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Eine Anwältin der Kinder

Vor 20 Jahren starb die schwedische Kinderbuch-Autorin Astrid Lindgren

 

„Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.“ Astrid Lindgrens Worte beeindrucken bis heute und haben an Aktualität nichts verloren. Sie stammen aus ihrer Dankesrede, die sie anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1978 in der Frankfurter Paulskirche hielt. Für einen Eklat mit dem Veranstalter sorgte das im Voraus eingereichte Manuskript ihrer Rede. „Sie reagierte verärgert und sagte, wenn sie ihre Rede nicht halten dürfe, gedenke sie nicht nach Frankfurt zu kommen“, schreibt der schwedische Verleger Kjell Bohlund in ‚Die unbekannte Astrid Lindgren‘.

Der Veranstalter gab schließlich nach und so konnte die Preisträgerin ihr flammendes Plädoyer mit dem Titel ‚Niemals Gewalt‘ halten. „Der Wert von Astrid Lindgren lässt sich an der Rede des Friedenspreises ablesen“, resümiert die Literaturwissenschaftlerin Maren Conrad. Seit 2017 hat sie die Juniorprofessur für Kinder-und Jugendliteratur an der FAU Erlangen-Nürnberg inne. „Die Botschaften von Lindgrens Büchern sind überzeitlich“, sagt Conrad.

Als überzeugte Humanistin machte sich die unkonventionelle Autorin zu einer Zeit für Kinderrechte stark, als es diese noch gar nicht gab. Sicherlich sind auch deshalb viele Schulen heute nach ihr benannt. „Sie war eine Anwältin der Kinder“, so Conrad. „Astrid Lindgren kämpfte in der realen Welt für Kinderrechte, während ihre Figuren dies in den Erzählwelten machen.“

Und doch gibt es bisweilen Kritik an Lindgrens Büchern. Waren viele der darin gebrauchten Begriffe in der Entstehungszeit noch salonfähig, gilt es diese heute durchaus zu hinterfragen.

„Einige Teile der Bücher sind klar als rassistisch einzustufen“, konstatiert Maren Conrad. Liest man Lindgrens Bücher vor dem Hintergrund ihres historischen Kontexts, lassen sich so manche Störfaktoren ausmachen wie etwa rassistische Begriffe. Inzwischen haben die Verlage in Schweden und Deutschland darauf reagiert. In den Neuauflagen des Hamburger Oetinger-Verlag wird zum Beispiel der Vater von Pippi Langstrumpf als ‚Südseekönig‘ bezeichnet. Trotz aller Diskussion vermitteln Lindgrens Geschichten eine Grundbotschaft. Geprägt ist diese von Geborgenheit, Offenheit und Liebe. Neben Humor und lustigen Ereignissen werden auch Armut, Tod und Trauer thematisiert.

 

Starke Kinderfiguren hat Lindgren geschaffen, die nahezu auf der ganzen Welt als Klassiker der Kinderliteratur bekannt sind: Meisterdetektiv Kalle Blomquist, die Kinder aus Bullerbü, Michel aus Lönneberga, Karlson vom Dach mit seinem kleinen Propeller auf dem Rücken, Lotta aus der Krachmacherstraße, oder eben Pippi Langstrumpf sind nur einige Beispiele für vertraute und beliebte Gestalten. Viele Kinder, aber auch Erwachsene begeistern diese zeitlosen Geschichten ob als Buch, Hörspiel oder Film seit Jahrzehnten. „Das Wichtigste ist, dass Kinder Bücher lesen, dass ein Kind mit seinem Buch allein sein kann. Dagegen sind Film, Fernsehen und Video eine oberflächliche Erscheinung“, so Lindgrens Standpunkt. Allerdings wusste sie auch gleichzeitig andere Medien für ihre Werke zu nutzen. Zahlreiche Adaptionen gibt es inzwischen als Film oder Hörbuch. An die 80 Drehbücher verfasste Lindgren dafür. Von der Wochenzeitung DIE ZEIT wurde sie einmal „wunderbarste Kinderbuchautorin aller Zeiten“ genannt. Als Lindgren am 28. Januar 2002 mit 94 Jahren starb, trauerte ganz Schweden und die gesamte Kinderbuch-Welt.

Denn in ihren Büchern beschreibt die Schriftstellerin eine unbeschwerte, harmonische und geborgene Kindheit. Zusammen mit ihren drei Geschwistern Stina, Gunnar und Ingegerd erlebte sie diese auf einem Bauernhof in der Nähe des westschwedischen Kleinstädtchen Vimmerby in Småland, wo sie 1907 das Licht der Welt erblickte.

Von einem fantasievollen Mädchen entwickelte sich Lindgren zu einer kleinen Rebellin. Gesellschaftliche Normen interessierten sie wenig: Als erste Frau im Ort schnitt sie sich die langen Haare ab für einen ‚Bubikopf‘. Nach der Schule absolvierte sie ein Volontariat bei der örtlichen Lokalzeitung ‚Vimmerby Tidning‘. Mit 18 wurde sie Mutter, nachdem sie sich auf eine Romanze mit dem Chefredakteur eingelassen hat. Zur damaligen Zeit soziale Katastrophe und Skandal zugleich. Ihr Sohn Lasse wurde heimlich im dänischen Kopenhagen geboren. Für drei Jahre musste sie ihn schweren Herzens in eine Pflegefamilie geben. „Mein ganzes Inneres wollte immer nur zurück zu meinem Kind.“ In der Zwischenzeit widmete sie sich ihrer Ausbildung zur Sekretärin in Stockholm. Und dann ist das Glück doch noch endlich auf ihrer Seite: Ihren späteren Ehemann Sture Lindgren lernt sie während einer Anstellung beim ‚Königlichen Automobilclub‘ kennen.

Nach der Hochzeit konnte sie ihren Sohn Lasse endlich aus Dänemark zurückholen. Er bekommt 1934 noch eine Schwester: Karin.

 

Astrid Lindgren revolutionierte die Kinderliteratur. Mit Pippi Langstrumpf schuf sie „wohl das exzentrischste Kind der Literatur“, wie es die promovierte Germanistin und Autorin in ihrem Buch ‚Berühmte Kinderbuchautorinnen und ihre Heldinnen und Helden‘ treffend formuliert. „Pippi ist ein Kind, aber mit der Selbständigkeit und der Nachdenklichkeit eines Erwachsenen, und sie kann insofern in mancher Hinsicht (aber nur in mancher) ein Vorbild sein.“ Im Herbst 1949 erschien die Geschichte über das Kind, das mit dem Äffchen Herr Nilsson und dem Pferd Kleiner Onkel in der Villa Kunterbunt lebt, auf dem deutschen Buchmarkt.

Als Lindgrens Tochter Karin krank im Bett lag, bat die Siebenjährige ihre Mama: „Erzähl mir von einem Mädchen, das Pippi Langstrumpf heißt.“ Dass daraus ein Buch entstand, sei Zufall gewesen, erinnert sich die Tochter in einem YouTube-Video des Hamburger Oetinger Verlags, wo die Bücher seit über 70 Jahren erscheinen. Ihre Mutter habe sich bei Glatteis den Fuß gebrochen. Im Bett liegend konnte sie nur lesen oder schreiben. Also habe sie begonnen, die Geschichte von Pippi aufzuschreiben, so Karin. „Das Manuskript bekam ich zu meinem zehnten Geburtstag.“ Lindgren schickte es an einen Verlag, doch der lehnte ab. Beim Rabén und Sjörgen-Verlag gewann sie damit einen Kinderbuch-Wettbewerb. Von da an sollte eine lebenslange Zusammenarbeit beginnen. Über 24 Jahre lang war Lindgrens Arbeitstag zweigeteilt: Morgens schrieb sie zu Hause an ihren Büchern, um ein Uhr mittags ging sie an den Nachmittagen in den Verlag. Bis 1970 leitete sie als Lektorin den Kinderbuchbereich. Ihre Zeit als Verlegerin bezeichnet der schwedische Verleger Kjell Bohlund in seinem gleichnamigen Buch als ‚Die unbekannte Astrid Lindgren‘. Dies zeige, schreibt er, „wie Astrid aus Vimmerby mit ihrer vielseitigen Begabung und Tatkraft ihre Ideen verwirklichen und die Kinderliteratur verbessern konnte, zur Freude der Kinder in Schweden und auf der ganzen Welt.“

Viel Freude bringen bis heute auch die Geschichten über Michel aus Lönneberga. Anfang 2021 erschienen alle drei Michel-Bände mit neuen Illustrationen. „Auch Michel in Lönneberga war zuerst nur ein Name, nur so schnell dahingesgagt, um einen kleinen Schreihals zum Schweigen zu bringen“, schreibt Lindgren in ‚Das entschwundene Land‘. Gemeint war mit dem Schreihals ihr Enkel Karl-Johan. „Rat mal, was Michel in Lönrneberga einmal gemacht hat?“, fragte sie ihn. „Und da verstummte der Schreihals, denn natürlich wollte er unbedingt wissen, was denn dieser Michel in Lönneberga angestellt hatte“. Michel war Lindgrens Lieblingsfigur. Im schwedischen Original heißt er allerdings Emil. Doch dieser Name gehörte, als das Buch 1963 auf Schwedisch und 1964 auf Deutsch erschien, schon einer anderen berühmten Figur, nämlich Erich Kästners ‚Emil und die Detektive‘. In die Geschichte des Jungen vom Katthult-Hof ließ Lindgren viele Kindheitserinnerungen ihres Vaters einfließen. „Und ich spürte so eine Liebe für Michel, ich hatte das Gefühl, dass er so eng mit meinem Papa verwandt war, der irgendwann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein kleiner blonder, barfüßiger Junge in Sevedstorp in Småland war, nicht weit von Michels Lönneberga.“

 

Schon als Kind bedeutet ein Buch für Lindgren das größte Glück.

Unsere Autorin hat ein paar  Buch- und Medien-Tipps rund um Astrid Lindgren zusammengestellt:

 

Ihre Erinnerungen an Kindheit und Jugendzeit  und wie ihr die Ideen zu den berühmten Geschichten gekommen sind, erzählt Astrid Lindgren in der autobiographischen Geschichtensammlung ‚Das entschwundene Land‘. Sie ist kürzlich als Taschenbuch erschienen. (Verlag Friedrich Oetinger. 112 S., 10,00 €. Ab 14 Jahren).

 

Über Astrid Lindgrens Arbeitsalltag in einem schwedischen Verlag schreibt Kjell Bohlund im jüngst erschienen Buch ‚Die unbekannte Astrid Lindgren. Ihre Zeit als Verlegerin‘. (Verlag Friedrich Oetinger. 224 S., 20,00 €. Ab 14 Jahren).

 

Ihre schönsten Geschichten gibt es zum Schmöckern und Vorlesen als Buch und zum Nachhören als Audio-CD: ‚Von Bullerbü bis Lönnebrga. Die schönsten Geschichten von Astrid Lindgren‘ (Verlag Friedrich Oetinger. 224 S., 20,00 €. Ab 6 Jahren; Audio-CD: 20,00 €).

 

Lotta, Pippi, Michel: Kurze Videos oder Ratespiele zu den Literaturverfilmungen sind in der ZDFmediathek zu finden:

https://www.zdf.de/kinder/astrid-lindgren

 

Der Spielfilm ‚Astrid‘ ist am 23. Januar 2022 um 20.15 Uhr auf 3sat und in der 3sat-Mediathek zu sehen.

Das berührende Drama von 2018 beruht auf Tatsachen und erzählt von den jungen Jahren der später weltberühmten schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren.

www.3sat.de/film/spielfilm/astrid-100.html

 

 

Heinrike Paulus


Teaser-/Headerbild: Foto Astrid Lindgren © Roine Karlsson; bearbeitet mit Canva


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