Georg Materna: "Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen"
Zur Person
Kiefer, Michael/Hüttermann, Jörg/Dziri, Bacem/Ceylan, Rauf/Roth, Viktoria/Srowig, Fabian/Zick, Andreas (2018). „Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen“. Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp- Gruppe. Wiesbaden: Springer VS., 152 S., 26,99 €.
In pluralen Gesellschaften bilden sich regelmäßig radikale Gruppen, die die bestehende Ordnung mit Gewalt in Frage stellen wollen. Die internen Diskurse dieser Gruppen sowie ihre Radikalisierung nachzuvollziehen, ist für die Wissenschaft aufgrund fehlender empirischer Daten zumeist eine schwere Aufgabe. Das Buch von Kiefer et al. gehört in diesem Kontext zu einer begrüßenswerten Ausnahme. Kiefer et al. lag das Chat-Protokoll (5.757 Postings) der neo-salafistischen WhatsApp-Gruppe „Ansaar Al Khilifat Al Islamiyya“ (Helfer des islamischen Kalifats) vor, die zur Vorbereitung eines Anschlags gegründet wurde, der 2016 drei Menschen zum Teil schwer verletzte. Die Analyse von Kiefer et al. ist auf die Online-Kommunikation der Jugendlichen beschränkt, bietet aber aus medienpädagogischer Sicht einen spannenden Einblick in die Radikalisierungsdynamiken eines medialen Sozialraumes.
Kapitel 1 ist eine religionssoziologische Hinführung von Rauf Ceylan. Ceylan stellt die „Helfer des islamische Staates“ in den historischen Kontext und führt Konzepte wie takfīr ein, mit dem frühislamische Splittergruppen ihre Glaubensbrüder und -schwester zu tötungswürdigen Ungläubigen (kuffār) erklärten. Als zeitnahe Vorgänger der Neo-Salafisten nennt Ceylan muslimische Gelehrte, die am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Kolonialisierung muslimischer Länder durch christliche Besatzer konfrontiert waren. Erneuerung erhofften sich diese Gelehrten in einer Rückbesinnung auf die frommen Altvorderen (as-salaf aṣ-ṣāliḥ).
Ceylan betont jedoch, dass neo-salafistische Gruppen nur durch gebrochene Traditionslinien mit salafistischen Gelehrten in Verbindung gebracht werden können. Vielmehr als islamischen Vorgängern seien neo-salafistische Gruppen modernen Jugendbewegungen ähnlich. Obwohl sie einen islamischen Anspruch proklamieren, basieren neo-salafistische Gruppen nicht auf theologischer Gelehrsamkeit. Vielmehr geht es ihnen um individuelle Emanzipation, die mit religiöser und kultureller Freisetzung parallel verläuft und im Resultat auf Selbsterhöhung abzielt.
Bacem Dziri und Michael Kiefer elaborieren diesen Befund im 2. Kapitel, indem sie die theologischen Diskussionen der Jugendlichen vor einen islamwissenschaftlichen Hintergrund stellen. Dziri/Kiefer behandeln zum Beispiel Fragstellungen nach Arabisch- und Korankenntnissen oder der Meinungsbildung bei rechtlichen Fragen. Je weiter ihre Analyse voranschreitet, desto weniger überrascht die Schlussfolgerung, dass sich die neo-salafistischen Jugendlichen einen „Gruppenkult“ konstruieren, der nach dem „Lego-Baustein-Prinzip“ funktioniert (S. 57). Sie basteln „ihren Islam“ zusammen, wie er ihnen gefällt.
In Kapitel 3 vertiefen Andreas Zick, Viktoria Roth und Fabian Srowig diese Analyse, indem sie herausarbeiten, welche jugendspezifischen Elemente sich in der Online-Radikalisierung zeigen. Sie betrachten die „Helfer des islamischen Staates“ als männerbündische Gleichaltrigengruppe, die ihre jugendliche Sinn- und Identitätssuche mit einer Gemeinschaft und Selbstbewusstsein versprechenden radikalen Ideologie verbindet (S. 63 ff.). Ausgehend von dieser Beschreibung stellen sie heraus, wie sich die Gruppe nach außen abgrenzt oder welche populärkulturellen Jugendelemente in der Kommunikation enthalten sind. Die in diesem Kapitel zitierten Chat-Beiträge nähern sich am eindrücklichsten der Lebenswelt der jungen Neo-Salafisten, zum Beispiel wenn sie über Video-Spiele, Gangsta-Rap oder die Sehnsucht nach Beziehungen zum anderen Geschlecht diskutieren und ihre Gespräche nur durch wiederholte, gegenseitige Ermahnungen erneut auf notwendige Anschlagsvorbereitungen fokussieren können.
Auf die Soziologik dieser Radikalisierungsdynamiken geht Jörg Hüttermann in Kapitel 4 ein, das die neo-salafistische Chat-Gruppe mit dem Naqshbandiyya-Orden vergleicht. Hüttermann stellt beide Gruppen in den Kontext einer entzauberten und individualisierten Welt, in der Jugendliche lernen müssen, mit Sinnverlust und Beliebigkeit umzugehen. In diesem Kontext entsteht eine Sehnsucht nach identitätsstiftender Ursprünglichkeit, argumentiert Hüttermann. Die neo-salafistische Lösung des Problems besteht in einer Selbstreinigung, das heißt in der Vernichtung äußerer Einflüsse. Die Abwertung anderer Muslime (takfīr) wird hier zum zentralen Moment der individuellen Reinigung von schädlichen Einflüssen.
Die gereinigte Selbsterhöhung ließ sich im Fall der neo-salafistischen Jugendgruppe jedoch nur im geschlossenen Chatraum aufrechterhalten. Im „Offline-Leben“ wuchs hingegen der Drang zur radikalen, gewaltsamen Tat (132 ff.). Aus medienpädagogischer Sicht ist Hüttermanns Darstellung interessant, weil sie darauf hindeutet, wie die Aneignung medialer Sozialräume für radikale Zwecke funktionalisiert werden kann. Die jungen Neo-Salafisten lebten ihre Gemeinschaft online, konnten diese aber offline niemals auf dieselbe Weise verwirklichen. Nach Hüttermann ergab sich aus dieser Diskrepanz ein Handlungsdruck, der zur Durchführung des Anschlags beitrug.
Im resümierenden Schlusskapitel betonen Kiefer et al., dass sich die neo-salafistische Chat-Gruppe am besten nicht als Muslime, sondern als Kinder der Moderne verstehen lässt. Die Jugendlichen setzen sich mehr mit der pluralen Moderne und ihren Herausforderungen als mit dem Islam auseinander. Dazu gehört, dass sie ihren Lego-Islam größtenteils mit online rezipierten Inhalten basteln. Zum anderen argumentieren Kiefer et al. dafür, stärker Konzepte der tertiären Prävention, das heißt der De-Radikalisierung, zu entwickeln. Die letzte Forderung arbeiten Kiefer et al. jedoch nicht weiter aus, was angesichts der bis dahin profunden Argumentation bedauerlich ist.
Kiefer et al. legen mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag für die Diskussion um Radikalisierung im Internet vor. Die interdisziplinäre Herangehensweise ist überzeugender Art. Medienpädagoginnen und Medienpädagogen werden kommunikations-, medien- und erziehungswissenschaftliche Fragestellungen vermissen. Ihr Fehlen kann jedoch den Autorinnen und Autoren nicht vorgeworfen werden, sondern zeigt eher die Breite nötiger Herangehensweisen und den Bedarf nach mehr Forschung.
Georg Materna, promovierter Ethnologe, Medienpädagoge und wissenschaftlicher Mitarbeiter im JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Er arbeitet über Fremdheitsdiskurse, Dynamiken von Teilhabe und Ausgrenzung sowie politische Bildung von Jugendlichen in sozialen Medien.