Nicole Lohfink
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- Nicole Lohfink: nachgefragt: Maryanne Redpath, Leiterin der Sektion Generation der Berlinale
Nicole Lohfink: nachgefragt: Maryanne Redpath, Leiterin der Sektion Generation der Berlinale
Nicole Lohfink hat mit Maryanne Redpath, Leiterin der Sektion GENERATION der Internationalen Filmfestspiele Berlin, über das Profil der Sektion Kinder- und Jugendfilme, die wirtschaftliche Wirklichkeit sowie das Genre Film und dessen Bedeutung für junge Menschen gesprochen.
merz Sie sind bereits seit über 20 Jahren mit dem Festival verbunden. Wenn man so viele Jahre Zeit hat, eine Sektion wachsen zu lassen, was kann man über den Verlauf der Entwicklung sagen?
Redpath Sie ist nicht linear gelaufen. Die Sektion fing vor 41 Jahren an und hieß Kino für Leute ab sechs Jahren, was kein gängiger, attraktiver Titel für eine Sektion innerhalb eines großen Festivals ist. Mit den Kindern wurde damals sehr pädagogisch gearbeitet und nach zwei, drei Jahren wurde gesagt‚ ein Kino ist viel mehr, als Kinder immer wieder zu fragen, was sie aus dem Film gelernt haben‘. Ab ca. 1981 entschied man sich daher für den Namen Kinderfilmfest. Ich bin Mitte der 90er Jahre dazugestoßen. Wir haben immer herausfordernde Filme für junge Menschen gezeigt, mit ganz präzisen, vorsichtig ausgedachten Altersempfehlungen, die nach oben offen sind. Anfang der 2000er haben wir über einen weiteren Wettbewerb diskutiert, denn viele Filme waren nicht ganz für die Altersgruppen geeignet und hätten den Rahmen des Kinderfilmfestivals gesprengt. Am Ende wurde daraus die Idee, dass das Kinderfilmfest zu Kplus wird, dazu haben wir 14plus, und die Überschrift für der Sektion heißt GENERATION. Es steigert die Auswahl für den zweiten Wettbewerb, was natürlich viel mehr Arbeit macht, der Sektion aber auch mehr Aufmerksamkeit eingebracht hat, in der deutschen Filmbranche und international. Und es hat sowohl den unter Achtjährigen, als auch den Ab-14-Jährigen ermöglicht, ein Zuhause innerhalb des Festivals zu finden.
merz Es gibt viele Filme, die aus Erwachsenensicht über Kinder erzählen und moralisieren. Es ist manchmal schwer, Filme für Kinder zu finden. Wie entwickelt sich Kplus aus dieser Perspektive?
Redpath Wir suchen eigentlich immer Filme, die mit Kindern sind, nicht über Kinder. ‚Mit‘ heißt Filme, die dann mehr auf Augenhöhe sind. Wir haben Filme, die man Kinderfilm nennen kann. Aber es gibt auch sehr viele, die nicht ausschließlich für Kinder oder für junge Menschen gemacht sind. Das heißt, dass auch ältere Menschen zu den Kplus-Filmen kommen und ebenfalls etwas für sich entdecken. Das ist diese feine Linie, die wir da fahren.
merz Welche Filme meinen Sie?
Redpath Es sind nicht immer richtige Kinderfilme, in dem Sinne, wie wir dieses Label ‚Kinderfilm‘ verstehen. In der Filmindustrie und auch in der Welt heißt Kinderfilm eigentlich, dass sich ein Film richtig ‚gut benimmt‘, so wie sich ein Kind gut benehmen soll – mit einem Anfang, einer Mitte und einem Happy End. Viele Filme, die wir zeigen, halten sich nicht an diese Regeln. Das junge Publikum, das zu Kplus kommt, begrüßt die Möglichkeit, Filme zu sehen, die sie vielleicht normalerweise nicht in den Kinos sehen werden, aus vielen verschiedenen Ländern dieser Welt, wo es manchmal um Herausforderungen im Leben geht, die man vielleicht nicht in einem Kinderfilm erwartet.
merz Es kommt häufig vor, dass Filme mit Kindern und Jugendlichen als Protagonistinnen und Protagonisten als Kinderfilm abgestempelt werden und sozusagen die Konnotation ‚weniger bedeutsam‘ erhalten. Was sind Ihre Erfahrungen?
Redpath Es hängt davon ab, mit wem ich rede. Es gibt einen wahnsinnig schönen Diskurs mit unserer Zuschauergeneration Kplus und 14plus über die Filme, die sie sehen. Das überrascht manchmal die Filmemacher, die sagen, dass sie gar keinen Kinderfilm gemacht haben. Ich sage wiederum ‚entdecken Sie bitte auch das junge Publikum für Ihren Film‘. Alle Filme, die bei GENERATION laufen, sind auf Festivals weltweit eingeladen. Das ist überhaupt kein Problem und normal. Aber, dass sie dann die Möglichkeit haben, hier in Deutschland in die Kinos zu kommen, ist schwierig. Da müssen sehr viele Sachen passieren und es ist ein schwieriger Schritt für die Industrie.
merz Warum, glauben Sie, ist das so?
Redpath Es geht um das Verständnis, um Geldfreiheit, um die Frage, ob junge Menschen das Geld in die Kinos bringen. Es ist ein Business. Man behauptet, dass junge Menschen nicht mehr ins Kino gehen, dass sie zu Hause sitzen und ihre Computer angucken. Ich sehe Jahr für Jahr bei GENERATION, dass das nicht der Fall ist. Wenn sie ein Angebot von guten Filmen haben, dann kommen Zehntausende zu uns, engagieren sich mit den Filmemachern und nehmen am Festival teil. Sie sind hungrig danach und geben wiederum den Filmemacher und Filmemacherinnen Anstöße, wie sie die gesehenen Filme verstehen und wahrnehmen. Das ist ein sehr interessanter Prozess, der im Rahmen des Festivals passiert. Da gibt es zwischen Festival-Arbeit und -Vorführung und den Vorführungen im normalen Kino ein Riesenloch. Wir werden nicht müde, Verleiher und Produzenten anzusprechen, wie sie Filme, die keine große Marketingstrategie ausschließlich für Kinder oder Familien haben, intelligent für ein junges Publikum vermarkten können. Aber die Sachen bewegen sich ziemlich langsam.
merz Welche Bedeutung haben Kinder und Jugendliche als Protagonistinnen und Protagonisten für den Film?
Redpath Eine große Bedeutung. Oft sind es Laiendarsteller, die das erste Mal vor der Kamera spielen. Wenn der Regisseur oder die Regisseurin dann klug mit diesen jungen Menschen im Rahmen der Geschichte und der Handlung umgeht, werden wir als Zuschauer von diesen jungen Menschen in eine Welt eingeladen. Welche Präsenz diese jungen Menschen auf der Leinwand haben, ist wichtig, und, dass wir ihre Welt durch ihre Augen und ihre Perspektive als Zuschauer erleben dürfen. Die Kinder drehen die Filme nicht. Es sind auch keine Kinder, die das Festival dann organisieren. Wir können nur offen sein für das, was von jungen Menschen kommt.
merz Ein anderer Teilbereich, der dieses Jahr spannend war, betrifft weibliche Helden und weibliche Beteiligung im Filmbereich. Spiegelt sich das Thema mittlerweile auch in den Filmen wieder, also zum Beispiel die Anzahl weiblicher Protagonistinnen?
Redpath Der Anteil weiblicher Regisseurinnen bei GENERATION lag in diesem Jahr bei beiden Wettbewerben bei 51 Prozent. Wir haben nicht bewusst nach Frauenfilmen von Frauen gesucht, aber das hat sich ergeben. Wir beteiligen uns natürlich auch an dieser Debatte. Auch, was die Darstellung und Bedeutung von Mädchen und jungen Frauen in den Filmen, die wir zeigen, angeht. In unseren Filmen gibt es für die jugendlichen Menschen gute, interessante und herausfordernde Rollenmodelle – positiv wie negativ, aber auch männlich und weiblich –, die einen Anstoß zum Reflektieren, Wahrnehmen und Diskutieren geben. Das ist etwas, was Kino für alle Menschen und auch für junge Menschen machen kann.
Beitrag aus Heft »2018/02 Kita digital: Frühe Medienerziehung«
Autor: Nicole Lohfink
Beitrag als PDF - Nicole Lohfink/Markus Achatz: Filmfestival inmitten gesellschaftlicher Krisen - Berlinale 2023
Nicole Lohfink/Markus Achatz: Filmfestival inmitten gesellschaftlicher Krisen - Berlinale 2023
Nach zwei coronabedingt veränderten Jahren wollten die Internationalen Filmfestspiele in Berlin wieder durchstarten und mit dem Motto ‚Let’s get together‘ zu alter bzw. neuer Form finden. Filmteams reisten aus aller Welt an und waren bei den Premieren anwesend. Besonders politisch wollte die Leitung unter Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian deutliche Zeichen setzen und insbesondere die Kunst – und den Film als Mittel der Kunst – in ihrer gesellschaftlich wichtigen Rolle hervorheben. Politische Krisen spiegelten sich sowohl in der Eröffnung als auch im Programm der Sektionen wider: beginnend mit dem Krieg in der Ukraine, über die schwierige Situation im Iran, bis hin zum Schicksal der Kurd*innen und der Belagerung von Sarajewo im Balkankrieg der 1990er-Jahre. Das aktuelle Zeitgeschehen kam bereits zum Festivalauftakt mit einer Live-Video-Zuschaltung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi direkt in die Kinosäle. Kriegsgeschehen und gesellschaftliche Umbrüche sowie grundlegende gesellschaftliche Fragen dominierten das Festival. Das Angebot zeigte vielfach Widersprüchlichkeiten, Brüche und harte Realitäten auf. Geradezu als ‚Gegenbilder‘ zum Gewohnten waren einige Filme eine Demonstration von Sprachlosigkeit, indem sie Botschaften mal gänzlich und mal in Passagen ohne Worte transportierten.
SPRACHLOSIGKEIT ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION
Survival of Kindness von Rolf de Heer
„Nach dem Verlust der Vernunft kommt das Überleben der Freundlichkeit“ titelt der Film aus dem BERLINALE WETTBEWERB. Stille und Sprache als etwas Befremdliches dominieren hier. Eine absurd anmutende Welt, in der gesprochene Worte nicht verständlich, Geräusche jedoch wichtige Orientierungspunkte für das Überleben sind und ganz offenkundig Feindschaft vorherrscht. Die Protagonistin beginnt ihre Reise in Gefangenschaft und das Publikum folgt ihr bei ihrem Ringen um Freiheit auf ihrem Weg zurück in ihre Heimat, zu einer Zukunft, in der die Freundlichkeit noch existiert. In langen, intensiven Bildern durchwandert die Figur dabei die Umgebung, erlebt kurze zwischenmenschliche Begegnungen, entwickelt Achtsamkeit und Überlebenskunst. Die Bedrohung ist allgegenwärtig, ihre Hautfarbe ist der Verräter und kann nur mit Schminke und einer Gasmaske oberflächlich verborgen werden. Nur kurz erleben die Zuschauenden mit ihr so etwas wie eine Idylle, wenn sie etwa inmitten unberührter Natur an einem See sitzend ihr Gesicht in die Sonne hält. Das Ziel entpuppt sich als eine in eine Industrie-Wüste verwandelte Stadt in Feindeshand, die Heimat ist verloren und symbolisch verbrennt die Protagonistin eine Spielzeug-Flagge – ein Abschied. Erneut entkommt sie und macht sich auf den Weg. Nur einmal im Film kommt es zu einem echten Austausch von Worten zwischen der Protagonistin und einem anderen Mädchen. Beide sprechen unterschiedliche Sprachen, es gibt keine Untertitel für die Zuschauenden; somit sitzen alle im gleichen Boot. Es wird in dieser Szene deutlich, dass es auch ein Verständnis über Worte hinaus gibt. Der Rückweg der Protagonistin wird nicht mehr von steter Wachsamkeit überschattet. Am Ende sind es die unerfüllten Sehnsüchte und Vorstellungen, die das Geschehen steuern und noch ein letztes Mal Widerstand leisten. Survival of Kindness ist ein bildgewaltiger Film, der durch die Kameraführung und den Umgang mit Audio eine magnetisierende Dystopie entwirft und gleichzeitig den Fokus auf das Ungesagte und dessen ungeahnte Möglichkeiten lenkt.Im toten Winkel von Ayşe Polat
Der Film der kurdisch-deutschen Regisseurin Ayşe Polat (aus dem Nebenwettbewerb ENCOUNTERS) macht die sechsjährige Melek, die kaum spricht, deren Blick aber durch Mark und Bein geht, zu einer Schlüsselfigur einer Geschichte über Schicksal und Traumata kurdischer Familien in der Türkei. Im Thrillerformat erzeugt Polat mehrere filmische Ebenen: zum einen als Actionkrimi zwischen wütenden Attentaten, geheimnisvollen Überwachungen und Mystery-Elementen. Melek scheint hellseherische Fähigkeiten zu besitzen und weiß Dinge, die sie mit ihren sechs Jahren eigentlich nicht wissen kann. Zum anderen der Film-im-Film durch das Drehen einer Dokumentation der deutschen Filmemacherin Simone im Nordosten der Türkei. Drittens das Doku-Material, das Portrait der kurdischen Frau Hatice, die ihren Sohn verloren hat. Seit dieser vor rund 25 Jahren nicht mehr nach Hause gekommen ist, kocht Hatice jeden Freitag eine Suppe für ihn und verteilt sie im Dorf. Die Schaffung ‚imaginärer Denkmäler‘ ist der Antrieb für Simones Dokumentation und basiert gleichzeitig auf der wahren Begebenheit, dass insbesondere in den 1990er-Jahren eine Vielzahl an jungen Kurd*innen spurlos verschwand. Bis heute demonstrieren die sogenannten ‚Samstagsmütter‘ in Istanbul, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Mit komplexen Perspektivwechseln zwischen den Fronten, geisterhaften Szenarien und nüchternen Überwachungsaufnahmen im ‚Blickwechsel‘ mit Melek, die als einzige die Kameras schon längst entdeckt hat, ist Ayşe Polat ein raffinierter Film gelungen. Sie schildert die Paranoia von Überwachung und Verfolgung und präsentiert gleichzeitig ein authentisches Sozialdrama.VERLUST UND MEER
Sica von Carla Subirana
Die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion interessiert auch die spanische Regisseurin Carla Subirana. Ihr Spielfilm Sica (Weltpremiere bei GENERATION 14plus) wurde an der Küste Galiciens mit Lai*innen aus der Region gedreht. Die 14-jährige Sica hat ihren Vater verloren, der mit einer Fischer-Crew im Meer ertrunken ist. Ständig sucht sie das Meeresufer nach ihm ab. Es heißt, es blieben sieben Tage, bis das Meer seine Opfer zurückbringe. Wenn sie bis dahin nicht kämen, tot oder lebendig, behalte das Meer sie für immer. Nach dem tragischen Ereignis muss Sica sich im Ort auf neue Art behaupten und ein schwerer Zyklon steht bevor. Die Story bewegt sich zwischen der Naturgewalt der Costa del Morte und dem Mikrokosmos eines ärmlichen Fischerdorfs. Ein ruhiger, teils poetischer Film mit beeindruckenden Hauptdarstellerinnen (Sica und ihre Mutter), der streckenweise die zwischenmenschlichen Beziehungen Sicas tiefer hätte inszenieren können.Zeevonk von Domien Huyghe
Die Symbolhaftigkeit des Meeres durchzieht auch Zeevonk (Meeresleuchten), den Eröffnungsfilm und ein Highlight im GENERATION Programmsegment Kplus des belgischen Filme-
machers Domien Huyghe. Auch hier ist ein Fischerboot auf dem Meer verschollen und die 12-jährige Lena und ihre beste Freundin Kaz haben ihre Väter darin verloren. In den ersten
Minuten werden Lenas unbeschwerte Kindheit und ihre Liebe zum Meer und zu ihrem Vater eingeführt, ehe in einem jähen Szenenwechsel die Trauerfeier auf See den tragischen Tod der Seeleute ins Zentrum rückt. Lena sieht einen riesigen schwarzen Schatten unter dem Boot tauchen und ist überzeugt, dass ein Seeungeheuer für den Tod des Vaters verantwortlich ist. Auf dem Grat zwischen Kindheit und Erwachsenwerden erscheint Lena die mystische Variante des Monsters greifbarer, als den realen Tod des Vaters zu akzeptieren. Der Film konzentriert sich stark auf die Hauptprotagonistin, die beinahe wie im Wahn an der Idee der bösen Kreatur festhält. In diesem Sinne wird Zeevonk zu einer Fabel. Lenas Handeln wird egozentrischer und ungerecht gegenüber anderen, die ebenfalls mit Trauer und Verlust umgehen müssen. Dabei behält die Inszenierung Lenas Mutter, Geschwister sowie auch die beste Freundin Kaz und deren Familie immer im Auge. Das Meer in seiner Symbolik bleibt die unergründliche Konstante: mächtig, unbezähmbar, aber auch Lebensgrundlage der Fischerfamilien. Das Drehbuch haben Regisseur Domien Huyghe und seine Schwester Wendy gemeinsam geschrieben und den Verlust des eigenen Vaters in jungen Jahren autobiographisch einfließen lassen. Zeevonk ist ein eindrücklicher Jugendfilm, der verstärkt wird durch die schauspielerische Leistung von Saar Rogiers (Lena), den Soundtrack und die tolle Kameraarbeit von Anton Mertens.TRAUERBEWÄLTIGUNG UND SINNSUCHE
Samsara von Lois Patiño
Der Abschied von geliebten Menschen, das Leben nach dem Tod, was passiert mit der Seele des Menschen ... In Samsara sind diese Fragen zentral und das Publikum darf das Sterben und die Wiedergeburt auf ungewöhnliche Weise begleiten. Eine alte Frau bereitet sich auf ihren Tod vor und ein Junge liest ihr gemäß eines Ritus’ aus einem Buch mit buddhistischen Lehren vor. In Gesprächen zwischen den beiden erfahren die Zusehenden etwas über den buddhistischen Übertritt, wie er in Laos verstanden wird; über den Weg sowie über die Wünsche der alten Frau für ihre Wiedergeburt. Als es soweit ist, kommt der Übertritt und für die Kinobesucher*innen ist es eine ungewöhnliche, experimentelle auditiv-visuelle Erfahrung. Ein spiritueller Film, der zugleich die Seh-
gewohnheiten und die spirituelle Erwartung und Erfahrung des Publikums nutzt und damit spielt.Dancing Queen von Aurora Gossé
Mina hat Spaß am Lernen, einen besten Freund, eine coole Großmutter und verständnisvolle Eltern. Als ein neuer, tanzbegeisterter Schüler auftaucht, ist sie voller Aufregung. Sie beginnt ebenfalls zu tanzen, koste es, was es wolle und wird dabei immer von ihrer Großmutter bestätigt. In ihrer Begeisterung weckt Mina auch bei ihrem besten Freund die Tanzfreude, verliert sich aber auch in ihren und den Ansprüchen anderer an sie. Auch hier ist ihre Großmutter diejenige, die Orientierung gibt. Am Ende macht Mina das Beste aus den Erfahrungen und gewinnt an Vielfalt, Nähe, Freundschaft und der Liebe zum Tanz. Der Film beleuchtet Themen des Erwachsenwerdens wie Eigen- und Fremd-Wahrnehmung, die Suche nach den eigenen Wünschen, das Streben nach äußerlichen Idealen, aber auch das Überwinden von Schwächen und Ängsten und die Wichtigkeit von Bezugspersonen, die Halt geben können. IhreOma hilft Mina beim Ausprobieren ihrer heimlichen Leidenschaft, bestärkt sie im Scheitern und im Dazugewinnen. Vor allem bestärkt sie Minas Weg der Selbstfindung. In klarer Erzählstruktur und mit viel Situationskomik entwickelt sich Minas Geschichte und die Liebe zur Großmutter kommt in einer bodenständigen Poetik zum Ausdruck. Ein Wohlfühl-Film mit glaubwürdiger Botschaft.KAMMERSPIEL MIT KAKTUS
Adolfo von Sofía Auza
Ein Kaktus ist nicht schön, aber sehr robust. Anders als die beiden jungen Filmfiguren, die sich an einer abgelegenen Bushaltestelle irgendwo im Nirgendwo begegnen. Momo sitzt mit ihrem Skateboard auf der einen Straßenseite. Am Bushäuschen auf der anderen Seite zischt ein Bus vorbei – der letzte für heute. Hugo hat ihn verpasst. Damit beginnt die Story von Adolfo der mexikanischen Regisseurin Sofía Auza. Die beiden unterhalten sich – zunächst über die Straße hinweg. Momo will zu einer Geburtstagsparty und ist gerade aus einer Rehaklinik zurück. Hugo hat einen Kaktus in der Hand und ist auf dem Weg zur Beerdigung seines Vaters. Alles, was er ihm vermacht hat, ist ein Zettel mit der Bitte, für Adolfo ein neues zu Hause zu finden: Adolfo ist der Kaktus. Wir begleiten Momo und Hugo durch die Nacht bis zum ersten Bus. Sofía Auza hat großartige Dialoge geschaffen. Die Ästhetik aus Licht, Farben und dem quadratischen Bildformat ist faszinierend. Ein Kammerspiel mit zwei sehr starken Charakteren und einer heimlichen Hauptrolle: dem Kaktus Adolfo. Die Geschichte ist warmherzig, manchmal sehr lustig und im nächsten Moment wieder nachdenklich und traurig. Sie könnte überall auf der Welt spielen. Im Zentrum stehen die Gefühle, Gedanken und Sehnsüchte der beiden Jugendlichen und die global gültige Sensibilität macht Adolfo zu einem ganz besonderen Film. Verdient erhielt er den Gläsernen Bären für den besten Film der 14plus-Jugendjury.LEBEN(S)GESCHICHTE
Ha'mishlahat (Delegation) von Asaf Saban
Auf Klassenfahrt – Freundschaften werden erforscht, neu gebildet, Grenzen ausgetestet. Nur geht es auch darum, Gedenkstätten des Holocaust zu besuchen und in geschichtliche Gräuel einzutauchen, die beinahe unvorstellbar sind. Ein Zeitzeuge reist mit, um aus erster Hand zu berichten, die Lehrer*innen haben klare Vorstellungen, wie sich dem Thema genähert werden soll; auch, welche Wirkung bei den Schüler*innen erwünscht ist. Die persönlichen Themen der Jugendlichen finden dazwischen statt. Ein Thema, das zunächst schwere Erwartungen weckt, wird hier mit der Unmittelbarkeit der Erfahrungen Jugendlicher verknüpft. Ein Freundes-Trio steht dabei im Mittelpunkt. Aus verschiedenen Perspektiven werden erste Liebe, Facetten von Freundschaft und die Auseinandersetzung mit einer zutiefst persönlichen Verfolgungsgeschichte thematisiert. Dabei suchen die Jugendlichen nach ihrer eigenen Weise, mit dem Geschehen umzugehen. So werden mit einem dramaturgischen Kniff Erwartungshaltungen unterlaufen und ein anderer Blickwinkel eröffnet sich. Der verwunderte Blick auf politisches Gebaren eines der Protagonisten, als er Verursacher und alleiniger Ehrengast einer Impromptu-Gedenkfeier wird, lässt auch das Publikum neu hinsehen und seine Suche besser nachvollziehen. Schauspielerisch stark zeichnen sich die Erfahrungsschritte in den Gesichtern der Protagonist*innen ab. Ein einfühlsamer Film über die jugendliche Welt und die Orientierungssuche unabhängig von den Erwartungen Erwachsener. Ein nachdrücklicher Film auch angesichts dessen, dass der israelische Produzent Yoav Roeh beim Screening auf die aktuelle, prekäre politische Lage in Israel hingewiesen hat. - Nicole Lohfink: nachgefragt: Maryanne Redpath, Leiterin Sektion Generation der Berlinale
Nicole Lohfink: nachgefragt: Maryanne Redpath, Leiterin Sektion Generation der Berlinale
Abschied von der Berlinale – mit einem 20-jährigen Jubiläum als Leiterin der Sektion Generation beendet Maryanne Redpath ihre Arbeit beim internationalen Filmfestival. Schon 1993 war sie das erste Mal bei der Berlinale tätig, seit 2002 dann als Leiterin des Kinder- und Jugendfilm-Segments. Das Aufgreifen der Lebenswelt junger Menschen über das Medium Film war schon immer ein Schwerpunkt ihrer Arbeit. Sie hat viele Entwicklungen der Sektion begleitet und Formate angestoßen, um das junge Publikum mit seinen Fragen und Interessen mitzunehmen.
merzIm letzten Jahr war die Berlinale pandemiebedingt zweigeteilt, ein Online-Teil zum gewohnten Zeitpunkt und im Sommer die Open Air Veranstaltungen vor Ort. Auch dieses Jahr musste das Festival mit herausfordernden äußeren Umständen umgehen. Wie hat das die Inhalte und Teilnahme im Bereich Generation beeinflusst?
Redpath 2021 waren es viel weniger Filme, wir haben die Kurzfilme aus Pandemie-Gründen ausgesetzt und circa 800 Langfilme gezeigt. Dieses Jahr sind es – mit den Kurzfilmen wieder dabei – insgesamt circa 2700 Einreichungen. Tatsächlich sind es im Vergleich zu 2020 und einem ‚normalen‘ Festival, sogar ein paar Hundert Einreichungen mehr. Natürlich war die Produktion von Filmen sehr stark eingeschränkt. Thematisch auffällig ist, dass es in sehr vielen der ausgewählten Filme um Bewegung und Tanz geht, und darum, sich mit Wörtern und Musik auszudrücken und einfach zusammen zu kommen. Es fühlt sich für die Zuschauer*innen gut an, Filme zu sehen, die einen lebendigen Geist haben, besonders für junge Menschen, die vielleicht noch stärker unter der Pandemie leiden. Gerade, wenn Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt ihre Schritte in den Prozessen des Aufwachsens nicht normal machen können, weil sie mit von Erwachsenen gemachten Regeln eingeschränkt werden, dann müssen sie vielfach Schritte überspringen. Dabei finden sie oft nicht die Worte, ob im Film oder in der Realität, um zu erklären, was mit ihnen und in ihrer Welt los ist. Das drückt sich oft in Musik und Bewegung aus. Und das wiederum verändert dann die Lesart solcher Filme.
merz Ist es also auch ein Angebot an die Kinder und Jugendlichen, über die Filme einen Umgang mit den vielen Pandemie-bedingten Ereignissen zu finden?
RedpathEs sind sehr vielfältige Filme, auch ganz viele dokumentarische Arbeiten, wo man sieht – die Protagonist*innen ringen mit Worten, um sich auszudrücken. Ihnen fehlen die Worte, aber sie spüren das. Man sieht, wie sie in diesen Filmen, die mal fiktiv, mal nicht fiktiv sind, andere Formen und Mittel suchen, um sich mitzuteilen. Es ist spannend, wie die jungen Leute auf diese Prozesse auf der Leinwand reagieren. Sie identifizieren sich mit dem, was sie sehen und bekommen dadurch Impulse, was ihnen auch in ihrem alltäglichen Leben helfen kann.
merzGerade die gesellschaftlichen Auswirkungen sind für Heranwachsende einschneidende Erfahrungen während prägender Phasen des Aufwachsens – ist Filmkultur hier auch eine Möglichkeit des Verarbeitens?
Redpath Es ist auf jeden Fall ein Angebot bei der Berlinale. Es ist natürlich auf eine gewisse Weise auch gewagt, zu versuchen, mitten in einer Pandemie ein Festival anzubieten, das nicht virtuell ist, sondern für die Zuschauer*innen physisch in den Kinos stattfindet. Aber es ist für Erwachsene nicht anders als für Kinder und Jugendliche, diese Freude und den Genuss zu erleben, die man haben kann, wenn man zusammen kommt und gemeinsam ein gutes Filmerlebnis hat. Man ist nicht mehr so alleine in der Welt. Die Berlinale hat auch alle Anstrengungen unternommen, um die strengen Kontrollen, die Sicherheit und die Kontaktbeschränkungen einzuhalten. Wir glauben, dass es für die jungen Leute wichtig ist, bewegen uns hier im Grunde jedoch auf Neuland. Ich bin keine Politikerin und keine Medizinerin, ich bin Kulturmacherin, ich kann nur im Rahmen des Möglichen ein Angebot an die jungen Menschen machen. Darüber hinaus glaube ich, dass Kultur sehr wichtig ist, für alle Menschen, aber besonders für die jungen, für die es gerade ganz schön hart ist.
merz Braucht es überhaupt ein Festival in Krisen-Zeiten? Braucht es da Filme?
Redpath Das wird nicht für jede*n wichtig sein, aber wenn man zusammen in einem Kino einen Film ansieht, ist das ein gemeinschaftliches Erlebnis, bei dem man vielleicht auch mal die Herausforderungen und Probleme einer Pandemie für eineinhalb Stunden hinter sich lassen kann. Man lässt sich auf den Film ein; man kann sich mit sich selbst auf einer ganz anderen Ebene beschäftigen, je nachdem, was auf der Leinwand zu sehen ist, ob und wie man sich damit identifiziert. Bei einem offenen Ende kann man zum Beispiel weiterdenken und mit anderen diskutieren, und das machen die jungen Menschen auch gerne.
merz Sie haben zwei Jahrzehnte Generation geprägt, sind seit 2002 Leiterin der Sektion, aber auch insgesamt schon seit 1993 bei der Berlinale dabei – was hat sie so lange Zeit inspiriert?
Redpath Generation hat meine Leidenschaft für junge Menschen und für Kino zusammengebracht und das hat mich über die Jahre auch da gehalten. Ich habe viel Spielraum gehabt, mich und meine Kreativität zu entwickeln und viele tolle Begegnungen gehabt. Das war für mich so viele Jahre lang der perfekte Job – und ist es immer noch. Nun trete ich mit einem guten Gefühl zurück. Es kommen neue Generationen nach, mit sehr fähigen, guten Menschen, die das übernehmen können.
merz Wenn man so lange Gelegenheit hat, etwas intensiv begleiten zu können, welche Entwicklungen konnten Sie da beobachten?
Redpath Im Rahmen der Sektionsarbeit haben wir selbst sehr viel entwickelt, früher hieß es ja Kinderfilmfest. Dann haben wir mit 14+ einen neuen Wettbewerb dazu genommen und den Dachnamen umgewandelt in Generation. Das hat uns befreit, um mit jungen Menschen auf eine ganz andere Art über Filme zu sprechen. Dann sind die Entwicklungen auch Jahr für Jahr immer unterschiedlich, wir haben zum Beispiel kontinuierlich mehr Einreichungen bekommen. Bei den Einreichungen liegt die Frauenquote bei der Regie mittlerweile bei über 50 Prozent, das finde ich ermutigend. Inhaltlich gibt es jedes Jahr mehr Filme, die aktuelle Geschehnisse in der Welt spiegeln. Zum Beispiel haben wir dieses Jahr einen Dokumentarfilm, der in der Ukraine spielt: ‚Kinder und Krieg‘. Die Diskurse, die über all diese Dinge stattfinden, sind über die Jahre intensiver geworden. Es gibt so viele Bausteine und Anstöße, die Filme bieten können, gerade für ein junges Publikum, das sehr unterbewusst ist. Die Diskurse sind dann sehr gut, um vieles davon nach vorne, in die Wahrnehmung zu bringen. Das ist ein wichtiger Teil der Arbeit.
merz Was waren rückblickend die größten Herausforderungen in Ihrer Arbeit?
Redpath Auch die Herausforderungen waren immer im Fluss, für mich persönlich waren sie oft sehr anders, als für meine Mitarbeiter*innen, die Zuschauer*innen, Filmemacher*innen et cetera. Eine Herausforderung war es, zu lernen, mich zu artikulieren und in einer Klarheit zu beschreiben, dass es für mich nicht immer um Endprodukte geht. Das ist eine Herausforderung an sich – wir wohnen, arbeiten und leben in Deutschland in einer sehr produkt- und zielorientierten Gesellschaft. Ich komme aus Neuseeland und da sind Prozesse sehr wichtig und man weiß nicht immer, wie es ausgeht. Aber es gibt auch Erfahrungswerte aus herausfordernden Gesprächen, zum Beispiel darüber, dass wir zu harte Filme zeigen. Wir gehen an die Grenzen, auch über Grenzen, aber es sind nicht die jungen Menschen, die sich über harte Filme beschweren. Sie verlangen eher mehr Realität von uns und nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen.
merz Was sind Ihre Wünsche für die kommende Generation?
Redpath Ich wünsche ihnen, weiter spannende Filme zu sehen, den eigenen Platz im Leben zu finden, der ihnen gut tut; nicht aufzuhören, die erwachsenen Generationen herauszufordern, richtige Entscheidungen zu treffen. Ich wünsche mir von den Erwachsenen mehr Zuhören und Verständnis für die Perspektive der Kinder und Jugendlichen, man kann von Bewegungen wie ‚Fridays for Future´ lernen.
Das Interview führte Nicole Lohfink.
Beitrag aus Heft »2022/02 Sprache in den Medien – Deutungshoheit und Sprachschlachten«
Autor: Nicole Lohfink
Beitrag als PDF - Nicole Lohfink: Realität im Film. Starke Dokumentarfilme auf der Berlinale 2022
Nicole Lohfink: Realität im Film. Starke Dokumentarfilme auf der Berlinale 2022
Nach der zweigeteilten Veranstaltung im Jahr 2021 wurde das internationale Filmfestival dieses Jahr unter strikten Pandemie-Bestimmungen wieder zusammengeführt und in physischer Präsenz mit den Filmemacher*innen vor Ort ausgerichtet. In der Sektion Generation entstand dabei mit Filmen rund um viel Bewegung, Musik und Begegnung ein Gegenprogramm zu inneren und äußeren Pandemie-Einschränkungen, gerade für die jungen Menschen. Dabei zeigte sich auch die Vielfalt und erzählerische Stärke des Dokumentarfilms: So blickt der portugiesische Film ‚Juunt Pastaza entsari‘ (‚Waters of Pastaza’) in die Lebenswelt der Kinder in einem Amazonas-Grenz-Gebiet. Die Bilder und Beobachtung entwickeln einen assoziativen Sog und einen Rhythmus, der die Zuschauer*innen schleichend in seinen Bann zieht und mit sich trägt, gleichsam wie auf dem allgegenwärtigen Wasser im Film. Mit dem niederländischen Film ‚Shabu‘ begegnet das Publikum einer klassischen Helden-Reise, die sich wie ein Spielfilm-Plot auftut und einen emotionalen Zugang zur Geschichte des 14-jährigen Jugendlichen Shabu bietet. ‚Allons enfants‘ (‚Rookies‘) aus Frankreich wiederum nähert sich mit investigativem Blick einer Idee und der daraus resultierenden Modellschule, sowie der Gefühlswelt und den Befindlichkeiten der jugendlichen Protagonist*innen.
‚ALLONS ENFANTS’ (ROOKIES) VON THIERRY DEMAIZIÈRE UND ALBAN TEURLAI
„Keine guten Noten – kein Tanz“ – das ist die Grundlage, die der Lehrer den Schüler*innen gleich zu Beginn in der neuen Schule mitgibt. In der Schule im Pariser Stadtzentrum ist Hip Hop für die aufgenommenen Schüler*innen eine wichtige Disziplin, in der sie mit Training auf Wettbewerbe hin leistungsorientiert herausgefordert werden. Dennoch ist Tanz hier auch als Weg gedacht, ein problematisches Umfeld und familiäre Belastungen zu bewältigen, das Lernen ernst zu nehmen, und Bildung und Zukunftschancen zu erhalten. Hip Hop ist für viele der einzige Weg, sich und alles was in ihrer Welt passiert auszudrücken, wo ihnen sonst die Worte fehlen. In Gesprächen teilen die Jugendlichen nach und nach ihre Geschichten mit, zum Beispiel die Erkenntnis, dass es eine Welt ohne ständig präsente, offensichtliche Gewalt gibt – und das einfach nur jenseits des eigenen Stadtviertels, obwohl noch immer in der gleichen Stadt. Die beeindruckte Verwunderung bei manchen Jugendlichen über den Unterschied zwischen dem, was sie erlebt haben und alternativen Lebensrealitäten regt das Hinterfragen der eigenen Erfahrungen an. Auch stark verwurzelte kulturelle Routinen, die Identifikation über Sprachgewohnheiten, über äußere Erscheinung und ethnische Zugehörigkeit werden durch das – gemeinsame – Tanzen plötzlich einfach nur eine Wahrnehmung, die nicht unbedingt eine Reaktion nach sich ziehen muss. Die Noten sind in der Schule immer noch wichtig, aber es findet ein Paradigmenwechsel statt, was den Weg zu einer guten Leistung angeht.
Thierry Demaizière arbeitete als Auslandskorrespondent für das französische Radio RTL weltweit in Krisengebieten. Alban Teurlai war über zehn Jahre als selbstständiger Editor tätig. 2009 gründeten sie die Produktionsfirma Falabracks und realisieren seither Dokumentarfilme. ‚Allons enfants‘ lief als Eröffnungsfilm in Generation 14plus der diesjährigen Berlinale.
‚JUUNT PASTAZA ENTSARI‘ (‚WATERS OF PASTAZA’) VON INÊS T: ALVES
Der Film begleitet Kinder in einer kleinen Dorfgemeinde, die zu den Achuar-Gemeinden im Regenwald des Amazonas gehört. Hier, in Grenznähe zwischen Ecuador und Peru, blickt das Publikum mit ihnen und durch sie in eine Parallelwelt zu den Erwachsenen. Die Kinder sind hier unter sich und ihre Lebenswelt beinhaltet unaufgeregt Abläufe des täglichen Lebens und der Haushaltsorganisation ebenso wie Schlamm-Fußball während einer Regenphase. Über lange Zeit gehen die Kinder ihren täglichen Arbeiten nach, in der zum Spielen neben selbstgestalteten Spielsachen genauso auch das Holz sammeln, Fischen, Backen, Töpfern und Obst Ernten gehört. Wasser ist ein Bestandteil der Arbeit, der Lebensgrundlage, beinahe der Wohnungseinrichtung. Die Behausung und das Werkzeug, alles ist sehr einfach, und dass es Strom gibt, wissen Zuschauende nur, weil hier und da auch mal ein Smartphone sichtbar wird, das für Hintergrundmusik sorgt oder für ein Spiel genutzt wird. Es sind so gut wie nie Erwachsene zu sehen – erst am Schluss gibt es eine Szene, in der Erwachsene eine Rolle spielen. Doch das wirkt beinahe wie ein Unfall, und wird so zu einer Umkehrung der Lebenswelten. Wenn die Gruppe der Erwachsenen ein frisch aus Holz gefertigtes Boot durch den dichten Regenwald schiebt und zerrt, auf dem Weg zum Fluss-Ufer, dabei lacht und ruft, sind die Gesichter jung und alt zugleich. So entsteht ein fast meditativer Einblick in eine ganz eigene Welt, tief geprägt von der Landschaft und dem Wasser des Amazonas Gebietes.
Inês T. Alves entwickelt Filmworkshops für verschiedene Altersgruppen und experimentiert mit dem portugiesischen Kino-Kollektiv Movimento mit Community-basierter Filmkultur. ‚Juunt Pastaza entsari‘ist ihr Langfilmdebüt undlief in Generation kplus der diesjährigen Berlinale.
‚SHABU‘ VON SHAMIRA RAPHAËLA
Der niederländisch-karibische Shabu ist 14 Jahre alt und lebt in einem der berüchtigtsten Stadtviertel im Süden Rotterdams, im ‚The Paperclip’. Er träumt davon, Musiker zu werden und auf der Bühne zu stehen, inklusive viel Geld und einem schnellen Auto. In seiner Unbedarftheit hat er eine Dummheit gemacht und damit die wichtigste Frau in seinem Leben verärgert, seine geliebte Großmutter. Er muss wieder gutmachen, dass er ihr Auto auf einer Spritztour zu Schrott gefahren hat, während sie auf Verwandten-Besuch in Surinam ist. Die Erwachsenen waschen ihm gründlich den Kopf, machen ihm klar, dass er nun Schulden zurückzuzahlen hat und im Sommer Geld verdienen muss. Wenn sich der fröhliche Shabu mit Percussions-Rhythmen auf allen zur Verfügung stehenden Oberflächen durch seine Tagträume musiziert, ist die Sehnsucht, sich in der heißen Sommerzeit treiben zu lassen und jede Verantwortung zu vergessen, spürbar. Shabu merkt aber, dass es mit einer einfachen Entschuldigung nicht getan ist, als seine Großmutter nicht mehr täglich mit ihm spricht. Mit seiner Musik und der Unterstützung im Viertel will er ein sommerliches Konzert ausrichten, dessen Erlös seine Großmutter erhalten soll. An der Schwelle zwischen Kind und Heranwachsendem erinnert Shabu selbst das Publikum daran, hinter den ersten Eindruck zu schauen, wenn er seinen Freunden beschreibt, dass er aufgrund des Körperbaus immer älter wahrgenommen wird, obwohl er erst 14 Jahre alt ist. Und so erlebt seine Umgebung ihn entweder fröhlich und überschwänglich oder aber verhalten, beinahe distanziert. Dazwischen kämpft er mit der Umsetzung seines Plans, der Dynamik von Beziehungen, insbesondere zu seiner Freundin und zu seinem besten Freund, sowie der Auseinandersetzung mit der eigenen Musik. Erst in einem Schlüsselmoment ist zu erkennen, wie sehr es hinter dem ruhigen Äußeren arbeitet und das Kind und der junge Erwachsene in ihm ihren Weg suchen. Als seine zurück gekehrte Großmutter überraschend wieder vor ihm steht, bricht Shabu in Tränen aus, rennt zu ihr und schluchzt in ihren Armen mit den Worten „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid!“.
Das Konzert ist ein Erfolg – für den geplanten Zweck ebenso, wie für Shabus Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und seiner Großmutter zu zeigen, wieviel ihm ihre Liebe bedeutet. Eine klassische Helden-Reise, die aus dem Leben gegriffen ist.
Regisseurin Shamira Raphaëla studierte an der ArtEZ Academy of Art & Design in Arnheim. Neben ihrer Arbeit als Filmemacherin ist sie für das Kurzfilmprogramm des Internationalen Film Festivals Rotterdam verantwortlich und Mitbegründerin der Initiative framing of us. Shabu erhielt eine Lobende Erwähnung der Jury und lief in Generation kplus der diesjährigen Berlinale.
Beitrag aus Heft »2022/02 Sprache in den Medien – Deutungshoheit und Sprachschlachten«
Autor: Nicole Lohfink
Beitrag als PDF - Nicole Lohfink: Berlinale 2021. Ein internationales Filmfestival reiht sich in den Online-Reigen ein
Nicole Lohfink: Berlinale 2021. Ein internationales Filmfestival reiht sich in den Online-Reigen ein
Pandemiefolgen und Formatänderung
Wie viele Veranstalter haben auch die Verantwortlichen bei der Berlinale lange gehofft, das Festival in seiner kohärenten Struktur in Präsenz durchführen zu können. Ende 2020 stand schließlich fest, dass aufgrund der aktuellen COVID-19-Situation ein anderes Festivalformat für 2021 entstehen musste. Entwickelt wurde ein zweistufiges Format, dessen erste Etappe vom 01. bis 05. März online angeboten wurde.
So machten den Auftakt der 71. Berlinale die Branchenplattformen European Film Market (EFM), Berlinale Co-Production Market, Berlinale Talents und der World Cinema Fund. Dieses sogenannte Industry Event richtete sich weitestgehend an Filmbranche und Presse. Onlineveranstaltungen für das Publikum boten nur Berlinale Talents und der World Cinema Fund. Allerdings gab es auf der Website berlinale.de und den Social-Media-Kanälen dazu zahlreiche Videos, darunter auch Interviews mit den Filmemacher*innen und Hintergründe zur Filmauswahl für 2021. Interessierte konnten sich hier also durchaus Anregungen holen für die zweite Etappe der Berlinale, das Summer Special, das vom 09. bis 20. Juni in Präsenz stattfinden soll.
Tauziehen zwischen Online und Präsenz
Insgesamt also hat die Berlinale eine Flut an Online-Angeboten organisiert, allein beim Berlinale Co-Production Market wurden über 1.300 Onlinemeetings mit potenziellen Partner*innen für die eingeladenen Projekte durchgeführt. Daneben gab es, auch in den anderen Bereichen, zahlreiche Talks und weitere Networking-Formate.
Das Film-Angebot aus dem jeweiligen Tagesprogramm konnten die Teilnehmer*innen über den Berlinale Media Service streamen und ‚wie zu Hause auf der Couch‘ sichten. Das gemeinsame Kinoerlebnis fehlt hier deutlich, insbesondere in der Wahrnehmung, wie man selbst einen Film erlebt und wie beispielsweise ein kindliches Publikum um einen herum auf den Film reagiert. Das Sehen der Filme von zu Hause aus vermindert aber nicht den Fokus auf die Filme selbst. Und hier liegt auch die Stärke der Entscheidung der Veranstalter*innen, die wichtige Plattform, die ein so großes Festival in vielerlei Hinsicht bietet, zu erhalten. Laut Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek wurden die Onlinescreenings sehr gut angenommen und die Filme erhielten dadurch eine breite mediale Sichtbarkeit und Einladungen zu weiteren Festivals. Auch gute Verkäufe haben den Weg der Filme zum Publikum gesichert. Das Dilemma, eine internationale Kulturveranstaltung mit einer Pandemie zu vereinbaren, hätte für die Berlinale durchaus auf den Weg vieler anderer Kulturveranstaltungen führen können: Dem des Totalausfalls. So aber konnten unter anderem die Impulse der Filme, sowie der Ideen-Input, die Vernetzung von Gedanken- und Arbeitswelten und der Austausch von Herangehensweise und Themen-Perspektiven erhalten bleiben.
Die Jury-Entscheidungen waren eine kurze und prägnante Online-Angelegenheit. Die Feierlichkeit soll dann im Sommer in Berlin bei der Vergabe in Präsenz entstehen. Für die Sektion Generation war Pandemie-bedingt diesmal eine Jury für beide Wettbewerbe, Kplus und 14plus, zuständig. Über einen Livestream werden hier die Preisträger*innen in knapp 15 Minuten freundlich, aber unverbindlich bekanntgegeben.
Spannende Perspektiven junger Menschen
Gerade für junge Menschen zeichnet sich dieser Wechsel zwischen verbindlich und unverbindlich auch thematisch in den Filmen ab. In den insgesamt 15 Langfilmen in der Sektion Generation ziehen sich die Themen Orientierungssuche und Integration genauso als roter Faden durch, wie das Pendeln zwischen Abschieden und Zukunftsvisionen.
Zusammengefasst unter dem Programmtitel ‚Sanft flüsternd, laut schreiend‘ betreten die jungen Protagonist*innen hier Neuland, lassen Vertrautes hinter sich und ringen mit den Dingen, die sie nicht verstehen. Dabei durchlaufen sie entscheidende Stationen auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Oft jedoch wird weder sanft geflüstert noch laut geschrien, sondern vielmehr stumm rebelliert. Innere Isolation trifft auf äußere Umstände.
Starke Identifikationsfiguren fordern mit dieser stummen Rebellion die ganze Empathiefähigkeit der Zusehenden ein. Dabei sind die Entstehungs- und Gestaltungsformen der Filme beinahe genauso vielfältig, wie die Ergebnisse selbst.
Den Großen Preis der Internationalen Jury für den Besten Film im Wettbewerb Generation Kplus erhielt ‚Han Nan Xia Ri‘ (‚Sommerflirren‘) aus China. Trotz klarer Narrative entwickelt sich die Geschichte um die zwölfjährige Hauptdarstellerin durch beinahe assoziative Eindrücke. Als Zuschauer*in wird man hin- und hergeworfen zwischen dem Gesamtblick auf das Geschehen und dem Druck, der auf der Hauptfigur lastet. So bezeichnet die Jury den Film in ihrer Begründung auch als „Sommermärchen, das immer wieder in einen Alptraum abzugleiten droht“. Der Fokus liegt auf den Gefühlen und Wahrnehmungen der Kinder auf der Suche nach sich Selbst und dem eigenen Weg, die Intensität ihrer Gefühlswelt ist konstant spürbar, ebenso wie der Mangel einer menschlichen Orientierungsfigur.
Eine lobende Erwähnung erhält ‚Una escuela en Cerro Hueso‘ (‚Eine Schule in Cerro Hueso‘) (Argentinien). Die Geschichte begleitet eine in sich gekehrte Hauptfigur, die nach 17 Ablehnungen in einer kleinen Dorfschule eingeschult wird und durch die entspannte Offenheit, mit der man ihr dort begegnet, aufzublühen beginnt. Der sehr persönliche Film überzeugt mit der leisen Kraft der Aufgeschlossenheit und dem Bild von gelebter Solidarität.
Im Wettbewerb Generation 14plus geht der Preis für den besten Film an ‚La Mif‘ (‚Die Fam‘) aus der Schweiz. Vor dem Hintergrund des Jugendsozialsystems hat der Film die Geschichten und Begegnungen junger Frauen miteinander verknüpft und entwickelt seine Stärke auch durch die Besetzung, die die Geschichte mitentwickelt hat.
Eine lobende Erwähnung ging an den Animationsfilm ‚Cryptozoo‘ (USA), für eine fantasievolle Dystopie mit Hoffnungsschimmer. Bemerkenswert ist auch der Gewinner des Silbernen Bären im Hauptwettbewerb: Mit dem deutschen Dokumentarfilm ‚Herr Bachmann und seine Klasse‘ wirft die Regisseurin Maria Speth einen Blick in eine Schulklasse, wie sie überall in Deutschland zu finden ist. Ein rund dreieinhalb Stunden langer Film über eine Klasse und ihren Lehrer, im Grunde über Integration, Orientierungssuche, Zukunftsängste und Solidarität – mit den Schüler*innen. Die Themen sind ganz nah an der aktuellen Zeit.
Ausblick auf 2022Die diesjährige Berlinale könnte also nicht näher am Puls der Zeit liegen, sowohl in der Format-Umsetzung als auch zum großen Teil in der Filmauswahl. Die Bedeutung um die persönliche Begegnung ist den Berlinale-Veranstalter*innen umso bewusster geworden, trotz oder gerade nach einem gelungenen Online-Einstieg.
Vor allem die Filme selbst verdienen es, unterstützt und gesehen zu werden. Deren Inhalte, das gemeinsame Erleben und der Austausch darüber, bieten darüber hinaus eine Chance des Aufarbeitens der vielfältigen Themen. Und die abgebildeten Themen verdienen Gehör.
Von Seiten des Leitungsteams her soll das Festival nächstes Jahr wieder traditionell im Februar gemeinsam mit dem European Film Market, dem Berlinale Co-Production Market, Berlinale Talents und dem World Cinema Fund durchgeführt werden. Die 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin finden dann voraussichtlich vom 10. bis 20.02.2022 statt.
- Nicole Lohfink, Eric Müller: Exkursion in die EU: Digitale Jugendarbeit in Finnland und Estland
Nicole Lohfink, Eric Müller: Exkursion in die EU: Digitale Jugendarbeit in Finnland und Estland
Unter dem Stichwort Digital Youth Work findet sich im europäischen Vergleich eine große Bandbreite von Strategien, wie digitale Medien in der Jugendarbeit nutzbar gemacht werden. Daher entwickelt die EU-Expertengruppe für Chancen, Risiken und Auswirkungen der Digitalisierung auf Jugendliche, Jugendarbeit und Jugendpolitik eine gemeinsame offene Definition für digitale Jugendarbeit in Europa (vgl. European Commission 2018).
Diese Bandbreite der Ansätze digitaler Jugendarbeit zu erkunden und Ideen mit den europäischen Partnerinnen und Partnern auszutauschen war Ziel eines durch den Bayerischen Jugendring initiierten Fachkräfteaustauschs im Mai 2019. Der Weg der 19 Teilnehmenden, die sich haupt- und ehrenamtlich in der Jugendarbeit engagieren, führte zunächst nach Helsinki und infolge nach Tallinn.
Jugendarbeit in Finnland: Digitale Kommunikation und europäischer Vergleich
In der Jugendarbeit in Finnland haben sich schon früh online Jugendaktivitäten etabliert. In den 1980er-Jahren wurden Computerspiele und Videotex, eine frühe Version eines Messenger- und Informationssystems, angeboten, um Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu digitalen Technologien zu eröffnen. Die digitale Kommunikation ist in Finnland bis heute ein Werkzeug in der Jugendarbeit, wie eine aktuelle Studie von Verke zeigt. Die Organisation untersucht und entwickelt im Auftrag der finnischen Regierung Strategien für die Digitalisierung der Jugendarbeit und ist unterstützender Ansprechpartner für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Verke waren es auch, die der Delegation die verschiedenen Zusammenhänge von gewachsenen Strukturen und aktuellen Vorgängen in Finnland erläuterten. In der Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen und Verbänden ist Verke bemüht, diese Strukturen zu pflegen und die vergleichsweise noch relativ junge aktive Medienarbeit zu fördern. So wird beispielsweise die ehrenamtliche Jugendarbeit im Pfadfinderverband im dünn besiedelten Finnland durch eine digitale Kommunikations- und Organisationsplattform koordiniert, während die mitgliederstärkste Kirche in Finnland in ihrer Jugendarbeit jährlich Konfirmations- und Freizeitcamps organisiert, in denen die digitalen Themen der Jugendlichen aktiv aufgegriffen und begleitet werden.
Ein finnisches Projekt stellt der Ausbau der Bibliotheken als kommunalen Ort dar, der gleichermaßen Gemeinde-Dienstleistungen und Jugendlichen einen Freizeitort bietet. Mit Iso Omena existiert bereits ein funktionierendes Beispiel der Kooperation von Bücherei, öffentlicher Elternberatung, Amt für Soziales, Maker-Space, Jugendraum und Musikstudio.
Finnland hat mit 16,7 Prozent eine relativ hohe Jugendarbeitslosigkeit. Das Projekt Digitalents eröffnet deshalb im Auftrag der finnischen Regierung Jugendlichen einen Zugang zur digitalen Arbeitswelt. Für durchschnittlich etwa acht Monate werden Jugendliche hier individuell betreut und arbeiten an Projekten zu Augmented Reality, Open-Source-Spaces und Social-Robotics. Ziel ist es, eine starke und sichere Umgebung zu kreieren und Orientierung für die berufliche Zukunft zu bieten. Daneben veranstaltet Digitalents E-Sports-Tourniere und Hacker-Workshops, in denen Jugendliche eigene Spiele programmieren, eine sichere Umgebung in der Spiele-Kultur vermittelt bekommen und regelmäßig an der Global Game Jam-Session teilnehmen, die jährlich im Januar veranstaltet wird.
In Helsinki ist deutlich geworden, dass digitale Jugendarbeit in der Europäischen Union unterschiedliche Ansätze verfolgt. Neben der Ausrichtung auf digitale Kommunikation profitiert die Jugendarbeit in Finnland von der Orientierung an der britischen Maker-Bewegung und der eher deutschen Perspektive der aktiven Medienarbeit. Auch in Finnland sind die Herausforderungen von Einrichtungen wie Verke und Digitalents dabei gekennzeichnet durch bürokratische Hürden und die Sicherung der Finanzierung für eine kontinuierliche Arbeit.
Jugendarbeit in Estland: Digitalisierung der Verwaltung
Eine weitere Perspektive auf digitale Jugendarbeit in der EU erhielt die Delegation anschließend in Tallinn, wo das estnische Zentrum für Jugendarbeit die Verwaltung weitgehend digitalisiert hat. Digitale
Jugendarbeit in Estland bedeutet die Bündelung von allen mit der Jugendarbeit verbundenen Verwaltungsvorgängen in einer landesweit vernetzten Onlineumgebung. Auf der Plattform stellen Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter Förderanträge für Aktivitäten in ihren Einrichtungen, geben Sachberichte ein und kommunizieren mit dem Zentrum für Jugendarbeit. Gleichzeitig werden auf der Plattform Anträge begutachtet und evaluiert, sodass auch hier die Kommunikation zur Jugendarbeit auf dem Portal zentralisiert ist. Über das digitale Verwaltungstool werden alle Teilnehmenden an den Aktivitäten erfasst und laufen im estnischen Zentrum für Jugendarbeit zusammen, um die Qualitätskontrolle über die landesweit verteilten Jugendeinrichtungen sicherzustellen.Hieran zeigt sich, dass digitale Jugendarbeit für die Kolleginnen und Kollegen in Finnland wie in Estland nur der erste Schritt ist, um danach in die ‚smart youth work‘ überzugehen. Es geht dort also um die Frage, wie Technologie in der Entwicklung genutzt werden und Big Data dazu verhelfen kann, die Bedingungen in der Jugendarbeit zu verbessern. Es geht weniger um reine Praxis, als vielmehr um politische Betrachtungen, um im Gesamtbild lösungsorientiert zu arbeiten. Diese umfassende Vernetzung und Organisation der Aktivitäten der Jugendarbeit ist in Estland im Kontext einer umfassenden Digitalisierung nahezu aller Verwaltungsaktivitäten zu sehen.
Im e-Estonian Show-Room führt ein aus Hamburg nach Tallinn emmigrierter Mitarbeiter das estnische Bürgerportal vor. Um Zugang zu erhalten, führt er seinen elektronischen Personalausweis in seinen Laptop ein und bestätigt seine Identität mit einem persönlichen Passwort. Im Bürgerportal sieht man die digitalen Äquivalente zum Einwohnermeldeamt, dem Wahlamt, der KFZ-Zulassungsstelle und dem Finanzamt. Der hohe Verschlüsselungsstandard und das dezentral organisierte Datenbanksystem sollen vor unberechtigten Zugriffen schützen. Jeder Zugriff der estnischen Behörden auf den eigenen Datensatz wird zudem protokolliert und die Architektur der Open-Access-Software ist für die Nutzenden einsehbar. Um den Bürgerinnen und Bürgern in dem Flächenland den Zugang zum estnischen Bürgerportal zu eröffnen, waren landesweit Busse unterwegs, die digitale Aufklärung zum Bürgerportal betrieben haben.
Mitglieder des estonischen Jugendrings erklären der deutschen Delegation, dass in der Arbeit mit der russischen Minderheit sprachliche Herausforderungen bei der Bildung und Teilhabe von Heranwachsenden liegen. Durch die Übersetzung der Plattform ins Russische und Englische konnten auch Minderheiten im Land an den Plattformdiensten teilhaben. Die kulturelle Spaltung der estnischen Bevölkerung können sie dennoch nicht überbrücken.
Aktive Medienarbeit als Entwicklungspfad digitaler Jugendarbeit in Deutschland
In der kontrastierenden Betrachtung digitaler Jugendarbeit in Finnland und Estland zeichnen sich nationale Entwicklungspfade ab, die in die geografischen und historischen Bedingungen verankert sind. Im dünn besiedelten Finnland wurden die ersten Online-Technologien schon in den 1980er-Jahren in der Jugendarbeit eingesetzt, um landesweit Informationen zu Aktivitäten der Jugendarbeit zu bekommen. Diese Entwicklung zeigt sich noch heute, wo Jugendarbeiterinnen und -arbeiter unter anderem über Messenger-Dienste Beratungsangebote zur Verfügung stellen. Die Entwicklung der digitalen Jugendarbeit in Estland ist wesentlich durch die weitgehende Digitalisierung der Staatsverwaltung gekennzeichnet, die seit den späten 1990er-Jahren vorangetrieben wird. Diese Bemühungen wurden durch landesweite Medienbildungsprogramme orchestriert, um den Menschen die Teilhabe an diesen Verwaltungssystemen zu eröffnen.
Digitale Jugendarbeit in Deutschland scheint im Vergleich zu Finnland und Estland häufig rückständig und im Kontext der kommunalen Organisation der Jugendarbeit keine übergreifenden Ziele zu verfolgen. Um die Entwicklung der digitalen Jugendarbeit hierzulande besser zu verstehen, hilft auch hier der Blick auf die nationalen Pfade: Digitale Jugendarbeit entwickelte sich in Deutschland im Kontext der aktiven Medienarbeit, in der Jugendliche medienvermittelte Inhalte selbst erstellen. Diese ist in der Entwicklung der Medienpädagogik der 1970er- und 1980er-Jahre mit einem bildnerisch-emanzipatorischen Anspruch verortet, die im Bürgerfunk über die Herstellung von Radio- und Fernsehbeiträgen eine Gegenöffentlichkeit zum politischen Mainstream herstellt und in der Gegenwart in digitalen Artikulationskanälen eine Fortsetzung dieser Tradition erlebt. Damit einher geht eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen von Medientechnologien für das gesellschaftliche Leben, die in der digitalen Jugendarbeit über eine Sensibilität für Themen wie Datenschutz, Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre transportiert werden. Die Zukunft digitaler Jugendarbeit kann in Deutschland angesichts dieser Tradition darin liegen, sich über die Produktion von Algorithmen das emanzipatorische und partizipative Potenzial der aktiven Medienarbeit anzueignen. Zusätzlich können die Erfahrungen aus Finnland und Estland eine Orientierung bieten, um Jugendarbeit aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Hier können insbesondere die über mehrere Jahre entwickelten Digitalisierungsstrategien eine Ressource sein, von der die digitale Jugendarbeit in Deutschland profitieren kann.
- Nicole Lohfink: nachgefragt: Jennifer Reeder, School of Art and Art History der Universität Chigaco
Nicole Lohfink: nachgefragt: Jennifer Reeder, School of Art and Art History der Universität Chigaco
Jennifer Reeder begann ihre Karriere mit performance- und Video-Arbeiten als Kunstfigur ‚White Trash Girl', mit der sie die amerikanische weiße Niedrig-Einkommens-Schicht erforschte. Dabei ging es ihr nicht nur um die sozial-ökonomische Situation, sondern auch um die Weltsicht der weißen Unterschicht. Zu weiteren Themen ihrer Arbeiten gehören die Identitätssuche heranwachsender Mädchen und deren Gebrauch von Musik, Slang-Sprache und Mode, um sich auszudrücken. Ihr filmischer Fokus liegt vor allem auf der visuellen Gestaltung und einem Film-Look, den sie als ‚magical realism' bezeichnet. Nicole Lohfink sprach mit der amerikanischen Filmkünstlerin über die Bedeutung von Film-Stil, Medien in der Familie sowie Frauenfiguren in Filmen.
merz Your films have a solid fan base in various European countries. This transatlantic success might be traced back to your films being available on the internet on the one hand, and, on the other hand to the European enthusiasm for the “dark stuff”. When did you first notice your popularity outside of the U.S.?
ReederVery early. I realised that my films had a pretty robust fanbase in Europe and particulary in the German speaking countries like Germany, Austria, Switzerland. I couldn't pinpoint exactly why this kind of guilty pleasure experience about the American culture attracts the international fanbase, but my films are critical and dark enough to appeal to people outside of the U. S. who need some suspicions about the U. S. It seems to me that Europeans are able to understand film as an art form. They appreciate those unexpected moves included as an art form in my films, whereas people in the U. S. tend to dismiss them as mere cinematic experiments. So I appreciate the European embrace.
merz You focus a lot on visual effects and stylized storytelling. Would you say this is a try to expand the traditional way of storytelling?
ReederA lot of people would say that they are trying to innovate the form or tell a story in a new way. I do not think my stories, for example in "knives and skin", are new ones. They combine lots of genres. But I definitely try to tell them in an unexpected way. My story lines are not predictable. A scene can take a sharp turn at any time. Indeed I´m looking to give the audience a very particulate experience. So my script and character developement might perhaps be considered unconventional and this is intentional. It is kind of communicating in a non-verbal way and leads to an experience that can translate across all boundaries.
merz So your films are less about a naturalistic portrayal and more about approaching a surrealistic-expressionistic style, similar to Buñuel´s film The andalusian dog?
ReederAbsolutely. I'm much more interested in stylized form, although I still aim for an authentic feeling in terms of performances. But the film itself hovers just above reality.
merz Your work is considered to be feministic and you call yourself a feminist. Therefore your female driven films are often seen as feminist movies. What is your impression?
ReederI think about that all the time. As a female director it is often pointed out that my gender identity might have had an impact on my work. And that's not pointed out ever the other way round, it's not like: "...AND it was directed by a guy!" I would definitely call my work feministic, because that is something you still have to talk about. We just do not live in a place where sexism or gender unequality is over, just because there are more and more films made by women or because there are more women in houses of politics. We are still far away from closing that gap. It is just more subtle and I think that conversations about equality need to be continued. Because even in an audience, that is mostly aware of the feminism of the film, there are still people who miss out on a lot of subtext. It would not occur to them to talk about the fact that most of the leads are women, that the film was directed by a woman, that the women eventually have the final say, or that the young girls in the film are not victims, but heroines in the end. For some viewers it is shocking when I point certain things out and they react like "Oh, wow, I did not even notice that..." So we live in a world where we should be able to take all of these things for granted, but we are not at this point yet. You just have to keep pointing it out and keep poking.
merz You have three sons – 14, twelve and six years old. Do you discuss these topics with them?
ReederWe talk about gender issues all the time. Recently, as they were getting ready for school, I took five minutes and talked to my oldest son about sexual consent. We had just heard about the sexual assault of a young woman on the news. He was like "Ya, ya, I know, I know" and I said "Ok, I just need to know that we had this conversation". It is my responsibility as a woman and as a mother to send these boys out into the world as good, responsible feminists.
merz Are your kids interested in media at all? For example in the trend of playing the game Fortnite?
ReederAbsolutely. They are voracious consumers of Fortnite. It actually is interesting to watch them consume media because it's almost all online. I mean, for example they are watching episodic series on Netflix or they are using apps on the phone in particular. Even my youngest one likes to watch these odd videos on YouTube, where people in bath tubes are consuming gummy bears. They are ridiculous. As a maker it is just interesting to figure out how I have to adapt the way I think about the endproduct of what I´m doing. I mean, obviously for me watching the film on a cinematic screen is the ideal location, but I also have to understand or at least think about making my work consumable on a much smaller screen in the future. I'm a huge fan of the episodic, I like how people are watching tv shows now.
merz Are your sons using media themselves actively? Do they shoot movies, take pictures and so on?
Reeder My middle son is interested in being both in front of the camera and behind the camera. He is a good actor, I put him in a couple of short films that I have done. And I think he might be interested in doing something behind the camera as well. My oldest son is convinced that he’s going to be in the NBA, which I am not sure about.
merz You mentioned the importance of having movies and stories not only about young women. Could you elaborate on that?
Reeder I think women are complex humans. There are so few films, even with women in the lead, that have a really authentic point of view of what it means to be a woman. And in particular what it means to be a mother. Therefore many of my films present lifelong coming-of-age processes and it is important that these mothers are complicated, difficult even, resisting the typical image of a cinematic mother or a grieving mother or a woman on the verge of a nervous breakdown. Because women in real life are extremely complicated but cinematic women are still not.
- Nicole Lohfink: nachgefragt: Rasmus A. Sivertsen, norwegischer Animationsfilmer
Nicole Lohfink: nachgefragt: Rasmus A. Sivertsen, norwegischer Animationsfilmer
Nicole Lohfink hat mit Rasmus Sivertsen über das Genre Animationsfilm, über Norwegens Filmfinanzierung, die Medienlandschaft heute und die Schwierigkeit, mit den vielen Möglichkeiten umgehen zu lernen gesprochen. Bereits 2016 war er mit dem Stop-Motion-Animationsfilm Solan Og Ludvig: Herfra til Flåklypa zu Gast auf dem Berlinale Filmfestival, Sektion Generation. Der diesjährige Teilnehmerfilm Manelyst i Flaklypa, (Solan und Ludwig – Auf zum Mond), basiert ebenfalls auf Geschichten des norwegischen Autors Kjell Aukrust aus den 60er Jahren über die fiktionale norwegische Stadt Flaklypa und seine liebenswert eigenwilligen Figuren.
merz With technical progress and so many new possibilities in the past decades, why did you choose to use a relatively ’old-fashioned´ style like stop motion animation for your film?
Sivertsen I grew up in a very rural, small place in the middle of Norway and my father was making short films at home when I was a kid. He was sitting in the living room drawing and making 2D animated short films. And for me and my brother – the only thing we were talking about was animation. Everything we did was watch animation films frame by frame and discuss them. So it was an interest from an early start on.
merz With a market share of 30 percent, family movies are quite popular in Norway. That should make it easier to get financial support for these projects, shouldn´t it?
Sivertsen It´s true. When I started out in the nineties there was not much going on in the animation industry. Nobody was making features in anima tion and you almost had to explain to people what animation was. So it is very interesting now that this is actually the format that people are watching the most. And the reason why we get funding for our film is because our previous animationfilms have done pretty well at the box office.
merz ‘Manelyst i flaklypa' is an animation film based on a well-known existing book but how is financial funding for original stories?
Sivertsen That is actually very hard and a big frustration. Because it results in a whole business now just chasing around for famous books or intellectual property that is known from before. The situation is that the funding system had a political side to it that said it has to be more original but at the moment it is not. There has been a debate in Norway: Why are there so many films about the Fifties and Sixties, basically old Norway? What about now, what about the rest? So it is a really interesting dilemma.
merz But in terms of financial support systems the basics would be there in Norway for helping projects of all sorts to come along, is that correct?
Sivertsen Yes, in fact we have very good investment systems in Norway. There is an incentive for producers: If you produce a children's film then the government will pay you double the amount of what you make in the cinemas. So that means producers can take a risk in producing a film and they know whatever it makes in the cinema, they will get back double on their investment. So this is a very nice incentive for producing films for kids.
merz There are also a lot of new platforms to choose from – streaming services like Netflix, YouTube, the a miniature screen or the screen of a classic movie theatre. How does this influence your work and your choice of film making?
Sivertsen I have made things for all platforms. You basically have to choose your platform according to your project. It seems like cinema has to be more spectacular than you get at home. At least in Norway people don´t go and watch drama films in cinema. They prefer something like action movies and actually animated movies for families are quite popular. But if you have another project it can be different. For example a couple of years ago we made a satire TV series and that was made for streaming and for Internet. So you have to choose a platform according to your project or an idea, I think.
merz How important is the classic movie for young people today?
Sivertsen In Norway cinema numbers are stable. Going to the cinema, has not gone down or up the last couple of ten years. That´s quite interesting. When I talk to the cinemas they have to renew themselves, they do a lot of refurbishing, better seating, creating experiences for people and try to compete with the home market. So far it looks like they have succeeded in getting people off the sofa and into the cinemas. So young people do go to the theatre. They make arrangements, meet up and go and see a movie. The reason they do this is the different experience I guess, because it is not like the small screen. We will see in the future.
merz A big interest for young people today is gaming, for example the computer game Fortnite is very popular at the moment. How important are the different media platforms for young audiences today? What is your experience in Norway?
Sivertsen It is the same here. I have a 16-year-old son and this is the way he operates: he is at the computer, playing a game, talking to his friends over a chatting system, and it seems that is the way they communicate. And it is really hard for a parent to decide how much you should interfere with this, and also how to set ground rules for kids in terms of duration of use. For my own sake it is about understanding what they do, try to play some games together with them and be interested in what they are doing – and make sure they get enough sleep and don´t stay up all night. But it is an interesting challenge.
merz What is your vision for the future of story telling?
Sivertsen It´s very hard to say, of course. At our studio in Norway, we have a collaboration with a VR (virtual reality) company we work with. It is really hard to say what will be in ten years time when it comes to story telling. I think that it takes some years before you can watch movies in VR. But this company has quite interesting technologies. Especially with this specific team – you can put on glasses and get the impression that there are characters appearing in the real world. So that looks very intriguing, because then you can tell stories in the environment you are. But still, the story must come first and technology second!
- Michael Bloech/Nicole Lohfink: Schlaglichter der Berlinale 2019
Michael Bloech/Nicole Lohfink: Schlaglichter der Berlinale 2019
Stets blieb die Berlinale ihrem Anspruch treu, eine Plattform für politische und künstlerisch wertvolle Filme zu sein. Festivalleiter Kosslick gelang es, das Programm nicht nur für die internationale Fachkritik und Filmindustrie, sondern auch für das Berliner Kinopublikum zu öffnen. Zahlreiche Diskussionsveranstaltungen, Fachvorträge und Konferenzen sorgten zudem für ein internationales und professionelles Profil der Berlinale.
Berlinale 2019 – Die Ära Kosslick endet
Nach 18 Jahren verabschiedet sich Dieter Kosslick als Direktor der Berlinale: Und er kann eine beeindruckende Bilanz vorweisen. Positiv hervorzuheben sind auch seine Bemühungen um den deutschen Film. Zwar gab es schon vor Kosslick auf der Berlinale eine Plattform für den deutschen Film, unter anderem zunächst in der kleinen Filmbühneam Steinplatz, aber durch die Etablierung der Programmreihen Lola at Berlinale und Perspektive Deutsches Kino wurde dieses Angebot systematisch erweitert. Kosslicks besonderes Augenmerk lag dabei stets auf Filmen einer losen Gruppe von Filmschaffenden der sogenannten Berliner Schule, darunter bekannte Namen wie Christian Petzold, Thomas Arslan und Maren Ade. Gerade Filme der Berliner Schule stehen mit ihrem Anspruch in enger Beziehung zu dem politisch, ästhetischen Konzept der Berlinale: Jenseits vom Mainstream werden mit künstlerischem Anspruch alltägliche, persönliche Themen mit politischem Bezug bearbeitet. Unter Kosslick ist die Berlinale eine nicht zu unterschätzende Plattform für internationale Begegnung und Austausch geworden, was sich exemplarisch in der Sektion Generation beobachten lässt oder auch im Förderprogramm für Nachwuchsfilmschaffende Berlinale Talents. Erst kürzlich unterzeichnete Kosslick sogar mit dem 5050 x 2020 Festival Pledge eine internationale Vereinbarung zur „Geschlechtergerechtigkeit in der Filmindustrie“.
Unter Kosslick fand jedoch auch mit aktuell rund 400 präsentierten Filmen und 340.000 verkauften Tickets eine enorme Ausweitung des Programmangebots statt. Damit droht eine De-Strukturierung, De-Profilierung und Beliebigkeit der Zielgruppenorientierung. Zumindest im Ansatz besteht hier die Gefahr, den Kern des Festivals den Wettbewerb – aus den Augen zu verlieren. Ende 2017 forderten daher 79 deutsche Filmschaffende in einem offenen Brief über die grundlegende Ausrichtung des Festivals nachzudenken. Dennoch wird ein großer Verdienst Kosslicks bleiben: Einmal im Jahr dreht sich zehn Tage lang in Berlin alles nur um Kino und die Kunst des Films.
Systemsprenger – Vom Sprengen pädagogischer Konzepte
Filme, die sich mit grundlegenden, pädagogischen Problemen auseinandersetzen und dabei auch noch als Film ‚funktionieren‘, ohne dabei belehrend zu wirken, sind nicht allzu häufig zu finden. Das Spielfilmdebüt Systemsprenger von Nora Fingscheidt ist ein gutes Beispiel hierfür und zeigt ein wichtiges pädagogisches Thema durchaus spannend und emotional berührend umgesetzt werden kann.
Der Film stellt konkret die Frage, was passiert, wenn engagierte Pädagogik versagt, wenn es nicht gelingt, Kinder so zu stabilisieren, dass sie keine Gefahr für sich und andere mehr darstellen. Sollte sich herausstellen, wie im Film gezeigt, dass aktuelle pädagogische, pharmakologische und psychologische Konzepte versagen können, wo liegen dann die Konsequenzen? Vielleicht muss immer wieder schmerzlich diskutiert werden, bis zu welchem Grad offene Gesellschaften abweichendes Verhalten tolerieren sollten und wie Personen aufgefangen werden können, die sich außerhalb unseres Gesellschaftssystems bewegen.
Spontane Aggressivität
Konkret wird die Leidensgeschichte der neunjährigen Benni erzählt, die getrennt von ihrer alleinerziehenden Mutter und den Geschwistern übergangsweise in einer beschützenden Einrichtung leben muss. Ihr Verhalten ist gekennzeichnet durch exzessive Gewaltausbrüche, vor allem gegenüber anderen Kindern. Ein Auslöser könnte das Fehlen funktionierender, familiärer Bindungen sein, wobei die Ursache wohl vielmehr darin begründet liegt, dass Benni ständig mit widersprüchlichen emotionalen Signalen ihrer Mutter konfrontiert wird. Während sie in einem Moment von der Mutter geliebt wird, wird sie im nächsten von ihr verstoßen. Mit ihrer spontanen Aggressivität fällt das renitente Mädchen quasi durch alle Netze, die unser Gesellschaftssystem für abweichendes Verhalten von Kindern bereithält. Selbst die nette Dame vom Jugendamt und die Psychologin der Kinderpsychiatrie sind mit Bennis Gewaltausbrüchen völlig überfordert. Trotz aller Empathie gelingt es ihnen nicht, Benni in einen halbwegs normalen schulischen Alltag zu integrieren. Schließlich wird ihr der Schulwegbegleiter Micha zur Seite gestellt, der sie zu einem geregelten Schulbesuch hinführen soll. Als auch das misslingt, wird im Helferkreis beschlossen, es mit einer ungewöhnlichen Maßnahme zu versuchen. Micha soll mit Benni in einer abgeschiedenen Waldhütte ohne Strom, Telefon und Internet eine gewisse Zeit verbringen, damit Benni zur inneren Ruhe zurückfindet. Mit dieser Methode der Gewaltprävention hat Micha bei Jugendlichen bisher gute Erfolge gehabt. Doch nach einer Woche sieht Benni in Micha nur noch ihren ‚Papi‘ und versteht nicht, dass er eine eigene Familie hat und die Zeit im Wald lediglich eine pädagogische Maßnahme war. Es kommt zu einer drastischen Entscheidung. Benni soll nach Kenia in eine Einrichtung für besonders verhaltensauffällige Jugendliche geschickt werden. Damit würden jedoch alle Sozialkontakte, die Benni besitzt, auf einen Schlag enden.
Im Mittelpunkt ein Ausnahmetalent – Helena Zengel
In der Rolle der Benni spielt die sehr junge Helena Zengel mit einer atemberaubenden Authentizität und zwingt die Zuschauenden, trotz aller Aggressivität, Verständnis für das renitente Kind zu entwickeln. Sinnbildlich hierfür steht die Anfangsszene, bei der Benni im Innenhof der Klinik völlig ausrastet und Bobbycars an das Fenster schmettert, bis die Panzerglasscheibe schließlich bricht. Das Symbolhafte dieser Exposition macht deutlich, um welche fundamentale Auseinandersetzung es hier geht: Helena Zengel verkörpert ihren Widerstand gegen das „System“ derart glaubwürdig, dass einem der Atem stockt. Sie ist es, die den Film von der Wirkung her trägt und zu einem wirklichen Erlebnis werden lässt. Hervorzuheben ist auch der Rhythmus des Schnitts, der trotz einiger erzählerischer Längen, die Zuschauenden in ein Wechselbad der Gefühle taucht. Systemsprenger erhielt mit einem Silbernen Bären den Alfred-Bauer-Preis, der für neue Perspektiven der Filmkunst vergeben wird sowie den Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost.
Grâce à Dieu – Die befreite Sprache
Mit sexuellem Missbrauch und Pädophilie greift der französische Regisseur François Ozon in seinem Film Grâce à Dieu ein brisantes Thema auf. Unaufgeregt werden drei Schicksale von Männern erzählt, die verdeutlichen, welch gravierende psychische Verwerfungen die Übergriffe bei ihnen angerichtet haben. Zum einen ist da die Geschichte des katholischen Bankangestellten Alexandre, der als Kind bei einem Pfadfindertreffen von Pater Preynat missbraucht wurde. Alexandre setzt folglich alles daran, dass Pater Preynat generell der Umgang mit Minderjährigen untersagt und ihm die Priesterweihe entzogen wird. Als sein Unterfangen bei dem dafür zuständigen Kardinal Barbarin ins Leere läuft, beginnt er nach weiteren Missbrauchsopfern zu suchen. Dabei stößt Alexandre auf den ruppig wirkenden Atheisten François, der zunächst widerstrebend, dann umso vehementer, die Verbrechen des Paters anprangert. Zusammen mit Alexandre gründet er die Initiative La Parole Libérée und es kommt schließlich zu der Begegnung mit dem Missbrauchsopfer Emmanuel, einem labilen, gebrochenen jungen Mann. Der Fall Emmanuel erweist sich dabei als besonders wichtig, da die Straftaten an Emmanuel, im Gegensatz zu vielen anderen Fällen, noch nicht verjährt sind. Ein Strafverfahren gegen den Pater und den Kardinal scheint damit möglich.
La Parole Libérée – Stimme der Missbrauchsopfer
Ozon porträtiert einfühlsam die drei unterschiedlichen Männer, die das gleiche Schicksal in ihrer Kindheit erdulden mussten. Dramaturgisch gesehen interessieren jedoch weniger die Personen an sich, sondern es geht darum aufzuzeigen, dass der Missbrauch nicht auf Einzelfälle beschränkt ist und die Kirche diese als Machtapparat seit Jahrzehnten zu vertuschen sucht. Das Geschilderte selbst beruht auf Tatsachen. Die entsprechenden Gerichtsverfahren gegen Pater Preynat, der 70 Jungen mehrfach missbraucht haben soll, gegen Kardinal Barbarin und sechs seiner Mitarbeiter, die durch Mitwisserschaft selber zu Mittätern geworden sein sollen, spielt Anfang 2019 in Frankreich.
Die Unmöglichkeit, das Unfassbare zu zeigen
Bei aller aktuellen, politischen Brisanz erzeugt Ozon leider ein Gefühl der Distanz. Szenen, in denen der Pater mit den Jungen im Fotolabor oder in einem Zelt des Pfadfinderlagers verschwindet, um sich an ihnen zu vergehen, wirken deplatziert. Zu monströs sind die Verbrechen und es scheint nahezu unmöglich, sie angemessen zu visualisieren. Geschickter wäre es vermutlich gewesen, die Schilderungen der Missbrauchsopfer zu fokussieren, die bereits hohe emotionale Dichte besitzen. Darüber wirkt die Regie unentschlossen, auf welche der drei Protagonisten das Hauptaugenmerk gerichtet werden soll. Dennoch ist Grâce à Dieu ein politisch überaus wichtiger Film, da er einmal mehr zeigt, dass es sich lohnt, gemeinsam mit anderen für die eigenen Belange zu kämpfen. Der nahezu dokumentarisch wirkende Film erhielt mit dem Silbernen Bären den Großen Preis der Jury.
Une Colonie – Vom Grenzen überwinden
Eine absolute Entdeckung in der Kinderfilmsektion Generation Kplus war die kanadische Produktion Une Colonie (Eine Kolonie) der Franko-Kanadierin Geneviève Dulude-De Celles. Im Vordergrund des melancholisch ruhigen Films steht die Ambivalenz des Begriffes Kolonie. Bei einer Kolonisierung können bekanntlich herkömmliche Macht- und Herrschaftsstrukturen durch etwas Fremdes oder Neues durchbrochen, unterworfen oder auch völlig zerstört werden. Es kann sich dabei aber nicht nur um den Niedergang handeln, sondern auch im positiven Sinn um die Entfaltung von etwas völlig Neuem. Diese Widersprüchlichkeit kristallisiert sich in dem Film vor allem in der Geschichte der jungen Mylia, die neu in einer Vorortsiedlung in der Quebecer Provinz ihre Rolle, ihre Identität, erst finden muss, sich einleben muss in eine ihr fremde Situation. Sie hat keine Lust auf oberflächlichen Sex und Drogen, keine Lust auf die wilden Schmink-Orgien und Oberflächlichkeiten ihrer Schulkameradinnen. Damit wird sie sofort zur Außenseiterin, die sich aber in kühler Distanz hingezogen fühlt, zu ihrem Schulnachbarn Jimmy, einem Indianer, der weitab von ihrem Zuhause in einer Abenaki-Siedlung lebt. Jimmy ist völlig anders als all die anderen in ihrem Umfeld, ein sensibler Junge, der Souveränität, Beherrschtheit und völlige Ruhe ausstrahlt. Deutlich wird dies gleich zu Beginn des Films, als Jimmy ein totes Huhn aus dem Maul eines Hundes löst. Er zerrt und schreit nicht, vielmehr geht er ohne Angst beruhigend auf den fremden Hund zu und kann dadurch die knifflige Situation entschärfen. Eine weitere symbolhafte Situation zu Ende des Films zeigt die Verbundenheit von Mylia und Jimmy, als sie feststellen, dass sie in ihrer Kindheit beide beim Ausmalen von Bildern die vorgegebenen Umrisslinien stets missachteten. Erst das Durchbrechen der Linien ermöglichte ihnen das Einzigartige, das Persönliche und damit die Kolonisierung ihres Umfelds.
Die Entdeckung der Entschleunigung
Während andere Produktionen im Wettbewerb zum Beispiel auf grelle Farben, schnelle Schnitte, nahe Einstellungen und kompliziert verschachtelte Erzähltechniken setzten, besticht Une Colonie vor allem durch ruhige Bilder und entschleunigten Erzählfluss. Die Autorin und Regisseurin Geneviève Dulude-De Celles nimmt sich viel Zeit und erst allmählich entfaltet sie ihre symbolische Argumentation. Sie gibt damit glaubhafte Einblicke in die Gefühlswelt der heranwachsenden Heldin. Die Kolonisierung ist hier nicht ein eruptiver Überfall, der eine revolutionäre Entwicklung gebiert, sondern ein langsamer, evolutionärer Prozess des Erwachsenwerdens. Dabei ist es bewundernswert, mit welcher Nachdrücklichkeit der Film diesem ruhigen Erzählmuster treu bleibt. Émilie Bierre in der Rolle der Mylia verleiht mit ihrem faszinierenden, ruhigen Spiel dem Film eine fantastische Glaubwürdigkeit und schafft es überzeugend, das Symbolhafte ins Visuelle umzusetzen. Une Colonie erhielt von der Kplus Kinderjury den Gläsernen Bären für den besten Spielfilm, wobei der Film einschränkend gesagt, erst ab zwölf Jahren wirklich zu verstehen und daher auch zu empfehlen ist.
Di yi ci de li bie – Ein erster Abschied – vom Schmerz der ersten Trennung
Bei vielen Filmen auf der Berlinale war in diesem Jahr überraschend stark der dokumentarische Gedanke vertreten. So auch bei dem chinesisch-uigurischen Beitrag Di yi ci de li bie – Ein erster Abschied. Zwei Jahre lang hat Regisseurin Lina Wang in ihrem Heimatdorf gefilmt, besonders die kindlichen Protagonisten mit der Kamera begleitet und in alltäglichen Situationen gefilmt. Weitere zwei Jahre lang hat sie dann aus dem Material eine Erzählung gebaut, in der es um das Leben in dem uigurischen Dorf inmitten Chinas geht. Dabei sind die Herausforderungen, zu einer sprachlichen Minderheit zu gehören, genauso angeschnitten, wie der Umgang mit einem Pflegefall in der Familie, wie auch die Wichtigkeit der Schulbildung, um das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Im Mittelpunkt des Films stehen der junge Isa und sein Alltag in dem Dorf weitab großer Städte. Isa erlebt zunächst unbeschwerte Tage, kümmert sich um seine kranke Mutter und hilft dem Vater auf dem kleinen Hof. Gemeinsam mit seiner Freundin Kalbinur zieht er mit viel Liebe und Hingabe ein Lämmchen auf. Doch schon bald stehen Veränderungen ins Haus und verlangen von Isa nicht nur äußerliche Anpassung, sondern auch erste emotionale Abschiede. Als Isas Mutter verwirrt aus dem Haus läuft, weil Isa aus Sehnsucht nach dem Lämmchen zur Freundin gelaufen ist, müssen sich sein älterer Bruder und er auf die Suche nach ihr machen. Die einsame Landschaft und Isas fruchtlose Suche vereinen sich, als die Dämmerung hereinbricht, in seinem schluchzenden Rufen nach der Mutter zu einem archaischen Wehklagen des Kindes. Hier deutet sich der erste Abschied an, denn, obwohl die Mutter wieder auftaucht, berät sich der Vater mit dem Dorfrat, weil er sich nicht mehr gleichzeitig um die Farmarbeit und seine Frau kümmern kann. Isa ist allerdings dagegen, die Mutter in einem Heim unterzubringen und will dafür lieber auf die Schule verzichten, als seine Mutter nicht mehr im Haus zu wissen. Doch die Abschiede ereignen sich dennoch. Sein Bruder geht zurück auf die entfernte Schule, sein Vater bringt seine Frau schweren Herzens in einem Pflegeheim unter und Isa muss sich auch noch von seiner Freundin Kalbinur verabschieden. Sie wird von ihrer Familie ebenfalls in einer weiter entfernten Schule untergebracht, da sie die chinesische Sprache zu schlecht beherrscht. In der uigurischen Gemeinde genügt es, uigurisch zu sprechen, doch den Eltern ist aus eigener Erfahrung schmerzhaft bewusst, wie schwierig es ist, sich ohne Chinesisch in der Stadt zurecht oder Arbeit zu finden. Dann verschwindet auch noch das kleine Lämmchen, um das sich Isa immer gekümmert hat. All diese Verluste sind unauffällig eingefangen und unspektakulär in das tägliche Leben des Jungen eingebettet, doch in dieser Unaufgeregtheit erscheint jeder Moment umso klarer. So berührt der Film Kinder wie Erwachsene gleichermaßen, die jungen Zuschauenden fühlen und durchleben jeden Verlust hautnah mit den Protagonistinnen und Protagonisten mit und die Erwachsenen erinnern sich an das Gefühl des ersten Abschieds im Leben. Dabei sind die individuellen Erlebnisse Isas trotz des spezifischen Hintergrundes durchaus Platzhalter für die universalen Themen, die unabhängig von Geografie greifen. Di yi ci de li bie – Ein erster Abschied ist der diesjährige Gewinner des großen Preises der Internationalen Jury von Generation Kplus.
The body remembers when the world broke open – eine vielschichtige Momentaufnahme
Passend zur Unterzeichnung des 5050 x 2020 Festival Pledge umfasst die Sektion Generation erstmals einen Anteil an weiblichen Regisseurinnen von beinahe 50 Prozent. So stammt auch The body remembers when the world broke open aus der Feder zweier kanadischer Filmemacherinnen, die gemeinsam Regie geführt haben. Die kanadisch-norwegische Produktion liefert eine starke Geschichte über die Begegnung zweier Frauen aus unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Sie wirkt dabei auf verschiedenen Ebenen, von einer allgemeingültigen über eine nahbare bis zum Besonderen, indem sie das Augenmerk auch auf die prekäre Situation indigener Frauen in Nordamerika richtet.
Regisseurin Elle-Máijá Tailfeathers ist Blackfoot von der Kainai First Nation (Blood Reserve) und Sami aus Norwegen und hat in ihrer Kultur bereits in der Kindheit den Wert des Geschichtenerzählens vermittelt bekommen, insbesondere als traditionelles Mittel, Erinnerung weiterzutragen. Das Drehbuch ist inspiriert von einer Geschichte, die Tailfeathers selbst erlebt hat und die sie nachhaltig geprägt hat. So entstand nun in Zusammenarbeit mit Kollegin Kathleen Hepburn ein Film, der die Zuschauenden ganz dicht an diese Erfahrung heranführt, unterstützt durch viele Nahaufnahmen und nahezu in Echtzeit gedreht.
Àila ist von einem Arztbesuch auf dem Weg nach Hause und begegnet in East Vancouver einer jungen Frau. Die 18-jährige Rosie steht sprichwörtlich barfuß und schwanger im Regen auf der Straße. Sie nimmt Rosie mit zu sich nach Hause und in einem vorsichtigen Annäherungsprozess entsteht eine Verbindung. Aber es prallen auch Realität und Wunschvorstellung aufeinander, als Àila versucht, Rosie zu helfen und ihre Probleme zu ‚richten´. Rosie ist vor ihrem gewalttätigen Freund geflüchtet, mit dem sie zusammenwohnte. Àila organisiert ihr daher einen Platz in einem Frauenhaus. Während sie ihre weibliche Selbstbestimmung ausüben kann, wenn sie mit ihrem Arzt darüber redet, ob und wann sie schwanger werden will, ist für Rosie das Baby ein Mensch, den sie um keinen Preis verlieren will und gleichzeitig eine Chance, endlich nie mehr allein zu sein. Daher ist ihr das Frauenhaus auch ein zu großes Risiko. Das soziale Gefälle ist augenscheinlich, dennoch erkennen beide in der anderen eine verwandte Seele. Am Ende sehen sich beide nie wieder. Einer der seltenen Momente im Leben, die an die Menschlichkeit erinnern und einen verändert zurücklassen. In dieser Eigenschaft spricht der Film ein internationales Publikum an, doch er bietet auch eine weitere Ebene, die das Brennglas auch auf unbequeme Fakten richtet:
So haben Frauen indigener Abstammung in Kanada laut einer laufenden nationalen Untersuchung eine fünfmal höhere Wahrscheinlichkeit, durch Gewalt zu sterben. 77 Prozent der Frauen, die durch einen intimen Partner ermordet wurden, starben, nachdem sie aus der Partnerschaft geflüchtet waren. Auch bei der Pflegeunterbringung von Kindern zeigt sich ein Ungleichgewicht, wenn beispielsweise in der kanadischen Provinz Manitoba rund 90 Prozent der Jugendlichen in den Pflegeeinrichtungen Angehörige von First Nations sind. Hier wirkt Kanadas Geschichte der politischen Assimilierungsversuche der Vergangenheit nach.
So gesehen erscheint Rosies Überzeugung, sicherer bei ihrem gewalttätigen Partner aufgehoben zu sein, plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Was bleibt: Facetten des internationalen Film-Festivals
Vor dem Hintergrund von Kosslicks Abschied zeichnete sich die diesjährige Berlinale vor allem durch qualitative Ambivalenz aus. So bot die mangelnde Qualität einiger Filme öffentlichen Diskussionsstoff. Und tatsächlich befanden sich diesmal, rein quantitativ gesehen, lediglich 16 Filme im Wettbewerb auf Bärenjagd. Ein chinesischer Wettbewerbsbeitrag, wie auch ein chinesischer Generation-Beitrag, wurden noch kurzfristig wegen technischer Probleme zurückgezogen. In Fachkreisen wurde daraufhin das Wirken chinesischer Zensurbehörden diskutiert, aber trotz naheliegendem Verdacht in den betreffenden Fällen bliebe das letztendlich zu beweisen. Anlass zur Verwunderung gab zudem, dass einige Filme überhaupt die Höhen des Wettbewerbs erklommen haben. So liegt Kunst natürlich auch immer im Auge des Betrachtenden, wie am Beispiel des deutschen Beitrags Ich war zu Hause, aber zu sehen von Angela Schanelec. Von der deutschen Presse einhellig bejubelt und von der Berlinale-Jury mit dem Preis für die beste Regie beglückt, wurde er vom internationalen und Berliner Publikum dagegen mit ausdauernden Buhrufen bedacht. Ebenfalls mehr als problematisch geriet Fatih Akins drastischer und verstörender Festivalbeitrag Der Goldene Handschuh über einen Hamburger Massenmörder. Der Länderschwerpunkt lag in diesem Jahr auf Norwegen, das mit Ut og stjæle hester (Pferde stehlen) von Hans Petter Moland zu Recht mit einem Silbernen Bären für die besteKameraarbeit des Dänen Rasmus Videbæk belohnt wurde.
Highlights außerhalb des Wettbewerbs
Jenseits des Wettbewerbs, in anderen Sektionen der Berlinale, hätten sich allerdings Film-Beispiele gefunden, die einem Regie-Film-Preis vielleicht eher entsprochen hätten. In der Sektion Generation KPlus, also dem Kinderfilmfest, manifestiert sich ein Dilemma, das sich schon seit Jahren wie ein roter Faden durch die Berlinale zieht: Filme für jüngere Kinder sind fast ausschließlich mit der Lupe zu finden, Filme für ältere Kinder und das Programm Generation 14plus, das sich an Jugendliche richtet, sind jedoch immer wieder für kleine Sensationsentdeckungen gut. So sollte beispielsweise Ausschau gehalten werden nach Filmen wie Kokdu – eine Geschichte von Schutzengeln aus Korea oder der schwedischen Perle Sune versus Sune. Der koreanische Beitrag Kokdu überzeugt zudem durch eine eindrucksvolle bildästhetische, formale sowie inhaltlich runde Erzählung über eine positive Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Verlust, die Einblicke in die koreanische Kulturgeschichte gewährt. In Sune versus Sune wird die Kraft der Fantasie in jeder Hinsicht beschworen, während die Protagonistinnen und Protagonisten die Tücken von Freundschaft und Identitätsfindung navigieren. Auch der deutsch-niederländische Film Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess ist sehenswert, ebenso, wie der amerikanische Beitrag Driveways der zwar ein wenig an Eastwoods Gran Torino erinnert, dafür jedoch auf persönlichen Erlebnissen der beiden Drehbuchautoren basiert.
Die Herausforderung für die Zukunft: Den Überblick finden
Es ist schon eine Herausforderung bei den vielen Programmen und Sektionen überhaupt einen Überblick zu gewinnen und so will das Entdecken unter 400 Filmen gelernt sein. Vielleicht liegt in diesem Punkt, nach der Ära Kosslick, eine der Hauptaufgaben des neuen Berlinale-Teams um Carlo Chatrian als künstlerischem Direktor und Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin, hier eine stringentere Linie zu etablieren. Der Italiener Carlo Chatrian leitete sechs Jahre lang das renommierte, schweizerische Filmfest in Locarno und Mariette Rissenbeek, eine gebürtige Holländerin, war als Geschäftsführerin der Auslandsvertretung des deutschen Films German Films tätig. Genug Vorbereitungszeit bleibt dem neuen Zweigespann – mit der terminlichen Vorverlegung der Oscarverleihung rückt die nächste Berlinale das erste Mal hinter die US-Preisverleihung, an das Ende des Monats Februar 2020 – wir können gespannt sein!
- Nicole Lohfink: Modellversuch ‚Medienkompetenz in der Frühpädagogik stärken‘
Nicole Lohfink: Modellversuch ‚Medienkompetenz in der Frühpädagogik stärken‘
Im Herbst 2018 fiel der Startschuss für den Modellversuch ‚Medienkompetenz in der Frühpädagogik stärken‘ des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS). 100 ausgewählte Modell-Kitas werden über zwei Jahre lang begleitet und bei der Erprobung und dem Einsatz von digitalen Medien und Methoden zur Förderung der Medienkompetenz unterstützt. Federführend dabei ist das Institut für Frühpädagogik (ifp), das hier mit mehreren Partnern, darunter auch das JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis sowie das neugegründete Zentrum für Medien in der Frühpädagogik (ZMF) in Amberg, kooperiert.
Der kompetente Umgang mit digitalen Medien kann als Voraussetzung für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe gelten und wird neben Lesen, Schreiben und Rechnen als eine vierte Kulturtechnik gehandelt. Mit dem Beschluss „Medienpädagogik als Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe" hat die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) bereits 1996 die Grundlage dafür gelegt, woraufhin sich im Dezember 2016 die Kultusministerkonferenz mit dem Kompetenzmodell „Kompetenzen in der digitalen Welt“ darauf verständigte, das Medienkompetenzmodell für die frühkindliche Bildung weiterzuentwickeln.
Um diesen Kinderrechten im Sinne der Beteiligung an digitaler Bildung und Schutz sowie Befähigung im Umgang mit Online-Risiken zu entsprechen, legt bereits § 9 AVBayKiBiG ‚Informationstechnische Bildung, Medienbildung und -erziehung‘ als ein von bayerischen Kitas zu erfüllendes Bildungs- und Erziehungsziel fest: „Kinder sollen die Bedeutung und Verwendungsmöglichkeiten von alltäglichen informationstechnischen Geräten und von Medien in ihrer Lebenswelt kennenlernen.“
Die Konzeption des Modellversuchs orientiert sich dementsprechend an den in § 14 Abs. 2 festgelegten Inhalten des AVBayKiBiG und folgt dem Leitmotiv: Digitale Bildung von Anfang an und Nutzung der Chancen der Digitalisierung für das Bildungssystem Kita (digitale Transformation) – dafür steht dieser Modellversuch. Nach einem umfangreichen Bewerbungsverfahren wurde eine Auswahl an Einrichtungen getroffen, die ein möglichst breites Spektrum abbilden soll, was Größe und interne Strukturen angeht. Dabei werden die ausgewählten Modelleinrichtungen von insgesamt 19 Mediencoaches bis 2020 begleitet. Die Mediencoaches sind Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in der theoretischen und praktischen Umsetzung der Alltags-integrierten medienpädagogischen Projekte. Sie führen verschiedene Fortbildungen mit den Teams durch, in denen die pädagogischen Fachkräfte ihren eigenen Umgang mit digitalen Medien erweitern und auf den Einsatz mit den Kindern bezogen ausbauen können.
Im Laufe des Modellversuchs werden in drei verschiedenen Handlungsfeldern Zwischenziele und Umsetzungsschritte entwickelt und erprobt: Bildungsarbeit mit den Kindern, Stärkung der Fachkräfte auch im Bereich Dokumentation und Beobachtung und Vernetzung mit Eltern und Bildungspartnerinnen und -partnern. Anhand der gewonnenen Erfahrungen kann jede Modellkita ein einrichtungsspezifisches Konzept zur Stärkung von Medienkompetenz entwickeln. Ermittelte regionale Ressourcen werden infolge für eine regionale
Vernetzung genutzt und das entstandene Medienkonzept wird in die bisherige pädagogische Konzeption eingebunden.
www.ifp.bayern.de/projekte/curricula/Medienkompetenz.phpBeitrag aus Heft »2019/01 Medien, Wohlbefinden, gelingendes Leben«
Autor: Nicole Lohfink
Beitrag als PDF - Michael Bloech, Markus Achatz, Nicole Lohfink: Berlinale 2018 – Politik und Filmkunst
Michael Bloech, Markus Achatz, Nicole Lohfink: Berlinale 2018 – Politik und Filmkunst
Die Berlinale hat seit Jahren einen ausgesprochen politischen Anspruch. In diesem Jahr waren hier die Erwartungen allerdings besonders hoch: Ausgelöst durch die #MeToo-Debatte und aufgrund der geringen Frauenquote in nahezu allen Bereichen der Filmindustrie, wurde gespannt darauf gewartet, welche Schwerpunkte das Festival setzen würde. Doch vielleicht war die Berlinale von der Dynamik dieses Themas überrascht worden, denn es kam nur zu einzelnen, wichtigen Aktivitäten. Aus dem riesigen Programmangebot sind Michael Bloech, Markus Achatz und Nicole Lohfink einige bemerkenswerte Geschichten in Erinnerung geblie¬ben, die sie innerhalb von drei Schwerpunkten reflektieren.
Unterhaltung darf sein!
Neben der Setzung von relevanten Schwerpunkten möchte die Berlinale unbedingt ein attraktives Angebot für das breite Publikum bieten und bekanntlich ein Publikumsfestival sein. Zwar hat in punkto verkaufter Tickets das Filmfestival im kanadischen Toronto inzwischen die Nase vorne, doch das gesamte Filmangebot mit seinen vielfältigen Programmblöcken bedient auch auf der Berlinale ein sehr breites Publikum. Gewisse Zugeständnisse an das Unterhaltungsbedürfnis waren damit für eine positive Annahme des Angebots unumgänglich. Grund genug, sich unter dem Aspekt des Unterhaltungswertes die jeweiligen Eröffnungsfilme des Wettbewerbs und der Jugend- und Kinderfilm-Sektionen 14plus und Kplus anzuschauen.
Besonders „fabelhafte“ Eröffnung des Wettbewerbs
Eröffnet wurde der diesjährige Wettbewerb mit dem Puppentrick-Animationsfilm Isle of Dogs (Ataris Reise) von Wes Anderson, der seit 2001 bereits zum fünften Mal als Filmemacher bei einer Berlinale vertreten war. In der wunderbaren, moralischen Fabel geht es laut Wes Anderson in erster Linie um den Hund und erst in zweiter Linie um eine postmoderne, moralische Parabel: „Ich wollte unbedingt einen Film über Hunde machen“. Herausgekommen ist eine Dystopie über die Megacity Megasaki, die von dem omnipotenten, tyrannischen Bürgermeister Kobayashi regiert wird. Alle Hunde werden per Gesetz, wegen vorgeblich nicht behandelbarer Seuchengefahr, auf eine Insel deportiert. Die ferne Insel mit ihrer gigantischen Müllkippe und den monströsen Industrieruinen ist Heimat der streunenden, zotteligen Hunde, die zunehmend verwildern und vom Hungertod bedroht sind. Als sich Atari, der Pflegesohn des Despoten, auf den gefährlichen Weg dorthin macht, um seinen geliebten Hund Spots zu suchen, beginnt eine klassische Heldenreise. Allerdings ist es nicht Atari, der im Mittelpunkt der Geschichte steht, sondern die struppige und ungeheuer liebenswerte Hundemeute rund um Chief, Rex, King, Duke und Boss. Wes Anderson nimmt dabei Jung und Alt mit auf eine wunderbar altmodisch animierte Reise und transportiert dabei ganz nebenbei die wichtige Message, dass es im Leben immer Sinn macht, schier Unmögliches zu wagen, um gegen Missstände solidarisch organisierten Widerstand zu leisten. Anderson konnte mit Isle of Dogs, für einen Animationsfilm etwas überraschend, den Silbernen Bären für die Beste Regie gewinnen.
„Endlich erwachsen?“: Wiederkehrende Kernfrage im Eröffnungsfilm bei 14plus
Um eine Reise geht es auch in 303 von Hans Weingartner, dem Eröffnungsfilm der Jugendfilm- Sektion 14plus der Berlinale. Halb Europa bildet dabei den Hintergrund der gefühlsbetonten Geschichte zweier sehr unterschiedlicher, junger Menschen, die beide noch nicht zu sich selbst gefunden haben. Schon nach wenigen Minuten erinnert 303 an Richard Linklaters Independent- Filmklassiker Before Sunrise. Weingarnter hat 1995 bei dieser Produktion seine ersten Filmerfahrungen, sowohl als Nebendarsteller als auch Produktionsassistent gemacht. Hier wie dort sind es vor allem die pointierten, natürlich wirkenden Dialoge, die ein Zusehen spannend machen. Eine junge Frau und ein junger Mann treffen durch einen Zufall aufeinander und schon beginnt das spannende Sprachduell um Anziehung, Auseinandersetzung und Zurückweisung. Ort der Handlung bildet ein mehr als betagtes Mercedes Wohnmobil, dessen modifiziertes Typenschild für den Filmtitel verantwortlich zeichnet. Die Kombination von romantisch gefärbtem Dialogfilm und ästhetisch ansprechendem Roadmovie unterhält bestens, zumal dabei Themen diskutiert werden, die über den Austausch von Banalitäten weit hinausgehen.
Fantasievoll bunte Eröffnung des Kinderfilmprogramms bei Kplus
Das populäre Kinderbuch Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne von Jakob Martin Strid bildete die Vorlage für den gleichnamigen Auftaktfilm der Sektion Kplus: Den utrolige historie om den kæmpestore pære der Filmemacher Philip Einstein Lipski, Amalie Næsby Fick und Jørgen Lerdam. In diesem farbenfroh animierten Film wird die abenteuerliche Reise der wasserscheuen Katze Mika, dem ängstlichen Elefanten Sebastian und dem verschrobenen Professor Glykose erzählt. Gemeinsam machen sie sich, in einer als Boot umfunktionierten Riesenbirne, auf eine abenteuerliche Suche nach ihrem verschwundenen Bürgermeister. Dabei müssen sie auf hoher See mit diversen Widrigkeiten kämpfen, treffen auf vermeintlich böse Piraten und Seeungeheuer, bevor sie schließlich im Showdown auf den verbrecherischen, größenwahnsinnigen Stellvertreter des entführten Bürgermeisters treffen. Zwar mangelt es der Dramaturgie ein wenig an Eleganz, aber insgesamt wird die Geschichte für junge Zusehende durchaus fantasievoll und unterhaltsam präsentiert.
Michael Bloech arbeitete als Medienpädagoge am Medienzentrum München des JFF mit den Schwerpunkten Videoarbeit, Kinder- und Jugendfilm.
Das Gewicht von Verantwortung: Filme bei GENERATION der 68. Berlinale - Von den Sorgen um andere und den Grenzen des Lebens
Aus dem Programm der Berlinale-Sektion GENERATION ragten Filme heraus, die die jungen Hauptfiguren mit einer widersprüchlichen Welt und schwer verstehbaren Realitäten konfrontieren. Häufig ging es um die Übernahme von Verantwortung für andere und Fragen nach den Grenzen des Lebens.
Wenn Superhelden sterben
Ein berührendes Highlight im diesjährigen Berlinale-Programm der Sektion GENERATIONKplus war die kenianisch-deutsche Koproduktion Supa Modo. Die neunjährige Jo ist unheilbar an Krebs erkrankt. Jos Mutter Kathryn beschließt, ihr Kind für die verbleibende Zeit mit nach Hause zu nehmen. Kathryn ist eine starke Persönlichkeit, doch mit dem Wissen um das unaufhaltbare Sterben ihrer Tochter kann sie ihrer Arbeit als Hebamme nicht mehr nachkommen. In dieser Konstellation übernimmt Mwix, Jos ältere Schwester, mehr und mehr Verantwortung. Jo liebt Superhelden-Geschichten und Mwix erkennt in Jos Fantasie einen Schlüssel für glückliche Momente. Sie bestärkt das kranke Kind in der Vorstellung, selbst magische Superkräfte entwickeln zu können. Dabei gewinnt sie immer mehr Dorfbewohner, sich an dem Spiel zu beteiligen und gemeinsam erfüllen sie Jo den sehnlichen Wunsch, Superheldin in einem eigenen Film zu werden. Neben der herausragenden Darstellerleistung der drei Protagonistinnen liegt die Stärke von Supa Modo darin, aus dem todtraurigen Plot auch hoffnungsvolle Botschaften zu ziehen. Durch die Film-im-Film-Story schafft Regisseur Likarion Wainaina ein Element der Distanz, das Jos Familie (und letztlich auch den Zuschauenden) hilft, mit der Tragödie umzugehen. Supa Modo wurde durch das deutsch-kenianische Produktionskollektiv One Fine Day (gegründet von Marie Steinmann Tykwer und Tom Tykwer) realisiert und ist mit einem rein afrikanischen Team entstanden. Auf der Webseite von One Fine Day findet sich das mit Jugendlichen aus dem Kibera-Slum Nairobi gedrehte Tanzvideo „Ping“. Begrüßenswert wäre es, wenn es künftig mehr afrikanische Filme nach Europa schaffen würden. Supa Moda wurde unter anderem mit Zuschüssen der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit gefördert. Über Bilder und Geschichten Emotionen zu wecken und den jungen Zuschauerinnen und Zuschauern Wege zu mehr Empathie aufzuzeigen, sind gut angelegte Mittel zur Förderung der internationalen Gemeinschaft. Die Kplus-Kinderjury sprach dem Film eine Lobende Erwähnung aus.
Poetische Wege des Abschieds
Eine ungewöhnliche und bewegende Geschichte über das Abschiednehmen erzählt auch der balinesische Film Sekala Niskala (The Seen and Unseen). Auch hier bestimmt eine unheilvolle Diagnose den Verlauf des Geschehens. Tantris Zwillingsbruder Tantra wird schwerkrank. Im Hospiz wagt sich die zehnjährige Tantri nicht ans Krankenbett ihres Zwillingsbruders – außer, wenn sie völlig in magische Zwischenwelten abgleitet, in denen sie mit Tantra spielt und tanzt. Das Mädchen nutzt alles Mystische und Symbolhafte, was sich ihrer kindlichen Welt erschließt, um mit dem nahenden Verlust umzugehen. Mit Kostümen und Körperbemalungen beginnt sie der Trennung zu begegnen. Sekala Niskala – das Sichtbare und das Unsichtbare – spielt dabei auf einer hoch stilisierten Ebene mit langen Traumsequenzen, in denen sich Tantri mit der jenseitigen Welt befasst. Obwohl sie dies alles nicht wirklich begreifen kann, möchte sie mehr Verantwortung übernehmen. Sie äußert einmal, wie gerne sie mit Tantra tauschen würde, damit er weiterleben könnte. Eine Rückblende zeigt, wie sich die Kinder gekochte Eier teilen: Tantri das Eiweiß und Tantra das Eigelb. Eines Tages öffnet Tantri ein Ei, darin fehlt das Eigelb, so wie Tantra. Die indonesische Regisseurin Kamila Andini hat ebenso das Buch zum Film geschrieben. Ihr Regiedebüt The Mirror Never Lies lief 2012 bei Berlinale GENERATION. Mit Sekala Niskala hat sie 2018 den Großen Preis der Internationalen Jury Kplus gewonnen.
Fortuna – Moral und Verantwortung
Fortuna vom Schweizer Regisseur Germinal Roaux hat gleichzeitig den Gläsernen Bären der Jugendjury 14plus und den Großen Preis der Internationalen Jury 14plus erhalten. Die 14-jährige Fortuna ist als Flüchtling aus Äthiopien in einem Kloster in den Schweizer Bergen gestrandet. Seit der Überquerung des Meeres in einem Boot fehlt von Fortunas Eltern jede Spur. Die Abgeschiedenheit und das rauhe Klima verstärken ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach Geborgenheit. Auch andere Flüchtlinge haben vorübergehend im Kloster Zuflucht gefunden und dennoch kann sie nur mit den Tieren des Hofes über alles reden. Vor allem fürchtet sich Fortuna davor, Kabir die Wahrheit zu sagen: Sie ist schwanger von dem 26-Jährigen, der ebenfalls aus Äthiopien kommt. Als sie allen Mut zusammennimmt und es ihm erzählt, reagiert er schroff und gibt dem Mädchen die Schuld. Zunächst hofft das Mädchen auf eine gemeinsame Zukunft, doch bei einer unerwarteten Polizei-Razzia im Kloster verschwindet Kabir spurlos. Der Film besticht vor allem durch seine ästhetische Schärfe. In klaren Schwarz-Weiß-Bildern (im Format 4:3) erhält die Bergwelt eine eigene Hauptrolle. In den Rückblenden der Flucht fließen die tosenden Wellen des Meeres auf imposante Weise mit den Wolkenbewegungen über dem Gebirge ineinander. Fortunas Schwangerschaft kommt allmählich ans Licht und der Film wechselt den Blickwinkel auf andere Instanzen: Einerseits die Politik und Einwanderungsbehörden – repräsentiert in der Figur des Herrn Blanchet –, die auf Basis von Paragraphen Entscheidungen fällen. Er versucht, unbegleitete Minderjährige an Familien zu vermitteln und sieht in einer Abtreibung den einzigen Ausweg. Andererseits die Mönche des Klosters – allen voran Bruder Jean (dargestellt von Bruno Ganz) –, die ihr Haus als Zufluchtsort zur Verfügung stellen. Verantwortung richtet sich hier nach dem Prinzip von Nächstenliebe und göttlicher Weisung. Und es gibt noch eine dritte Ebene – in deren Perspektive wir am Ende zurückkehren: Was wünscht sich Fortuna selbst? Es ist ein Film über ein ergreifendes persönliches Schicksal vor dem Hintergrund der humanitären Katastrophe. Anhand von Fortunas jungem Leben stehen alle, die sich darauf einlassen, vor der Frage nach der Verantwortung. Roaux liefert am Ende keine Antwort, aber viele neue Fragen, die weit über das eine Leben hinausgehen.
Markus Achatz ist Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge, Leiter des Bereichs Bildung im Deutschen Jugendherbergswerk und nebenbei als freier Journalist, Filmrezensent, Musiker und DJ aktiv.
Die ‚persönliche‘ Seite der Berlinale - Die Attraktivität des Autobiographischen
Mit eindrücklichen Filmen quer durch die Sektionen rückten persönliche Lebensgeschichten in den Blickpunkt und verbanden zwei klassische Wahrheiten miteinander. Das Leben schreibt die interessantesten Geschichten – und Kunst, ob auf der Bühne, im Bild oder Film, bildet Leben ab, manchmal auch ‚larger than life'. Besonders beeindruckt dies, wenn es gelingt, diese Realität ganz nah an die Zuschauerin bzw. den Zuschauer heranzurücken. So erzählten folgende drei Beispiele aus dem diesjährigen Programm persönliche Geschichten von realen Menschen und schlagen eine Brücke zu anderen Lebenswelten, aber auch zu universalen Themen wie tiefe Freundschaft, der eigenen Verwundbarkeit und Stolpersteinen des Erwachsenwerdens.
Mut zur eigenen Schwäche – vom äußeren und inneren Terror
Ein bestechender Film aus der Sektion Panorama Special heißt Profile, ein Film von Timur Bekmambetov. Im Mittelpunkt steht die britische Journalistin Amy Whittaker und ihre Recherche über die Rekrutierung junger europäischer Frauen durch den IS. Die Journalistin nimmt über ein gefälschtes Facebook-Profil Kontakt zu einem IS-Kämpfer auf und gibt sich als junge Konvertitin aus. Hierauf folgt ein Katz-und-Maus-Spiel zweier Jäger. Der Film beginnt als Einblick in die Struktur des Terrors, legt aber später zunehmend Gewicht auf die verschwimmende Grenze zwischen sich einlassen und Distanz wahren, Zerbrechlichkeit der eigenen Persönlichkeit und emotionale Manipulationsmechanismen. Der gesamte Film verläuft dabei nur auf der Computer-Bildschirm-Oberfläche, auch das alltägliche Leben der Protagonistin wird über online geführte Unterhaltungen via diversen Web-Diensten gezeigt. Der Zuschauende wechselt zwischen Identifikation mit der Protagonistin und der Beobachterposition. Trotz Eile in der Erzählung, welche die Genauigkeit bestimmter Abläufe überholt, wird die gesamte Tragweite offenbar, wenn Protagonistin – und Zuschauende – mit den Konsequenzen der eigenen Handlungen konfrontiert werden: Die französische Journalistin, auf deren Geschichte der Film basiert, lebt heute unter anderem Namen. Die Veröffentlichung ihres Berichts führte zu mehreren Verhaftungen und einer Todesdrohung durch den IS-Staat. Profile gewann den Publikums-Preis in der Sektion Panorama.
Spirituelle Begegnung mit einem Ausnahme-Musiker
Aus der Reihe Berlinale Special bewies der Dokumentarfilm Gurrumul aus down under erneut die verbindende Wirkung von Musik und macht mit der Persönlichkeit und Musiker Geoffrey Gurrumul Yunupingu, einem Aboriginal aus dem australischen Arnhemland, vertraut. Bewiesen als ein außerordentlich begabter Musiker von Kindheit an, aber blind geboren, bietet Gurrumuls Leben schon genug Stoff, um erzählt zu werden. Aber die Geschichte erlaubt der Zuschauerin bzw. dem Zuschauer einen Einblick in die Würde einer Kultur mit deren Werten einer uns zunächst unvertrauten Gesellschaft. In persönlichen Bildern und Interviews erzählt Regisseur Paul Williams von der frühen Begabung des Musikers – der sich vier Instrumente selbst beibrachte –, von seinem Stammesleben, den Ängsten seiner Verwandten, dass er als blinder Mann keine Unabhängigkeit leben kann, aber auch von der Wertschätzung, die er in seinem Stamm erfährt. Der Zuschauende erfährt von der Begegnung Gurrumuls mit seinem langjährigen engen Freund und Wegbegleiter Michael Hohnen, einem Musiker und ‚baladan‘, das heißt ‚weißer Typ‘ auf Yolngu Matha. Hohnen wird zum Sprachrohr und Übersetzer für den extrem scheuen Musiker, der dennoch Konzerte vor vielen tausenden Menschen gibt. Vor dieser Hintergrundgeschichte schafft es der Film Gurrumul eine Geschichte von persönlicher Freiheit zu erzählen. Dazu kommen Momente, in denen mündlich überlieferte Lieder die Traditionen und Geschichten der früheren Generationen vermitteln und somit den kulturellen Reichtum erlebbar machen. Die Suche nach einer visuellen Entsprechung der Tiefgründigkeit der Musik gelingt durch intime Einblicke, die der Film in die Lebensumstände des Künstlers gewährt – Einblicke, die das enge freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden Musikern Michael und Gurrumul erst ermöglichen und welche so zwischen einem ‚baladan‘ und einem ‚yolnu‘ (schwarzer Typ) selten vorkommen. So findet sich der eigentliche Schatz des Films darin, dass ein ungewollter Star nicht nur Wissen über das kulturelle Erbe Australiens vermittelt, sondern auch die Universalität dieser Traditionen enthüllt. Geoffrey Gurrumul Yunupingu starb kurz vor Veröffentlichung des Films.
Erwachsenwerden – die Suche nach der Identität in turbulenten Bildern animiert
Der Animationsfilm Virus Tropical von Regisseur Santiago Caicedo ist die autobiographische Geschichte der kolumbianisch-ecuadorianischen Cartoonistin Paola Gaviria, basierend auf ihrem gleichnamigen Comic von 2014. Mit der eigenen Existenz als Ergebnis eines tropischen Virus startet der Film in eine humorvolle und bildgewaltige Reise zum Thema Stolpersteine der Kindheit und Jugend im Programm von GENERATION 14plus. Dabei geht es vordergründig um das Mädchen Paola und die Entwicklung ihrer Familienbeziehungen – insbesondere zur Mutter und zu den beiden Geschwistern. Es geht um den Umgang mit Veränderungen, den Umzug in eine andere Stadt, Zugehörigkeitsgefühle der Protagonistin und die eigene Definition. Es ist die Inventur eines Lebens und Konstruktion des eigenen Selbst, inklusive aller Elemente und Orte des Aufwachsens, die eine wichtige Rolle in der Kindheit und Jugendzeit der Autorin gespielt haben. Der Zuschauerin bzw. dem Zuschauer bietet sich dadurch ein Spiegel der Erinnerung, während der Film mit Augenzwinkern und Rasanz die verschiedenen Stationen anläuft. Die Bedeutung von Familie, Erkundung von Sexualität und auch, was es bedeutet, eine Frau zu sein, samt der Entwicklung der persönlichen Identität als zentrale Themen des Erwachsenwerdens werden sowohl inhaltlich als auch stilistisch erfahrbar gemacht. Die turbulenten Wechsel der Kindheit und die Auseinandersetzung mit der Außenwelt spiegeln sich unentwegt in diversen graphischen Spielarten wider. Der Haupt-Charakter ist immer im Entwicklungszustand. Auch musikalisch wird handlungsorientiert gearbeitet – die Liedtexte stehen für die jeweilige Situation in Paolas Leben. Entstanden ist ein sehr ansprechendes und persönliches Werk, dem die Cartoonistin insgesamt neun Jahre ihres Lebens gewidmet hat. Vier Jahre für die Erarbeitung der Novelle und fünf Jahre für die Gestaltung des Films, für den sie über 1.000 Zeichnungen erstellt hat. Real existierende Menschen im Fokus der Filme schaffen so eine gelungene persönliche Begegnung zwischen Fremden und bieten in ihrer Vielseitigkeit noch lange Stoff zum Nachdenken und Nachspüren – und damit sicherlich eine Leistung von gesellschaftlicher Relevanz durch die Berlinale.
Nicole Lohfink ist freie Journalistin, Film- und Theaterkünstlerin und medienpädagogische Referentin.Beitrag aus Heft »2018/02 Kita digital: Frühe Medienerziehung«
Autor: Michael Bloech
Beitrag als PDF - Markus Achatz, Nicole Lohfink: Seelenverwandtschaften
Markus Achatz, Nicole Lohfink: Seelenverwandtschaften
Cineasten haben das asiatische Kino längst für sich entdeckt. Schon mit dem Hongkong-Kino der 1980er Jahre hat der asiatische Film Einfluss auf die westliche Filmgeschichte genommen, in dem vor allem die technische und erzählerische Seite der Actionsequenzen weiterentwickelt wurde. Aus dem japanischen Kino stechen immer wieder starke Dramen hervor, wie zuletzt beispielsweise der Film Like Father, Like Son (Regie: Hirokazu Koreeda), der den Weg in wenige deutsche Kinos gefunden hat. Doch nicht nur für Cineasten gibt es Perlen zu entdecken. Aktuelle Filme aus dem asiatischen Raum bieten vielfältige und spannende Facetten in einem sehr eigenen Stil. Aus Japan kommen das erfrischende Filmdebüt Amiko sowie das Drama Blue Wind Blows, die Sinnsuche eines 12-Jährigen zwischen Krimi und Poesie. Die tibetische Geschichte Wang zha de yuxue – Wangdraks Regenstiefel erhellt die kindliche Logik, wie seinerzeit eine Astrid Lindgren und der indische Kurzfilm Circle geht so unaufgeregt wie eindrücklich auf vererbte Gewalt ein. Dabei stechen vor allem die heranwachsenden Hauptprotagonistinnen und -protagonisten hervor, deren Themen, Wünsche und Hoffnungen im Zentrum des Geschehens stehen. Allen erwähnten Filmen gemeinsam sind inspirierende Momente, die eine Nähe zur dargestellten Lebenswelt erzeugen und verwandte Seelen in den Akteuren erkennen lassen, unabhängig von ihrem Wohnort. Die einzelnen Filmgeschichten sind jeweils eng mit den Orten verbunden, an denen sie spielen. Die Gefühle und Sehnsüchte ihrer Hauptfiguren sind jedoch global gültig und machen die Welt ein bisschen kleiner.
Gemeinsam gegen den Strom
Amiko ist das Filmdebüt der erst 20-jährigen Japanerin Yoko Yamanaka. Mit ihrem unkonventionellen Spielfilm war sie als eine der jüngsten Regisseurinnen im diesjährigen Berlinale-Programm zu Gast. Die 16-jährige Amiko ist darin die Hauptfigur und befindet sich ständig auf der Suche nach Zuneigung und Sinnhaftigkeit in ihrem Leben. Das Mädchen ist überzeugt, anders zu sein als alle anderen und sehnt sich nach Gleichgesinnten jenseits des Mainstreams. Als sie dem etwas älteren Mitschüler Aomi begegnet, glaubt sie jemanden gefunden zu haben, der denkt und fühlt wie sie. Er ist in Amikos Augen der süßeste Junge der Schule und seit einem langen gemeinsamen Winterspaziergang ist sie davon überzeugt, dass auch Aomi gegen den Strom schwimmt. Das Mädchen projiziert alle ihre Wünsche in Aomi hinein. Ihre Gefühle gehen weit über so etwas „Normales“ wie Liebe hinaus. Aomi ist ihr Seelenverwandter. Schließlich hatte er wie sie selbst den Song „Lotus Flower“ von Radiohead als Favoriten in der Playlist seines Smartphones. Doch nach dem Spaziergang vergeht immer mehr Zeit ohne einen einzigen Kontakt zwischen den beiden. Aomi ist für Amiko nicht mehr greifbar und sie verliert sich völlig darin, über ihn und sein Handeln nachzudenken. So wie in Amikos Gedankenwelt Realität und Fantasie auseinanderdriften, zeigt auch der Film Sequenzen, deren Geschehnisse kaum mehr einzuordnen sind. Eines Tages wird bekannt, dass Aomi aus dem provinziellen Nagano in Richtung Tokioabgehauen sei. Als auch noch das Gerücht umgeht, dass er dort mit Miyako zusammen sei, versteht Amiko die Welt nicht mehr. Ausgerechnet die unfassbar durchschnittliche Miyako – der „Inbegriff der Massenkultur“. Amiko sieht sich in der Pflicht zu handeln. Das rebellische Mädchen fährt nach Tokio, um die Konfrontation mit Aomi zu suchen. Gibt es noch eine Chance für Aomi und Amiko?
Yoko Yamanakas Filmdebüt Amiko sprüht vor Einfallsreichtum. Die Hauptfigur ist unberechenbar, wildromantisch und besitzt eine gewisse Besessenheit. Eigenschaften, die auf die gesamte Story übertragen werden können. So wird plötzlich eine U-Bahn-Station zur Musical-Szenerie oder Amiko schreit sich gemeinsam mit einem schimpfenden Mann auf der Straße in Rage über all die Dummheit in der Welt. Wie Yoko Yamanaka im Interview bestätigt, steckt auch ein Teil von ihr in Amiko. Schon als kleines Kind konnte Yoko nicht aufhören nachzudenken und Dinge zu hinterfragen. Bereits mit knapp 20 Jahren hat sie ein Kunststudium und danach ein Filmstudium abgebrochen – trotz einiger Auszeichnungen für Studienarbeiten. Aus der entstandenen Leere und Einsamkeit heraus, hat sie diesen Film gedreht. Insofern ist Amiko auch ein Statement zur japanischen NEET-Generation und dem verbreiteten Phänomen der Hikikomori – jungen Japanerinnen und Japanern, die sich abkapseln und ihre Wohnungen kaum verlassen. Beides gesellschaftliche Entwicklungen, die auch in aktuellen Mangas häufiger aufgegriffen werden. Yoko Yamanakas Humor tritt zu Tage, wenn sie beispielsweise erzählt, dass ein nicht unwesentlicher Teil des kleinen Filmbudgets für die Reparatur des Autos aufzubringen war, welches sie auf dem Weg zum Dreh nach Nagano kaputt gefahren habe. Amiko erschien in der Sektion FORUM auf der Berlinale 2018 und hat beim japanischen PIA FILM FESTIVAL 2017 den Publikums-Preis sowie den Hikari TV-Award gewonnen.
Stille Vertrautheit
Das Langfilmdebüt Blue Wind Blows (Küstennebel) des japanischen Regisseurs Tetsuya Tomina handelt von der engen Seelenverwandtschaft zwischen den Heranwachsenden Ao und Sayoko. Der zwölfjährige Ao lebt mit seiner Mutter Midori und seiner kleinen Schwester Kii auf der Insel Sado. Ao vermisst seinen vor kurzem spurlos verschwundenen Vater. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist. Als der zurückhaltende Junge der geheimnisvollen Gastschülerin Sayoko begegnet, spüren die beiden Kinder eine enge Vertrautheit. Obwohl auch das Mädchen kaum spricht und noch stärker in sich gekehrt scheint, nähern sich die beiden behutsam an und verstehen sich ohne viele Worte. Die beiden Außenseiter suchen gemeinsam nach Spuren von Aos Vater. Aus früheren Zeiten existiert eine Kinderzeichnung des Vaters. Er hat damals ein Monster gezeichnet, das an der Küste aufgetaucht war und sich zwischen dieser Welt und der nächsten Welt bewegte. Ao erinnert sich an die Erzählungen dazu: Wer das Monster sehen könne, wird von ihm in die nächste Welt mitgenommen. Die Sehnsucht nach dem Vater treibt Ao immer wieder an den Rand der Steilküste. Mit der wachsenden Freundschaft beginnen die beiden Kinder mehr und mehr ihre Sorgen und Nöte zu teilen. Sayoko lebt in einer Pflegefamilie, wo sie von den anderen Kindern schikaniert wird. Nachdem sie begonnen hat, sich zu wehren, ist sie in der Folge auch der offenen Gewalt durch Erwachsene ausgesetzt. Auf der Insel geschehen immer wieder merkwürdige Dinge und eines Tages verschwindet auch Sayoko. Ao muss sich nun auch auf die Suche nach dem Mädchen machen.
Blue Wind Blows ist ein ausgesprochen ruhiger Film, der streckenweise eine triste Atmosphäre erzeugt. Jedoch wird die Geschichte durch die intensiven Bilder vor der eindrucksvollen Kulisse der Küstenlandschaft umso eindringlicher. Es geht um Verlust und Tod, aber auch um Freundschaft und Zusammenhalt. Tetsuya Tomina inszeniert mit viel Gespür für die Erlebnisse der kindlichen Protagonistinnen und Protagonisten. Die Kinder sind trotz des begrenzten Raums auf der Insel ständig unterwegs und machen den Film zu einer poetischen und geheimnisvollen – manchmal gar gespenstischen Reise. Für den Regisseur ist eine wichtige Botschaft, dass alle Dinge einer permanenten Veränderung unterworfen sind. Was sich verändert, wird nie wieder so sein wie zuvor. Etwas, das aus der einen Perspektive betrachtet wird, kann aus einer anderen völlig unterschiedlich aussehen. Tomina vergleicht dies mit dem blinkenden Licht einer Lampe im Wind. Und so bleibt die letzte Begegnung zwischen Ao und Sayoko wie ein kurzes Aufflackern. War sie real oder nur ein Teil von Aos Vorstellung? Hat Sayoko wirklich das Monster gesehen? Blue Wind Blows lief im Februar 2018 als Weltpremiere in der Sektion GENERATION Kplus auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin (mit einer Altersempfehlung ab elf Jahren).
Die Kraft der Sehnsucht des kleinen Kindes
Mit Wang zha de yuxue (Wangdraks Regenstiefel) hat Regisseur Lhapal Gyal ein sensibles und poetisches Portrait einer Kindheit in den Bergen Tibets geschaffen. Der neunjährige Wangdrak hat während der Regenzeit in Tibet nichts zu lachen, denn er besitzt als einziger in dem Bergdorf keine Gummistiefel und muss mit durchnässten Turnschuhen laufen. Damit die Turnschuhe nicht ständig völlig durchweicht sind, trägt ihn seine Freudin Lhamo schon mal auf ihrem Rücken durch Pfützen, doch dafür handelt Wangdrak sich den Spott der anderen Kinder ein. Wangdrak wünscht sich endlich eigene Gummistiefel. Doch die Familie hat kein Geld dafür. Besonders der Vater hat zudem andere Sorgen. Denn die Getreideernte steht an, die Lebensgrundlage der Familie, und es gibt Zwist unter den Bauern. Als die Mutter entscheidet, ein Ziegenfell gegen neue, hellblaue Stiefel für ihn einzutauschen, ist Wangdraks Freude groß. Stolz trägt er sie zur Schule, trotz strahlendem Sonnenschein. Wieder erntet er Spott von den anderen Kindern. So wartet Wangdrak sehnsüchtig auf Regen. Mit Hilfe von Lhamo versucht er sogar, Regenwetter zu ‚organisieren‘, denn dann wäre alles endlich gut. Inmitten dieser weiten Landschaft und ihrer Dorfgemeinschaft, die beherrscht wird von der Holz- und Landwirtschaft und der das ganze Leben bestimmenden Ernte, folgt Regisseur Lhapal Gyal den Wünschen eines kleinen Jungen und weckt die Erinnerung an die eigene Kindheit. Erinnerungen daran, als das kleine Kind, das man war, sich das erste Mal etwas wirklich fest wünschte, egal, was andere davon halten. Und an die kleinen Momente der Freude, wenn die Welt in Ordnung ist. Um das zu erreichen, folgt Gyal dabei konsequent dem Blickwinkel seiner jungen Protagonistinnen bzw. Protagonisten und verweilt innerhalb der Grenzen ihrer Welt, an die sie hier und da stoßen.
Wenn Wangdrak seine nassen Turnschuhe ans Feuer stellt, seine Not demonstrierend, allen Mut zusammennimmt, um mit seinem Vater über sein Bedürfnis zu sprechen und darin scheitert, dann spüren wir mit ihm die Machtlosigkeit, für seine Gefühle Worte zu finden, das Ringen um Verständnis. Nur mit der Mutter findet er ebensolche vertrauten Momente. So können sich die Zuschauenden dem Weltverständnis der Kinder nicht entziehen, denn alles ist aus ihrer Sicht erlebt. Allein in den wenigen Szenen, in denen nur Erwachsene sind, zum Beispiel in einem Gespräch zwischen den Eltern oder einer Versammlung der Dorfbauern, gibt es auch kurze Einblicke in die Welt der Erwachsenen.
Mit diesen Informationen und den Situationen aus der Erlebniswelt von Wangdrak ergibt sich ein Gesamtbild, das anschaulich, aber auch liebevoll die Spannung zeigt, die sich aus der Reibung zwischen den Bedürfnissen der Kinder und denen der Erwachsenen-Welt speist. Dazwischen offenbaren sich die kleinen und größeren Brücken zwischen ihnen. Und so endet der Film versöhnlich mit dem Schwenk über die weite Landschaft, die diese Menschen prägt, und die beiden Kinder, die darin umherlaufen und zuhause sind. Und ganz unverhofft sind wir mit ihnen dort zuhause.Lhapal Gyal selbst stammt aus Hainan, dem autonomen Bezirk der Tibeter in der chinesischen Provinz Qinghai und studierte in Peking an der Filmhochschule. Wang zha de yuxue ist sein erster Langfilm und basiert auf einem Roman des tibetischen Schriftstellers Cai Langdong Zhu. In der Originalfassung wird in tibetischer Sprache gesprochen. Wang zha de yuxue – Wangdraks Regenstiefel lief im Februar in der Sektion GENERATION Kplus auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin (mit einer Altersempfehlung ab sieben Jahren).Die Macht des Ungesagten
Nicht unerwähnt bleiben soll der Dokumentarkurzfilm Circle, von der britisch-indischen Filmemacherin Jayisha Patel. Circle folgt drei Generationen von Frauen in ihrem Lebensumfeld in Indien, blickt dabei hinter die Fassaden und deckt den Kreislauf der Gewalt auf. Dabei fokussiert der Film auf die 13-jährige Khushboo, die sich nach einer Gruppenvergewaltigung mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass ihre eigene Großmutter das organisiert hat und sich schließlich in einer Kinderheirat mit einem Mann, den sie nicht kennt, wiederfindet. Die Regisseurin begegnete Khushboo während sie in Uttar
Pradesh für ein anderes Filmprojekt tätig war. Was folgte, waren drei Jahre, in denen Patel die Familie begleitete und in deren Prozess es möglich war, auf die tieferen Beweggründe für die Gewaltbereitschaft der Großmutter zu blicken – auf die Internalisierung von negativen Sichtweisen, um in Machtstrukturen, die nicht zum eigenen Vorteil sind, zu überleben. In unaufgeregten Bildern und in Alltags-Situationen und Gesprächen zeigt Patel diese Internalisierung von Gewalt und Misogynie, im Sinne von subtil in der Gesellschaft verankerten frauenverachtenden Mustern. Da tauschen sich Mutter und Tochter geradezu distanziert über ihnen widerfahrene Gewalt aus. Die Großmutter beschimpft Tochter und Enkelin und hält sie zum schnelleren Arbeiten an, lässt in ihren Begründungen für diese Handlungsweise aber erkennen, dass sie es schließlich auch nicht anders kennt. So schält sich nach und nach heraus, dass der Kreislauf der Gewalt schon viel früher begann. In dem Film wird vieles mit Worten angesprochen, doch letztlich sind es die Momente, in denen niemand etwas sagt, die am aussagekräftigsten sind: Wenn die Mutter Khushboo ihre Haare flicht, wenn Khushboo den Boden schrubbt und die Großmutter zusieht, dann wird die innere Anspannung und Zerrissenheit unwillkürlich spürbar. So ist es auch die letzte Einstellung des Films, die noch lange nachwirkt: Die 13-jährige Khushboo in vollem Braut-Ornat auf ihrer Hochzeit, blickt ein letztes Mal in die Kamera, hinter der Patel steht, ein langer, konzentrierter Blick. Es ist ein Abschiedsgruß an die Filmemacherin, die sie drei Jahre begleitet hat und die nach der Hochzeit auch keinen Kontakt mehr zu ihr hat. Es wäre zu gefährlich für Khushboo.
Seine Aktualität bezieht der Film nicht nur aus der MeToo-Debatte, sondern aus dem Gegenpol zu der Wohlstands-Gesellschaft und den damit einhergehenden Privilegien, in denen die Debatte hauptsächlich stattfindet. Im ländlichen Indien ist es ungleich schwerer, Strukturen der Gewalt zu durchbrechen und wo Internet sowieso kaum eine Rolle spielt, lassen sich lange verankerte Ansichten und Gewohnheiten auch nicht durch eine Facebook- Debatte ins Wanken bringen. Der Film befasst sich mit keinem leichten Thema und er macht es ohne Effekthascherei durch die beobachtende Linse. So kann Circle in seiner geografischen und kulturellen Ferne, seiner menschlichen Nähe und der Tragweite zum Thema Gewalt und ihre Ursachen ein wertvoller Anreiz sein, um wichtige Fragen zu stellen. Circle lief im Februar in der Sektion BERLINALE SHORTS auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin.Markus Achatz ist Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge, Leiter des Bereichs Bildung im Deutschen Jugendherbergswerk und nebenbei als freier Journalist, Filmrezensent, Musiker und DJ aktiv.
Nicole Lohfink ist freie Journalistin, Film- und Theaterkünstlerin, medienpädagogische Referentin und derzeit in Elternzeitvertretung für Birgit Irrgang, Leiterin der Medienstelle Augsburg, tätig.
- Nicole Lohfink: Schule und Spiel – mehr als reine Wissensvermittlung
Nicole Lohfink: Schule und Spiel – mehr als reine Wissensvermittlung
Die öffentliche Schule Quest to learn in New York City ist eine Modell-Schule, die in ihren Lehrmethoden auf spielbasiertes Lernen, Game Design und den Game Design Prozess setzt. In Zusammenarbeit von Erzieherinnen und Erziehern sowie Spielbegriff-Theoretikerinnen und -Theoretikern hat die Schule sukzessive ein Modell für jede Jahrgangstufe entwickelt, sodass nun von der sechsten bis zur zwölften Klasse in einem innovativen Lehr- und Lernansatz gearbeitet wird. Nicole Lohfink im Gespräch mit Rachelle Vallon, die die Entwicklung der Schule beinahe von Anfang an mitgestaltet hat.
merz: How do you define playfulness nowadays?
Vallon: I think there are different kinds of play. There isn’t just play in the form of a game. When you think about a game, it is usually a structure that has rules, a space, and some sort of organized system. Board or computer games are specific games with specific systems, certain rules. But play can also exist outside of a game. For example, an activity or an exercise has elements of a game. One thing we notice in a game is: The goal is always very clear. Or, students are always getting feedback. For example, when teachers create a lesson they create a narrative, an imaginary story line for the students to follow, especially for the younger students. That gives them a reason; they feel like they should learn the material. So it almost feels like a game: Maybe there are these fantastic creatures that need help building houses, and students need to learn about measurements in order to help these creative creatures to build their houses. In that way, they are not opening an iPad or Laptop to play a game about geometry or measurement. They are in fact engaged in something that is playful and creative through this narrative. Sometimes, we have students create a project of some sort that is hands on and they go through the design process. The design process we like to teach is used to create games but you can also use it to create a project or to find a way to express a different idea.
merz: So what do you think is the attraction of playfulness or this kind of playful learning?
Vallon: I think the biggest attraction is something that at our school we call ‘need to know’. That is one of the outcomes in the research that was done: Those scientists looked at games and wanted to know, why kids are always exited in games. Why, if they don’t succeed at first, do they always keep trying? Even if they fail twice, four times, six times. But in school, when they don’t succeed in math or writing, they don’t want to go back; they are scared or bored. And the answer is: It’s about those elements of a game! Knowing what the goal is in a game makes them want to go back. They want to complete the game or even be the winner. You always get immediate feedback and you are usually put into some sort of role. If you are playing monopoly you are asked to become a real estate mogul. Those are some of the things they realized kept students engaged and wanting to go back even if they didn’t succeed. Instead of putting students in a classroom and say: Okay, class. Turn to page 25, we are going to learn about algebra or graphs or American history. That might turn them off or make them fearful. When you make them a game-setting and incorporate those elements of having a clear goal, putting them in a role and that creative narrative – it makes it fun and gives them that need to know. Then, instead of just learning about geometry, they learn about geometry because they have to solve that mission. So it is about finding different ways to engage students, which is really building their perseverance. In fact, as a result they start to use the same habits of not wanting to give up in other lessons, not just in games.
merz: Regarding this sort of knowledge: “I know what have I done wrong in a game so I come back and know immediately what I have to do differently”. Isn't that also already giving a solution beforehand - like `this is how you have to behave in order to achieve´?
Vallon: Well, yes and no. I think in traditional schools sometimes they have one unit and that unit might be two to three months long. Let’s say they are studying literature: They might read one book for a couple of weeks, then they have an assessment test or a writing piece. And maybe that won’t be until a week from now, two weeks from now. But in a game, when you are playing, you are always getting feedback. Every single time you fail or every single time you move on to the next level. And usually, when you think about video games specifically, you need to use the skills that you learned in the previous level, to succeed in the next level. So nothing is done in isolation. Those are the aspects that move into the classrooms. Instead of just relaying, we do give tests along the way, every other day, maybe in the form of a game or an activity. This way you can always check in on every student to see: did they actually understand what I taught today or this week? And it also creates an environment for the students where they are not hesitant or fearful. Testing is a skill in itself that not everyone is good at. So when the assessment is not only a test but in a game or project maybe a student who does not well sitting and writing a test can do well in creating a project. So it is also providing multiple forms for students to show they actually learned what they were supposed to learn. That information will help to figure out how the teacher needs to proceed.
merz: What is the most prominent difference between Quest to learn and a classical school?
Vallon: The biggest difference is the mode of delivery of the instruction and the curriculum being developed from scratch. Also the narrative, the storyline is very unique, specifically for our school. Parents always ask if their child will be learning the same things as every other student in New York City. The answer is, of course, yes. We have to make sure of it! We have standards that every child has to master by the end of each grade. And when the teachers are creating their curriculum, the main difference from most other schools is, our teachers create their curriculum completely on their own from scratch, first based on the standards to make sure the students are learning what they should be learning. But then they go back and see where it’s useful to put in a game or a game-like activity. But every student has different strengths and weaknesses, every group of students is dissimilar, every year, over and over again. The great thing about creating your own curriculum is that you can change it year by year based on the precise skills. Teachers are completely responsible and have autonomy over their curriculum. Also, it is the most beneficial for incorporating games and game-like activities.
merz: But you can’t possibly create a personalized curriculum for each student, so you have to find something that is working for the majority?
Vallon: I will use one teacher as an example. Her curriculum is pretty set, she has been using the same story line and some of the same games - she had told me about one activity where the students start to identify positive traits about themselves. After they identify those positive traits they go on to the computer and use a program that creates comics and they create their own Superhero, an animated version of themselves. There are many steps to this larger project. The purpose is to empower themselves and they will then use this superhero to create a comic book about bullying and that way learn how to solve conflicts and that. She usually creates this comic book every year. This past year she said to me: I realized that this particular group of students struggled with the comic books. So she had to modify. Even if it is something as small as the amount of time she gives them to complete the comic book. But those are the little changes. Maybe it is not about changing the curriculum completely, but about the flexibility, to being able to see, day to day, week to week, what is working and what not. And there are also certain other things that we do. For example the homework requirements that the students get over their summer vacation. The teachers will use that to get some information on the student’s abilities, to see if there is anything they might need to change in their curriculum for the school year coming up. Teachers are completely responsible and have autonomy over all their curriculum.
merz: Is there any sort of supervision, for example, anything that helps teachers whilst struggling with the adjustment of a curriculum or whilst being creative throughout the year with the same time and energy?
Vallon: When the school was created, there was a smaller organization at the education department, called New visions for public schools, that heard about the Institute of Play and their research. Those two organizations created our school. So the philosophy is a really important part and we try to make sure we always maintain those standards. The first part is the hiring as the school is not the right fit for every student and might also not be the right fit for every teacher. We therefore want to make sure that the teachers know what the model is and if they are really interested in creating the curriculum themselves with additional support. And once they come in, we have various types of support. We have mentors to help them during the process of creating their curriculum. We have one teacher who serves as a curriculum developer, so they spend half of their schedule meeting with teachers, checking in on their curriculum, seeing what is working and what is maybe a little too overboard. Creating a good curriculum requires team work, input from other people. And our supervisors also make sure, the curriculums are holding to the game-based learning.
merz: But with every great idea, every system, some things work better and others less good. Where do you see areas of improvement?
Vallon: One thing we had to learn is how this model translates into the upper, the high school grades. Because in New York we have state examinations that students need to receive their diploma and go to college. And a lot of the high school courses are aligned to prepare them for these examinations. At the beginning, some of our teachers struggled in how to incorporate games and game-like activities under the pressure to make sure the students are prepared for these examinations. And that is definitely still going on, we always have to work on that. The model is the same but looks very different in the upper grades. For example, in the upper grade they have what is called problem set. Instead of helping a group of imaginary creatures build a house they might be working on global warming, hunger, or current issues in the world as those are more appropriate for their age-level. In a high school math class a teacher does a project based on the game-show ‘Shark Tank’ where they have to create their own Food-Trucks and use the math they learned about graphs and equations to create business portfolios. So I, for example, always advice our teachers and educators regarding to incorporate games or game-based learning: think about the audience, the age group of the students, the main learning goal and the most appropriate vehicle to get that accomplished.
merz: In what way are there any digital games involved in those vehicles?
Vallon: That was one misconception when we first opened the school. A lot of people had this understanding that we were a video-game school. We used to have students, who were interested in our school as they thought they would sit in front of a video game the whole day and magically learn math, science and English. When you look at the data-base of games, I would say, there are some digitally, but 85 percent of all the games we have are analog or paper-based games. Just a couple of games are on the iPad. For example, we use Minecraft a lot in art or math classes. We have one teacher who is very successfully teaching about slopes and incline by having the students create roller coasters on Minecraft. They have to create a video-game-walk through it and explain mathematically all the slopes in their roller coaster. Students participate in a huge design challenge at the end of the first term and the end of the year. Or, the students in sixth grade have to create a Rube-Goldberg-Machine. This way they learn about prototyping, about showing empathy, giving feedback and so forth. But we have a lot of technologies: computers, iPads, video game systems – but our biggest philosophy is their meaning and purpose!
merz: Media is still often perceived as dubious. Throughout time, each new development – books in medieval times, video in the 80s and nowadays computer games – has been perceived as a threat and sometimes people frown at the use of it in school. What do you think about that?
Vallon: It is a matter of fact that technology exists in today’s society. We like to say that our kids are born with iPads and cellphones in their hands – unlike us. This makes it all more important to teach students the appropriate usage of those devices as we need to look at students holistically. This starts by teaching them how to write a proper e-mail, or when to use or not to use your phone. All those things are thought directly and indirectly at our school. There is a lot of research showing that this is really becoming important to colleges and to employers - looking for individuals who can solve complex problems, who can think outside of the box, who can think critically. Who can work with others. And games and game design does that so well, even if you are not directly teaching it, it happens when you are playing a game that is collaborative and you are in a classroom environment. Not many of our games have a winning element where one person has to win over the other one. A collaborative game is teaching kids: I need to learn how to work with this individual, in order to succeed as a team, to be able to hear this other person’s ideas but I also have ideas that I can contribute. I need to learn time management, to learn organization.
merz: Children are also involved in game-design?
Vallon: In three ways: The first is direct game-design. We have a class specific to our school, called ‘Sports for the mind’ and it is a media, arts and game design class - probably the class where there is the most direct game play and game-design happening. The younger kids maybe will start at the beginning of the school year with learning how to modify games. We go through game modification, through the play-testing process and how to play test games, how to provide constructive feedback. They go through a game and the kids learn a game usually has a space, has rules etc. Once they learn about that they learn about modification. What will happen if we maybe change one rule. Then they are given the opportunity to do that with something as simple as tic-tac-toe. They are given an assignment to create their own version of tic-tac-toe. Then eventually that will level up a little bit. In some of the other classes the teacher will allow students to design their own games around the curriculum they are learning. With a health teacher, the students were learning about the negative effects of tobacco and alcohol use. And they have to create board-games about it. Then there is using the design process in general: we have a special component of our school, called boss level. Similar to a video game when it is usually the final round where you have to beat the boss and you have to use everything you learned in the game to complete this really tough mission. So with boss-level students participate in a huge design challenge at the end of the first term and the end of the year. The sixth grade students have to create a Rube-Goldberg-Machine. This way the students learn about prototyping, about showing empathy, giving feedback etc. The third way is: occasionally students participate in a focus group and they play-test certain games and provide feedback on how to develop certain games, or improve or modify games that devel
- Nicole Lohfink: Mit (Computer-)Spielen zum Ernst des Lebens
Nicole Lohfink: Mit (Computer-)Spielen zum Ernst des Lebens
Dr. Sonja Ganguin ist Professorin für Medienkompetenz- und Aneignungsforschung am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig und Sprecherin auf der Gamescom für interaktive Spiele und Unterhaltung in Köln.
merz Auf der Gamescom haben sich auch die Generalsekretäre der Parteien zu Games und deren Rolle in unserer Gesellschaft geäußert. Welchen Eindruck haben Sie davon, wie hoch der Stellenwert von Games tatsächlich ist?
Ganguin Man merkt, dass wir im Wahlkampf sind. So sagen die Generalsekretäre zwar, wie wichtig Games sind und dass sie auch Entwickler in Deutschland fördern wollen. Frau Merkel hat bei der Eröffnung von Computerspielen als Kulturgut gesprochen. Aber abgesehen vom Deutschen Computerspielpreis braucht es noch einiges mehr an Unterstützung, auch für die Gamescom. Einer der Generalsekretäre, Hubertus Heil, hat sich beispielsweise für die Förderung von Computerspielen und ihre gesellschaftliche Relevanz ausgesprochen. Auf die Frage, ob E-Sport olympisch werden könnte, äußerte er jedoch, dass möglicherweise auch so „merkwürdige Sachen wie E-Sport“ olympisch werden könnten. Da hat er sich etwas verrannt.Auch die Aussage, dass die technische Infrastruktur das A und O für die Schule sei, sehe ich kritisch. Es müsste nämlich schon im Studium, bei der Ausbildung, wenn Fachdidaktiken eine große Rolle spielen, angesetzt werden. Medienkompetenz wird immer als Bildungs- und Erziehungsziel genannt, ist aber im Curriculum immer noch nicht konkret verankert.
merz Hat uns die technische Entwicklung insofern überrannt, dass vielen Menschen nun ein grundsätzliches Verständnis und damit der Mut zur Auseinandersetzung fehlt?
Ganguin Ja, aber das geht mir auch in bestimmten Bereichen so. Wenn ich mir beispielweise einen Smart-TV kaufe, bekomme ich keine Anleitung mehr, sondern soll mir alles aus dem Netz ziehen; ich muss das sogar, da einiges nicht mehr nur intuitiv zu bewältigen ist. Wenn auf der anderen Seite im Bildungsbereich neue Geräte angeschafft werden und niemand erklärt, wie sie genutzt werden können, frustriert das natürlich.
merz Was können Computerspiele dem Bildungsbereich bieten?
Ganguin Die Faszination von Computerspielen ist ihr unheimlicher Spaßfaktor. Das Potenzial besteht darin, dass man selbst aktiv werden und sich problemlösungsorientiert mit bestimmten Aufgaben auseinandersetzen kann. Dabei können parallel auch ganz viele Kompetenzen gefördert werden. Zum Beispiel spiele ich seit Jahren Civilisation und lerne immer wieder dazu. Unter Gamern existiert auch nicht dieser ‚einsam isolierte Nerd‘. Computerspielen ist eine sehr kommunikative, gesellige Tätigkeit, regt die Fantasie an. Man kann in virtuelle Welten eintauchen, ausprobieren, selber gestalten und entscheiden. Das meine ich nicht im Sinne einer medieneuphorischen Perspektive, möchte aber auch keine kulturpessimistische Perspektive einnehmen, im Sinne von Medienverwahrlosung, Mediensucht. Man muss beide Seiten kritisch-optimistisch beachten. Erfahrungen aus der Alpha- und der Beta-Welt sammeln. Computerspiele können eine wunderbare Ergänzung des Alltags sein, um sich auch mit anderen auszutauschen und viel über andere zu lernen. Sie haben unterschiedliche Wirkungen, je nachdem, wie man sie nutzt.
merz Auf der Gamescom hat auch Rachelle Vallon von der Modellschule quest2learn in New York gesprochen. Eine Schule, die sehr stark auf spielerische Lernweisen eingeht. Wie sieht es mit dem spielerischen Lernen bei uns aus?
Ganguin Zum einen haben wir einen historisch gewachsenen Spielbegriff: Spiele sind für Kinder da, Erwachsene spielen nicht. Spiele haben nichts mit Ernsthaftigkeit zu tun. Die historisch gewachsenen Gegenbegriffe, gar Antagonismen sind: Spiel und Arbeit; Arbeit bedeutet Ernst und Pflicht. In unserer Arbeitsethik ist das so fest verankert, dass wir der Ansicht sind, dass Spiele nichts mit dem wirklichen Leben zu tun haben. So hat sich der Spielbegriff durch eine jahrhundertelang gewachsene negative Semantik entwickelt und steckt in uns. Mit der Folge, dass Spielen nichts Relevantes sein kann.merz Kommt daher auch die Hemmschwelle, Gamification in der Schule einzusetzen?Ganguin Viele Lehrkräfte haben generell Angst, Medien in der Schule einzusetzen. Andere von ihnen meinen, alles zu wissen und zu können. In Bezug auf den Medieneinsatz haben sie Angst vor einem Kompetenzverlust; Eltern ebenso. Aber in Deutschland wird generell das Beispiel Classcraft herangezogen, wo durch Gamification-Elemente der Unterricht mitgestaltet werden kann. Computerspiel ist ein Lernprozess. Bei Minecraft hat man zum Beispiel viel Kreativität, aber man unterliegt natürlich auch den Möglichkeiten eines Programms.
merz Es herrscht also Einigkeit darüber, dass Computerspiele die Kreativität fördern und Mediennutzung wichtig ist. Aber wie sieht die Werteverteilung für den Unterricht aus: Was wird in der Ausbildung als wertvoll und notwendig erachtet?
Ganguin In einigen Fachdidaktiken werden Inhalte vermittelt, die für spezielle Situationen zwar ganz sinnvoll sein können, aber es findet zu wenig Transfer statt. Warum und wozu brauche ich beispielsweise den Dreisatz im Alltag? Unsere Mathematik-Lehrkräfte rechnen in ihrer Ausbildung auf höchstem Niveau, werden das alles aber gewiss nie ihren Schülern beibringen. Dagegen wird so etwas wie die Mediennutzung in der Ausbildung überhaupt nicht thematisiert. Gerade die Fähigkeit, sich kritisch mit bestimmten Entwicklungen auseinanderzusetzen und zu hinterfragen, kommt einfach viel zu kurz.
merz Was wünschen Sie sich in der praktischen Umsetzung?
Ganguin Man muss Lehrkräften mehr Freiraum geben. Das Curriculum ist zu voll, lässt relativ wenig Flexibilität zum Auszuprobieren oder Scheitern. Fehler zu machen ist aber ganz wichtig, da darin immer auch eine Erkenntnis steckt. Die Tendenz zu schneller, höher und weiter führt eher dazu, dass Depressionen zunehmen, insbesondere an den Universitäten. Dass Beratungsstellen einen immer größeren Zulauf verzeichnen, ist ein gesellschaftliches Phänomen, das man ernst nehmen sollte. Heute kommen Kinder aus der Schule und müssen ein Spektrum an weiteren Aufgaben absolvieren, inklusive Hausaufgaben. Aber die Möglichkeit, auch mal Langeweile zu empfinden, dass Langeweile auch etwas Schönes ist und zugelassen werden darf, erleben Kinder heute fast gar nicht mehr. Die Schule muss, meiner Meinung nach, da neu ansetzen und mehr Freiheiten einräumen.merz Wie sehen Sie derzeit in Deutschland die Chancen dafür?Ganguin Nach meiner Erfahrung ist immer ganz viel von der Schulleitung abhängig. Wenn die hinter neuen (auch mediendidaktischen) Konzepten steht und Lehrkräfte unterstützt, ist vieles einfacher. Dabei müssen längst nicht alle medienaffin sein, man kann nicht von allen alles erwarten. Aber es gibt viele Lehrkräfte, deren Antrieb unterstützt werden sollte.
Beitrag aus Heft »2017/05 Self-Tracking. Lifelogging. Quantified Self.«
Autor: Nicole Lohfink
Beitrag als PDF - Nicole Lohfink/Axel Danielson/Maximilien Van Aertryck: Humor-Ein machtvolles Instrument, um Ernstes zu thematisieren. Ein Gespräch mit Maximilien Van Aertryck und Axel Danielson, Plattform Produktion (Verfügbar ab 15.10.2023)