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Markus Achatz: Zur Definition von Kindheit.

    Zur Person

    „Sobald es dunkel im Kino wird, geht es auf leisen Pfoten in neue Lebenswelten“. Maryanne Redpath, Leiterin der Kinder- und Jugendfilmsparte GENERATION der Berlinale, umschreibt die Faszination Kino in ihrer Einführung zum diesjährigen Festival. Das Spektrum der Helden, Superhelden und Antihelden in den Kinderfilmen der 61. Internationalen Filmfestspiele in Berlin war sehr breit und die Geschichten ermöglichten dem jungen Publikum Reisen in ferne Länder und gaben neue Einblicke in scheinbar vertraute Umgebungen. Auch in diesem Jahr scheuten sich die Veranstalter nicht vor der Auswahl schwieriger und problembeladener Themen, die sich nicht immer in ein gutes Ende auflösten und die offene Fragen der jüngsten Zuschauerinnen und Zuschauer bisweilen nicht zu beantworten vermochten.

    Dennoch machten die GENERATION-Beiträge 2011 auch viele Türen zu neuen und anderen Welten auf und boten dem jungen Publikum teils einzigartige Kinoerfahrungen.Hadikduk HapnimiAls durchaus ‚sperrig’, aber nicht minder fesselnd kann der israelische Film Hadikduk Hapnimi (Der Kindheitserfinder, Israel 2010) beschrieben werden. Regisseur Nir Bergman hat den gleichnamigen Roman des Schriftstellers David Grossman inszeniert. Bergman ist es gelungen, das Poetische und Parabelhafte des Buches auf die Leinwand zu übertragen. Für Kinder ab zwölf Jahren sicher kein einfacher Stoff. Bergman betont aber auch, diesen Film nicht speziell für ein junges Publikum gemacht zu haben. Zu komplex und zu tiefgründig sind die Gedanken und Erinnerungen Grossmans. Der Autor ist in seinem Heimatland eine feste Größe der zeitgenössischen Literatur und hat in zahlreichen Veröffentlichungen die Traumata des Holocaust zum Thema gemacht. Der Kindheitserfinder erschien in Israel 1991 und ist im Gegensatz zu einigen anderen Veröffentlichungen Grossmans, wie Joram und der Zauberhut (dt. 1998) oder Zickzackkind (dt. 1996), kein ausgesprochenes Jugendbuch. 2010 erhielt Grossman den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

    Der Kindheitserfinder versetzt uns ins Jerusalem der frühen 1960er Jahre. Im Mikrokosmos einer Wohnsiedlung werden drei Jahre im Leben des Jugendlichen Ahron Kleinfeld erzählt. Ahrons Vater war in einem Konzentrationslager, die Großmutter wurde während des Krieges geisteskrank und für die Mutter scheint das Leben noch immer wie ein Krieg zu sein. Ahrons Gefühlsleben ist völlig durcheinander. Freundschaften, Verliebtsein, Erwachsenwerden – all das bricht über ihn herein. Zu allem Überfluss hat er auch noch aufgehört zu wachsen und muss herausfinden, was gut daran ist, dass sich alles verändert. In seiner Welt sind nur die ältere Schwester Yochi und sein bester Freund Gidon so etwas wie Vertraute. Doch Gidon scheint sich auch zu verändern. Vor allem als Yaeli, ein Mädchen aus der Parallelklasse, in ihr Leben tritt. Yaeli geht Ahron nicht aus dem Kopf. In seiner Schüchternheit schafft er es nur mit Hilfe von Gidon, sich mit Yaeli zu verabreden. Sie treffen sich zu dritt, doch anders als zu Beginn ihrer Begegnungen, verliert Ahron den Anschluss an Yaelis und Gidons Gespräche und Gedanken. Er verharrt mehr in seinen kindlichen Träumen und Sehnsüchten. Ahron kämpft für das Bewahren eines Teils seiner Kindheit, denn er möchte nicht werden wie seine Eltern. Für ihn sind die Momente wichtig, in denen er selbst entscheidet, wann es mehr um Träume und Sehnsüchte gehen soll. Diese will er nicht verlieren, so wie seine geheimen Zeichen mit Gidon. Niemand sonst vermag sie zu deuten: Eine Münze im Elektrizitätskasten vor dem Haus, eine verschobene Holzlatte an der Parkbank oder ein Lichtreflex mit dem Spiegel ins Zimmer des anderen. Der gesamte Film bewegt sich stets innerhalb der Enge der Siedlung. Manche verlassen zwar ihre Häuser und gehen zur Arbeit oder wohinauch- immer, das Publikum bleibt aber – so wie Ahron. Manchmal stehlen sich Ahron und Gidon heimlich in die Wohnung der Nachbarin Fräulein Blum voller Bücher, Gemälde und Musikinstrumente. Nicht nur Ahrons Welt, sondern vor allem die des Vaters und langsam auch aller anderen, gerät gehörig ins Schwanken, als Fräulein Blum den Vater darum bittet, in ihrer Wohnung eine Wand herauszureißen.

    Grossmans Bücher zu verfilmen ist eine schwierige Aufgabe und es war richtig, diese an den 41-jährigen Nir Bergman zu geben. Nach mehreren Kurzfilmen und Episoden für israelische TV-Serien sorgte Bergman mit seinem Kinodebüt Knafayim Shvurot (Broken Wings) 2002 für Furore. Der Film lief im Panorama der Berlinale 2003 und erhielt weltweit zahlreiche Auszeichnungen. Damals wie auch jetzt in Hadikduk Hapnimi hat Bergman die Rolle der Mutter mit Orly Zilbershatz besetzt, die herausragend spielt.Jutro Będzie Lepiej

    Eine ganz auf Empathie und Freiraum angelegte Form von Kindheit vereinen alle Filme der polnischen Regisseurin Dorota Kędzierzawska. Kaum eine andere europäische Filmemacherin traut ihren kindlichen Hauptfiguren so viel zu. Ihr mit Spannung erwarteter neuer Film knüpft an das tiefe Verständnis für das Denken und Handeln Heranwachsender aus den vorherigen Werken – wie Wrony (Die Krähen, 1994) oder Jestem (Ich bin, 2007) – an. Mit Jutro Będzie Lepiej (Morgen wird alles besser, Polen/Japan 2010) ist der 53-Jährigen wieder ein herausragender Film gelungen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, Produzenten und Kameramann Arthur Reinhart erzählt sie in opulenten Bildern von der Flucht dreier Brüder. Die Geschichte beginnt, als die Jungen schon unterwegs sind. Woher sie kommen und wohin sie wollen, erschließt sich erst nach und nach. Ab der ersten Einstellung sind die Zuschauerinnen und Zuschauer nah dran an diesen Jungen – vor allem an Petya, dem Jüngsten der drei, so als würden sie ihn schon lange kennen. Petya ist sechs Jahre alt, ein obdachloses Straßenkind, unterwegs mit seinem elfjährigen Bruder Vasya und dessen Freund Lyapa. Die beiden älteren Jungen hecken einen Plan aus. Wenn dieser aufgeht, wird alles besser werden. Im Verborgenen schlagen sie sich durch, erst in einem Güterzug, später zu Fuß durch einsame Landstriche. Die Reise ist eine Suche nach einer neuen Heimat, nach einem besseren Leben. Die Jungs sind sich selbst gegenüber hart und wissen, dass sie nur weiterkommen, wenn sie zusammenhalten. Der Kleine wird von den Großen regelmäßig ausgeschmiert, aber sie würden ihn tatsächlich nie zurücklassen.

    Die Spannung steigt, als die drei Kinder zum hochgesicherten Grenzstreifen gelangen, der von Russland nach Polen führt. Die Regisseurin scheint sich ganz auf ihre Charaktere zu verlassen. Alles in Jutro Będzie Lepiej fokussiert sich auf die Jungen. Die Kamera begleitet die Kinder eher, als dass die Geschehnisse inszeniert wirken. Mit Ausnahme von Licht und Farben, denn diese sind großes Kino und verhelfen der Landschaft im nordöstlichen Grenzgebiet Polens ebenfalls zu einer Hauptrolle. Die Geschichte soll wirklich passiert sein, so Dorota Kędzierzawska, wobei es keine Rolle spiele, ob es genau so war. Entscheidend sei der unbedingte Wille der Drei, ihr tristes Dasein zu verlassen – einzig geschürt durch die Hoffnung, dass es irgendwo einen besseren Ort gibt.

    Eine ausdrucksvolle Interpretation des Wandels der Kindheit ist die Szene, als die drei nachts in einem Güterwaggon liegen. Der Zug hält an einem unbekannten Ort und gibt für Vasya den Blick durch eine Ritze frei auf eine beleuchtete Wohnung. Hinter einem Fenster geht eine Mutter mit einem schlafenden Kind auf und ab. Sie wiegt und liebkost das Kind, während Vasya den in seinen Armen schlafenden Petya betrachtet und ihn fest an sich drückt. Jutro Będzie Lepiej erhielt 2011 sowohl den Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks für den besten Spielfilm (vergeben durch die internationale GENERATION Kplus-Jury) als auch den Friedensfilmpreis 2011, der im Rahmen der Berlinale verliehen wird.

    Aus der Jurybegründung: „Mit eindringlichen und poetischen Bildern erzählt die polnische Regisseurin Dorota Kędzierzawska dieses so bittere Märchen unserer heutigen Realität. Mit den Augen der Kinder entlarvt sie die harte Welt der Erwachsenen und der von ihnen gezogenen Grenzen. Und Petya, der Sechsjährige, durchleuchtet die Welt – direkt ins Herz.“ Deutlicher als während früherer Festivals wurde in diesem Jahr diskutiert, was dem jungen Kinopublikum zuzumuten ist und was nicht. Die Debatte ist nicht neu, hat aber mit einigen Beiträgen im GENERATION -Wettbewerb der 61. Berlinale ein breiteres öffentliches Interesse generiert. Vielleicht ist gerade das als ein wichtiges und positives Signal für die Nische ‚Kinderkino’ zu werten. Im Vorfeld hatte Maryanne Redpath bereits angedeutet, dass die jungen Protagonistinnen und Protagonisten in den diesjährigen Programmen Kplus und 14plus riskant leben würden, ganz egal woher sie kämen und wo sie sich befänden. Davon, wie Heranwachsende ihre Grenzen testen, sich in Fantasiewelten träumen oder sich teils gefährliche Zufluchtsorte suchen, handeln die Geschichten aus 30 Ländern. „Heranwachsen verlangt Wagemut. Selten gab es so viele Filme, die derart radikal davon erzählen“, so Redpath. Diesen Wagemut forderte die Veranstaltung auch von ihrem Publikum.

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