Joachim Leitenmeier
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- Joachim Leitenmeier: Früher war das Internet irgendwie besser
Joachim Leitenmeier: Früher war das Internet irgendwie besser
In letzter Zeit habe ich so eine romantisierte Erinnerung an die Anfänge des Internets. Dabei denke ich nicht an die Zeit der ersten E-Mail irgendwann in den 70ern. Ich bin 34 Jahre alt, damals war ich noch tot. Vielmehr denke ich an die Zeit, als das Internet in den 90ern auch in Haushalten wie dem unseren relevant wurde. Bei uns hat damals mein technisch versierter Vater das Internet eingerichtet. Mit einem lauten Modem und einer AOL-CD. An diesem großen, grauen Klotz von PC, der eigentlich vorrangig zum Lernen für die Kinder angeschafft wurde. Haha. Gelernt haben wir einiges. Nur eben etwas anderes als das, was sich unsere Eltern so vorgestellt hatten.
Da war es also: das Internet. Neu und unerforscht. Geheimnisvoll und voller Überraschungen. Wild surften wir Naseweise drauflos. Doch ohne ein bestimmtes Ziel und eine Vorstellung der Möglichkeiten verloren wir schnell wieder die Lust. Das Internet war damals gar nicht besser als heute. Es war vor allem langsamer. Nach und nach lernten wir, wonach man suchen sollte. Mit einem konkreten Ausflugsziel wurde die Sache spannender. Ich erinnere mich an sogenannte YouTube Partys. YouTube wurde vor allem anhand der heißen Tipps anderer bedient. Und weil das Laden einzelner Videos mindestens dreimal so lange dauerte wie das Video selbst, wurden bei einer Session mindestens vier Videos parallel auf einzelnen Tabs vorgeladen. Das hatte etwas sehr Gemeinschaftliches.
Ich erinnere mich an die süße Jugendsünde Filesharing. Die heiße Ware kostenloser Musik und Filme. Sorgfältig kuratiert und sortiert lagerte sie auf meiner Festplatte. So konnte ich mich auch ohne die finanziellen Mittel eines Privatiers fühlen wie ein belesener Liebhaber und Sammler kultureller Güter. Achtsam pflegte ich meine Musik- und Filmsammlung. Heute konsumiere ich im Internet vor allem das, was mir der seelenlose Algorithmus meiner personalisierten Startseiten vorschlägt. Das empfinde ich einerseits als sehr praktisch, andererseits als sehr unpersönlich.
Das Netz fühlt sich heute vollgestopft mit Möglichkeiten, Meinungen, sinnlosen Diskussionen, Hass und Langeweile an. Content besteht zu 50 Prozent aus der Reaktion auf bereits bestehenden Content. Wenn ich das Smartphone genervt weg lege, vermisse ich das alte Internet; das unschuldige, langsame, achtsame.
Die Freude ist mir irgendwie abhandengekommen. Ich konsumiere so viele Inhalte und bin gleichzeitig so unzufrieden wie nie zuvor. Fest steht: Mein Internetkonsum muss wieder mehr retro werden. Weniger überflüssiges Angebot und mehr persönlich Ausgewähltes. Gestern zum Beispiel, habe ich das Internet auf eine fast schon klassische Art und Weise benutzt. Ich habe mir ein Live Konzert meiner Lieblingsband angesehen. Auf Leinwand. Ohne Second Screen. Eineinhalb Stunden lang. Das hat sich schon fast nach dem guten alten Internet angefühlt.
Beitrag aus Heft »2022/03 Digitale Jugendarbeit – Perspektiven zur Professionalisierung«
Autor: Joachim Leitenmeier
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