Alexander Buck
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- Alexander Buck: "Hostel" und andere tödliche Unterkünfte
Alexander Buck: "Hostel" und andere tödliche Unterkünfte
„Wieviel Schmerz hältst du aus?“ – diese Frage stellt das offizielle deutsche Filmplakat von „Hostel“ und meint wohl mehrere Ebenen: szenarisch die der Protagonisten, jedoch sublim auch (und vielleicht zuvorderst) die der Rezipienten.Bereits vor gut einem Jahr wäre diese Frage schon bei „Saw“ zu stellen gewesen, dem Film, der derart erfolgreich war, dass im Februar diesen Jahres „Saw II“ in den Kinos lief und „Saw III“ (wie auch „Hostel II“) bereits produziert werden. Alle genannten Filme wurden von Lions Gate Film produziert, nach eigenen Angaben die größte ‚Independent Film’-Produktionsfirma, welche unter anderem „The Descent“ und „L.A. Crash“ herausbrachte. Nun ist es begrüßenswert und entspricht wohl auch der Nachfrage, dass Filme nach jahrzehntelangem Quasi-Monopolismus der Branchengiganten auf breiterer Basis unabhängig und zu einem Bruchteil der klassischen Produktionskosten realisiert werden (können). Selbst die diesjährige Oscar-Verleihung ließ den Trend nicht unberücksichtigt, wie beispielsweise „L.A. Crash“ sowie „Tsotsi“ belegen. Jedoch lässt sich innerhalb dieser Entwicklung eine verstörende Tendenz zu einer neuen Qualität von Horrorfilmen ausmachen, welche medienpädagogisch zu analysieren und aufzuarbeiten sind.
Eine Chronologie des Horrors
Grundstein für die hier zu entwickelnde Chronologie soll der Film „Saw“ liefern, welcher 2004 produziert und auf dem „Sundance Film Festival“ im gleichen Jahr erstmals vorgeführt wurde. Er erzählt die Geschichte von „Jigsaw“, einem vermeintlichen Serienkiller, welcher jedoch selbst keine Personen tötet – er inszeniert ‚Spiele’, in denen sich die Protagonisten gegenseitig umbringen sollen/müssen. Seine Intention ist Menschen, welche sich unmoralisch verhalten und das eigene Leben nicht wertschätzen (zum Beispiel Drogenabhängige), mit drastischsten Mitteln davon zu überzeugen, wie sehr sie an ihrem eigenen Leben hängen und wie lebenswert es sei.Die Einstiegssequenz spielt in einer Art verfallenem, überdimensionalen Badezimmer, indem sich Adam (Leigh Whannell, welcher auch das Drehbuch schrieb) und Dr. Gordon (Cary Elwes) angekettet in den gegenüberliegenden Ecken wiederfinden, ohne zu wissen, wie sie in diese missliche Lage gekommen sind. In der Mitte des Raumes liegt eine blutüberströmte Leiche, mit einer Pistole sowie einem Diktiergerät in den Händen. Als Adam und Dr. Gordon ihre Taschen durchsuchen, stellen sie fest, dass sie beide Microcassetten für das Diktiergerät besitzen.
Auf den Cassetten befinden sich die ‚Spielanweisungen’ von „Jigsaw“: Dr. Gordon hat acht Stunden Zeit, Adam zu töten, ansonsten werden Gordons Frau und Tochter getötet. Eine Art Puzzlespiel entwickelt sich – weitere Hinweise geben den Protagonisten computerspielähnlich weitere Gegenstände an die Hand, unter anderem auch zwei Knochensägen ...
In Rückblenden wird die Geschichte von „Jigsaw“ durch Detective David Tapp (Danny Glover) aufgerollt, welcher dem Wahnsinnigen bereits auf der Spur ist. So beispielsweise im Fall der Drogensüchtigen Amanda (Shawnee Smith), die sich mit einer mönströsen Apparatur, ähnlich einer Bärenfalle, auf dem Kopf in einem Raum wiederfindet. Um das ‚Spiel’ zu gewinnen und um zu vermeiden, dass ihr Schädel nach Ablauf der Zeit durch die Apparatur zerfetzt wird, muss Amanda an den Schlüssel kommen. Im Raum befindet sich ein Freund, paralysiert durch Drogen auf dem Boden liegend, jedoch bei vollem Bewusstsein. Der Schlüssel befindet sich in seinem Magen ...Amanda gelingt es, sich zu befreien und erklärt bei ihrer Vernehmung, „Jigsaw“ hätte ihr geholfen, den Wert des Lebens wieder zu finden – sie sei ihm dafür dankbar.
In der Zwischenzeit haben Dr. Gordon und Adam herausgefunden, warum auch sie Teil des ‚Spiels’ wurden: Dr. Gordon betrachtet seine Patienten im Krankenhaus lediglich als Nummern und vergnügt sich neben seiner Ehe mit einer asiatischen Krankenschwester; Adam ist eine Art ‚Privatschnüffler’, welcher Foto-Überwachungsaufträge übernimmt. Die Spur von „Jigsaw“ führt zu Zep Hindle (Michael Emerson), welcher als Krankenpfleger arbeitet und tatsächlich Dr. Gordons Frau und Tochter gefangen hält ...
„Die meisten Menschen sind so undankbar dafür, dass sie noch leben, aber Sie nicht. Jetzt nicht mehr! Das Spiel ist aus!“ – so das Zitat von „Jigsaw“ gegen Ende des Films, der die Spannung durchaus bis zum Schluss hält und ein zwar eingeführtes, jedoch überraschendes und unerwartetes Ende preis gibt.
„Saw“ spielte bei einen Budget von 1,2 Millionen US-Dollar weltweit über 102 Millionen Dollar ein und spaltete Publikum wie Kritiker. Es ist das Erstlingswerk von zwei australischen Filmstudenten (James Wan und Leigh Whannell, beide 1977 geboren), welche sich geschickt und schonungslos der Genres bedienen und einen Thriller konzipierten, welcher „Sieben“ an Spannung durchaus ebenbürtig ist. Jedoch sind es die Figuren und deren filmische Einführung, welche, dies sei an dieser Stelle bereits benannt, eine Verstörung beim Zuschauer hinterlassen. Letztlich, diese These ist allen Filmen gemeinsam, wird eine Empathie oder gar ein Mitleid mit den Opfern tendenziell erschwert, bzw. verunmöglicht. So auch bei „Saw II“, welcher nahtlos an den ersten Teil anknüpft (der Cliffhanger am Ende von „Saw“ macht es möglich), jedoch noch eine härtere Gangart einschlägt. Die Opfer sind, vielleicht mit Ausnahme des jungen Sohns eines ermittelnden Polizisten, allesamt sehr oberflächlich charakterisiert und lassen eine Empathie des Zuschauers kaum zu. Erschwerend kommt hinzu, dass die Protagonisten sich nicht gerade kooperativ oder sozial einander gegenüber verhalten, was natürlich von „Jigsaw“ auch durch die gestellten Aufgaben verhindert wird.
Beiden Teilen ist die stark ethisch motivierte ‚Täterstruktur’ von „Jigsaw“ gemein, welcher, überspitzt formuliert, die richtige Philosophie besitzt, jedoch diese mit fürchterlichen, fatalen Mitteln an die Menschheit bringen will. Da er selbst schwerkrank ist, versteht er (durchaus zurecht) nicht, warum andere Menschen ihr Leben vergeuden oder achtlos wegwerfen. Seine ‚Versuchsaufbauten’ jedoch sind menschenverachtend, perfide und bisweilen sadistisch sowie pervers. Er tötet nicht – er lässt töten und führt seine eigene Überzeugung damit ad absurdum.Wer sich in die falsche Behausung begibt ...Wurden bei „Saw I“ und „Saw II“ die Opfer gegen ihren Willen in auswegslose, tödliche Situationen geworfen, so ist dies bei „The Descent“ sowie „Hostel“ gar nicht mehr nötig – die potenziellen Opfer begeben sich freiwillig und aus purer Freude in solche.
In „The Descent“ begibt sich eine Gruppe befreundeter junger Frauen bei einem ihrer ‚Abenteuerurlaube’ in eine Höhle ohne Wiederkehr. Das wohl jährlich stattfindende Event soll dieses Mal eine Tour durch eine bekannte und unter Höhlenkletterern Kultstatus besitzende Höhle führen. Doch leider hat die planende Protagonistin absichtlich nicht diese Tour gewählt, sondern führt ihre Freundinnen in eine bis dato noch nicht erforschte Unterwelt ...Doch bis es dazu kommt, wird dem Zuschauer durch ein nicht enden wollendes Gegacker und Gekichere die Sympathie mit den Damen förmlich ausgetrieben. Hinzu kommt eine abwertende, ausführlich dargestellte Naivität, welche ein Übriges dazu beiträgt. Das Bild von autonomen, emanzipierten Frauen wird hier dekonstruiert, ohne einen adäquaten Gegenentwurf anzubieten. Stattdessen, und eben dies scheint bei allen besprochenen Filmen Methode, wird hier der Zugang zu den Opferrollen verunmöglicht – man ist förmlich erleichtert, wenn eine Protagonistin nach der anderen ablebt und somit das Gekreische und Gegackere langsam nachlassen. Denn in dieser noch nicht erforschten Höhle leben Wesen, welche optisch wie die Zombie-Ausgabe von „Gollum“ in „Herr der Ringe“ daherkommen – jedoch einige Klassen böser, aggressiver und destruktiver. In höchster Freude und Erregung über die willkommene sowie unerwartete Extra-Nahrung fallen sie nach und nach über die Kletterinnen her. Teilweise müssen diese Wesen nicht einmal großartig selbst zur Tat schreiten – teilweise nehmen ihnen die Protagonistinnen die Arbeit ab ...
Ohne Zweifel ist „The Descent“ ein hervorragend gemachter Horror-Thriller, welcher die Spannung exzellent aufbaut und ein sehr perfides Ende parat hält. Doch auch hier – kein Mitleid möglich.Von der Höhle ins HostelAbschließend nun zur aktuellsten Produktion dieses Zirkels; der Film „Hostel“. Die Geschichte ist schnell erzählt: Zwei amerikanische Männer und ein Isländer (jung, und zumindest die beiden Amerikaner Studenten) wollen in Europa was erleben. Hierfür scheint Amsterdam genau das richtige Pflaster zu sein – Drogen, Alkohol und viele junge Frauen. Doch der ‚richtige Kick’ stellt sich nicht ein – bis der junge Slowakier Alex (Lubomir Bukovy) ihnen von einem Hostel in Bratislava erzählt, wo alle ihre Wünsche in Erfüllung (vor allem in sexueller Hinsicht) gehen sollen ...
Die drei Protagonisten machen sich unverzüglich auf den Weg, sie wollen schließlich noch etwas erleben. Bestärkt von einem holländischen Geschäftsmann (Jan Vlasák), welcher ihnen das Abenteuer schmackhaft macht und dem sie später noch in ganz anderer Funktion begegnen sollen, fahren sie in den ‚wilden Osten’. Und tatsächlich scheinen all´ ihre Wünsche zunächst in Erfüllung zu gehen – doch schon am nächsten Morgen fehlt Oli (Eythor Gudjonsson), ihr isländischer Reisefreund; angeblich ist er abgereist (der aufmerksame Zuschauer findet ihn jedoch – zumindest seinen Kopf – im Foltermuseum von Bratislava wieder, welches die beiden Amerikaner besuchen).Als am nächsten Tag auch noch Josh (Derek Richardson) verschwindet, wird Paxton (Jay Hernandez) stutzig. Er will wissen, wo sein Freund ist, da dieser unmöglich ohne ihn abreisen würde. Svetlana (Jana Kaderabkova), eine der höchst willigen Frauen, welche den beiden Freunden so fürsorglich begegnet sind, führt ihn in das Zentrum des Grauens.
Es ist ein ehemaliger Fabrikkomplex, in welchem solvente europäische Männer ihre perversen Fantasien ausleben können: Für bis zu 10.000 € bekommen sie von der Agentur „Elite Hunting“ junge Asiaten, Europäer und (am teurersten!) Amerikaner geliefert, welche sie quälen, foltern und zu Tode massakrieren können. Auch die an einen gehobenen Baumarkt erinnernde Ausstattung ist inklusive – ebenso die fachgerechte Entsorgung der ‚Überbleibsel’.
Minutiös und detailliert werden die folgenden Folterszenen in Szene gesetzt (unter anderem taucht auch der ‚nette’ holländische Geschäftsmann in einer Folterzelle auf, welcher Josh zu Tode bringt), ohne jedoch die Möglichkeit zu bieten, Mitleid zu empfinden. Es ist eine mechanisierte, anonyme Schlachterei – so grauenvoll und detailliert, dass selbst Quentin Tarrantino (Coproduzent) vor dem Film warnte und von Ohnmachtsanfällen sowie Erbrechen des Preview-Publikums berichtete. Wie durch ein Wunder überlebt Paxton die Torturen seines Foltermeisters und entkommt. Doch eben jener Geschäftsmann, welcher seinen Freund getötet hat, reist mit ihm im Zug – die Zeit der Rache ist gekommen ...
Neue Ebenen und ein neuer Moralismus
Der Regisseur Eli Roth, welcher im Produktionsstab von David Lynch seine cineastischen Erfahrungen sammelte, liefert hier sicherlich den verstörendsten und brutalsten Film ab. Neben der erwähnten Neutralität der ‚Opfer’ gegenüber kommen hier weitere Ebenen sowie ein Moralismus zur Geltung, welche neu für das Genre sind. So wird beispielsweise Osteuropa als Müllplatz der Welt gezeigt, wo jeder Mensch korrupt und selbst Kinder stumpf und brutal sind. Für Geld ist hier alles möglich, jeder verdient daran, der Rest sieht weg. Die Polizei ist mit von der Partie, schließlich sind ja zahlungswillige Europäer (!) in Hülle und Fülle vorhanden.Mache als Amerikaner einen falschen Schritt, schon landest du in einem Albtraum. Osteuropa – der noch nicht gesäuberte Hinterhof hegemonialer amerikanischer Allmachtsphantasien – Westeuropa, degeneriert, drogensüchtig und ebenfalls käuflich. Geradezu xenophob mag einem dieses Schauspiel anmuten.Einzig und allein die Folterexzesse von Abu Ghraib scheinen hier eine ermöglichende Rolle gespielt zu haben – kann man doch nun Folter offen und legitim zeigen. Weder treffen in dieser Form die in der letzten merz von Sandra Pitum sowie von Ronald Gaugler hervorragend besprochenen Klassifizierungen zu (vgl. Gaugler 2006, Pitum 2006), noch ist dieses Phänomen eine bloße Weiterentwicklung des Horror-Genres. Zu deutlich mischen sich hier andere Werte- und Normenvorstellungen bei, verbunden mit einer geradezu naiven Bedienung von Klischees. Doch bleibt auch jegliche Gewaltverherrlichung sowie eine Sympathie mit den Tätern aus. So gelingt hier eine Gratwanderung, welche zwar „keine Jugendfreigabe“ (FSK) bedingt, dennoch essenzielle Sinnfragen aufwirft. Dies sei nun kein Plädoyer für eine strengere oder gar restriktive Verfahrensweise mit diesen (und folgenden) Filmen – doch scheint dieses Phänomen es wert, weiterhin genau betrachtet und analysiert zu werden.
„Hostel“ – USA 2005 – 93 min. Regie: Eli Roth
„Saw“ – USA 2004 – 99 min. Regie: James Wan
„Saw II“ – USA 2005 – 93 min. Regie: Darren Lynn Bousman
„The Descent“ – GB 2005 – 96 min. Regie: Neil Marshall
- Alexander Buck: Gehorsam, Disziplin und körperliche Ertüchtigung: Das Erziehungscamp
Alexander Buck: Gehorsam, Disziplin und körperliche Ertüchtigung: Das Erziehungscamp
„Wer kämpft, kann gewinnen – wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ – Nein, wir befinden uns nicht in einem (zumindest klassischen) Straflager oder bei paramilitärischen Ausbildungen, sondern im Erziehungscamp von Lothar Kannenberg, dem Gesamtleiter der Jugendhilfeeinrichtung Durchboxen im Leben e. V.Die Einrichtung dient seit Dezember 2006 als Kulisse für die RTL2-Doku-Soap Das Erziehungscamp und reiht sich in das Senderschema neben „Frauentausch“ und „Hüllenlos – Auch nackt gut aussehen“ scheinbar nahtlos ein. Wem „Big Brother“ (immerhin sind die dort Inhaftierten freiwillig eingezogen) und Konsorten noch nicht „dokumentarisch“ genug sind, der bekommt hier zudem den Thrill der Straße: Ghettokids, Gewalttäter, Drogenabhängige – das gesamte Spektrum soll hier abgebildet werden. In einem Umerziehungslager mit pädagogischem Anstrich. Sieht so Jugendhilfe aus? „Wir schaffen es!“Neu ist die Einmischung respektive Pervertierung in die und von der Sozialen Arbeit.
Was mit „Die Supernanny“ bereits mehr als fragwürdige Ausmaße erreicht hat, wird im „Erziehungscamp“ auf zwei Ebenen erweitert: Nach amerikanischem Vorbild werden Jugendliche in „Camps“ gesteckt und dort auf gesellschaftliche Eignung getrimmt. Zudem wird suggeriert, nur (noch) so könne man diesen jungen Menschen beikommen. Der Erfolg dieser pädagogischen Arbeit misst sich in der Unterordnung sowie unreflektierten Übernahme von Lebensweisheiten. Das Ganze wird gewohnt reißerisch aufbereitet und in sechs Teilen mit jeweils 60 Minuten dargereicht. Da wird auch gerne mal die „Gruppensitzung“ gefilmt, in der Jugendliche von Kannenberg („Du kapierst es einfach nicht ...“; „Ich hab’ keine Lust mehr, du kannst gehen!“) zum Weinen gebracht werden, der Rest der Gruppe sieht ängstlich zu. Jeder kann der Nächste sein.Den „inhaftierten“ Jugendlichen bleibt kaum ei-ne Wahl: Entweder sechs Monate Drill mit La-gerleiter Kannenberg („ ... unser Drillinstructor“ – Zitat RTL2) oder in geschlossene Einrichtungen bzw. ins Jugendgefängnis.Konzeptionelle Vermischung von Ebenen.
Es ist schwierig, bei der vorliegenden Vermischung von Realität und Unterhaltungsfernsehen, wie sie typisch für eine Doko-Soap ist (und meines Erachtens geplant und gewollt), eine differenzierte Kritik zu äußern. Vielleicht so: Ein fragwürdiges pädagogisches Konzept wird me-dial so aufbereitet, dass es einerseits den exhibitionistischen Gelüsten des Fernsehpublikums gerecht wird, andererseits (und dies ist ebenso fatal) als Blaupause für Korrekturen an gesellschaftlichen Problematiken angewendet werden kann. Erziehung und (sozial-)pädagogische Arbeit wird mit bedingungsloser Unterordnung, extremer körperlicher Betätigung sowie unre-flektierter Übernahme von funktionalen Techniken gleichgesetzt. Emanzipatorische Ansätze, Empowerment, Gender, das sind Fremdworte im von Regeln dominierten Konzept, welches von Horst Köhler mit einer Bundesverdienstmedaille versehen wurde.Aber vielleicht ist dies symptomatisch: Vorbei die Zeiten der Aufklärung, das Ideal des mündigen Bürgers – eine funktionalistische Gesellschaft will ein regelwerkhaftes, zuverlässiges Potenzial von Korrekturwerkstätten.
Kollektiver Zwang statt individuelle Einsicht, monotone Vorgaben statt Be-rücksichtigung von Neigungen und Fähigkeiten. Geschlechtsspezifisch? Aber sicher! Da nur männliche Jugendliche von männlichen „Respekttrainern“ (welche mittels Trillerpfeifen kommandieren!) trainiert werden, kann sich das Programm auch geschlechtsspezifisch schimpfen. Der Tagesplan ist auf die Jugendlichen ab-gestimmt (so wie es sich Kannenberg und seine „Respekttrainer“ vorstellen): Von 5.55 bis 22.30 Uhr (außer sonntags) ist der Tag minutiös durchgeplant. Frühsport, Überlebenstraining, 500 (!) Liegestütze, Zehn-Kilometer-Lauf, Respekttraining, Nachtlauf und bis zu dreimal täglich duschen. Ein weiterer, wesentlicher Bestandteil ist das Boxtraining – schließlich sollen sich die Jugendlichen ja „im Leben durchboxen“.Wichtig für die Jugendlichen sind auch klare Hierarchien. Die Jugendlichen durchlaufen drei Phasen, wer sich gut „durchboxen“ kann steigt in den nächst höheren Rang auf. Für das Publikum wird die Rangordnung durch die verschiedenen T-Shirts kenntlich gemacht.
Neben der körperlichen Ertüchtigung machen Rituale den Camp-Alltag aus: Hierzu zählen das Willkommens-, Überlebens-, Essens-, Grab-, Kreis-, Tages-, Baum- und Verabschiedungsritual.Wem allmählich Zweifel aufkommen mögen, der darf sich von Kannenberg beruhigen lassen, schließlich kommt er, wie seine Kombattanten, von „ganz unten“ und Boxen fördert die Disziplin. Jungs boxen eben gerne.Fachpersonal – FehlanzeigeSie gehen wegen fundierter Rechtsberatung noch zum Rechtsanwalt oder vertrauen bei gesundheitlichen Fragen einem Facharzt? Wie rückständig und überflüssig: Schließlich kann jeder, der schon einmal rechtliche oder gesundheitliche Probleme hatte, Sie beraten. Diese Analogie vermittelt Das Erziehungscamp.
Eine pädagogische Leitung ist zwar (noch) nötig, aber sonst können in diesem Betätigungsfeld ebenso gut ehemalige Boxer, Straffällige, NVA-Offiziere ihre Lebensweisheiten weitergeben.Nun lässt sich (mittlerweile) schwerlich RTL2 der Vorwurf machen, unreflektierte und fragwürdige Formate zu produzieren – zu viele gab es be-reits. Und dass Erwachsene zu Vielem bereit sind, solange sie ins Fernsehen kommen und der monetäre Aspekt stimmt, ist auch nicht neu.Neu ist die unerträgliche Form der Vermischung von Sozialer Arbeit im Allgemeinen sowie professioneller Jugendhilfe im Speziellen mit einer haarsträubenden Konzeption plus medialer Aufbereitung (selbst die einzige Sozialarbeiterin in Folge sechs ist so klischeehaft dargestellt, dass es schon an Diskreditierung einer Profession grenzt).
Beitrag aus Heft »2007/03: mobil kommunizieren, spielen und lernen«
Autor: Alexander Buck
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Alexander Buck: Mediale Realität und Diffusion im "Tal der Wölfe"
Vorspann
Freudige Aufregung und Bestätigung im dunklen Kinosaal: „Siehst du, genau so ist es ...“. Das Publikum, überwiegend MigrantInnen aller Altersstufen, vor allem jedoch Jugendliche verfolgen hochinteressiert die Kinoverfilmung eines Rekordbrechers des türkischen Fernsehens.
Aufregung und Protest von Seiten der Politik und den Medien: Dieser Film gehöre verboten, er sei antisemitisch, antiamerikanisch, fundamentalistisch – ein „türkischer Rambo”. Seit dem 9. Februar 2006 läuft erstmals ein türkischer Blockbuster in den deutschen Kinos: Tal der Wölfe – Irak (Kurtlar Vadisi Irak).
Realität, Diffusion und ‚Lynndiesierung’Zunächst ist “Tal der Wölfe” eine 97-teilige türkische Fernsehserie gewesen, welche im Zeitraum von 2003 bis 2005 auf den Sendern „Show-TV” (1.-3. Staffel), danach auf “Kanal D” (4. Staffel) liefen. Jene Serie bildet quasi den Hintergrund des vorliegenden Films: Der Spezial-Agent des MIT (der türkische Inlandsnachrichtendienst) Ali Candan, welcher im Kosovo arbeitet, wird nach Istanbul zurück beordert. Er soll eine neue Identität bekommen und in die türkische Mafia eingeschleust werden – nach einer Gesichtsoperation wird aus ihm Polat Alemdar.
Eben jener Polat Alemdar (Necati Şaşmaz) ist der Protagonist des Kinofilms, dessen bester Freund Oberleutnant Süleyman Aslan Opfer der so genannten (tatsächlich stattgefundenen) „Sackaffäre” wurde. Am 4. Juli 2003 wurde eine Gruppe türkischer Soldaten im Nordirak von den US-amerikanischen Truppen festgesetzt, mit Säcken über den Köpfen abgeführt und nach 60 Stunden Gefangenschaft in die Türkei überstellt.
Ab diesem Zeitpunkt beginnt in dem Film die fiktive narrative Weiterverarbeitung: Süleyman Aslan schreibt einen Abschiedsbrief an Polat Alemdar und begeht aufgrund der Erniedrigung durch die amerikanischen Soldaten, deren Oberbefehlshaber Sam William Marshall (Billy Zane) ist, Selbstmord. Alemdar begibt sich daraufhin mit seinen besten Männern in den Irak, um seinen Freund zu rächen.
Die eigentliche Diffusion und immanente Problematik liegt in der Vermischung der Ebenen, denn auch im weiteren Verlauf werden reale Begebenheiten, wie beispielsweise der Überfall auf Mukaradeeb, ein Dorf im Irak mit fiktiven Handlungssträngen gemixt. Dieses Dorf wurde am 19. Mai 2004 von US-Hubschraubern angegriffen, da angeblich die aus Tradition abgefeuerten Gewehrschüsse als Angriff auf die US-Truppen interpretiert wurden. Es starben 42 Personen, darunter elf Frauen und 14 Kinder. Im Film warten die US-Soldaten jedoch in ihren Fahrzeugen freudig auf die ersten Schüsse, um die Hochzeitsgäste als “Terroristen” gefangen zu nehmen. Dies misslingt durch das Ungeschick eines US-Soldaten, welcher versehentlich einen kleinen Jungen erschießt, worauf die Situation eskaliert und viele Hochzeitsgäste, darunter auch der Bräutigam, den Tod finden. Die Braut Leyla (Bergüzar Korel) schwört daraufhin Rache an Sam William Marshall. Währenddessen versucht auch Top-Agent Polat Alemdar, Marshall habhaft zu werden und ihn auf die gleiche Weise zu erniedrigen (mit einem Sack über den Kopf!), wie dieser es mit Oberleutnant Süleyman Aslan tat. Doch wird dieser Plan durch die Geschicklichkeit und Hintertriebenheit Marshalls vereitelt, der auch nicht vor Kindesgeiselnahme zurückschreckt. Scheinbar ist Marshall auch für das Gefängnis Abu Ghraib zuständig, wo ein Arzt (Gary Busey) sein Unwesen treibt. Er entnimmt irakischen Gefangenen Organe, um sie seinen Patienten in New York und Tel Aviv zu schicken. In einem Dialog stellt sich Marshall als gottesgläubiger Patriot (und Kriegsgewinnler), der Doktor als korrupter, skrupelloser, nur auf das Wohl ‚seiner’ Patienten bedachter amerikanischer Jude heraus. Allerdings ist diese Szene dialogisch sehr kryptisch und daher darf bezweifelt werden, dass ein Großteil des Publikums die geschmacklose und perfide Diskreditierung des Judentums überhaupt erkennt und versteht.Währenddessen wütet Lynndie England in Abu Ghraib und baut ihre berüchtigte Menschenpyramide – eine weitere Einstreuung medialer Realität. Die Braut Leyla bittet währenddessen ihren Ziehvater Scheich Abdurrahman Halis Kerkuki (Ghassan Massoud), einen direkten Nachfahren Mohammeds, um Rat, da sie die Schande mit einem Selbstmordattentat rächen will. Hier erfährt der Film eine interessante, bisher in der Presse nicht berücksichtigte Wendung – abgesehen von der FSK-Begründung (15.02.2006). Der Scheich sieht dieses Ansinnen als Sünde an, welche kein gläubiger Muslim begehen dürfe, zumal sie selbst und unschuldige Menschen getötet würden. Leyla lässt von dem Vorhaben ab und bleibt in der Obhut des Scheichs.
Doch Polat Alemdar und seine Getreuen sind unbeirrt: Marshall muss büßen, die Ehre wieder hergestellt werden ...Irritationen“Tal der Wölfe” bietet eine stark polarisierende Geschichte, welche zudem hemmungslos zwischen Realität und Fiktion springt. Hierin spiegelt sich die zentrale Problematik des Films. Weniger ist es die teils maßlos übertriebene Darstellung der amerikanischen Soldaten, noch die generelle amerikanische Globalisierungspolitik. Es ist ein Kampf Davids gegen Goliath, die Freude des Kleinen, es einmal dem (den) Großen gezeigt zu haben. Wenn am Ende Marshall sein ‚gerechtes’ Schicksal ereilt, atmet das Publikum auf. Es ändert sich hierdurch nichts an der Situation im Irak – daher ist es auch kein ‚türkischer Rambo’, dieser hätte gleich noch den gesamten Irak befreit.Nachspann„Tal der Wölfe” hat teilweise exzessiv gewalttätige Sequenzen und ist desinformierend. Dies macht ihm zum Objekt der Medienpädagogik – es wäre wünschenswert, den Film für die rezeptive Medienarbeit mit Jugendlichen einzusetzen, um Problematiken hegemonialer amerikanischer Politik herauszuarbeiten und gerade somit auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund verstehbar zu machen. Hier bieten sich noch zwei Dokumentarfilme an, welche deutlich die Problematik der amerikanischen Invasion und Informationsmanipulation aufzeigen: „Falluja“ (2005) von Toshikuni Doi sowie „Weapons of Mass Deception (2004) von Danny Schechter.
Besondere Aufregung verdient er nicht – er ist ein mittelmäßiger Actionfilm mit (wie viele Filme dieses Genres) platten Attitüden, simplifizierendem Feindbild und heraufstilisierten Gewaltszenen (à la Chuck Norris). Allein der nicht dem ‚klassischen Genre’ entsprechenden Story einen Aufschrei der Empörung entgegen zu bringen ist oberflächlich und in letzter Instanz Kulturchauvinismus. Die westliche Welt hat der arabisch-islamischen Kultur per se den Krieg erklärt – ist es nun verwunderlich, wenn diese sich den Medien der Zeit bedient, um zu antworten?
Tal der Wölfe
Türkei 2006, 122 min.
Regie: Serdar Akar
Darsteller: Necati Şaşmaz (Polat Alemdar), Billy Zane (Sam William Marshall), Ghassan Massoud (Scheich Abdurrahman Halis Kerkuki), Bergüzar Korel (Braut Leyla), Gary Busey (Doktor).
Verleih: MaXXimum Film und Kunst GmbH
Beitrag aus Heft »2006/02: Medien in Familien - Familie in den Medien«
Autor: Alexander Buck
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