Wolfgang Neumann
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- Reuter, Oliver/Hartung-Griemberg, Anja/Neumann, Wolfgang: Editorial: Vom Wert der Kreativität. Neue Perspektiven auf eine alte Leitkategorie der Medienpädagogik
Reuter, Oliver/Hartung-Griemberg, Anja/Neumann, Wolfgang: Editorial: Vom Wert der Kreativität. Neue Perspektiven auf eine alte Leitkategorie der Medienpädagogik
Von einem Wiesel wird gesagt, es könne aus einem Ei den gesamten Inhalt heraussaugen, ohne dass dies der leeren Schale anzusehen sei. Diese Eigenheit tangiert ein Phänomen, das auch in mancherlei menschlichem Tun zu finden ist. Wiesel-Wörter (engl. Weasel-words) bezeichnen Termini, die mehr Fragen stellen, als sie Antworten geben. Kreativität ist ein Wieselwort. Man bedient sich des Ausdrucks allerorten ebenso beiläufig wie programmatisch. Ein Grund dafür ist gewiss seine positive Anmutung. Wer kreativ ist, vermag etwas Gutes zu leisten, wer Kreativität fördert, engagiert sich für eine gute Sache. Kreativitätstechniken erweitern den Möglichkeitssinn und die gedanklichen Spielräume. Kreative Ansätze helfen Probleme zu lösen, Ideen zu generieren und Visionen zu entwickeln. Free Creativity ist die „treibende Kraft in der Krise“ (Muntschick 2020). Fragen wir aber, was denn nun konkret unter dem Begriff Kreativität zu verstehen sei, zeigt sich Verwirrung. Eine Vielzahl von Definitionen bestimmt das heterogene Gesamtbild des Begriffs. Das Erbe von Theorien, etwa von Graham Wallas (The Art of Thought 1926) bleibt den Grundnuancen vieler Kreativitätsmodelle zwar inhärent (z. B. die Aufgliederung in Schaffensphasen), doch erwächst aus einer Vielfalt an Disziplinen, die in der Kreativität auch in ihrem jeweiligen Fach einen lohnenden Inhalt sehen, ein undurchdringbares Geäst. Verstärkt wird die Gemengelage durch eine populärwissenschaftliche Verwendung, die sich den Glanz des Begriffes zu eigen macht, freilich ohne ihn adäquat zu unterfüttern.
So überrascht es nicht, dass in der Wissenschaft auch Positionen vertreten werden, die sich ostentativ vom Kreativitätsbegriff distanzieren und diesen gar als verbraucht oder ungeeignet erklären. Verstärkt wird ein solcher Widerwille gewiss angesichts der neoliberalen Instrumentalisierung und Engführung des Begriffes. Der Soziologe Andreas Reckwitz (2019) hat dies in Anlehnung an Michel Foucault bekanntermaßen mit dem Begriff des Kreativitätspositivs gefasst. Was ehedem als Domäne subkultureller Zirkel galt, sei heute nicht nur zu einem universalen Modell geraten. In seiner kritischen Analyse seiner Ideengeschichte zeigt er anschaulich, wie sich der umstrittene Terminus ausgehend von der Kunst der Avantgarde und Postmoderne bis hin zu den Creative Industries und der Innovationsökonomie der neoliberalen Leistungsgesellschaft zu einem tief- und umgreifenden Imperativ entwickelt hat.
Auch in der Medienpädagogik ist das Kreative allgegenwärtig. Als pädagogische Leitkategorie ist das Gestaltende, Schöpferische und mithin Widerständige unlösbar in die Ideengeschichte der Disziplin verstrickt. Freilich, die Anrufung an das kreative Subjekt hat eine emanzipatorische Komponente. In kreativen Akten vermag es das Subjekt, sich von gesellschaftlichen Leitbildern zu distanzieren und sich mit authentischen Ansprüchen in Aushandlungsprozesse einzubringen. Der Stellenwert von Originalität ist dazu geeignet, gestaltendem Wirken eine über die persönliche Sinnstiftung und das Kompensatorische hinausgehende Relevanz zu verleihen, die Prozesse ästhetischer Bildung politisch und strukturell sinnhaft macht. Authentische Erfahrung als „autonome Aneignung von Realität und die selbstbestimmte aktive Einwirkung auf diese“ (Schell 2003, S. 59) stehen im Mittelpunkt einer Position der Medienpädagogik, die seit ihren Anfängen durch den gestaltenden Umgang mit Medien Subjekte dazu befähigen will, in gesellschaftliches Handeln einzugreifen (vgl. Schorb 1995, S. 185). Neue Fahrt aufgenommen hat die Diskussion um die schöpferische Dimension des Medienhandelns mit der Verbreitung digitaler Technologien. Unter dem Motto „Do It Yourself“ (DIY) treffen sich Akteur*innen der Maker-Bewegung in offenen Makerspaces, FabLabs oder Hackerspaces, um gemeinsam an der Gestaltung von digitalen Geräten, Technologien und Produktionsweisen zu wirken. Lasercutter und 3D-Drucker inspirieren neue Formen der kreativen Auseinandersetzung und medialästhetischen Konfiguration. Auch in den Kontexten der Kinder-und Jugendarbeit ebenso wie in Schulen und Hochschulen wird zunehmend gedruckt, gelasert, programmiert und gelötet. Veni creator spiritus! In theoretisch-konzeptionellen ebenso wie in bildungspolitisch-pragmatischen Überlegungen werden die Entwicklungsvollzüge der Gegenwart vor allem in Hinblick auf die Notwendigkeit des ‚Informatischen Denken‘ diskutiert. Schließlich ist es für ein eigen- und mitverantwortliches Denken und Handeln unabdingbar geworden, die Strukturen, Funktionsweisen und Auswirkungen informatischer Systeme zu verstehen und in konkreten Handlungsvollzügen eben auch auf eine kreativ-gestaltende Weise begreifbar zu machen.
Näher besehen provoziert der Kreativitäts-Hymnus eine Vielzahl von Fragen, die noch der Auseinandersetzung harren. Welche Voraussetzungen schaffen Medien für kreatives Handeln; inwieweit beschränken sie dieses aber auch? Welchen Stellenwert haben digitale Medien, die Gestaltungsoptionen vorwegnehmen oder (wie in Computerspielen) adaptiv auf das Handeln der Nutzenden reagieren? Was ist der Wert des Kreativen, da dieses kapitalistischen Zwängen unterliegt? Was bedeutet Kreativität im Lichte medienpädagogischer Werte und welche Erkenntnisinteressen, Fragen und Zugänge firmieren und positionieren sich? Im vorliegenden Themenheft der merzWissenschaft möchten wir den Gegenstandsbereich der Kreativität einerseits in Hinblick auf seine unterschiedlichen theoretischen Bezugslinienund Reflexionsperspektiven diskutieren und andererseits Impulse für die wissenschaftliche und praktische pädagogische Arbeit setzen.
ZU DEN EINZELNEN BEITRÄGEN
Eröffnet wird die Auseinandersetzung mit einem Beitrag von Thomas Schmalfeld und Björn Maurer. Sie fragen nach den konzeptionellen Grundlagen, welche eine kreativitätsorientierte Verknüpfung von Informatik und Medienbildung plausibel machen. Der bildungspraktische Horizont ihrer Auseinandersetzung ist die Einführung des Faches Medien und Informatik in der Schweiz. Könnte Kreativität die neue Liaison beflügeln? Auf der Grundlage einer umfassenden Analyse einschlägiger Referenzliteratur der Informatik im deutschsprachigen Raum arbeiten sie heraus, inwiefern die von Rhodes (1961) modellierten Grundbausteine der Kreativität (Person, Prozess, Produkt, Umwelt) als Perspektiven des Informatikunterrichts in die didaktische Konzeption des Informatikunterrichts integriert werden können.
Unabhängig von der je in Anschlag gebrachten Kreativitätskonzeption, stimmen gängige Operationalisierungen darin überein, dass das Lösen von Problemen eine entscheidende Konstituente kreativer Handlungen ist. Anhand des Computational Thinking zeigen Raphael Fehrmann und Horst Zeinz, dass informatisches Denken und kreatives Problemlösen die Entwicklung allgemeiner Problemlösekompetenz durch algorithmisch-schematisches Handeln begünstigen kann. Am Beispiel des Lernroboters Ozobot analysieren sie über alle Unterrichtsfächer, Jahrgangsstufen und Schulformen hinweg, wie im Unterricht Einblicke in Tätigkeiten des Coding gegeben und Anlässe für Problemlösen und kreatives Denken initiiert werden können. Stefka Weber geht der Frage nach, auf welche Weise bereits in der Entwicklung medialer Produkte mit Programmierwerkzeugen kreative Herangehensweisen sichtbar werden können. Grundlage ihrer Ausführungen sind Erkenntnisse, die einerseits auf einer Reflexion des gegenwärtigen Forschungsstandes basieren und andererseits aus qualitativen Interviews hervorgehen, die von der Autorin mit Jugendlichen geführt wurden. In ihrer Potenzialexploration konzentriert sie sich exemplarisch auf die Programmierumgebung Scratch, die einen besonders niedrigschwelligen Umgang für kreatives Handeln verspricht.
Erklärvideos auf YouTube erfreuen sich bekanntermaßen auch in Lern-und Vermittlungskontexten großer Beliebtheit. Andrea Cwielong, Deborah Hennig, Tim Bodendorf und Jana Metz richten das Augenmerk indes weniger auf die Rezeption der populären Lernplattform. Im Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung stehen jene konstituierenden Prozesse, welche die Verfügbarkeit, Präsenz und Anerkennung der Beiträge moderieren. In welchem Verhältnis stehen Abhängigkeit und Wechselseitigkeit von Kreativität und Anerkennung unter algorithmengesteuerten Bedingungen? Tritt der Mensch in den Wettkampf mit einem Artefakt (Algorithmen) seiner eigenen Kreativität? Am Beispiel schulbezogener Erklärvideos erörtern die Autor*innen, wie die Wechselwirkung zwischen dem Schaffen von Content und äußerer Bewertung kreative Entwicklungen begünstigt und Problemlösungs- und Innovationsprozesse anregen kann.
Auf das spezifische pädagogische Handlungsfeld der kreativen Professionalisierungspraxis verweist der Beitrag von Oliver Ruf und Andreas Sieß. Wie können Student*innen in der aktiven Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen hochschuldidaktisch ausgebildet werden? Der Beitrag greift sowohl methodologisch als auch epistemologisch auf zwei bereits etablierte Ansätze innerhalb der Gestaltungs- und Medienpraxis zurück, die erstmalig entsprechend transformiert und komplettiert werden sollen: einerseits die Methode des Design Thinking, das innerhalb industriell notwendiger Kreativitätsförderung, Entwurfsfindung und Ideenentwicklung Einsatz findet, sowie andererseits die Erkenntnis- und Kompetenzgewinnung mittels spielerischer Umsetzungen (Serious Play). Das Anliegen der Autoren ist es, spielerische Produkt-Logiken, wie jene Spielzeugmarke LEGO, zur Vermittlung medial-gestalterischer Kreativitätspraktiken neu zu etablieren und virtuell neu nutzbar zu machen. Betrachtet man Kreativität als ein Arrangement, das von gegenläufigen Ideen und sich ergänzenden Einfällen profitiert, wird deutlich, dass kreative Prozesse von der Kooperation mehrerer Beteiligter profitieren. Im gestaltenden Miteinander verschieben sich Handlungsoptionen und Deutungsvarianten. Kooperative Ansätze profitieren davon, verschiedene Perspektiven in Überlegungen und Entwicklungen einzubeziehen. Kreativität bedarf also nicht unbedingt nur des genialen Einzelgängers, sondern vor allem auch dessen Einbindung in ein gelingendes soziales Miteinander. Ursula Hauck-Thum und Jana Heinz fokussieren den besonderen Stellenwert kokreativer Bildungsprozesse am Beispiel der Auseinandersetzung mit Büchern und multimodalen Texten am Tablet im Lese- und Literaturunterricht der Grundschule. Empirische Grundlage ihrer Antworten ist eine Studie, in der die Interaktionen von Grundschüler*innen aus analogen und digitalen Gruppen videografiert und auf der Basis einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet wurden. In ihren Ergebnissen zeitigen sich deutliche Unterschiede in Abhängigkeit vom verwendeten Medium. Der Stellenwert kooperativer Gestaltungsprozesse wird auch von Iwan Pasuchin betont. In einer umfassenden empirischen Studie hat sich der Autor mit der Frage beschäftigt, wie Motivation und Engagement zur künstlerischen Medienbildung mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen gefördert werden können. Das kooperative Moment betraf hier insbesondere auch die Einbindung von Medienkünstler*innen, die in verschiedenen Teilprojekten des schulischen Wahlpflichtfachs Kreative Mediengestaltung neue Ansätze erprobten. In seinem Beitrag skizziert der Autor nicht allein Erkenntnisinteresse und -gewinn der Studie. Vielmehr geht es ihm darum, in Anlehnung an die Tradition der Design-Based Research Möglichkeiten einer kreativen empirischen Erforschung auszuloten.
Nicht zuletzt die Beiträge dieses Heftes zeigen: Kreativität wird (auch) in Bildungskontexten zuvorderst mit Blick auf junge Menschen diskutiert. Denk- und handlungsleitend sind Fragen danach, wie sich Lernprozesse in Schule und Ausbildung über kreative Zugänge motivieren und protegieren lassen und welche besonderen Potenziale Medien, Medienumgebungen und Medientechnologien dabei haben (können). Welchen Beitrag aber kann schöpferisches Medienhandeln für ein selbst- und mitbestimmendes Leben im höheren Lebensalter leisten? Die Ausführungen von Anja Hartung-Griemberg skizzieren Überlegungen in Hinblick auf ein Verständnis von Kreativität, das neben dem gestaltenden Hervorbringen von Neuem auch das schöpferisch-bildende Moment im Umgang mit den existenziell-biografischen Umbrüchen und Wandlungen der späten Lebenszeit akzentuiert. Noch ein Stück weiter in die Zukunft blicken die letzten beiden Beiträge des Heftes. Welche Zukunft deutet sich in der Gegenwart an?, fragt Robert Hausmann. Denn unser Jetzt-und-Hier-Sein würde bereits maßgeblich vom Zukünftigen, vom Spekulativen und permanent vorläufigen postdigitalen Bedingungen bestimmt. Anders als viele Gesellschaftsprognosen, die den Zukunftshorizont pausenlos verengen würden, eröffneten sich in gegenwärtigen Hybridisierungen der Künste neue Modi künftigen Seins. Anhand des Projekts 2038. The New Serenity analysiert der Autor diese spekulativen Taktiken des Explorierens von Zukünften und hinterfragt sie in Hinblick darauf, welche Impulse sie aktuell für kunstpädagogische Prozesse bieten. Anregende Impulse für Gegenwart und Zukunft medienpädagogischer Theorie und Praxis setzen schließlich auch die Reflexionen von Anke Redecker. Wie können wir der Catch-all-Formel Kreativität in einem bildungstheoretischen Sinnen begegnen? Wie können die Möglichkeiten des Bildungssubjektes angesichts vereinnahmender Kreativitätszumutungen emanzipatorisch gewendet und Räume für kreativ-kritische Bezugsnahmen entfaltet werden? Wie kann das Wiesel also weiterlernen? Ihre Ausführungen knüpfen an die Ausgangsüberlegen des Heftes an und werfen wichtige Fragen auf, die weiterhin und weiterführend zu stellen sind.
Die an dieser Stelle versammelten Beiträge werfen Schlaglichter aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und vielgestaltigen Erfahrungs- und Forschungszusammenhängen auf den komplexen Gegenstandsbereich der Kreativität. Unisono zeigen sie, dass Kreativität weder ein simples Hilfs- oder gar Heilmittel noch ein schneller Selbstläufer ist. Es bedarf spezifischer Rahmenbedingungen, die das Erkennen von Problemen fördern, das flexible Denken unterstützen und letztlich eine schöpferische Auseinandersetzung inspirieren und zu einem widerständigen Umgang mit Gewohntem, Vertrautem und Tradiertem ermuntern. Wie wichtig Letzteres sein kann, zeigen die Schwierigkeiten, die Student*innen im Fachbereich Informatik haben, bewährte Lösungswege zu verlassen (Carell/Schaller 2010). Der Vorzug sicherer Wege ist freilich auch in vergangenen Lern- und bewährten Lernstrategien begründet. Ermöglichungsbedingungen für kreative Bildungsprozesse beinhalten die Gewissheit, dass Unsicherheiten, die für dynamische und ergebnisoffene Handlungsfolgen geradezu charakteristisch sind, über die pädagogische Begleitung aufgefangen werden.
Zugleich gilt es bei allen kreativitätsfördernden Potenzialen digitaler Medien deren Wert und Sinnhaftigkeit mit Blick auf (medien-) pädagogische Zielperspektiven zu hinterfragen. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder auf Grund der Geschwindigkeit digitaler Entwicklungen Gefahr laufen, von disruptiven Veränderungen bedroht und entmündigt zu werden, ist gefordert, bereits in ihren Bildungsinstitutionen mitverantwortlich-handelnd einzugreifen. Zu viele Prozesse können wir inzwischen unhinterfragt den in allen Programmen entscheidenden Algorithmen überlassen. Apps und Programme treffen Entscheidungen, die bislang dem Eigensinn des menschlichen Individuums vorbehalten waren. Letzteres genießt die Bequemlichkeit und folgt den vorgegebenen Wegen, die es einst selbst suchen und beschreiten musste, im Falle von Navigationsgeräten und -apps sogar im wahrsten Sinne des Wortes. In der Konsequenz bedeutet dies auch, die Systeme über ein aktives Handeln daraufhin zu hinterfragen, ob und inwiefern dem Digitalen durch den undurchschaubaren algorithmischen Aufbau tatsächlich eine unterstellte unbestechliche Geradlinigkeit der Entscheidungsprozesse hinterlegt ist (Allert/Richter 2017). Es gilt immer zu reflektieren, wo Kreativität durch das Digitale gewinnt und wo eine erhöhte Aufmerksamkeit gefordert ist. Eine wichtige Aufgabe in Zeiten, in denen der Begriff der Digitalisierung aus kaum einem Lebensbereich wegzudenken ist, besteht darin, zu begreifen, dass wir uns derzeit in einer Brückensituation befinden. Beim Scannen von Büchern, beim Übertrag von Akten in digitale Speichermedien, beim Überführen von Verwaltungsvorgängen in webfähige Prozesse (und Oberflächen) ist der Ausgangspunkt des Digitalen immer noch das Analoge. Der Nutzungsmodus, die Gestaltung der Oberfläche bis hin zu den verwendeten Icons basieren auf bewährten und den meisten User*innen noch bekannten Abläufen und Erscheinungsformen, die ihren Ursprung größtenteils in Zeiten vor der Entwicklung des Digitalen haben. Perspektivisch kann davon ausgegangen werden, dass untereinander kommunizierende Tools entwickelt werden, die das kooperative Arbeiten unterstützen und sich deutlich von den derzeitigen Möglichkeiten der gemeinsamen Arbeit auf Plattformen und dem Austausch von Dateien absetzen. Interessant sind zukünftige sich selbst weiterentwickelnde Programme, die auch über kreative Prozesse und Ergebnisse die System-User*innen-Beziehung auf eine neue Ebene führen (vgl. Carell/Schaller 2010). Algorithmen können in der Lage sein, separiert existierende digitale Daten zu verbinden, um bislang unbekannte Muster, Parallelen oder Analogien zu entdecken. Sie erfüllen somit eine zentrale Bedingung kreativer Prozesse, wonach sie Neues kreieren, das zudem in Anwendungen einsetzbar ist. Es bleibt jedoch immer die Frage, welche Rolle der aus seinen Erfahrungen und Werten ebenso wie aus seinen Möglichkeiten und Begrenzungen schöpfende Mensch dabei noch spielt und welche schöpferischen Verhältniskonstellationen überhaupt akzeptierbar und wünschenswert sind.
Anmerkung der merzWissenschaft-Redaktion: Die Autor*innen, die dem vor einem knappen Jahr veröffentichten Call for Papers folgten, beschäftigen sich in ihren Beiträgen insbesondere mit der Bedeutung von Kreativität in Verbindung mit digitalen Medien in der (schulischen) Bildung Heranwachsender. Unabhängig vom Peer-Review-Verfahren erweitern die Texte von Anja Hartung und Robert Hausmann dieses Spektrum, indem sie eine andere Altersgruppe in den Blick nehmen, bzw. die Perspektive weg vom Subjekt auf eine mögliche Zukunft richten. Wir wünschen den Leser*innen des Heftes eine anregende Lektüre.
Literatur
Allert, Heidrun/Richter, Christoph (2017). Kultur der Digitalität statt digitaler Bildungsrevolution. In: Pädagogische Rundschau, 71. Jahrgang 2017, S. 19–32.
Carell, Angela/Schaller, Isabel (2010). Kreativitätsförderung mit Neuen Medien in der universitären Lehre im Fach Informatik. In: Meißner, Klaus/ Engelien, Martin (Hrsg.), Geneme ´10 Gemeinschaft in neuen Medien. Dresden 2010, S. 305–316.
Csikszentmihalyi, Mihaly/Schiefele, Ulrich (1993). Die Qualität des Erlebens und der Prozess des Lernens. In: Zeitschrift für Pädagogik Jg. 39/2 Weinheim.
Eckardt, Linda/Finster, Rebecca (2019). Kollaboration der Wettbewerb: ein Vergleich der Motivation beim Game-based Learning. In: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik Wiesbaden, 56, S. 83–92.
Kirchner, Constanze (2018). Kreativität im bildnerisch-ästhetischen Verhalten von Kindern und Jugendlichen. In: Berner, Nicole (Hrsg.), Kreativität im kunstpädagogischen Diskurs. München: kopaed, S. 33–48.
Moring, Andreas/Deurloo, Sonja (2018). Binäre Innovation- Kreativität und Gesellschaft für digitale Märkte. Wiesbaden: Springer.
Reckwitz, Andreas (2019). Die Erfindung der Kreativität. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Reckwitz, Andreas (2016). Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld: transcript.
Schell, Fred (2003). Aktive Medienarbeit mit Jugendlichen. Theorie und Praxis. München: kopaed.
Schorb, Bernd (1995). Medienalltag und Handeln. Medienpädagogik in Geschichte, Forschung und Praxis. Opladen: Leske + Budrich.
Vogt, Thomas (2010). Kalkulierte Kreativität. Die Rationalität kreativer Prozesse. Wiesbaden: Springer.
Beitrag aus Heft »2021/05 Wieselattitüden – oder vom Wesen (medialer) Kreativität«
Autor: Oliver Reuter
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