Eric Müller: Von der Schulbank an die Wahlurne …
Zur Person
Schreiter, Annika (2018). Von der Schulbank an die Wahlurne… Politische Kommunikation Jugendlicher im Wandel der Lebenskontexte nach dem Schulabschluss. München: kopaed, 261 S., 22,80 €.
Der Abschluss der Schule stellt in der Biografie von Jugendlichen einen besonderen Übergang dar. In dieser Phase wird ein wichtiger Schritt in das Erwachsenenleben unternommen, indem durch Heranwachsende Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger einer demokratischen Gesellschaft übernommen wird. Außerdem ist der Abschluss der Schule mit einer Reihe von Unsicherheiten verbunden, die die individuelle Lebensführung betreffen. Mit dem Aufgreifen einer Berufsausbildung oder eines Studiums beginnen Jugendliche, ihre Berufsbiografie aktiv zu gestalten. Je nach eingeschlagenem Weg verändern sich auch die Lebenswelten, weshalb mit der Wahl eines Berufs und eines Studiums eine Reihe von Unsicherheiten verbunden ist. Wichtige Orientierungsinstanzen wie Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer und Freunde verändern sich, während sie sich in der Berufsausbildung, im Studium, im freiwilligen sozialen Jahr oder im Auslandsjahr neue soziale Beziehungen und Orientierungen eröffnen.
Annika Schreiter stellt die Frage, wie sich die Entscheidungen im Übergangsprozess auf die politische Kommunikation und Partizipation in den Lebenskontexten von Jugendlichen auswirken. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag, um das Moratorium der Jugend aus der Perspektive der Medienpädagogik und der politischen Sozialisation von Jugendlichen zu entschlüsseln.
Die politische Entwicklung Jugendlicher beschreibt die Autorin mithilfe einer umfassenden Darstellung von Sozialisationstheorien in medialen und politischen Kontexten (Kapitel zwei) und dem aktuellen Forschungsstand der Mediensozialisationsforschung und politischen Sozialisation (Kapitel drei). Politische Identität sieht Schreiter in einem Spannungsfeld aus den Lebenskontexten Schule, Familie und Freundeskreis, in denen Jugendliche aufwachsen einerseits und den persönlichen Entwicklungsbedingungen und Ressourcen, wie Alter, Geschlecht, Entwicklungsaufgaben, kognitiver Entwicklungsstand und Medienrepertoire andererseits (Kapitel vier). Für die empirische Untersuchung hat Schreiter neben zwölf Jugendlichen, die jeweils in drei Interviewwellen vor und nach dem Ende der Schule befragt wurden, zusätzlich deren Lebenskontexte mithilfe einer ebenfalls qualitativen Befragung von Eltern und Lehrerinnen sowie Lehrern erfasst (Kapitel fünf).
Mithilfe dieser gründlichen und umfassenden Datenbasis zur politischen Kommunikation Jugendlicher kann Schreiter einen tiefen Einblick in die Veränderungsprozesse nach der Schule geben. Den Schwerpunkt der Studie legt die Autorin deshalb auf die Darstellung ihrer Ergebnisse und deren Einordnung in den fachlichen Diskurs (Kapitel sechs, sieben und acht). Schreiter arbeitet eine Typologie heraus, mit deren Hilfe die Jugendlichen systematisch hinsichtlich ihrer politischen Identität miteinander in Beziehung gesetzt werden. Während der Typ politikdistanzierter Jugendlicher politische Kommunikation in medialen und interpersonalen Kontexten nicht intendiert und ohne starken eigenen Antrieb betreibt, haben interessierte Beobachter Medienroutinen entwickelt, mit denen es ihnen gelingt, das aktuelle politische Geschehen systematisch zu verfolgen, sich dazu zu positionieren und mit vertrauten Personen darüber zu diskutieren. Gesellschaftlich engagierte Jugendliche zeichnen sich wiederum dadurch aus, dass sie in interpersonalen Kontexten in einem interessierten und engagierten Umfeld über politische Themen diskutieren und eine ausgeprägte Bereitschaft an den Tag legen, sich für ihre politischen Interessen zu engagieren.
Mit Abschluss der Schule verändern sich die Beziehungskonstellationen, die Alltagsroutinen und die räumlichen Bezüge der Jugendlichen, was sich nach Einschätzung der Autorin im sechsten Kapitel als eine räumliche und soziale Verinselung der Lebenskontexte zusammenfassen lässt. Einzig für die Gruppe der politikdistanzierten Jugendlichen bleiben die Lebenskontexte und damit die politische Kommunikation trotz des Übergangs relativ stabil. Für die Gruppe der interessierten Beobachter verändern sich die Lebenskontexte durch den Übergang in das duale Studium. Die räumliche Distanz zum Herkunftsort, neue Beziehungen im Studium und im Beruf und die neuen Zeitstrukturen im Alltag gehen mit einer Veränderung von medialen Rezeptionsroutinen und seltenen Gelegenheiten für politische Diskussionen einher. Für gesellschaftlich engagierte Jugendliche bleiben in der Übergangsphase Onlinemedien wichtige Bezugspunkte um sich zu informieren und zu kommunizieren. In dieser Gruppe entstehen durch das Studium und den Beruf neue politische Interessen. Die Autorin schließt die Arbeit mit zehn pointiert argumentierten Thesen zur politischen Kommunikation Jugendlicher.
Schreiter gelingt es im Rahmen ihrer Dissertationsarbeit, die Bedeutung der Lebenskontexte von Jugendlichen für die politische Kommunikation und alltägliche Medienroutinen von Jugendlichen herauszuarbeiten. Die Stärken der Darstellungen liegen in der umfangreichen Datenbasis sowie in der, durch den Rückgriff auf Originalzitate nachvollziehbaren und validen Darstellungen der Ergebnisse. Besonders hervorzuheben ist die Leistung, die politische Identitätsbildung Jugendlicher über mediale Bezüge hinaus in den soziokulturellen Lebenskontexten einzubetten und eine prozessuale Perspektive auf die Identitätsentwicklung zu Bürgerinnen und Bürgern einer demokratischen Gesellschaft zu eröffnen. Die Darstellungen bleiben weitgehend beschreibend, an den Aussagen der Jugendlichen interessiert und dadurch nicht theoretisch überdehnt. Hierdurch eröffnet sich für die medienpädagogische Forschung ein integratives Verständnis von Sozialisation, in dem Medien als Teil der politischen Sozialisation von Jugendlichen verortet werden. Eine in der Medienpädagogik eingehend untersuchte Gruppe von routinierten und engagierten Jugendlichen wird damit um neue Erkenntnisse ergänzt. Die Frage, wie sozial benachteiligte Jugendliche aus prekären Milieus mit geringen Teilhabechancen am Arbeitsmarkt und hohen Exklusionsrisiken politisch kommunizieren, bleibt hingegen offen.
Insgesamt leistet Schreiters Arbeit einen wichtigen Beitrag für die medienpädagogische und die politische Partizipationsforschung. Mit dem Baustein der politischen Kommunikation in der Übergangsphase nach der Schule schließt die Autorin eine Lücke im wissenschaftlichen Diskurs und bietet durch die klaren und detailreichen Darstellungen auch für die Praxis der Medienpädagogik und der politischen Bildung wichtige Impulse.