Die Geschichte der jüdischen Familie Jesuran wird zum Comic
Ihr Weg führte die jüdische Familie Jesuran von Warschau und Galizien über Nürnberg nach Brüssel. Weil sie der Verfolgung und den Diskriminierungen der Nationalsozialisten ausgesetzt waren, mussten sie 1932 ihr Haus unter Wert verkaufen und nach Belgien fliehen. Aber die fünfköpfige Familie, darunter die drei Kinder Julius, Ismar und Simon, verließ ihr damaliges Domizil nicht freiwillig. Doch Belgien wurde von Nazi-Deutschland besetzt. Um der Deportation zu entgehen, musste sich die Familie verstecken. Julius, der älteste Sohn kam trotzdem ins polnische Konzentrationslager Kozlé, wo er starb.
Von dieser bewegenden Familiengeschichte erzählt das Comic ‚Jesuran‘. Im Rahmen eines Medien- und Geschichtsprojekts ist es entstanden. Auslöser dafür war eine Begegnung: 2017 wollte der belgische Arzt Alain Jesuran während eines Deutschlandaufenthalts das Haus seiner Großeltern besuchen. „Als älterer Herr hatte ich das Bedürfnis, das damalige Haus meiner Großeltern in Nürnberg zu sehen. Bis dahin besaß ich davon nur ein nebulöses Bild, geprägt von den verfremdeten Erzählungen der Verwandtschaft“, erklärt der Sohn von Ismar Jesuran. Dort traf er auf die jetzigen Besitzer. Von da an sahen sich diese wiederum mit einigen Fragen konfrontiert: Wie können wir als Bewohner des Hauses heute dessen Vorgeschichte bewahren? Welche Form des Erinnerns bietet sich an?
Junge Mitstreiter*innen fanden sich in Schüler*innen des Dürer-Gymnasiums in Nürnberg. Zwei Jahre recherchierten sie in einem Oberstufen-Seminar die Hintergründe der Familiengeschichte und das historische Umfeld in Nürnberg und Deutschland anhand von Archiven und Dokumenten. Unterstützt wurden sie dabei von Archivmitarbeitern, Historikern und dem heutigen Hausbesitzer. Geschichte ist so für die Schüler*innen lebendig geworden, vor allem weil sie sich mit den Familienangehörigen austauschen konnten. „Die Judenverfolgung hat bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten begonnen. Durch Repressalien und Schikane waren Teile der jüdischen Bevölkerung schon früh bereit, ihr Eigentum unter Wert zu verkaufen“, so Alain Jesuran. „Die Schüler*innen waren in gewisser Weise auch Familientherapeut*innen. Sie haben das Rätsel eines Familienlabyrinths gelüftet.“
Der Comic-Zeichner Alex Mages schuf auf Basis dieser Recherchen schließlich ein Comic. „Wir haben die Idee von Anfang an befürwortet, denn der Comic gilt in meinem Heimatland als anerkannte Kunstform und ist Teil der Hochkultur. Brüssel ist die Hauptstadt des Comics“, erklärt Alain Jesuran, der 1956 in Brüssel geboren wurde und heute noch dort lebt. Durch gelungenes Storytelling, mit einer sehr verdichteten Handlung, vielen Zeitsprüngen und Wortwechseln erzählt das Comic würde- und respektvoll die Familiengeschichte. Diese soll durch das neue Medium gerade jungen Menschen vermittelt werden. „Es stellt ein anschauliches Medium dar, um dem Aufkeimen von Antisemitismus bei jungen Menschen vorzubeugen und sie in der Bereitschaft zu stärken, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und sich gegen Antisemitismus und Nationalismus zur Wehr zu setzen“, schreibt in seinem Vorwort zum Comic Rupert Grübl der Direktor der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Sie hat die Publikation herausgegeben. Neben dem Comic umfasst die Publikation eine Zeitachse mit Originaldokumenten sowie ein Interview mit Alain Jesuran über die Entstehungshintergründe des Projekts. Bewusst verzichten alle Beteiligten des nichtkommerziellen Gemeinschafts- und Schulprojekts auf ihre Autorschaft. Daher sind ihre Namen nicht auf dem Cover zu lesen. Sie wollen damit die Familie Jesuran in den Mittelpunkt stellen. Es sei nicht unsere Geschichte, sie hätten sie nur erzählt, so ihr Ansatz.
Das Erika-Fuchs-Haus – Museum für Comic und Sprachkunst im oberfränkischen Schwarzenbach an der Saale hat zum Comic eine Wanderausstellung kuratiert. „Gezeigt werden die nicht-colorierten schwarz-weiß Zeichnungen von Alex Mages“, sagt Museumsleiterin Dr. Alexandra Hentschel des ersten Comic-Museums Deutschlands. Verschiedene Episoden des Jesuran-Comics werden gezeigt. Zugleich erhalten die Betrachtenden noch ergänzende Informationen. „Ein Zeitstrahl hilft das Leben der Familie Jesuran in einen historischen Kontext einzubetten“, so Hentschel. Die Schau ist ein Beitrag zum diesjährigen Festjahr ‚1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland‘. Sie soll bewusst auf Reisen gehen, damit möglichst viele Besucher*innen Anteil an der Geschichte der Familie Jesuran nehmen können.
Heinrike Paulus
Erhältlich ist das Comic bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit als gedruckte Broschüre oder PDF:https://www.blz.bayern.de/publikation/jesuran.html
Didaktisches Begleitmaterial für den Einsatz im Unterricht:https://www.blz.bayern.de/publikation/jesuran-didaktisches-begleitmaterial-fuer-den-einsatz-im-unterricht.html
Aktuelle und kommende Stationen der Ausstellung:
Erika-Fuchs-Haus – Museum für Comic und Sprachkunst in Schwarzbach an der Saale: bis 10. Oktober 2021:
http://www.erika-fuchs.de/ausstellungen/sonderausstellungen/
Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg: 21. Oktober bis 7. November 2021:
https://museen.nuernberg.de/dokuzentrum
20. Internationaler Comic-Salon in Erlangen: 16.–19. Juni 2022:
Die Ausstellung kann von Bibliotheken und Schulen ausgeliehen werden.
Weitere Informationen:
http://www.erika-fuchs.de/kontakt/
Teaserbild: mit Canva erstellt; Cover und erste Seite des Comics ‚Jesuran‘: (c) Bayerischen Zentrale für politische Bildungsarbeit
Headerbild: mit Canva erstellt; Cover und erste Seite des Comics ‚Jesuran‘ + Titel von erster Seite: (c) Bayerischen Zentrale für politische Bildungsarbeit