Diana Schick
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- Diana Schick: HörensWert
Diana Schick: HörensWert
Was ist ein gerechtes Musikstück? Dürfen laute Instrumente wie die Trommel einfach so Krach machen oder müssen sie sich zurückhalten? Ist es gerecht, wenn die leisen Töne wie Triangel oder Rassel mehr Spielzeit bekommen? Oder ist es am besten, wenn einfach alle auf einmal spielen, so laut und so lange sie können? Im MOSAIK Mehrgenerationenhaus in Bachgau versuchen acht Kinder zwischen vier und fünf Jahren im Rahmen einer HörensWert-Einheit ein wirklich gerechtes Musikstück zu komponieren. Gar nicht so leicht, müsste man doch erst einmal wissen, wann eine Sache wirklich gerecht ist und was Gerechtigkeit eigentlich bedeutet. Diese Fragen zu klären ist Aufgabe des philosophischen Gespräches. Das Ergebnis wird anschließend in eigenes Handeln übersetzt. Dabei spielen die Methoden aktiver Medienarbeit eine wichtige Rolle.
Das Konzept HörensWert
Das MOSAIK Mehrgenerationenhaus in Bachgau ist eine von 13 Einrichtungen in Bayern, die sich am Pilotprojekt HörensWert beteiligt haben. HörensWert ist ein Konzept zur Wertebildung in Kindertagesstätte und Schule, das die Akademie Kinder philosophieren im bbw e. V. gemeinsam mit der Stiftung Zuhören entwickelt hat. Abstrakte Werte wie Toleranz, Solidarität oder eben Gerechtigkeit sollen für Kinder erlebbar und nachvollziehbar werden, um Grundlage für das Handeln der Kinder zu bilden. In der pädagogischen Praxis geht es darum, in einem philosophischen Gespräch über Werte nachzudenken, zuhören zu lernen und die GeHörensWert Kinder fragen, antworten, verstehen danken anschließend in verschiedensten akustischen Formen hör- und erlebbar zu machen. Eine HörensWert-Einheit besteht entsprechend aus drei zentralen Bausteinen, die einander bedingen und ergänzen:
Den Wert einführen
Der erste Baustein ist die Zuhörförderung, denn nur wenn ich dem anderen aufmerksam zuhöre, kann ich dessen Gedanken nachvollziehen und verstehen. Einleitende Rituale, wie beispielsweise eine „Ohrenmassage“, eröffnen die Einheit und lenken die Konzentration auf das Zuhören. Geräusche, die auch von den Kindern selbst aufgenommen werden können, wie beispielsweise verschiedene Lacher, ein Hörspiel oder, wie im oben genannten Beispiel, das Ausprobieren unterschiedlicher Instrumente, führen den Wert ein und dienen als Einstieg in das Gespräch. Wird ein Hörspiel als Einstieg gewählt, bietet es sich an, gemeinsam mit den Kindern Kriterien zu erarbeiten, woran man ein gutes Hörspiel erkennen kann: Sind die Stimmen der Sprecher angenehm und ausdrucksvoll? Passen sie zu den Figuren, die dargestellt werden? Welche Geräusche sorgen für Atmosphäre, in welcher Weise wird Musik eingesetzt? Passt sie zum Inhalt? Die Kinder lernen auf diese Weise, Hörspiele bewusster zu hören und werden auf die Umsetzung und die Produktion eigener Hörspiele vorbereitet. Den
Wert bewusst machen
Im philosophischen Gespräch, dem zweiten Baustein, wird der Wert reflektiert und in Beziehung zum eigenen Handeln gesetzt. Das philosophische Gespräch ist ein bewertungsfreier Raum, in dem Kinder ihre eigenen Gedanken, Erfahrungen und Erlebnisse zu einem Wert austauschen können. Es geht nicht darum, vorgefertigte Wertvorstellungen zu übernehmen, sondern gemeinsam nachzudenken. Durch die Gesprächsleitung erhalten die Kinder Anstöße weiterzudenken, die eigene Meinung zu hinterfragen und unter Einbezug der Perspektiven anderer auch neue Standpunkte zu entwickeln.
Den Wert erleben
Der dritte Baustein – das Erleben und Hörbarmachen von Werten – ermöglicht den Kindern, das Gedachte und Gesprochene auf eine kreativ-schöpferische und spielerische Art auszudrücken und zu erleben. Beim ‚Hörbarmachen‘ werden Gedanken aus dem philosophischen Gespräch aufgegriffen, weitergesponnen und erfahrbar gemacht. Durch Aktionen und Projekte können Werte erlebt und ins Handeln übersetzt werden, beispielsweise in Form von Interviews oder der Produktion eines eigenen Hörspiels. In den HörensWert Einheiten lernen die Kinder durch eigenes Ausprobieren, wie Aufnahmegeräte funktionieren und worauf man beim Aufnehmen achten muss: Gibt es Störgeräusche im Raum (Kühlschrank, Ventilator, elektrische Geräte, Stimmen aus dem Nebenraum, hallt der Raum)? Wie muss ich ins Mikrofon sprechen? Wie können unterschiedliche Töne in der richtigen Lautstärke aufgenommen werden? Anschließend geht es darum, dass selbst aufgenommene Interview bzw. Hörspiel zu schneiden. Dies passiert natürlich nicht alles in einer einzigen Einheit, sondern wird Schritt für Schritt erarbeitet, teilweise über mehrere Wochen oder Monate hinweg.
„Was ist Ehrlichkeit?“ – in philosophisches Gespräch
Im Johanneskindergarten in Burghaig in Oberfranken kommen zwölf Kinder zwischen fünf und sechs Jahren zur HörensWert-Einheit zusammen. Thema der heutigen Einheit ist Was ist Ehrlichkeit? Bevor es losgeht, wird das Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger genommen und sanft geknetet. Dann gehen die Finger langsam am Rand der Ohrmuschel entlang, mal ganz sanft und dann wieder kräftig. Nach dieser Ohrenmassage spielen die Kinder Flüsterpost und schauen, was am Ende der Runde vom Anfangssatz noch übrigbleibt. Grundlage jedes philosophischen Gesprächs ist eine Atmosphäre der Wertschätzung und des echten Interesses an den Gedanken der anderen. Daher werden vor Beginn noch einmal die Gesprächsregeln wiederholt, die im Gespräch durch einen Redeball verdeutlicht werden: „Ich spreche nur, wenn ich den Ball habe“ und „Ich höre den anderen gut zu“. Im Laufe der Zeit entwickelt sich eine Gesprächskultur, die sich durch gegenseitige Achtsamkeit auszeichnet: Die Kinder lernen, dem anderen zuzuhören, ihn ausreden zu lassen, sich in fremde Perspektiven hineinzuversetzen und andere Meinungen stehen zu lassen. Ein angemessener Umgang miteinander wird nicht nur reflektiert, sondern immer auch eingeübt.
Ehrlichkeit reflektieren
Um den Begriff Ehrlichkeit einzuführen, überlegt sich jedes Kind zwei Sätze: Einer ist wahr, einer ist erfunden. Die anderen Kinder erraten, welcher Satz wahr ist und welcher eine Lüge ist. Das Spiel mit den erfundenen und wahren Sätzen macht den Kindern Spaß und führt zu der Frage: „Was ist eigentlich das Gegenteil von Lügen?“ „Wahrheit“ meinen einige Kinder, andere meinen „ehrlich sein“. Aber was bedeutet „ehrlich sein“ eigentlich? Und ist es das Gleiche wie Wahrheit? „Ehrlich ist, wenn man einen Fehler zugibt“, „Ehrlich ist, wenn man dem anderen seine Meinung sagt“, antworten die Kinder. Gibt es noch andere Meinungen dazu? Und verstehen wir alle das Gleiche darunter? Aufgabe der Gesprächsleitung ist es, die Antworten der Kinder zusammenzufassen, genau zu klären, was jeweils unter einem Begriff verstanden wird und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Aussagen herzustellen. Vielleicht gelingt sogar eine erste gemeinsame Definition des Begriffs. Die Gesprächsleitung selbst hält sich mit ihrer Meinung zurück und wertet die Aussagen der Kinder nicht. „Manchmal muss man lügen“, meint eines der Kinder zum Thema Ehrlichkeit und Lüge. „Warum muss man manchmal lügen? Kannst du da ein Beispiel nennen?“, will die Gesprächsleitung wissen. Sie versucht, die Kinder dazu anzuregen, ihre Meinungen zu begründen und sich einen eigenen Standpunkt zu bilden. Nachdem sich die Kinder den Begriffen Ehrlichkeit und Lüge über ihre Erfahrungen und aus unterschiedlichen Perspektiven angenähert haben, dreht sich das Gespräch um den Nutzen bzw. Schaden von Ehrlichkeit und Lüge. Ausgenommen von Notlügen seien Lügen eher schädlich, finden die Kinder, da sie Freundschaften zerstören könnten und einem keiner mehr etwas glaube, wenn man lügt. Aber jeder hat bestimmt schon einmal gelogen: „Wenn alle beim Lügen so eine lange Nase bekämen wie Pinocchio, würden viele Leute mit einer langen Nase herumlaufen!“, ist eines der Kinder überzeugt. Wichtig sei es daher, Lügen auch einzugestehen – darauf können sich alle einigen.
Erkenntnisse hörbar machen
Die Erkenntnisse des vertieften Nachdenkens im philosophischen Gespräch fließen in ein Hörspiel ein, das sich die Kinder selbst überlegen und anschließend aufnehmen. Die Geschichte von Franz und Lisa handelt von zwei Freunden, die sich streiten, weil Franz behauptet, dass er schon einmal eine Heuschrecke gegessen habe. Lisa glaubt ihm das nicht und ist schwer enttäuscht, dass Franz sie anlügt. Das macht Franz traurig und gibt ihm zu denken. Am nächsten Tag entschuldigt er sich bei Lisa, dass er gelogen hat, um anzugeben und die beiden können wieder Freunde sein. „Der Wert wurde durch die Sätze beim Philosophieren begreifbar gemacht, durch das Philosophieren verdeutlicht und durch die Geschichte hörbar gemacht und vertieft“, so Erzieherin Elvira Höfner, die die Einheit mit den Kindern durchgeführt hatte.
Eigene Werte finden, klären, leben
Insgesamt 17 Pädagoginnnen und Pädagogen haben zwischen November 2010 und Juli 2011 am Pilotprojekt HörensWert teilgenommen und regelmäßig Einheiten in ihren Einrichtungen durchgeführt. Andere Werte, mit denen sich die Kinder während des Projektes philosophierend und kreativ auseinandersetzten waren Freundschaft, Familie, Geborgenheit, Zusammenhalt, Vertrauen, Lachen, Anders sein, Teilen, Hilfsbereitschaft, Mut, Freundlich sein … Mit insgesamt sieben Themenfeldern befassten sich die Pädagoginnen und Pädagogen, die sie jeweils mit für die Gruppe relevanten Werten füllten: Ich (Mut, Selbstvertrauen, Gesundheit …), Familie und Freunde (Ehrlichkeit, Freundschaft, Treue …), Gesellschaft (Solidarität, Verantwortung, Rücksichtnahme ...), Kita und Schule (Toleranz, Gerechtigkeit, Leistungsbereitschaft…), Spiel, Kunst, Kultur, Sport (Schönheit, Freude, Selbstausdruck ...), Religion (Glaube, Nächstenliebe, Güte ...), Natur (Achtsamkeit, Leben, Schönheit ...)Um relevante Begriffe zu finden und sich diesen meist doch sehr abstrakten Begriffen zu nähern, mussten sich die Pädagoginnen und Pädagogen während des sechstägigen Fortbildungszyklus‘ zunächst mit ihrem eigenen Wertesystem auseinandersetzen: Welche Werte sind mir beruflich wichtig? Haben diese zu Hause eine andere Wertigkeit? Was verstehe ich persönlich unter Toleranz, unter Gerechtigkeit? Wie stehe ich zu Leistungsbereitschaft oder Rücksichtnahme? Was ist überhaupt ein Wert?
In philosophischen Gesprächen und in Workshops konnten sie diese und andere Fragen intensiv beleuchten. Für die konkrete Umsetzung in die Praxis lernten sie zudem Grundlagen der philosophischen Gesprächsführung und Methoden der Zuhörförderung kennen. Sie entwickelten philosophische Fragen zu unterschiedlichen Werten, lernten die Haltung der Gesprächsleitung im philosophischen Gespräch kennen und erprobten die Leitung philosophischer Gespräche selbst. Anschließend wurden die im Gespräch formulierten Gedanken zu einem Wert akustisch dargestellt: Sprachcollagen und Geräuschrätsel entstanden, Hörspiele zu unterschiedlichen Begriffen wurden produziert. Umgesetzt wurde das Gelernte anschließend auf verschiedenste Weise: Im Kindergarten in Aßling ermutigte eine HörensWert-Einheit über Gemeinschaft Kinder und Erzieherinnen zu einem gemeinsamen Singen, Musizieren und Tanzen mit den Kindergarteneltern, was diesen Wert lebendig werden ließ. Gemeinsam wurden Lieder gesungen, Eltern musizierten auf mitgebrachten Instrumenten und tanzten mit ihren Kindern. Zum Thema Familie nahmen Grundschulkinder ein Geräuschporträt ihrer Mutter, ihres Vaters oder ihrer Geschwister auf, in dem charakteristische Geräusche dargestellt wurden; aus der Frage Was brauchen wir zum Leben? entstand Eine kleine Schnaufmusik, in der Luft als eine Lebensgrundlage kreativ dargestellt wurde.
Werten lernen statt Werte lehren
Ausgangspunkt von HörensWert ist ein Verständnis von Wertebildung, nach dem diese immer nur situationsbezogen und handlungsorientiert stattfinden kann. Werte wie Freundschaft, Gerechtigkeit, Respekt können Kindern nicht gelehrt werden. Dort wo Kinder solche Werte jedoch in Begegnungen und Grunderfahrungen positiv erleben, können sie diese verinnerlichen. Interaktion, Kommunikation und Selbstreflexion kommen daher eine Schlüsselfunktion bei HörensWert zu. Gemeinsam mit der Stiftung Zuhören entwickelt die Akademie Kinder philosophieren im Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft e. V. unterstützt von Pädagoginnen und Pädagogen aus 13 bayerischen Kindergärten und Schulen HörensWert, ein Konzept zur Wertebildung. Abstrakte Werte wie Toleranz, Solidarität, Mut werden bei HörensWert über Zuhörförderung, philosophische Gespräche und mediale Umsetzung für Kinder erfahrund damit greifbar.Zunächst ist der philosophische Prozess selbst Interaktion: Es geht um das Einüben von Werthaltungen. Der bewertungsfreie Raum ermöglicht eine geschützte Atmosphäre, in dem jeder Gedanke ernst genommen wird. Durch das Philosophieren, in dem das gemeinsame Nachdenken im Mittelpunkt steht, werden Haltungen ausgebildet, die für wertorientiertes Handeln zentral sind, wie Wertschätzung, Vertrauen, kritisches Hinterfragen, Offenheit für andere Standpunkte und Einstehen für den eigenen Standpunkt. Wesentliche Grundlage hierfür ist die Haltung des Zuhörens, die Achtung und Empathie für das Gegenüber ausdrückt. Bei einer HörensWert-Einheit sind daher Übungen zur Zuhörförderung immer verbunden mit dem philosophischen Gespräch.
Sie fördern die Freude am gemeinsamen Hören, das Interpretieren akustischer Informationen, das Verbalisieren eigener Gefühle und Botschaften. Das philosophische Gespräch ist achtsame Kommunikation, die auf das Wesentliche und Wahre gerichtet ist und Möglichkeit zur Selbstreflexion bietet. Es geht um selbständig erarbeitetes Wissen über konkrete Werte, ihre Begründung und mögliche Wertekonflikte. Es trägt zur Klärung der eigenen Wertehierarchie bei und stößt die Reflexion eigener Entscheidungen, Handlungen und Vorurteile an. Ein besonderes Anliegen von HörensWert ist es, dass die Bewusstmachung von Werten und Wertkonflikten nicht beim Denken stehenbleibt, sondern ins Handeln übersetzt wird. Ein wesentlicher Bestandteil ist daher das Umsetzen von Gedanken in andere, kreative Formen und konkrete Handlungen, die positive Erfahrung und Verinnerlichung von Werten ermöglichen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der medialen Umsetzung – also beispielsweise die gemeinsame Erarbeitung eines „gerechten“ Musikstückes. Was ist eigentlich daraus geworden? Beim Anhören der ersten Probeaufnahme empfinden die Kinder das Stück noch nicht als wirklich gerecht: Einige Musikinstrumente sind zu laut oder zu leise, zu kurz oder zu lange zu hören. Gerechter wäre es, da sind sich alle einig, wenn man alle Instrumente gut hören könne
. Das bedeutet für die Kinder zunächst, immer lauter zu spielen. Das, so merken sie aber bald, ist nicht die richtige Lösung – also spielen alle ganz leise. Jetzt hört man die unterschiedlichen Instrumente schon besser, einige kann man aber immer noch nur ganz schlecht hören. „Das Aufnehmen und Anhören des ‚gerechten Musik-Stückes’ wardas richtige Mittel, um den Kindern den Begriff ‚Gerechtigkeit’ erlebbar zu machen“, so die Erzieherin. Am Ende sind die Kinder mit ihrem Ergebnis ganz zufrieden: Alle Instrumente werden nacheinander, gleichlang und gleichlaut gespielt. Ein Dirigent sorgt dafür, dass jedes Instrument zu seinem Recht kommt.www.bayern.de/Wertebuendnis-Bayern-.2336.10289341/index.htm