder ganz einfach auf die Ambivalenz des amerikanischen Traums. Für Drehbuchautor Alan Ball, auch Co-Produzent, geht es ebenfalls darum, „dass wir oft vorgefasste Meinungen über Dinge haben, die sich dann später als total konträr herausstellen und sich als wahre Schönheit erweisen, die wir so niemals erwartet hätten“. Wie es euch gefälltSam Mendes reiht sich mit seinem außergewöhnlichen Werk in die Reihe amerikanischer Filme über die Verunsicherung einer ganzen Generation ein, die sich in Aggressionen mit kathartischer Wirkung flüchtet und bei denen die Harmonie als Lebenslüge ausgedient hat.
Auch in Todd Solondz’ „Happiness“ sind die netten Zeitgenossen überhaupt nicht happy, sondern von düsteren Perversionen gequält, entlarvt sich in Mark Pellingtons „Arlington Road“ der charmante Nachbar Tim Robbins als Bombenleger und Brandstifter, beweist Kirstie Alley wie schrecklich es ist, „Gnadenlos schön“ zu sein, wirft Wayne Wang demnächst in „Anywhere but here“ einen skeptischen Blick auf die „Restfamilie“ Mutter und Tochter im wenig glamourösen Teil von Beverly Hills. Der Ausverkauf des amerikanischen Traums hat begonnen. Den Amerikanern gefällt die bittere Pille. „American Beauty“ spielte schon ein Vielfaches der nur 15 Mio Dollar Produktionskosten ein, erhielt sechs „Golden Globe“-Nominierungen und sollte auch beim „Oscar“ gute Chancen haben.
- Margret Köhler: Die 50. Berlinale im Jahr 2000
Margret Köhler: Die 50. Berlinale im Jahr 2000
Fassbinder-Adaption
Aller Skepsis zum Trotz ging die Jubiläums-Berlinale in Berlins neuer Mitte am Potsdamer Platz relativ reibungslos über die Bühne. Es gab kaum logistische Probleme, das Festival bestand die Bewährungsprobe. Die mehr als 400.000 Besucher sollten als positives Zeichen gewertet werden. Altbewährt waren die meisten Namen im abgespeckten Wettbewerb - Zhang Yimou, Oliver Stone, Milos Forman, Norman Jewison, Stanley Kwan oder Anthony Minghella. Auf deutscher Seite komplettierten Volker Schlöndorff, Rudolf Thome und Wim Wenders die Altherrenriege. Etwas mehr Mut und ein Bekenntnis zum Nachwuchs, auch weiblichen und heimischen, hätte nicht geschadet. Nicht von ungefähr sorgten zwei Beiträge von Youngsters für Aufsehen: Der 33-jährige François Ozon präsentierte mit „Gouttes d´eau sur pierres brulantes“ eine provozierende Fassbinder-Adaption. Ozon, der schon in „Sitcom“ (1997) genüsslich die Institution Familie zerpflückte, hat ein Faible für Menschen in Grenzsituationen.
Und einen Hang zu Rainer Werner Fassbinder, dessen „gnadenlose Härte und Gewalt in menschlichen Beziehungen“ ihn fasziniert. Im Deutschland der 70er Jahre, irgendwo zwischen spießbürgerlichem Mief und Aufbruch lernt ein 50-jähriger Geschäftsmann (Bernard Giraudeau) einen 19-Jährigen (Malik Zidi) kennen und lieben. Während der junge Intellektuelle als Hausmann seine Identität verliert, verdient der Ältere den Lebensunterhalt, lässt den Partner die Abhängigkeit spüren. Das Zusammenleben wird zur Hölle, Routine erstickt die Gefühle, es geht nur noch um die Zerstörung des anderen.
Fassbinder schrieb dieses Stück im Alter von 19 Jahren, bei dem sich jetzt der 33-jährige Ozon auf die Psychologie der Figuren konzentrierte und den Machtkampf als düsteres Kammerspiel inszenierte. Spielerisch durchbricht er immer wieder die Struktur, präsentiert absurdes Theater mit Anspielungen auf Comics. So zeigt er das Täter/Opfer-Verhältnis mit aller Brutalität, wechselt dann urplötzlich in schräge Tanzeinlagen, lässt am Ende Trauer und Einsamkeit spüren. Zwar übertreibt der Pariser etwas die Germanisierung mit ständigem „Prost“ und zweimaligem Zitieren von Heines „Loreley“, aber man sollte sich über jeden Film freuen, der irritiert und provoziert.
Suche nach Liebe und Vergebung
Auch wenn militante Anhänger des europäischen Kinos Krokodilstränen weinen: Der Amerikaner Paul Thomas Anderson hat mit seinem dreistündigen Epos „Magnolia“ über die intensive Suche nach Wahrheit und Liebe den „Goldenen Bären“ verdient.
Zu dem fulminanten Werk gab es keine Alternative. Nach einem furiosen Epilog startet der 29-Jährige ein filmisches Feuerwerk über den Zynismus im Medienzeitalter und die Macht des Zufalls. Zu Beginn glaubt man sich in einem Irrenhaus, erst langsam regelt sich das Chaos, man befindet sich plötzlich mitten auf dem Magnolia-Boulevard, der das San Vernando Valley durchquert. Einen Tag und eine Nacht lang kreuzen sich hier die Wege von neun Menschen am Wendepunkt ihres Lebens, ihre Schicksale verbinden sich virtuos. Da liegt der krebskranke Fernsehmogul Big Earl Partridge (Jason Robards) im Sterben, seine viel jüngere Frau (Julianne Moore) jagt nach Psychopharmaka durch die Stadt und erkennt zu spät, dass sie den Mann, den sie nur wegen des Geldes geheiratet hat, doch liebt. Krankenpfleger Phil (Philip Seymour Hoffman) versucht derweil Partridges verlorenen Sohn Frank T.J. Mackey (Tom Cruise) aufzuspüren, der als Sex-Guru in TV-Seminaren tumbe Männer zu Mini-Casanovas umpolt. In einem weiteren Handlungsstrang erzählt Anderson von Game Show-Moderator und Saubermann Jimmy Gator (Philip Baker Hall), der an einer unheilbaren Krankheit leidet und die Aussöhnung mit seiner Tochter Claudia (Melora Walters) sucht, die - von ihm missbraucht - den Drogen verfallen ist und sich in einen kreuzbraven Polizisten (John C. Reilly) verliebt.
Und da sind noch zwei „Wunderkinder“: Der kleine Stanley (Jeremy Blackman), von seinem ehrgeizigen Vater auf Erfolg in Gators Game Show getrimmt und Donnie Smith (William H. Macy), einst als „Quiz Kid“ gefeiert und jetzt gefeuert und nun dem verblassten Ruhm nachhängt...In 189 aufregend kurzen Minuten entwirft Anderson eine bizarre und bewegende Cronik des Lebens, bei der die kleinen und großen Dramen zu einer grotesken Comédie Humaine verschmelzen. Seine Helden sind verzweifelt, verletzen und sind verletzbar, verdrängen Schmerz und Schuld, bis sich nach einem Naturphänomen biblischen Ausmaßes die verlorenen Seelen reinigen, verborgene Emotionen hervorbrechen, neue Hoffnung keimt. Auf der quälenden Suche nach Liebe und Vergebung (das zentrale Thema) ziehen die Menschen Bilanz, gestehen Fehler ein, zeigen Reue. Wie Altmans „Short Cuts“ bewegt sich dieses Meisterwerk zwischen tiefer Tragik und leichter Komik, zwischen Wahnsinn und Wahrheit. (Siehe dazu auch das Interview mit P.A. Anderson)
Preise: Für und wider
Das Wettbewerbsprogramm war solide, auch wenn man sich fragte, wie sich der russishe Kostümschinken „Russkij Bunt“, die betuliche jugoslawische Bombardementerinnerung „Nebeska Udica“ oder das unsägliche spanische Gewaltdrama „El Mar“ in den Wettbewerb verirren konnten. Wenn die Anti-Kriegs-Satire „Three Kings“ am zweiten Tag des Festivals mit dem Kinostart zusammenfällt, fehlt das richtige Timing. An die Berlinale als Startrampe für Hollywood-Produktionen hat man sich gewöhnt, in dem Fall lag die Schamfrist jedoch eindeutig zu kurz - trotz Stars wie George Clooney, Mark Wahlberg oder Ice Cube. Der Preisregen war flächendeckend. Der „Silberne Bär“ für die „Beste Regie“ an Milos Formans „Man on the Moon“ über den Stand-Up Comedian Andy Kaufman war wohl auch ein Geschenk zu Formans 68. Geburtstag. Das Biopic kratzt an Tabus wie auch schon „Larry Flynt - Die nackte Wahrheit“ (1996). Andy Kaufman, bei dessen Tod 1985 selbst die engsten Freunde an einen PR-Gag glaubten, schlüpfte nicht nur auf der Bühne in verschiedene Rollen, er war jeweils die dargestellte Person mit Haut und Haar. Sein größtes Geheimnis: Es gab ihn eigentlich nicht als Person, sondern nur als Maske. Jim Carrey mimt dieses Chamäleon mit allen Facetten.
Auf unterschiedliche Resonanz stieß der „Silberne Bär“ für Wim Wenders grandios fotografierten Ausflug in die Welt der Verrückten und Verlorenen Downtown L.A. „The Million Dollar Hotel“. Pikant war die Vergabe eines „Silbernen Bären“ an Zhang Yimou für die bewegende Liebesgeschichte „The Road Home“, schließlich war Jurypräsidentin Gong Li langjährige Lebensgefährtin des Regisseurs. Der deutsche Film, mit drei Wettbewerbsbeiträgen vertreten, fand eine zwiespältig einzuschätzende internationale Anerkennung. Der „Silberne Bär“ für eine herausragende Leistung an das Schauspielerensemble von Rudolf Thomes „Paradiso - Sieben Tage mit sieben Frauen“ löste Kopfschütteln aus, hielten doch nicht nur Feministinnen dieses pseudo-ironische Werk über einen von Weibern umschwärmten 60-Jährigen für das Produkt feuchter Männerträume. Auch der „Silberne Bär“ für die „Beste Darstellerin“ ex aequo an Bibiana Beglau und Nadja Uhl in „Die Stille nach dem Schuss“ sollte man als galante Geste gegenüber dem Gastgeberland verstehen. Mehr als über den Film wurde über den Protest der Ex-Terroristin Inge Viett und die Klage der Edition Nautilus wegen Verletzung von Urheberrechten gegen Volker Schlöndorff diskutiert. Vorwürfe, die der genervte Regisseur, wiederholt strikt zurückwies.
Der mit Spannung erwartete Wettbewerbsbeitrag handelt von RAF-Terroristen, die in der DDR mit Billigung der dortigen Regierung untertauchten und ein Leben mit neuer Identität führten, dann durch die Wende enttarnt wurden. Die Utopien der jungen Leute, die die Welt mit Gewalt verändern wollten, bleiben nebulös. Im DDR-Mief ersticken die Wünsche, die Hauptfigur Rita Vogt (Bibiane Beglau) lässt trotz eines verpfuschten Lebens kaum Trauer erkennen, passt sich schnell den Umständen an. Dem solide inszenierten Film mangelt es an einer Vision. Diese deutsche Geschichte nach einem Drehbuh von Wolfgang Kohlhase ist typisch deutsch im negativen Sinne - bieder und brav. Was hätte man aus diesem brisanten Stoff machen können.
Heimspiele im „Panorama“
Neben dem künstlerisch nicht immer überzeugenden Wettbewerb zog das „Panorama“ mit 39 Spiel-, 13 Dokumentar- und 22 Kurzfilmen wiederum die Zuschauer an. Es war ein ausuferndes Programm, in dem aber die starken Dokumentarfilme beeindruckten. Zehn deutsche Beiträge suchte Wieland Speck in diesem Jahr aus, darunter Werner Schroeters Essay „Die Königin“ über die 90-jährige Grande Dame der deutschen Schauspielkunst Marianne Hoppe, von Panorama-Stammgast Lothar Lambert „Verdammt in alle Ewigkeit“ oder das respektable Regie-Debut von Pierre Sanoussi-Bliss „Zurück auf Los“ über ein Leben mit Aids.
Zwei deutsche Filme füllten den altehrwürdigen Zoo-Palast bis auf den letzten Platz. Als absolutes Highlight darf „Heimspiel“ gelten. Oscarpreisträger Pepe Danquart („Schwarzfahrer“) gelang ein formal und inhaltlich bestechendes Porträt des Eishockey-Clubs „EHC Eisbären“. Danquart zeichnet anhand des früheren ostdeutschen Clubs „Dynamo“ deutsch-deutsche Absurditäten nach. Der Wellblechpalast in der Berliner Plattenbaugegend Hohenschönhausen wirkt wie eine krude Mischung aus Tollhaus und Kultstätte. Die Fans („Ich bin gerne Ossi und stehe auch dazu“) glauben endlich wieder Zusammenhalt zu finden und Gemeinschaftsgefühl. Und manchmal kommt richtige Kalte-Kriegs-Stimmung auf, wenn es heißt „Wir sind stolz auf den Osten, weil er den Westen schlägt“. Danquart verbindet Fan-Aussagen und Histörchen mit dem Spielgeschehen, blickt hinter die Kulissen: Da zieht ein waschechter Bayer die Fäden als Manager, ein Wessi-Sponsor sorgt für Gelder, auf dem Eis tummeln sich Kanadier und Amerikaner, eine direkte Beziehung zwischen Fans und ihren Stars fehlt. Das tut aber der Begeisterung für den „Stasi-Club“ keinen Abbruch. Diese deutsch-deutsche Wirklichkeit beweist, dass die Mauer in den Köpfen noch nicht verschwunden ist. Ganz nebenbei erzählt der Film, der durch seine Realitätsnähe, durch die suggestive Kamera und die Musik überzeugt, auch noch ein Stück DDR-Geschichte.
Die Fans entrollten vor Begeisterung Transparente mit der Aufshrift „Danke, Pepe“. Weniger enthusiastisch dagegen die Reaktion auf „Fandango“. Matthias Glasner folgt dem Trend zu artifiziellen Welten. Seine drei Protagonisten tummeln sich in der Club-Szene, koksen, dealen und geben coole Sprüche von sich („Frauen müssen ab ‘nem bestimmten Alter Kinder kriegen, sonst drehen sie durch“). Nicole Krebitz als Möchtegern-Model, das es nur bis zum Cover von PopRocky schafft und sich vom Disco-Besitzer (Richy Müller) aushalten lässt, der als Dealer auf die Nase fällt, und Moritz Bleibtreu als Kult-DJ, der mit einer Sonnenbrille den Blinden mimt und sich aus der Realität ausklinken will, sind ein obskures Gespann, das sich hauptsächlich damit beschäftigt, Koffer mit Koks oder Kohle in der Gegend herumzukutschieren und tiefschürfende Platitüden von sich zu geben. Wenn dann noch Corinna Harfouch als glatzköpfige lesbische Rächerin auftritt, wähnt man sich in einem Gruselkabinett. Glasner setzt auf den Trend zur glatten Oberflächlichkeit. Sein auf Zelluloid gebanntes Lifestyle-Magazin beeindruckt zwar durch psychodelische Bilderwucht, aber die kann die inhaltliche Leere nicht verdecken.
Die Beständigkeit des Verbrechens
Nicht nur in Polen, sondern auch auf der Berlinale sorgte Krzysztof Krauzes ungeschminkter Blick auf die Auswüchse des Kapitalismus, „Dlug“ (Die Schuld), für Aufsehen. Zwei junge Akademiker geraten aus Mangel an seriösen Kreditgebern in die Fänge von mafiosen Geldeintreibern, werden erpresst und sehen keinen anderen Ausweg mehr als Mord. Krauze prangert die Verbindungen zwischen Polizei und Unterwelt an, die indifferente Haltung der Justiz, zeigt die Enttäuschung der Bürger am Staat. Der spannend inszenierte Spielfilm, der sich an Fakten orientiert, soll auch ein Spiegelbild gegenwärtiger Verhältnisse sein.
Rob Epstein und Jeffrey Friedman greifen in „Paragraph 175“ die Geschichte dieses diskriminierenden Paragraphen und die des „Rosa Winkels“ auf, der in den Konzentrationslagern der Nazis homosexuelle Gefangene kenntlich machte. Historiker Klaus Müller vom Holocaust Museum in Washington entwickelte die Idee zu diesem Film, stellte Kontakte zu Überlebenden her und führte die Interviews mit großer Sensibilität. Fünf der 100.000 Verfolgten sprechen vor der Kamera über das, was ihnen angetan wurde, ihre Aussagen kontrastieren die Filmemacher mit historischem Foto- und Filmmaterial, wobei der Einsatz des Propagandamaterials zu einer Gratwanderung wird. Viele der Opfer schwiegen jahrzehntelang aus Scham oder landeten nach dem Krieg sogar noch im Gefängnis. Keiner erhielt eine Entschädigung. Deutsche Förderinstitutionen, die scheinbar unbesehen jede noch so platte Komödie fördern, verweigerten diesem Film die notwendige finanzielle Unterstützung.„Mr. Death“ wirkt so, wie man sich einen ganz durchschnittlichen Mann vorstellt - langweilig und bürgerlich. Dabei verkörpert er die Banalität des Bösen. Fred A. Leuchter fasst schon in jungen Jahren den Entschluss, so etwas wie die „Florence Nightingale der Todeszellen“ zu werden. Er begann elektrische Stühle, giftige Injektionsvorrichtungen, Gaskammern und Galgen zu konstruieren und zu reparieren, wurde zu einem gefragten Fachmann des Todes. Mit seinen „Leuchter-Reports“ - er untersuchte in Auschwitz Ziegelsteine nach Gasspuren - lieferte er David Irving die Vorlage zur Verneinung des Holocausts. Errol Morris zeichnet das Porträt dieses Mannes, der sich als anständigen Menschen definiert. Für Morris, der seinen brisanten Film „eine Liebesgeschichte mit dem Tod“ nennt, ist Leuchter ein „Zufallsnazi“, dessen Gefährlichkeit unterschätzt werden darf. Stabangaben der ausführlicher vorgestellten Filme
Dlug
Regie und Buch: Krzysztof Krauze - Kamera: Bartek Prokopowicz - Musik: Michal Urbaniak - Darsteller: Robert Gonera, Joanna Szurmiej, Andrzej Chyra, Premyslaw Maliszewski - Produktion: Sudio Filmowe „Zebra“ (Polen) 1999 - Länge: 102 Minuten
Fandango
Regie und Buch: Matthias Glasner - Kamera: Sonja Rom - Musik: Fetisch/Meister - Darsteller: Nicolette Krebitz, Moritz Bleibtreu, Richy Müller, Corinna Harfouch - Produktion: Calypso Filmproduktion (Deutschland) 1999 - Länge: 103 Minuten - Verleih: Buena Vista
Gouttes d’eau sur pierres brulantes
Regie und Buch: François Ozon - Kamera: Jeanne Lapoirie - Darsteller: Bernard Giraudeau, Malik Zidi, Ludivine Sagnier, Anna Thomson - Produktion: Fidélité Productions (Frankreich/Japan) 1999 - Länge: 90 Minuten
Heimspiel
Regie und Buch: Pepe Danquart - Kamera: Michael Hammon - Musik: Steigeisen - Produktion: Quintefilm (Deutschland) 1999 - Länge: 95 Minuten
Magnolia
Regie und Buch: Paul Thomas Anderson - Kamera: Robert Elswit - Musik: Jon Brion - Darsteller: Jeremy Blackman, Tom Cruise, Melinda Dillon, April Grace, Luis Guzman - Produktion: Ghoulardi Film Company (USA) 1999 - Länge: 189 Minuten - Verleih: Kinowelt
Man on the Moon
Regie: Milos Forman - Buch: Scott Alexander, Larry Karaszewski - Kamera: Anastas Michos - Musik: Michael Stipe, Mike Mills, Peter Buck (R.E.M.) - Darsteller: Kim Carrey, Danny DeVito, Courtney Love, Paul Giamatti - Produktion: Jersey Films/Cinehaus (USA) 1999 - Länge: 102 Minuten - Verleih: Concorde
Mr. Death
Regie: Errol Morris - Kamera: Peter Donahue, Robert Richardson - Musik: Caleb Sampson - Produktion: Fourth Floor Productions (USA) 1999 - Länge: 91 MinutenParagraph 175Regie: Rob Epstein, Jeffrey Friedman - Buch: Sharon Wood - Kamera: Bernd Meiners - Musik: Tibor Szemsö - Produktion: Telling Pictures (USA) 1999 - Länge: 81 Minuten
Die Stille nach dem Schuss
Regie: Volker Schlöndorff - Buch: Wolfgang Kohlhase - Kamera: Andreas Höfer - Darsteller: Bibiana Beglau, Martin Wuttke, Nadja Uhl, Harald Schrott - Produktion: Babelsberg Film (Deutschland) 1999 - Länge: 104 Minuten
Literatur:
Zum Jubiläum der Berlinale wurde von Wolfgang Jacobsen ein Geleitbuch durch die vergangenen Jahrzehnte herausgegeben: „50 Jahre Berlinale. Internationale Filmfestspiele Berlin 1951 - 2000“. Darin werden die filmischen und auch politischen Ereignisse - der Kalte Krieg, die 60er und 70er Jahre - mit vielen Erinnerungen von Regisseuren, Schauspielern und Politikern geschildert. Der Band ist im Nicolai Verlag, Berlin erschienen (564 S. mit 573 Abb., DM 88,-).
Beitrag aus Heft »2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Margret Köhler
Beitrag als PDF - Margret Köhler: Verwaltungsaufwand oder qualitative Unterstützung?
Margret Köhler: Verwaltungsaufwand oder qualitative Unterstützung?
Die europäische Filmförderung ist in ihrem Erfolg abhängig von der Qualität der unterstützten Filme. Die meisten Produktionen erreichen aber bei weitem nicht das Niveau, das sie finanziell und künstlerisch konkurrenzfähig machen würde.
(merz 2000-03, S. 160-162)
- Margret Köhler: Schicksalsgeschichten für ein junges Publikum
Margret Köhler: Schicksalsgeschichten für ein junges Publikum
Nach Tom Tykwers magischem Liebesfilm „Der Krieger und die Kaiserin“, Detlev Bucks bissiger Provinz-Komödie „LiebesLuder“, den Regiedebuts „Vergiss Amerika“ über zerplatzte Jugendträume in Ostdeutschland von Vanessa Jopps und Miguel Alexandres „Gran Paradiso“, einer psychologisch fein gesponnenen Geschichte über Freundschaft und Solidarität, kommen jetzt vier Erstlingswerke ins Kino, die vor allem ein jugendliches Publikum ansprechen.Nicht mehr die schicken Yuppies in den Lofts stehen im Vordergrund, sondern Menschen, die vom Schicksal nicht gerade verwöhnt werden und sich dennoch wieder aufrappeln.„Der Himmel kann warten“Brigitte Müller erzählt in ihrem ersten Kinofilm von Freundschaft und Tod, startet einen heiter-melancholischen Ausflug in die Welt der Standup-Comedy. Da gibt es sie noch die jugendlichen Leinwandhelden, die man einfach mag, die einen ganzen Satz formulieren können und auch über einen Wortschatz verfügen, der über „krass“ und „knallen“ hinausgeht. Zwei Figuren dieser liebenswerten Spezies stehen hier im Mittelpunkt - der stille, selbstlose Alex, der unter Krebs leidet und dem als Kind das Bein amputiert wurde, und der laute, selbstbewusste Paul, der Frauen aufreißt und naiv-fröhlich durchs Hier und Jetzt stolpert. Die Freunde teilen den gemeinsamen Traum von einer Karriere als Komiker, ein Sieg in der Endausscheidung des Talentwettbewerbs könnte das Sprungbrett zur Spitze sein. Die Zeit läuft: In zwei Wochen müssen sie ihre Acts perfektionieren, um das Publikum zu fesseln. Sie gehen die Sache gemeinsam an. Aber bis zum Abend der Entscheidung passiert noch viel. Während Axel damit fertig werden muss, dass er dem Tode nahe ist, rackert sich Paul mit einer tragikomischen Huhn-Nummer seines amerikanischen Vorbildes Patterson ab, bei der das Testpublikum aber nicht wie gewünscht reagiert. Auch sein Versuch, die spröde Barfrau zu becircen, endet erst einmal erfolglos. Um den Frust zu bewältigen, lädt er den Freund zum Frühstück nach Paris ein, doch der Trip endet bei Halligalli in einem Autobahn-Imbiss.
Als Paul am nächsten Morgen aufwacht, ist Axel schon auf dem Weg nach Los Angeles, um den legendären Patterson ausfindig zu machen. Was trotz aller amüsanten Komplikationen auch gelingt. Ein überglücklicher Paul lässt sich vom Idol das Geheimnis der Huhn-Nummer verraten: nur wer echte Trauer empfinden kann, erzielt Glaubwürdigkeit. Aber woher soll jemand, dessen größtes Unglück es war, den Lieblingsmagneten zu verlieren, zu solchen Gefühlen fähig sein? Zurück in Deutschland überstürzen sich die Ereignisse. Subtil nimmt Brigitte Müller, bisher vor allem als Autorin von Serien wie „Für alle Stefanie“ oder „Freunde fürs Leben“ bekannt, die Freundschaft zwischen den jungen Männern unter die Lupe, aber auch die tiefe Einsamkeit und Verzweiflung eines jungen Mannes, der weiss, dass er seine Wünsche nicht mehr verwirklichen kann. Als Alex erstmals weibliche Zärtlichkeit spürt, ahnt man die Unfassbarkeit seines Glücks. Und wenn er erfährt, dass die große Liebe eine von Paul gekaufte Hure war, leidet man mit ihm. Es sind die kleinen berührenden Momente, die den Charme dieses Buddy-Movies mit überraschendem Ende ausmachen und Schwächen (wie die überflüssigen Hollywood-Sequenzen und den sentimentalen Soundtrack) vergessen lassen.„Schule“Für den erst 25-jährigen Marco Petry wurde ein Traum wahr - er konnte seinen ersten abendfüllenden Spielfilm unter den Fittichen der Produzentin Uschi Reich und von Axel Block (Co-Regie und Kamera) realisieren. Eine Gruppe von Schülern steht kurz vor dem Abitur und macht innerhalb von 24 Stunden einen Crash-Kurs in Sachen Lebens- und Liebeserfahrung. Der Tag beginnt für den 18-jährigen Markus nicht gut, nachdem morgens um Sieben schon seine jüngere Freundin Sandra ihn per Radio dröhnend als „süßen Schnubbi“ grüßen lässt und er sich ob des Kosenamens in seiner Männlichkeit gekränkt fühlt. In der „Schule“ treffen nach und nach die schlappen Protagonisten ein: Nach Markus und Sandra deren ältere Schwester Melanie und ihr Freund André, der sie ständig betrügt, die gutmütige Teresa, die sich wie Mutter Theresa rührend um den rund um die Uhr bekifften Steven kümmert, der pingelige Oberstreber Karbrüggen, der Dirk bei der Matheklausur aus der Patsche hilft (und dafür mit auf die Party am See darf) und noch zwei passionierte Videofilmer, die mit der Kamera überall auftauchen. Den Part des notwendigen bösen Außenseiters übernimmt Möchtegern-Macho Stone, der vor Jahren von der Schule flog und jedem Rock hinterherläuft, je jünger, desto besser.
Das bunte Trüppchen, darunter ausdrucksstarke Nachwuchsschauspieler wie Axel Stein und Sebastian Kroehnert, macht so allerhand durch - man legt sich mit Lehrern und Polizisten an, empfindet das berühmte Kribbeln im Bauch und weiß nicht so recht, was es bedeutet, durchlebt Eifersucht und Liebeskummer, schaut zu tief ins Glas und lässt den Joint kreisen, wartet auf das große Glück und bekommt nur einen kleinen Vorgeschmack davon. Und wenn sich dann alle im Morgengrauen nach einer Nacht der Überraschungen an der Schule treffen, ahnen sie die Vergänglichkeit unbeschwerter Jugend. „Mit guter Laune Melancholie erzeugen“ will Marco Petri, der fünf Jahre am Drehbuch bastelte. Irgendwo zwischen „Harte Jungs“ und „Crazy“ ist sein Filmdebut einzuordnen, das mit einer gewissen Unbekümmertheit realisiert wurde. Die Lehrer erinnern zwar an schlimmste Pauker-Klischees und Relikte aus den 50er Jahren, aber welcher Schüler freut sich nicht am überzeichneten ‘Feindbild’? Spät, aber nicht zu spät, gewinnt der episodenhafte Reigen an Fahrt, bekommen einige der typisierten Figuren Kontur, werden zu sympathischen Buddies. „Schule“ will nicht mehr sein als ein Samstagabend-Popcorn-Movie - die deutsche Antwort auf „American Pie“.„alaska.de“Nicht das jugendliche Biotop einer Kleinstadt, sondern die verlorenen Kids der Großstadt sind Sujet von Esther Gronenborns hartem Berlin-Film „alaska.de“. In beeindruckenden Bildern fängt sie die soziale Kälte ein, in der Jugendliche in den Häuserblocks am Rande der Metropole leben. Die 16-jährige Sabine ist ein typisches Scheidungskind. Nachdem sie mit dem Freund der Mutter ständig aneinander gerät, zieht sie zu ihrem Vater in eine Plattenbausiedlung vor Berlin. Bald lernt sie den 17-jährigen Eddi und seine Kumpels kennen, darunter auch Micha, der gerade auf Bewährung ist, aber wegen seiner Volljährigkeit kein Fall mehr für den „Eiapopeia-Jugendknast“ ist, wie es ein Polizist formuliert.
Als die Jungs bei einem Streetballspiel von einem Gleichaltrigen gestört werden, entsteht eine Keilerei, in deren Verlauf Eddi plötzlich ein Messer in der Hand hat und den Angreifer, der mit einem Mülleimer auf Micha einschlägt, ersticht. Auf der Flucht begegnen sie Sabine. Aus Angst, dass das Mädchen sie verrät, soll Eddi sie auskundschaften, dabei verliebt er sich in sie. Doch in dieser Umgebung haben Gefühle keine Chance, es kommt zur Katastrophe. „Der Film hatte nicht nur das Ziel, sich sehr nah an der Welt der Jugendlichen zu orientieren, sondern die Geschichte sollte ganz stark auf die Persönlichkeit und die Erfahrungen der Darsteller eingehen“ beschreibt die Regisseurin ihre Intention. Die Idee enstand bei Dreharbeiten zu einem Musikvideo, das von Gewalt an Schulen handelte. Dabei lernte Gronenborn Cliquen aus Lichtenberg und Potsdam kennen, ganz normale Jugendliche aus dem Milieu wurden für „alaska.de“ gecastet, das Drehbuch sogar auf sie hingeschrieben. Nachdem die Besetzung stand, fuhr man an die Ostsee - nicht nur wegen Schauspielübungen oder Annäherung an die Handlung, sondern auch, um ein Gruppengefühl zu entwickeln. Die Kids erhielten kein Drehbuch, die Szenen wurden erst beim Drehen besprochen, dabei war Improvisation Trumpf. Das visuelle Konzept mit wackeliger Kamera und grobkörnigen Bildern soll auf die Sehgewohnheiten Jugendlicher verweisen.Auch wenn manchmal die Kreuzung von Künstlichkeit und Realismus nicht befriedigt, so ist doch anzuerkennen, dass sich die Absolventin der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film an ein aktuelles und brisantes Thema wagte.„Sumo Bruno“In Anlehnung an eine wahre Begebenheit schildert Lenard Fritz Krawinkel das Schicksal vom 200 Kilo schweren Bruno Nestroy (Hakan Orbeyi).
Der ehemalige Schrankenwärter ist arbeitslos, stopft Chips und Buletten in sich hinein, lebt zurückgezogen und fast ohne soziale Kontakte. Einzig mit Kalle (Oliver Korittke) verbindet ihn so etwas wie Freundschaft. Der Luftikus hat immer neue Ideen, wie man zu Geld kommen könnte. In ihrem sächsischen Provinzkaff Riesa findet die erste Sumo-Weltmeisterschaft außerhalb Japans statt. Warum den Dicken nicht trainieren und die Prämie kassieren? Ein Trainer ist schnnell gefunden: Akashi - ein echter Sachse, der mit seiner japanischen Frau ein Sushi-Lokal betreibt und dem Koloss die Grundbegriffe des Kampfes beibringen soll. Und natürlich gibt es da noch eine nette Frau, die sich in Bruno verliebt und ihren fiesen Macho-Gefährten verlässt und ihren Sohn, der Brunos Freund und emotionaler Unterstützer wird. Die Dorfbewohner, die Bruno zu Beginn der Tragikomödie verspotten, rufen ihn zum Helden aus, auch wenn er nur den zweiten Platz im internationalen Wettbewerb belegt.
Sensibel zeichnet der ehemalige Student an der HFF München und der FEMIS in Paris wie ein Mensch seine Würde und Selbstachtung zurückgewinnt. Zwar hakt die Dramaturgie etwas und manchmal wirkt die Langsamkeit der Inszenierung ermüdend, alles geht im Endeffekt auch zu glatt, aber man liebt die Verlierer, denen für einen kurzen Moment die Welt zu Füßen liegt.
- Margret Köhler: Filme im Wettbewerb
Margret Köhler: Filme im Wettbewerb
Der goldene BärMit einer Überraschung ging die 51. Berlinale zu Ende: Nicht der Favorit, Steven Soderberghs „Traffic“ erhielt den Goldenen Bären, sondern Patrice Chéreau für sein umstrittenes, verstörendes Drama „Intimacy“. Und seine Schauspielerin Kerry Fox kassierte den Silbernen Bären als Beste Hauptdarstellerin. Buhrufe bei der Pressekonferenz ließen die Ambivalenz spüren, mit der diese wagemutige, doch vertretbare Jury-Entscheidung aufgenommen wurde. Nach Cathérine Breillats „Romance“ und Virginie Wagons „Le Secret“ geht Chéreau aus männlicher Perspektive die Traurigkeit der Triebe an. Basierend auf Hanif Kureishis gleichnamigem Roman und dessen Short Story „Nightlight“ lässt Chéreau zwei Menschen und zwei Welten aufeinanderprallen: Jeden Mittwochnachmittag besucht Claire (Fox) den Barkeeper Jay in seiner heruntergekommenen Wohnung. Leidenschaftlicher Sex auf schmutzigem Teppichboden, mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Beide genießen die Situation, so wie sie ist. Doch dann kommt Neugier ins Spiel, der Mann folgt der Geliebten und findet heraus, dass sie in einem kleinen Vorstadttheater auf der Bühne steht. Er befreundet sich mit dem Ehemann, um sie besser kennenzulernen, mimt den coolen Typ. Er will plötzlich mehr, bricht die unausgesprochene Vereinbarung und stellt damit das fragile Verhältnis infrage. Was als folgenloses Vergnügen geplant war, endet in einer schmerzhaften Zerreißprobe.
Chéreau philosophiert über die Unfähigkeit der Liebe, das Absterben der Seele, die kleinen Tode, die das Überleben garantieren. Und darüber, wie aus dem anfänglichen Geben ein Voneinander-Fordern wird.Gewalt und Drogen„Traffic“ nur mit dem Darstellerpreis für Benicio Del Toro abzuspeisen, zeugt nicht von großer Souveränität der Jury. Aber da man im vergangenen Jahr „Magnolia“ auszeichnete, wollte man wohl Hollywood gegenüber trotzig Eigenständigkeit beweisen. Soderbergh, der erste Regisseur, der in einem Jahr zwei Oscar-Nominierungen für die beste Regie und den besten Film erhielt („Traffic“ und „Erin Brockovich“), wird es mit Fassung tragen. Das Gerücht ging um, Jury-Präsident Bill Mechanic, der der Twentieth Century Fox bis im vergangenen Jahr vorstand und das Soderbergh-Projekt ablehnte, habe ein Veto eingelegt.Soderbergh verdichtet verschiedene Erzählstränge. Es geht um den erbarmungslosen Drogenkrieg vor Amerikas Haustür. Ein eigentlich schon verlorener Krieg. Denn die Drogenkartelle ziehen die Fäden und da fallen kleine Siege von zwei mexikanischen Drogen-Cops (Benicio del Toro, Jacob Vargas), deren Chef der Korruption nicht abgeneigt ist, kaum ins Gewicht. Und dann sind da noch die schwangere Ehefrau (Catherine Zeta-Jones) eines Drogenbarons in San Diego, die mit allen Mitteln für die Freilassung ihres inhaftierten Gatten kämpft und ein amerikanischer Bundesrichter (Michael Douglas), der zum obersten Drogenjäger nach Washington beordert wird und durch Zufall mit der Kokain- und Designerdrogen-Abhängigkeit der eigenen Tochter konfrontiert wird. Der schockierende Blick in diese Welt kommt nicht als Lehrstück daher, sondern bietet als spannendes Drama beste Unterhaltung.Koreanische WirklichkeitVerwunderlich, wenn auch diplomatisch korrekt, die Ehrung der nicht gerade außergewöhnlichen asiatischen Beiträge: Der Große Preis der Jury für „Beijing Bicycle“ von Wang Xiaoshuai aus China, der Silberne Bär für die Beste Regie für „Betelnut Beauty“ des aus Taiwan stammenden Lin Cheng-sheng - ausgewogener geht es nicht. Beide Filme sind die ersten aus Peggy Chiaos Projekt „Tales of Three Cities“, ein sechs Spielfilme umfassendes Paket von Regisseuren aus Peking, Taipei und Hongkong. Einen Preis hätte man auch dem Koreaner Park Chan-Wook gegönnt für „J.S.A.“ (Joint Security Area) über den militärischen Wahnsinn an der Demarkations-Linie zwischen Nord- und Südkorea. Nichts symbolisiert die Teilung Koreas so sehr wie die „Brücke ohne Wiederkehr“ in der demilitarisierten Zone, der Joint Security Area, Schauplatz des von Publikum und Presse gefeierten Dramas über Feinde, die für kurze Zeit Freunde werden: Als am 38. Breitengrad zwei nordkoreanische Grenzsoldaten erschossen werden, löst der Vorfall eine militärische Kettenreaktion aus. Die Südkoreaner behaupten, einer ihrer Soldaten sei entführt worden und habe sich nur durch die Tötung zweier gegnerischer Soldaten befreien können, die Nordkoreaner dagegen sprechen von einer bewussten Grenzüberschreitung und Exekutierung. Für Aufklärung soll ein weiblicher Leutnant, eine neutrale Schweizerin koreanischer Abstammung sorgen. Der ersten Frau, die seit 1953 dieses Gebiet betritt, schlägt Misstrauen entgegen, die wenigen Aussagen der Beteiligten widersprechen sich. In einer langen Rückblende entwickelt der Film, was wirklich passiert ist, protokolliert die Absurdität militärischer Aktionen und das Leid des in der Tötungsmaschinerie gefangenen Individuums. In Südkorea wurde „J.S.A.“ zum Kassenknüller und Armeeveteranen verwüsteten aus Zorn das Büro der Produktionsfirma.
Erwähnenswertes
Der Silberne Bär für die beste Darstellerin wäre bei Emma Thompson gut aufgehoben gewesen. Sie spielt in Mike Nichols’ bewegendem Kammerspiel „Wit“ eine Krebskranke, die angesichts des nahen Todes um ihre Würde kämpft. Erst begegnet sie der Krankheit gefasst, amüsiert sich über die Weißkittel-Rituale, hofft auf Überleben. Nach acht quälenden Monaten wirkt sie bald nur noch wie ein Schatten ihrer selbst, ein geschundenes Bündel Mensch - am Tropf hängend und mit kahlem Schädel. Nichols inszenierte „Wit“ nach Margaret Edsons mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Theaterstück als schonungslose Entlarvung einer Krankenhausmaschinerie, in der Menschen zur Sache degradiert werden.Als Bären-Kandidat galt auch Geoffrey Rush, der in John Boormans bitterböser und gleichzeitig amüsanter Farce „Der Schneider von Panama“ die titelgebende Figur spielte, die mit ihren Lügen in die große Politik eingreift. Und Pierce Brosnan räumt als strafversetzter Agent mit dem properen 007-Image auf. Ganz nebenbei erfährt man einiges über das Land an der Grenze zwischen Nord- und Südamerika. In diesem Agententhriller, zu dem John le Carré die Vorlage schrieb, haben am Ende alle Dreck am Stecken - nicht nur das erpressbare Schneiderlein, das sich notgedrungen ständig neue Stories von einer Befreiungsbewegung und möglichen Putsch-Versuchen ausdenkt, sondern auch Geheimdienste, Diplomaten und Militärs.Während Spike Lees „Bamboozled“, eine sich hinziehende Satire über rassistische Stereotypen im Showgeschäft, Lasse Hallströms „Chocolat“ oder Giuseppe Tornatores „Malèna“ wenig positive Resonanz bekamen, begeisterte Lone Scherfigs „Italienisch für Anfänger“ (Silberner Bär und Preis der Jury). Die Dänin zaubert mit Stilmitteln à la DOGMA eine menschelnde Tragikomödie, deren Protagonisten auf der Suche nach einem Stückchen Glück einem schnell ans Herz wachsen.In 30 Kinos lief das Gesamt-Programm ab, der Potsdamer Platz - im vergangenen Jahr noch skeptisch beäugt - hat sich als Berlinale-Standort bewährt, die Organisation klappte, als hätte es nie einen anderen Ort gegeben. Gespannt darf man darauf sein, wie die künftigen Chefs Dieter Kosslick (Wettbewerb) und Christoph Terhechte (Forum) das Profil der Berlinale schärfen und neue Binnenstrukturen entwickeln werden. Im Gegensatz zu de Hadeln und Ulrich Gregor stimmt bei den beiden die Chemie, was dem Festival sicherlich nützen wird.
- Margret Köhler: "Verstehen" heißt nicht "erklären"
Margret Köhler: "Verstehen" heißt nicht "erklären"
Michael Haneke provoziert gerne, auch wenn er es nicht zugibt. So mancher Mainstream-Anhäger oder Schöngeist muss hart schlucken bei diesem unbarmherzigen Trip durch seelische Abgründe, denn der Regisseur beschreibt seine Intention wie folgt: "einen Film zu drehen, der zugleich komisch und scheußlich ist". Bei der Premiere in Cannes hallte nervöses und verlegenes Lachen bei heiklen Szenen durchs Kino, das Publikum tat damit seine Unsicherheit und Betroffenheit (hier passt der etwas angestaubte Begriff) kund.Ungeschützte BilderErika Konut (Isabelle Huppert) lehrt am Wiener Konservatorium Piano, steht noch mit Anfang 40 unter Kuratel ihrer Mutter (Annie Girardot), die sie ständig kontrolliert und wie ein kleines ungezogenes Kind behandelt, wenn sie mal nachts spät nach Hause kommt. Sie hat keine Freunde, der Vater starb in der Psychiatrie. Sexuelle Befriedigung sucht die verbitterte Frau in Pornokinos. Wenn Isabelle Huppert dort an gebrauchten Kleenex-Tüchern ihre Sehnsucht stillt, im Autokino Paaren beim Liebesspiel zuschaut, oder sich in einer Mischung aus Hassliebe und Wahn im Bett auf ihre Mutter wirft, möchte man sich abwenden und schaut dennoch diesem psychischen Niedergang gebannt zu. Eine der verstörendsten Szenen ist die, in der Erika Kohout mit gespreizten Beinen auf dem Badewannenrnd sich mit dem Spiegel in der einen und der Rasierklinge in der anderen die Vagina zerschneidet. Gerade als ein schmales Rinnsal Blut in die weisse Badewanne läuft, schreit die Mutter hinter der Tür, das Essen sei fertig.
Schnell nimmt Erika eine Damenbinde bevor sie das Badezimmer verlässt als wäre nichts geschehen. In Situationen wie dieser stockt dem Betrachter der Atem.Hupperts schauspielerischer GewaltstreichLiebe ist für die Musiklehrerin eine Terra incognita - bis sich ein junger Schüler in sie verliebt. Das ist der Auftakt zi einem atemberaubenden Akt der totalen Selbstzerstörung. Erika will keine Intimität, sondern präsentiert einen sexuellen Forderungskatalog, in dem sie die körperliche Akrobatik auflistet, die sie aus Pornos kennz - Bondage, Knebelung, Schläge in den Magen -, wandelt dadurch das Begehren des Mannes in Abscheu. Wenn sie ihrem jungen Liebhaber (Benoît Magimel) anvertraut, dass sie schon jahrelang davon träumt, geschlagen zu werden und dieser fast hilflos den gealttätigen Fantasien entspricht, ahnt man ihre in der Kindheit zerstörte Psyche. im Verlauf der kruden Handlung verliert die Protagonistin sukzessive die seelische Balance. Haneke inszeniert die Sezierung einer Verhaltensdeviation als Psycho-Drama ohne Pardon, trifft Seele, Bauch und Kopf.Die Huppert, die vor vielen Jahren ein Angebot für Hanekes "Funny Games" ausschlug, brilliert in der Titelrolle, ist mal abweisend, dominant oder verwundbar, mit kleinsten Gesten oder minimalster Mimik lässt sie tiefe Einsamkeit ahnen, die Vereisung der Gefühle. Sie geht an Grenzen, spielt alle Nuancen von Demütigung, Selbsthass und verdrängtem Gefühlshunger souberän aus.
Die Rigorosität erschreckt und weckt gleichzeitig Mitleid. Wenn die Klavierlehrerin ihre Eleven aus bürgerlich gehobenem Ambiente mit Worten wie Wurfpfeile fertigmacht und diese Destruktion mit einem pädagogischen Deckmäntelchen kaschiert, wenn sie sich trotz ihrer vordergründigen Ruhe permanent am Ohr zieht oder an den Händen kratzt, sich mit der Mutter verbale Gefechte liefert, die auch schon mal in physische Gewalt ausarten, weiss man um die innere Ambivalenz. Sobald ein Steinchen aus der fragilen Fassade bricht, wankt das ganze Lebensgebäude.Die chirurgische KameraKünstlerisch und atmosphärisch ist "Die Klavierspielerin" ein Höhepunkt in Hanekes Schafen, fordert Position heraus, auch Abwehr und vielleicht bei einigen auch Abscheu. Hanekes Klavierstunde ist weder harmonisch noch angenehm, sondern ein schmerzhaftes und verstörendes Purgatorium - aber niemals degoutant. Was auch daran liegt, dass haneke seine Kamera-Einstellungen mit einer fast chirurgischen Präzision durchführt, er zeigt, was er zeigen muss, sagt, was er sagen muss, nichtmehr und nicht weniger. Jede Einstellung gibt einen weiteren Blick in ein abgeschlossenes Universum frei, mit jedem Detail macht er ein persönliches Schickdal öffentlich.
Er erforscht distanziert und kühl dieses weibliche Schuldgefühl. Nackheit ist hier nicht nur körperlich. Interessant wäre eine Diskussion im Zusammenhang mit Cathérine Breillats "Romance" und der klassischen Psychoanalyse, auch wenn Haneke letztere für den Tod i der Kunst hält. Am Ende dieses Albtraums über weibliche Schuldgefühlre möchte man nur eins, in den ganz normalen Alltag entfliehen. Aber das geht nicht - "Die Klavierspielerin" hinterlässt ein Gefühl schneidender Kälte, die eigene Seele friert.Die Klavierspielerin Regie und Buch: (nach dem Roman von Elfriede Jelinek): Michael HanekeKamera: Christian BergerSound: Guillaume SciamaMusikalische Beratung: Martin AchenbachDArsteller: Isabelle Huppert, Benoît Magimel, Annie Girardot, Anna Sigalevitch, Susanne Lothar, Udo SamelProduktion: Österreich/Frankreich 2001Länge 130 MinutenVerleih: Concorde Filmverleih
- Margret Köhler: EFA-Konferenz „Film Education“
Margret Köhler: EFA-Konferenz „Film Education“
Im Vorfeld der Verleihung des „Europäischen Filmpreises“ organisiert die European Film Academy (EFA) Themen-Konferenzen. Im Jahr 2000 ging es um „Eine neue Energie im europäischen Kino“, 2001 um „Festivals im Rampenlicht“ und im vergangenen Dezember in Rom um „Filmerziehung“. Das Treffen fand auf Anregung italienischer Regisseure wie Mario Minicelli, Francesco Rosi oder Ettore Scola statt und soll die europäischen Minister für Kultur und Erziehung ermutigen, sich für Film- und Medienerziehung zu engagieren, dem Film den gleichen Status wie Kunst oder Literatur einzuräu-men, sowie Medien-Curricula an europäischen Schulen zur Pflicht zu machen.
Scola rief in seinem Grußwort dazu auf, „sich am Kampf gegen das Vergessen zu beteiligen“, und auch Rosi betonte in seiner Eröffnungsrede, Schüler müssten nicht nur wissen, wer Giotto und Dante, sondern auch wer Chaplin sei. Kino sei unser kulturelles Erbe und müsse erhalten bleiben, darin waren sich alle Redner einig. Die französische Schau-spielerin Jeanne Moreau beschwor die Verantwortung der Filmschaffenden in einer globalisierten Welt mit Bildüberflutung. Auf dem Podium diskutierten dann Experten aus verschiedenen europäischen Ländern den Status quo und Möglichkeiten der Filmerziehung, deren Integration in den bestehenden Fächerkanon oder als eigenes Fach ...(den vollständigen Artikel finden Sie in merz 2003/01 S. 53-56)