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SWIPE-SPECIAL: Der kleine Paul

Vielleicht kennen Sie das: Kinder ahmen im Spiel Dinge nach, die sie im Alltag immer wieder erleben. So hat unser Sohn sich eines Tages mit einem Kochlöffel in einen Karton gesetzt und immer wieder in den Kochlöffel gesprochen: ‚Bitte zurücktreten!‘. Für diejenigen Leser*innen, die nur noch selbstfahrende U-Bahnen kennen, zur Erklärung: Als die U-Bahnen noch von Menschen gefahren wurden, sprachen die Fahrer*innen kurz vor dem Schließen der Türen die Aufforderung ‚Bitte zurücktreten‘ in ein Mikro. Dieser Vorgang hat unseren Sohn wohl so nachhaltig beeindruckt, dass er sich mindestens ein Jahr lang immer wieder in seinen Karton setzte, zum Kochlöffel griff und ausdauernd seinen Zaubersatz wiederholte. Auch wenn die Vermutung nahe liegt: Nein, er wollte nie U-Bahnfahrer werden, aber die Freude, in ein Mikrofon zu sprechen, ist ihm bis heute geblieben.

Auf der Geburtstagsfeier eines Freundes wurde ich kürzlich an diese Szenen erinnert. Der kleine Paul, etwa eineinhalb Jahre alt, fuhr mit seinem Bobbycar durch die Reihen der aufgestellten Biertische, stoppte sein umweltfreundliches Gefährt immer wieder, strahlte die Erwachsenen an und formulierte dazu lässig „mit Karte bitte“. Dieser Satz löste bei mir einen blitzartigen Erinnerungssturm aus, was ich in der letzten Zeit im Zusammenhang mit dieser Ansage schon alles erlebt hatte: Verzweifelte Kolleginnen, die bei mir im Büro stehen und mich fragen, ob ich ihnen Bargeld geben könnte, da der Bäcker keine Kartenzahlung akzeptiere. Zahlvorgänge mit Karte an der Tankstelle, bei denen ich schon zweimal die falsche PIN eingegeben habe und unter Schweißausbrüchen den letzten Versuch starte. Abbuchungen auf meinem Konto vom Friseur meiner Frau, die aus Versehen meine Karte benutzt hat – was offenbar einfach so möglich ist. Verkäufer*innen, die mich mit strengen Blicken auf das Schild ‚Kartenzahlung erst ab 10 €‘ hinweisen. Die Ansage ‚Heute funktioniert unser Lesegerät nicht‘, wenn die Rechnung aber bei weitem meinen Bargeldbestand überschreitet. Urlaubsreisen in europäische Nachbarländer, in denen nicht mal mehr ein Kaffee mit Bargeld zu bekommen ist.

Am klarsten sind da die Regeln auf Berghütten, wie ich bei der einwöchigen Bergtour mit meinem Freund Günther in diesem Jahr feststellen musste: Kein Internet, keine Kartenzahlung. So mussten wir zu den grundsätzlich zu schweren Rucksäcken noch einen überfüllten Brustbeutel mit Bargeld auf die Berge schleppen. Wer schon mal in den Bergen war, weiß: jedes Gramm zählt. Und oft habe ich mir beim Aufstieg auf 2.000 Meter gewünscht, in meinem Brustbeutel wäre nur eine kleine Plastikkarte und nicht die Hälfte meines Monatslohns in bar. Zur Vermeidung von Münzrückgaben habe ich deshalb beim Bezahlen immer großzügig aufgerundet, sehr zur Freude der Servicekräfte.

Was mal aus dem kleinen Paul wird, ist schwer vorherzusagen. Auf jeden Fall wächst er in einem Land auf, in dem sich die Digitalisierung noch in einem Schwebzustand befindet – irgendwo zwischen ChatGPT und Barzahlung.


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