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Online-Offline-Yoga oder lieber Funkloch? – Buchrezension: 'Kein Netz!'

Online-Offline-Yoga oder lieber Funkloch?

Hajo Schumachers neuestes Buch „Kein Netz!“ über ein gutes Leben in digitalen Zeiten

 

In der Liebe vertrauen wir lieber auf Algorithmen als auf Amor. Reisen ist nicht mehr nur das Sammeln von Eindrücken für die eigene Erinnerung, sondern vor allem das Abhaken von Fotogelegenheiten, um als ‚instagrammabel‘ in den Wettbewerb um das schönste Urlaubserlebnis in den Sozialen Netzwerken einzusteigen. Nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung einen Schub erfahren: Videokonferenzen boomen, der soziale Austausch verlagert sich in Chats.

Der Journalist und Autor Hajo Schumacher hat deshalb ein Anliegen: Er möchte helfen – ja regelrecht aufklären und das mit seinem neuesten Buch Kein Netz!, das er als Mischung aus Lebensratgeber und Leitfaden für eine Entdeckungsreise ins digitale Abenteuerland mit seinen Licht- und Schattenseiten versteht. Internet sei wie Klimawandel schreibt er: „Wir wissen halbwegs, was auf uns zukommt, dass es nicht weniger oder einfacher wird.“ Deshalb versuchen Mediennutzer*innen auch alles perfekt durchzuplanen und so gut es geht jene Überraschungen, die das Leben so bereithält, zu umgehen. Sowohl beim Reisen als auch bei Liebesbeziehungen sei diese Annahme laut Schumacher zutreffend: „Daten-Dating bedeutet eher Absolvieren als Entdecken.“ Seiner Ansicht nach verlassen sich Menschen auf „Biete-/Wünsche-Listen“ und das bleibe nicht folgenlos: „In den Lebensbereichen Reisen und Beziehungen wird besonders deutlich, wie die Digitalisierung jenen Abenteuerraum des Menschen verkleinert, der sich vor allem in der Vorstellungswelt abspielt, jenem Reich des Ungefähren, wo Spannung, Fantasie, Ausgemaltes, Vorfreude regieren.“

Auch das Bildungssystem nimmt Schumacher penibel unter die Lupe: Analog und digital gilt es in seinen Augen zu versöhnen: „Die Schule wäre der perfekte Ort dafür“, glaubt Schumacher. Gleichzeitig moniert er angesichts von Digitalpakt und OECD-Studien: „Was fehlt, ist eine übergreifende Idee, wie, wann, wo wir digitale Hilfsmittel einsetzen und was unbedingt weiterhin analog vermittelt werden soll.“

Schumacher, der neben Journalistik auch Politologie und Psychologie studiert hat, analysiert Auswirkungen der Digitalisierung auf Politik, Gesellschaft und lässt die Leser*innen an Szenarien seines digitalen Alltags teilhaben – was für manche*n Leser*in vielleicht auch zu viel des Guten ist.

Schumacher zeigt aber auch, dass er sein journalistisches Handwerk versteht. Er befragt Expert*innen wie Welterklärer Ranga Yogeshwar, den IT-Sicherheitsexperte Mark Sammler oder die Soziologie-Professorin Kornelia Hahn von der Universität Salzburg. Anschaulich und pointiert erläutert er, wie ein gutes Leben in digitalen Zeiten gelingen kann und vergisst glücklicherweise bei seinen drei Themenabschnitten mit zahlreichen Unterkapiteln weder Humor noch Augenzwinkern.

In seinem lesenswerten Buch ist der Autor, der lange Jahre für den Spiegel arbeitete, ein Selbstversucher sowie prägnanter und polarisierender Beobachter der Digitalisierung. So kennen ihn Fernsehzuschauer*innen etwa aus der politischen Gesprächssendung Thadeusz und die Beobachter des rbb, wo Schumacher einmal im Monat das aktuelle Geschehen in Politik und Gesellschaft mit anderen Journalist*innen einordnet.

Für Berliner Morgenpost, Hamburger Abendblatt, Südkurier, Rheinische Post oder Kölner Stadtanzeiger erforscht Schumacher „das digitale Erwachsenwerden“, wie er es selbst nennt, in seiner Kolumne Netzentdecker, wobei es weniger erforschen im wissenschaftlichen Sinne ist, sondern vielmehr an ein neugieriges Entdecken erinnert. Mit dem gleichnamigen non-profit Projekt möchte er seit 2018 für „Durchblick“ sorgen, wie auf der dazugehörigen Website www.netzentdecker.de nachzulesen ist.

Die Zielgruppe ist dabei ziemlich heterogen: Bürger*innen, Arbeitnehmer*innen, Eltern und Konsumenten. Mit niederschwelligen Angeboten darunter Podcasts, Videos oder eben seiner Kolumne sollen Menschen, die analog sozialisiert worden sind, wie vor einer Fernreise fit gemacht werden für Abenteuer und Stolpersteine. Hilfreiches Equipment dafür sollen Antworten auf Fragen sein wie: Macht Digitalisierung einsam? Warum zahlt niemand mehr mit Bargeld? Netzentdecker wird von der Brost-Stiftung Essen finanziert, die Kunst, Kultur und Soziales im Ruhrgebiet fördert. Für alle, die Netzentdecker regelmäßig verfolgen, erinnert das Buch bisweilen an einen daraus generierten Erfahrungsbericht. Für alle anderen ist das Buch eine Anregung doch einmal den Netzentdeckern einen Online-Besuch abzustatten.

Bei der Lektüre von Kein Netz! wird deutlich, dass Schumacher, der mit Schallplatte und Schreibmaschine aufgewachsen ist, versöhnen möchte. Mit einer ausgewogenen Digital-Life-Balance sollen Online- und Offline-Sein in Einklang gebracht werden. Die Leser*innen animiert er so zu einer Online-Offline-Balance. Helfen sollen „30 Tipps für entspanntes Bio Surfen“, wie sie im Abschluss-Kapitel zu finden sind, um mittels wohldosiertem digitalem Detox den digitalen Stress zu reduzieren, ohne die vollkommene Abstinenz zu propagieren: Ab 21 Uhr WLAN automatisch abstellen, Benachrichtigungstöne individuell oder stumm einstellen oder feste Zeiten für Mail-Korrespondenz oder Online-Banking einplanen. Einen Versuch sollte dies allen wert sein, – unabhängig ob Digital Immigrant oder Digital Native –, die sich weniger online, aber dafür mehr offline in ihrem Alltag wünschen. Zugegeben – sein Smartphone muss man nicht gleich zersägen, wie auf dem Buchcover, aber ein Nachdenken darüber, was angemessen und was zu viel des Guten ist, ist längst überfällig. Mit seinem lockeren Sprachstil ist das kurzweilige und dabei gleichzeitig anspruchsvolle sowie gut recherchierte Buch ein guter Anlass, um in sicherlich facettenreichen Austausch zu treten, ob mit (medien-)pädagogischen Multiplikator*innen, mit Eltern, Studierenden, interessierten Teilnehmenden in online oder offline Seminaren der Erwachsenenbildung oder Oberstufenschüler*innen etwa im Unterrichtsfach Ethik.

Besonders aus medienpädagogischer Sicht sind Kein Netz! und auch die Netzentdecker empfehlenswerte Impulsgeber, weil sie durch ein ausgewogenes Verhältnis von Unterhaltung und Wissensvermittlung – ohne dabei allzu belehrend zu sein – einen Beitrag zur Förderung von Medienkompetenz von Erwachsenen leisten, schließlich geht es Schumacher „um selbstverantwortlichen Umgang“ im digitalen Raum.

 

Schumacher, Hajo (2020): Kein Netz! Geld, Zeit, Laune, Liebe – Wie wir unser wirkliches Leben zurückerobern. Köln: Eichborn. 269 S., 20,00 €.

Heinrike Paulus


Teaserbild: Buchcover Kein Netz! – Eichborn Verlag

Headerbild: StockSnap | pixabay


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