Oliver Langewitz
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- Andreas Lange: Kompetenzentgrenzung – Ein Einspruch
Andreas Lange: Kompetenzentgrenzung – Ein Einspruch
Jüngst hat der bayerische Ministerpräsident seinen Wirkungsort verlassen und wird demnächst in Brüssel die Bürokratie entschlacken. In einem Interview sprach er davon, dass es ihm darum geht, die Kompetenzkompetenzen zwischen Brüssel und Berlin und den anderen EU-Staaten wieder neu zu ordnen. Ups – noch eine Kompetenz, die sich da anheischt, als notwendiger Bestandteil des Portfolios eines Politikers Eingang zu finden. Nicht nur in der Politik, nein allenthalben schießen die Anforderungen an zu bewältigende Sachverhalte aus dem Boden: Die Welt wird unsicher und ambivalent, also brauchen wir eine Unsicherheits-/Ambiguitäts-/ Ambivalenzkompetenz.
Die Gefühle am Arbeitsplatz, in der Familie und im Freundeskreis dürfen auch nicht mehr naturwüchsig gezeigt und ausgelebt werden – man hat sich gefälligst des ausdifferenzierten Tableaus emotionaler Kompetenzen zu bedienen. Medienforscher werden nicht müde, mit derselben Verve Medienkompetenzen zu fordern – das kleine noch zu lösende Problem dabei liegt nur in dem kaum zu entwirrenden Gestrüpp von Vorschlägen hierzu … Und nicht zu vergessen – in Zeiten der auf allen Ebenen betriebenen Umbauten, Renovierungen und Innovationen im Feld der Beziehungen zwischen den Geschlechtern brauche ich ein ganzes Bündel von „Genderkompetenzen“, will ich nicht als hoffnungslos veralteter Zeitgenosse und Macho gelten.
Überhaupt – damit mein Leben fortan in geordneten Bahnen verläuft und ich sinnvoll mit meiner begrenzten Lebenszeit umgehe, diese richtig bewirtschafte, auch noch im Alter produktiv bin – wie im neuesten Altenbericht gefordert – auch immer gut vorbereitet in meine Meetings komme, da brauche ich – richtig geraten! – Zeitkompetenzen. Eine vollständige Liste weiterer unbedingt notwendiger und vor allem auch durch Forschungsprogramme summativ oder auch formativ zu evaluierender Fertigkeiten zu erstellen, liegt außerhalb meiner Kompetenzlistenerstellungskompetenz, würde aber offenbaren, dass die Kompetenzschürfer bis in die feinsten Poren des Alltags vorgedrungen sind. Dort lassen sie nicht locker, bis sie auch das letzte Quäntchen an Humanressourcen absaugen und der uns alle glücklich machenden Verwertung zuführen können. Sind sie beispielsweise derzeit „nur“ Hausfrau und fragen sich, ob Sie auch etwas können?
Keine Bange, auch hierfür gibt es mittlerweile eine sogar von Arbeitsämtern anerkannte Familienkompetenzbilanz. Das Leben des lernbereiten Mitteleuropäers besteht also immer mehr aus einer Anreihung von Kompetenzaneignungsphasen, Kompetenzbeweisepisoden (Prüfungen!) und schließlich Kompetenzperformanzevents (wenn’s dann richtig ernst wird in der Lebenswelt und man seine Kompetenzen beweisen soll und rhetorisch in Szene muss). Irgendwie erinnert mich das als eifrigen Sciencefictionleser (noch eine Kompetenz??) an abschreckende utopische Visionen im Stile von 1984. Ich glaube, als einzig wirklich wahres Gegenmittel hilft da nur die Pflege der „Kompetenzvernachlässigungskompetenz“ – nicht zuletzt der expansiv-regressive Medienkonsum, einfach so also eine Soap gucken (ohne deren Familienbilder für die nächste Vorlesung aufzubereiten), meine Lieblingsmusik hören (ohne gleich auf die positiven Auswirkungen auf meine Gehirnstrukturen zu spekulieren) …