Klaus Lutz
- Redaktion
Vita
Ich bin Redakteur bei merz seit 2010.
Aktivitäten
- Pädagogischer Leiter des Medienzentrum Parabol
- Fachberater für Medienpädagogik für den Bezirk Mittelfranken
Schwerpunkte
- Medienarbeit mit Kindern sowie Fortbildungen für Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen und Lehrer
- Entwicklung von Modelprojekten im Bereich ePartizipation.
- Computerspiele und ihre Nutzung im Alltag von Kindern und Jugendlichen
Beiträge in merz
- Klaus Lutz: Der kleine Paul (Verfügbar ab 15.12.2023)
- Klaus Lutz/ Eike Rösch: Wege zum Beruf Medienpädagog*in
Klaus Lutz/ Eike Rösch: Wege zum Beruf Medienpädagog*in
Die Medienpädagogik ist in den letzten Jahrzehnten von einer Randerscheinung ins Zentrum der Diskurse über Pädagogik und Bildung gerückt. Die Digitalisierung fegt wie ein Hurrikan über die Gesellschaft hinweg. Nichts bleibt wie es war. Im Auge des Hurrikans – in dem bekanntlich Windstille herrscht – versuchen die tapferen Medienpädagog*innen die Herausforderungen zu gestalten, die sich aus diesem Wandel ergeben. Waren es zunächst vor allem Pädagog*innen mit Interesse für Film und Fotografien, die sich der Thematik angenommen haben, so ist jetzt als Folge der Digitalisierung ein eigener Beruf der Medienpädagog*innen entstanden, auch wenn es nach wie vor unterschiedlichste Zugänge und Qualifizierungen hierfür gibt. Häufig fehlt es an qualifizierten Medienpädagog*innen, um die Anfragen zu befriedigen, die sich aus dem stark gestiegenen Bedarf ergeben.
Bereits vor mehr als 15 Jahren war die Medienpädagogik in der Forschung wie auch in der Praxis schon so etabliert, dass ihr der kopaed-Verlag einen eigenen Titel widmete: So erschien im Jahr 2003 der Band Beruf Medienpädagoge (Hrsg. von Norbert Neuß); die Fachpublikation reichte kaum aus, um die Vielschichtigkeit dieser jungen Disziplin zu beschreiben. Jetzt, 15 Jahre später, ist die Medienpädagogik nicht mehr wegzudenken.
Vor allem in der außerschulischen und schulischen Bildungsarbeit ist die Vermittlung von Medienkompetenz zu einer zentralen Aufgabe für ein selbstbestimmtes und souveränes Leben geworden. Als Treibriemen für unseren Berufsstand hat sich vor allem die Erkenntnis erwiesen, dass es künftig keinen Lebensbereich mehr geben wird, der nicht durch die Digitalisierung vor einem grundlegenden Wandel steht. Die Medienpädagogik soll mithelfen, die Risiken einer solchen Entwicklung zu erkennen und zu minimieren, sowie das Individuum dazu befähigen, die Zukunft mit Medien aktiv mitzugestalten. Eine durchaus herausfordernde Aufgabe.
Die Medienpädagogik sorgt für die Fort- und Weiterbildung von Pädagog*innen im Bereich Medienpädagogik und -didaktik: Diese erarbeitet mit Kindern und Jugendlichen eigene Medienprodukte, dreht Filme und YouTube-Clips, produziert Sendungen für Radio und Fernsehen, erstellt Blogs sowie Internetseiten und vermittelt den Kindern und Jugendlichen damit die Funktionsweisen der Medien und die Gefahren durch deren Faszinations- und Manipulationskraft. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Erstellung von Anleitungen und Material zur Medienerziehung sowohl für Pädagog*innen als auch für Eltern. Medienpädagog*innen betreiben aber auch Medienforschung, indem sie unter anderem die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen untersuchen. Fragestellungen, wie sich beispielsweise Gewaltdarstellungen in Nachrichten oder Computerspielen auf Heranwachsende auswirken, stehen auf der Agenda. Die Forschung beschränkt sich aber längst nicht mehr nur auf Kinder und Jugendliche; sie hat auch die Medienkompetenz von Erwachsenen und Senior*innen im Blick.
Die Qualifikation zur*zum Medienpädagog*in kann man an Universitäten oder Fachhochschulen durch ein eigenständiges Studium, ein Lehramtsstudium oder im Rahmen eines Studiums der Erziehungswissenschaft, Medieninformatik oder der Sozialen Arbeit erwerben. Allerdings: Wo Medienpädagogik draufsteht, ist nicht immer Medienpädagogik drin. Dies liegt zum einen daran, dass sich praktisch jede*r Medienpädagog*in nennen darf, und dass es durchaus sehr unterschiedliche Definitionen gibt, wie der Begriff Medienkompetenz zu interpretieren ist.
Diese Ausgabe möchte dazu beitragen, die Professionalisierung des Berufs Medienpädagog*in nachzuzeichnen und Argumente dafür zu liefern, warum dieser Beruf dringend benötigt wird – und dies gilt nicht nur für pädagogische Handlungsfelder.
Zu dieser Ausgabe
In den letzten Jahren ist eine Vielzahl an Publikationen und Positionspapieren erschienen, die die Medienpädagogik sowohl in ihren theoretischen Bezügen zu definieren versucht als auch Anleitungen für theoriegeleitetes Handeln beschreibt. Patrick Bettinger hat sich der durchaus anspruchsvollen Aufgabe angenommen, den aktuellen Theoriediskurs zu beschreiben sowie die Handlungsfelder der Medienpädagogik zu diesem in Bezug zu setzen. Sein Beitrag liefert eine wichtige Grundlage für die weitere Diskussion des heterogenen Berufsfeldes der Medienpädagogik. Nach Einschätzung des Autors existiert keine zentrale theoretische Begründung der Medienpädagogik. Die damit verbundene Interdisziplinarität eröffnet aber auch anregende Perspektiven, um auf die immer komplexeren Medienwelten adäquat reagieren zu können. Gleichzeitig ist damit aber auch die Gefahr verbunden, dass eine genuin medienpädagogische Theorieentwicklung auf der Strecke bleibt.
Kai-Uwe Hugger setzt sich mit der Frage auseinander, ob die Medienpädagogik ein eigenes Berufsbild darstellt und in welchen Handlungsfeldern der Pädagogik die Medienpädagogik zu verorten ist. In seinen Ausführungen zeigt er die Diskurse der letzten Jahre über die Entwicklung zu dem Beruf Medienpädagog*in auf und beschreibt sehr anschaulich den momentanen Stand. Es ist unstrittig, dass die Medienpädagogik einem Professionalisierungsprozess unterliegt; in vier anschaulichen Thesen steckt Kai-Uwe Hugger zusammenfassend die Bedingungen für diesen wichtigen Prozess ab.
Mit Günther Anfang ist es gelungen, einen Medienpädagogen der ersten Stunde für ein Interview für diese Ausgabe zu gewinnen. Günther Anfang ist einer der Pioniere der Medienpädagogik und hat sie als praktisches Handlungsfeld der Pädagogik maßgeblich mitentwickelt. In seiner langjährigen beruflichen Tätigkeit hat er den Wandel, dem die Medienpädagogik durch die enorme technische Entwicklung der letzten Jahre unterlegen ist, aktiv miterlebt und begleitet. Neben den zentralen Wendepunkten, die die Medienpädagogik immer wieder verändert haben, beschreibt er aber auch sehr anschaulich, dass es bei allem Wandel und neuer Technik letztlich doch darum geht, Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen und zu ermutigen, sich mit Medien auszudrücken und Geschichten zu erzählen. Dies gilt auch gerade für die Allerjüngsten.
Viele junge Menschen äußern auf die Frage nach ihrem Berufswunsch häufig etwas diffus: „Naja, irgendwas mit Medien.“ Welche Qualifizierungsmöglichkeiten stehen ihnen aber nun offen, wenn sie sich für das Berufsbild Medienpädagogik entscheiden? Johannes Fromme, Steffi Rehfeld und Josefa Much zeigen die Bandbreite der Hochschulen und der Weiterbildungsmaßnahmen auf. Sie gegeben damit einen sehr guten Überblick über den momentanen Stand der Qualifizierungsmöglichkeiten. Darüber hinaus ordnen sie auch die Beschäftigungsaussichten einer solchen Qualifizierung im Kernbereich des pädagogischen Arbeitsmarktes ein. Offen bleibt in dem Artikel die Frage, ob eine Ausbildung zur*zum Medienpädagog*in sinnvoll oder eine medienpädagogische Grundbildung für alle pädagogischen Fachkräfte notwendig ist.
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von medienpädagogischen Praxisprojekten im pädagogischen Alltag und es ist kaum ein pädagogisches Handlungsfeld denkbar, das ohne Medienprojekte auskommt. Mareike Schemmerling definiert die Leitplanken eines solchen Handelns. Dabei weist sie ausdrücklich darauf hin, dass für alle Konzepte als theoretischer Bezugspunkt die Vermittlung von Medienkompetenz im Zentrum stehen muss. Denn nicht der Einsatz von Medienoder das Behandeln von Medienthemen machen ein medienpädagogisches Projekt aus; vielmehr stellt medienpädagogische Praxisarbeit immer Kinder und Jugendliche ins Zentrum ihrer Aktivitäten und agiert ausgehend von ihrer Sicht auf die Welt, ihren Belangen und Bedürfnissen. Sie verfolgt stets das Ziel, jungen Menschen Kompetenzen zu vermitteln, die sie für ein gelingendes Leben in einer digital-medialisierten Welt benötigen.
Um die internationale Entwicklung der Medienpädagogik mit in den Blick zu nehmen, haben wir Kolleg*innen aus Estland, Finnland, Griechenland, Österreich, Rumänien und der Schweiz für dieses Heft um eine Kurzdarstellung der Medienpädagogik in ihren Heimatländern gebeten. An dieser Stelle nochmals vielen Dank für die Unterstützung. Die Texte sind in kleinen Kästen im Thementeil der Ausgabe verteilt. Wir haben uns sehr über die Zusendung der Beiträge der Kolleg*innen aus ganz verschiedenen Teilen Europas gefreut, da aus unserer Sicht eine Weiterentwicklung der Medienpädagogik in Deutschland nur sinnvoll auch unter Einbeziehung internationaler Konzepte und Erfahrungen gelingen kann.
Im Zeitalter von Bildkommunikation hatten wir – zusammen mit dem Medienpädagogik Praxis-Blog – Kolleg*innen gebeten, ihren medienpädagogischen Alltag bildlich in Szene zu setzen und mit Veröffentlichung unter dem Hashtag
#vonBerufMedienpaed auf einem beliebigen Social-Media-Kanal an unserer Fotoaktion teilzunehmen. Wir waren überwältigt, welche Resonanz der Aufruf erfahren hat. Über 90 Einsendungen haben uns erreicht. Danke!! Unsere Favoriten unter den Einsendungen sind in dieser Ausgabe abgedruckt, ein Bild ziert auch das Titelblatt. Auch der Medienpädagogik Praxis-Blog hat seine Favoriten gekürt!
- Klaus Lutz: Wer soll dein Herzblatt sein?
Klaus Lutz: Wer soll dein Herzblatt sein?
Trotz der Verlockungen des Beziehungsmodells der 68er-Generation wählen die meisten das klassische Beziehungsmodell der Paarbeziehung als Lebensentwurf. Sogar Rainer Langhans hat in einer TV-Show bedauert, dass es ihm nicht gelungen ist, Uschi Obermaier fest an sich zu binden. Es ist aber eine durchaus schwierige Entscheidung, den richtigen Partner zu wählen. Man ist hin- und hergerissen zwischen all den großartigen Persönlichkeiten, die für eine feste Beziehung zur Wahl stehen. Da hilft oft nur – wie bei anderen kniffligen Entscheidungen –, sich mit einer Pro- und Contra-Liste etwas mehr Klarheit zu verschaffen. Zugegeben, ich gehöre nicht zu den Menschen, die allzu oft in so einer Zwickmühle stecken. Aber neulich war es dann doch soweit. Ich musste mich entscheiden, wer mein Herzblatt sein soll: Die Uschi? Oder doch die Bibi? Ein paar Worte zu Uschi: Sie ist schon lange an meiner Seite, denkt klar und strukturiert und ist äußerst verlässlich. In all den Jahren unserer Beziehung hat sie mich nur selten in die Irre geführt und ist immer gradlinig ihren Weg gegangen. Ja, sie ist nicht immer fehlerfrei und verliert auch schon einmal die Orientierung, wenn es darum geht, neue Wege zu wagen. Sie ist auch nicht immer ganz im Bilde darüber, was in ihrer Umgebung so vor sich geht. Auch macht sie ihre Probleme lieber mit sich selbst aus, was eine gewisse Beschränktheit ihrer Innovationsfähigkeit mit sich bringt. Aber auf ihr bekanntem Terrain bewegt sie sich sicher und souverän – sofern sie sich nicht zu Fuß fortbewegen muss. Und dann wäre da noch Bibi: Sie ist innovativ, ‚fresh' und immer bereit, Informationen anderer aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie überrascht mich immer wieder mit neuen Gedanken und scheint – fast magisch – die Zukunft voraussehen zu können. Sie kann sich sehr feinfühlig auf die Bedürfnisse anderer einstellen und hat gleichwohl eine rationale Analyse für vielschichte Problemstellungen parat. Sie ist praktisch mit allem und jedem vernetzt und bereichert so den Alltag mit immer neuen Ideen. Sie kennt jede Kneipe, jedes Hotel und jede Tankstelle in der Umgebung und kann zuversichtlich auch noch die Öffnungszeiten sowie den Ruhetag benennen. Schwierig gestaltet es sich allerdings, wenn die Verbindung zu ihr abreißt: Dann geht nichts mehr, es herrscht völliger Stillstand – von sich aus meldet sie sich nie. Leider kommt das immer wieder vor. So, Klaus! Wer soll denn jetzt dein Herzblatt sein? Uschi, die immer treu an deiner Seite steht, kaum Fehler macht und auch in Zukunft eine verlässliche Partnerin sein wird. Oder Bibi, die deinen Alltag mit neuen Ideen bereichert, offen und aufgeschlossen mit allen kommuniziert, aber auch manchmal den Kontakt völlig abreißen lässt. Tja, Klaus, jetzt musst du dich entscheiden. Ich habe mich für Bibi entschieden. Mir war es doch wichtiger, mit meiner Umgebung vernetzt zu sein, in Echtzeit Alternativen zu längst vertrauten Wegen zu entwickeln und immer wieder neue Fähigkeiten zu entdecken. Deshalb künftig also nur noch Navigation mit dem Handy und mit GoogleMaps. Bibi macht das schon, und die fest eingebaute Uschi hat ausgedient. Ach ja, hatte ich erwähnt, dass alle meine Navigationssysteme weibliche Vornamen haben? Das ist – wie viele Männer wissen – einfach der Gewohnheit (erstes Navi im Auto: die eigene Ehefrau) und der Höflichkeit (irgendwie muss ich sie ja ansprechen, wenn ich mit ihnen streite) geschuldet. Die einzige Frage, die für mich offen bleibt: Wie sprecht ihr Frauen eigentlich eure elektronischen Helferlein an?
- Klaus Lutz: Privater Lauschangriff
Klaus Lutz: Privater Lauschangriff
Seit meiner Jugend habe ich ein Laster – ich würde es mal meinen persönlichen großen Lauschangriff nennen. Immer wenn ich zum Beispiel in einem Café sitze, Zug fahre oder mit anderen Menschen auf die U-Bahn warte, kann ich mich nicht dagegen wehren, den Unterhaltungen anderer zu lauschen. Da gibt es überaus viel zu erfahren: Liebeserklärungen, Strategien, wie man Eltern dazu bringt, einem das neuste Handy zu kaufen, hochdramatische Trennungen, Kochrezepte oder welche Serien auf Netflix gerade so angesagt sind. Man kann auch versuchen, sein Englisch aufzubessern – vor allem in München am Bahnhof gibt es dazu viele Möglichkeiten. Oder man kann Fremdsprachen raten. Dazu muss man allerdings die fremden Menschen letztlich ansprechen und fragen, welche Sprache sie sprechen; das mache ich allerdings nur, wenn ich alleine unterwegs bin, denn meiner Familie ist derartiges Verhalten immer unglaublich peinlich. Mit der massenhaften Verbreitung des Handys wähnte ich mich im Paradies angekommen. Das öffentliche Telefonieren eröffnete mir nicht für möglich gehaltene, schier grenzenlose Gelegenheiten. Ganz ungeniert telefonierten viele Menschen in der Öffentlichkeit und die Gespräche waren auch noch aus größeren Entfernungen zu verstehen. Mit der Zeit telefonierten die Menschen jedoch immer seltener in der Öffentlichkeit. Schade! Seit es aber die Möglichkeiten gibt, mit WhatsApp-Sprachnachrichten zu versenden, kann ich meiner Leidenschaft wieder besser frönen. Kürzlich kam ich im ICE von München nach Nürnberg wieder einmal in den Genuss: Die Frau in der Sitzreihe vor mir hatte sich über ihre beste Freundin so geärgert, dass sie ihr gleich mehrere Sprachnachrichten per WhatsApp schickte. Denn: Ihre Freundin (eine gläubige Katholikin) war nicht bereit, die Taufpatenschaft für ihr Kind zu übernehmen, da sie der Meinung war, dass meine Mitfahrerin nicht fest genug im Glauben verankert sei. In mehreren Nachrichten kündigte die Zugfahrerin ihr nun die Freundschaft, wärmte alte Streitigkeiten auf und drohte damit, allen gemeinsamen Freunden von dieser Ungeheuerlichkeit zu berichten. Nach der Fahrkartenkontrolle war die junge Frau zwar auf schriftliche Kommunikation umgestiegen, was für mich allerdings kein Problem bedeutete, denn schließlich war der Spalt zwischen den Sitzen breit genug, um Mitlesen zu können. Nach einiger Zeit war die Kommunikation doch recht redundant und ich verlor die Lust am Mitlesen, weshalb ich mich Spotify zuwandte – für viele seit Jahren eine Selbstverständlichkeit, für mich eine absolute Neuentdeckung – und Cat Stevens anwählte. In Nürnberg stieg ich aus und lief beschwingt den Bahnsteig entlang, immer noch die Stöpsel im Ohr. Verwundert bemerkte ich, dass mich viele Leute anstarrten. Erst dachte ich: „Jetzt wissen alle, dass ich heimlich Leute belausche. Jetzt muss ich ins Exil.“ Dann sah ich die entsetzten Blicke meiner Familie, die mich am Bahnsteig erwartete. Mühsam brachte mein Sohn über die Lippen: „Vadder, hör auf zu singen. Du bist total peinlich.“ Mit hochrotem Kopf zog ich mir die Stöpsel mit dem Song „Father and Son“ aus den Ohren und schlich hinter meiner Familie vom Bahnsteig. Das Musikhören mit dem Handy muss ich wohl noch etwas üben.
- Klaus Lutz: Können Computerspiele Jugendliche stark machen?
Klaus Lutz: Können Computerspiele Jugendliche stark machen?
Während eSports immer noch um eine Anerkennung als Sport beim Deutschen Olympischen Sportbund ringt, gibt es immer mehr öffentliche eSport-Veranstaltungen. Auch in der Jugendarbeit wird sich verstärkt dem Thema gewidmet, denn Computerspiele können durchaus zur Stärkung der Resilienz von Jugendlichen beitragen. Durch Veranstaltungen wie die FrankenFinals wird das Hobby aus den privaten Zimmern in öffentliche Veranstaltungsorte getragen, wo die Jugendlichen positive Rückmeldung erleben können.
Literatur
Barmer (2018). Stark durchs Leben – Resilienz von Kindern und Jugendlichen fördern. Berlin. www.barmer.de/ blob/12412/f4fa70c89e1c73e159431c6fdb72591f/data/stark-durchs-leben---resilienz-von-kindern-und-jugendlichen-foerdern-60131k.pdf [Zugriff: 24.02.2019]
Bergmann, Wolf/Hüther, Gerald (2007). Computersüchtig. Kinder im Sog der modernen Medien. Weinheim/Basel: Beltz Verlag.
Deutsche Schachjugend im Deutschen Schachbund e.V. (o. J.). Schach ist Sport. Berlin. www.deutsche-schachjugend.de/sport [Zugriff: 24.02.2019]
Die Bundesregierung (2018). Stellungnahme der Staatsministerin und Beauftragten der Bundesregierung für Digitalisierung Dorothee Bär, MdB zur Positionierung von DOSB-Präsidium und -Vorstand vom 29. Oktober 2018 „Umgang mit elektronischen Sportartensimulationen, eGaming und ‚eSport‘“. Berlin. www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/stellungnahme-der-staatsmininisterin-und-beauftragten-der-bundesregierung-fuer-digitalisierung-dorothee-baer-mdb-zur-positionierung-von-dosb-praesidium-und-vorstand-vom- 29-oktober-2018-umgang-mit-elektronischen-sportartensimulationen-egaming-und-esport--1543864 [Zugriff: 24.02.2019]
eSport-Bund Deutschland e.V. (2018). Was ist eSport? Berlin. www.esportbund.de/esport/was-ist-esport [Zugriff: 25.02.2019]
eSport Verband Deutschland (o. J.). Hürth. www.esvd.de [Zugriff: 24.02.2019]
eSport-Bund Deutschland e.V. (2018). Berlin. https://esportbund.de/ [Zugriff: 24.02.2019]
FrankenFinals (2018). FrankenFinals - [DAS GROßE FINALE] - 13. Oktober 2018. www.youtube.com/watch?v=mUxWRjZVCsQ&t=1s [Zugriff: 24.02.2019]
GamesMarkt.de (2018). DOSB lehnt Games als Sport ab und distanziert sich vom Begriff eSports. Frankfurt. www.mediabiz.de/games/news/x/434733?NL=gm d&uid=g50056&ausg=20181029&lpos=Main_1 [Zugriff: 24.02.2019]
Maxim (2015). StoryTime #8: Peinliche Eltern. www.youtube.com/watch?v=quabsLT4k0E [Zugriff. 24.02.2019]
Spiegel Online (2008). Computerspiele sind Kultur. Hamburg. www.spiegel.de/netzwelt/spielzeug/jetzt-offiziell-computerspiele-sind-kultur-a-572152.html [Zugriff: 24.02.2019]
Spiegel Online (2019). Bundestagsanhörung zu E-Sport. Gewaltenteilung. Hamburg. www.spiegel.de/sport/sonst/e-sport-die-debatte-was-ist-sport-wird-absurd-gefuehrt-a-1254307.html [Zugriff: 24.02.2019]
theScore esports (2017). The Story of Rekkles: The Swedish Superman. www.youtube.com/watch?v=iajQSqkxv_E&t=2s [Zugriff: 24.02.2019]
Theunert, Helga/Eggert, Susanne (2003). Virtuelle Lebenswelten – Annäherung an neue Dimensionen des Medienhandelns. In: merzWissenschaft 47 (5), S. 3–13.
Wikipedia (2019). Gronkh. de.wikipedia.org/wiki/Gronkh [Zugriff: 24.02.2019]
- Klaus Lutz/Sebastian Ring: Computerspiele in der Jugendarbeit
Klaus Lutz/Sebastian Ring: Computerspiele in der Jugendarbeit
Der Aspekt des Spielens als eigensinnige, symbolvermittelte Form der Interaktion im pädagogischen Diskurs der vergangenen Jahre ist bisher eher ein wenig zu kurz gekommen. Bisher erfolgte die medienpädagogische Bewertung eher zwischen den Lagern der pädagogischen Einsatzmöglichkeiten von Computerspielen (Game Based Learning, Gamification, Minecraft als Bildungstool usw.) und der Bewertung von Risiken (Diskurs über Lootboxen, Anerkennung von Gaming Disorder als Krankheitsbild durch die WHO). Wie Spielen in digitalen Kommunikationskontexten erfolgt und inwiefern spielerisches Handeln etwa in spielerisch-performativen Strategien der Kommunikation oder Selbstdarstellung auch abseits klassischer Computerspiele sichtbar ist, bleibt dagegen unterbeleuchtet. Die Medienpädagogik sollte sich einer solchen Sichtweise auf Computerspiele nicht verweigern. Denn zugleich kommt ihr auch die Rolle zu, die Nutzungsmotive der Jugendlichen bezüglich digitalen Spielens differenziert zu beschreiben und um Verständnis für das Medienhandeln junger Menschen zu werben. Wichtig ist hierbei die Berücksichtigung der Zunahme von Eigenerfahrungen innerhalb des handlungsorientierten Lernens bei der (Medien-)Erziehung im Altersverlauf. Für die Medienpädagogik bedeutet dies, Kindern und Jugendlichen Reflexionsmöglichkeiten für ihre Medienerfahrungen zu bieten. Dabei ist aber gemäß des Grundsatzes „Anregung statt Aufregung“ zu verfahren. Es wird den Jugendlichen jeglicher Gestaltungs- und somit Bildungsraum genommen, wenn die Gefahren zum zentralen Ausgangspunkt des pädagogischen Handelns gemacht werden. Mit diesem verengten Blick für die vielen Möglichkeiten, welche die Computerspiele für die Pädagogik bieten, würde zudem der Zugang zu aktuellen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen verloren gehen. Gerade sie suchen nach Bestätigung und Anerkennung mit und in Computerspielen. Dabei berücksichtigen sie ebenso Anerkennung für ihre „Kompetenz“ im Umgang mit digitalen Spielen. Die Leistung, die sie im Umgang mit Computerspielen erbringen, sollte angemessen gewürdigt werden. In anderen europäischen Länder ist dies oft schon Alltag. So ist das Schulfach „eSport“ in Gymnasien in Norwegen keine Seltenheit mehr und in Finnland gibt es Jugendtreffs mit dem Schwerpunkt Computerspiele. Bei einem persönlichen Besuch solcher Einrichtungen berichteten medienpädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass dort lange Wartelisten geführt werden und täglich Eltern anrufen, die ihre Kinder gerne anmelden möchten.
Das zentrale pädagogische Anliegen bleibt in diesem Zusammenhang nach wie vor die Vermittlung von „Medienkompetenz“, die jugendliche Nutzende in die Lage versetzen soll, Medien zielgerichtet und im Sinne ihrer Interessen zu nutzen. Medienkompetenz wird im Prozess der Sozialisation ausgeformt – im Umgang mit Medien ebenso wie durch Anregungen von außen, die bereits erworbenen Fähigkeiten beständig zu erweitern oder auch Haltungen zu korrigieren.
Dieses Heft möchte dazu beitragen, einen interdisziplinären Blick auf das Thema Computerspiele zu werfen und darüber hinaus die aktuelle Entwicklung der vergangenen Jahre zu beleuchten.
Das Schwerpunktthema wird durch den Beitrag „Digitale Spiele in der Medienpädagogik“ von Martin Geisler eröffnet. Darin legt der Autor schlüssig dar, welchen enormen Einfluss die Haltung der Pädagogin oder des Pädagogen zum Spielen selbst auf die Qualität der pädagogischen Arbeit hat. Vom Grundmuster einer gesellschaftlichen Haltung zum Spiel über das Verständnis medienpädagogischer Strömungen bis hin zu den Rahmenbedingungen leitet er Handlungsempfehlungen zur Spielleitung ab. Der Beitrag verdeutlicht dabei: Wenn Spielen nicht auch als zweckfrei und verbunden mit Spaß akzeptiert wird, verschenkt man das eigentliche Potenzial für die Bildungsarbeit.
Einen ungewöhnlichen Blick wirft Klaus Lutz auf das Phänomen Computerspiele im Alltag von Jugendlichen. Es geht nicht um Sucht, Zeitbindung oder Wirkungsfragen bezüglich des Inhalts. Sein Fokus liegt vielmehr – ohne dabei bestimmte Computerspielgenres auszuschließen – auf der persönlichkeitsstärkenden Wirkung, die Computerspiele haben können. Er belegt seine These mit den Erkenntnissen der Resilienzforschung und sieht hier durchaus Anknüpfungspunkte, die sich auf die Computerspielwelten übertragen lassen. Am Beispiel von pädagogisch organisierten eSport-Veranstaltungen führt er nachvollziehbar aus, welches Potenzial für Resilienz und Partizipation in pädagogisch intendierten Computerspielkonzepten steckt.
Benjamin Bonn und Johannes Karsch bringen in die zurzeit schwelende Debatte um den eSport noch zwei weitere Gesichtspunkte ein. Wie lässt sich eSport von Sport abgrenzen und welche Möglichkeiten bietet er für die Schule? Dabei geht es auch um die grundsätzliche Akzeptanz von Computerspielen als Hobby und primäre Freizeitbeschäftigung wie auch um die so genannte „K“-Frage. Bei dieser „Killerspiel-Frage“, vor allem bei jenen eSport-Veranstaltungen mit Shooter-Spielen, geht es um die grundsätzliche Entscheidung, ob ein Spiel, das das Töten anderer Spielfiguren mit naturgetreuen Waffen beinhaltet, überhaupt als Spiel akzeptiert werden kann. Die Autoren zeigen zudem aus unterschiedlichen Perspektiven pädagogische Einsatzmöglichkeiten von eSport für die Schule auf und beschreiben hierbei mögliche Einsatzszenarien. Jetzt liegt es an der Schule zu entscheiden, wie dieses Potenzial genutzt werden wird.
Welchen Herausforderungen sich Verbraucherinnen und Verbraucher, speziell auch Eltern, durch In-App-Käufe und Monetarisierungsstrategien gegenübersehen, erklärt Tatjana Halm, Referatsleiterin des Bereichs Markt und Recht in der Verbraucherzentrale Bayern, im Interview mit Sebastian Ring. Sie stellt heraus, wie Eltern ihre Kinder im Umgang mit elektronischen Bezahlmöglichkeiten unterstützen können und zeigt hierbei Handlungsmöglichkeiten bei negativen Konsequenzen des Online-Handelns auf. Kritisch betrachtet sie Phänomene wie Loot-Boxen aus Perspektive des Verbraucher-und Datenschutzes und erörtert die rechtliche Verankerung des Minderjährigenschutzes mit bestehenden Sonderregelungen für Vertragsschließungen mit Kindern und Jugendlichen.
Vor allem für junge Menschen ist es nicht immer leicht, in der Berufswelt ihren Platz zu finden. Dies aber ist eine Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben abseits von finanzieller Abhängigkeit und fehlender persönlicher Anerkennung. Verschiedene Bildungsträger begleiten und unterstützen Jugendliche an dieser für sie so wichtigen Schnittstelle ihres Lebens. Romina Nölp geht dabei auf den ersten Blick ungewöhnliche Wege. Sie knüpft an der Leidenschaft von Jugendlichen für digitale Spiele an und nutzt die von ihnen erworbenen Kompetenzen im Umgang mit Spielen als Quelle für eine erfolgreiche berufliche Planung. Anschaulich beschreibt sie in ihrem Artikel, wie es mit Hilfe von Computerspielen gelingen kann, jungen Menschen einen Zugang zu ihren eigenen Kompetenzen zu ermöglichen, ohne sie gleich mit ihren Defiziten zu konfrontieren.
Die Initiative Creative Gaming hatte von Beginn an das Potenzial von Computerspielen für die Förderung von kreativen Prozessen und Medienbildung im Blick. Für ihre Bildungsprozesse nutzt sie kommerzielle Computerspiele auf eine ganz neue Weise. Sie regt zum Beispiel die Gamerinnen und Gamer an, Spielregeln zu ignorieren und digitale Möglichkeitsräume neu auszuloten, Spielszenarien auf die analoge Welt zu übertragen oder mit Hilfe von Computerspielen eigene Filme zu erstellen. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Die Idee „mit Spielen die digitale Welt auf den Kopf zu stellen“ bietet auf diese Weise ein unerschöpfliches Repertoire für den Einsatz von Computerspielen in der Medienpädagogik.
- Röll, Franz J. (2003). Pädagogik der Navigation. Selbstgesteuertes Lernen durch Neue Medien. München: kopaed.
Röll, Franz J. (2003). Pädagogik der Navigation. Selbstgesteuertes Lernen durch Neue Medien. München: kopaed.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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In der heutigen Zeit navigieren uns Computer durch den Alltag. Kaum jemand versucht mehr, sich eine Fahrroute über das mühsame Studium von Karten oder Stadtplänen zu erarbeiten, man lässt sich fast ausschließlich von einer Computerstimme von A nach B lotsen. Der Begriff der Navigation hat im Jahr 2003 bei Franz Josef Röll jedoch eine ganz andere Bedeutung: Nicht Computer sind die Navigatoren, die er im Bildungsprozess einfordert, sondern er will die Transformation des Lehrenden (der alles Wissen in sich trägt) zum Navigator, der durch Begleitung und ‚Störungen‘ des Lernprozesses selbstgesteuertes Lernen befördert und dieses durch die Bereitstellung von Medien ermöglicht. Bezugnehmend auf die Debatte über Medienkompetenz stößt Franz Josef Röll mit seinen Thesen neue Türen auf. Nicht die Medien als Instrument des Lehrens stehen im Zentrum seiner Überlegungen, sondern die durch die Medien veränderten Lebensbedingungen, die ein neues Verständnis von Lernen erforderlich machen. „Vom Lehrer zum Mentor“ ist die von ihm geforderte Transformation. Sicherlich ist dies im Diskurs der Bildung keine neue Forderung. Dies macht aber auch die Stärke seiner Überlegungen aus. In der Tradition der Reformpädagogik untermauert er seine Forderungen nach Veränderung der Bildungslandschaft mit Blick auf die revolutionär veränderten Lebenswelten durch Medien. Die Medien verändern unsere Wahrnehmung und unser Denken und führen somit zu neuen Identitätskonstruktionen. Im Rahmen dieser neuen Identitätskonstruktionen plädiert er für die Vermittlung von ‚Wahrnehmungskompetenz‘ und hebt die Bedeutung der Bildkommunikation in der Mediengesellschaft hervor. In Anbetracht der hohen Nutzungszahlen von YouTube heute sind seine Gedanken von 2003 durchaus visionär.Das Buch von Franz Josef Röll ist ein Kompass durch den Mediendschungel für all jene, die sich ernsthaft mit Medienpädagogik beschäftigen.
Klaus Lutz ist pädagogischer Leiter des Medienzentrum PARABOL e. V. in Nürnberg, Fachberater für Medienpädagogik in Mittelfranken, Dozent an der Simon-Georg-Ohm Hochschule Nürnberg sowie stellvertretender Vorsitzender des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Seit 2011 ist er in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDF - Anfang, Fiedler, Lutz, Kammerer: Aufwachsen in Medienwelten.
Anfang, Fiedler, Lutz, Kammerer: Aufwachsen in Medienwelten.
Diese Publikation ist die Dokumentation der gleichnamigen Fachtagung / Nürnberger Forum der Jugendarbeit, die vom 25. bis 27.09.2002 an der Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule stattgefunden hat. Die Verbindung von theoretisch-konzeptionellen Inhalten mit Einblicken in die praktische Werkstattarbeit ist ein wesentliches Ziel des Nürnberger Forums der Jugendarbeit.
Die nun vorliegende Dokumentation der letztjährigen Fachtagung gibt in den beiden Hauptgliederungspunkten: „Grundfragen der Medienpädagogik“ und „Praxisdarstellungen aus der medienpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“ dies wieder.
Die Publikation soll somit nicht nur einen Rückblick auf eine spannende, interessante und anregende Fachtagung ermöglichen, sondern auch Ausblicke für die pädagogische Praxis zeigen (Anfang, Fiedler, Lutz, Kammerer: Aufwachsen in Medienwelten. Perspektiven der medienpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. emwe-verlag, Nürnberg 2003, 14,90 Euro).
- Klaus Lutz: Medienpädagogik auf allen Kanälen
Klaus Lutz: Medienpädagogik auf allen Kanälen
Mit der zunehmenden Medialisierung des Alltags ist auch die Medienpädagogik immer stärker in das öffentliche Interesse gerückt und – nicht zuletzt durch den Begriff der Medienkompetenz – zu einer bemerkenswerten „Berühmtheit“ gelangt.
Dabei ereilt sie jedoch dasselbe Schicksal wie jeden aufsteigenden Star. Viele sonnen sich in ihrem Scheinwerferlicht, versuchen auf ihrer Erfolgswelle mitzuschwimmen und schmücken sich mit ihrem Namen, ohne sie wirklich zu kennen: So spricht man bereits von Medienpädagogik, sobald ein Overheadprojektor zum Einsatz kommt oder Softwareprogramme geschult werden.
Doch wie sieht sie denn nun aus, die „ideale“ Medienpädagogik und an welchen Determinanten sollte sie sich ausrichten?...
(merz 04/2003, S. 9-17)
Beitrag aus Heft »2003/04: Medienpraxis - Konzepte und Perspektiven«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDF - Klaus Lutz: Mediengewalt und ihre Folgen
Klaus Lutz: Mediengewalt und ihre Folgen
Ich (41 Jahre alt und katholisch erzogen) kann mich noch dunkel an die Infotische der Landfrauen erinnern, an denen sie vor über 20 Jahren nach dem sonntäglichen Messbesuch um Unterschriften gegen die zunehmende Gewalt in den Medien warben. Damals ging es im Besonderen – denn das Internet gab es z.B. noch gar nicht – um den boomenden Videomarkt mit seinen Horror- und Actionfilmen, der die Gemüter erregte. Nach meinem Umzug vom Land in die Stadt und meinen gegen Null gehenden Kirchgängen verlor ich allerdings später die Landfrauen und den Erfolg ihrer Aktion aus den Augen. In Frühjahr 2003 kreuzten sich dann beim Forum „Mediengewalt und ihre Folgen“ in der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg erneut unsere Wege. Als einer der Mitveranstalter hatten die Landfrauen wieder einmal zum Sturm auf die mediale Gewalt geblasen. Die aufgebotenen Dozenten sollten endgültig mit dem Vorurteil aufräumen, dass kein wissenschaftlich beweisbarer Kausalzusammenhang zwischen medialer Gewalt und den Handlungsweisen der Medienkonsumenten herzustellen sei.
Nun kenne ich zwar Ego-Shooter-Spiele, indizierte Actiongames und habe das eine oder andere Horrorvideo gesehen, bekenne aber, dass ich nicht zu den Fans dieser Unterhaltung gehöre. Die dort angetroffene Mediengewalt hat bei mir jedoch lange nicht soviel Aggressionspotential hervorgebracht wie der Vortragsstil des ersten Referenten, Professor Lukesch, erweckte er doch in seiner gesamten Präsentation nachhaltig den Eindruck, dass es ihm mehr um die Diffamierung Andersdenkender geht, als um die Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Selbstredend sei es dem Referenten unbenommen, seine Meinung nachdrücklich zu vertreten. In höchstem Maße unseriös ist es aber, differenzierte Aussagen z.B. des allseits anerkannten Medienwissenschaftlers und Familientherapeuten Jan-Uwe Rogge aus dem Zusammenhang zu reißen, mit einem schlechten, 10 Jahre alten Schwarzweißbild per Videobeamer an die Wand zu werfen und ihn als einen derer zu entlarven, die immer noch die Lüge verbreiten würden, dass Medien keine Wirkung hätten. Nach Beendigung des Vortrages war die Stimmung entsprechend gedämpft. Nachfragen wurden nur zögerlich gestellt und kaum einer wagte, Kritik an dem Vorgetragenen zu üben.
Es herrschte allgemeine Niedergeschlagenheit und das Gefühl, jeder der Zuhörer hoffe auf seinem Nachhauseweg keinem Jugendlichen zu begegnen, der gerade ein Computerspiel gespielt hatte, da er sonst um seine körperliche Unversehrtheit fürchten müsse. Vor die Wahl gestellt, einem weiteren Vortrag, diesmal vom seit vielen Jahren emeritierten Augsburger Professor Glogauer, zu lauschen, der mir aus anderen Veranstaltungen leidvoll in Erinnerung ist, oder den unsicheren Heimweg durch marodierende Computerfreaks anzutreten, wählte ich Letzteres.Die Landfrauen hatten es wieder einmal gut gemeint. Mir drängt sich aber unweigerlich die Frage auf: Welche Wirkung hat die Medienwirkungsforschung auf das Verhalten der Wissenschaftler?
- Klaus Lutz: Medienarbeit mit Behinderten
Klaus Lutz: Medienarbeit mit Behinderten
Welche Bedeutung Medien für behinderte Menschen haben können, führte Günther Jauch in seiner Sendung Stern-TV einem Millionenpublikum vor: Während der Sendung benutzte ein im Studio anwesender junger Mann mit einer autistischen Behinderung den bereit gestellten Computer, um Wort- und Satzsegmente niederzuschreiben, und ermöglichte so den Zuschauern einen Einblick in seine autistische Welt. In diesem Fall wurde das Medium allein als Kommunikationshilfsmittel – quasi als Prothese – eingesetzt und übernahmen damit die Funktion eines Mittlers zwischen zwei Welten. Der Einsatz von Medien in der Behindertenarbeit muss aber deutlich weiter gefasst werden, als lediglich Kompensationshilfe für die jeweilige Behinderung zu sein. Vor allem als Bildungsvermittler müssen die Medien auch in der Sonderpädagogik ein Einsatzfeld finden.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass unser Bildungswesen und somit auch das pädagogische Handeln von gesellschaftlichen Entwicklungen, Erwartungen und politischen Zielen beeinflusst wird. Für die Behindertenpädagogik gilt dies in besonderem Maße. Ihre Geschichte spiegelt die Einstellungen der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen. Bemühungen um die Verbesserung der Lebenssituation behinderter Menschen stießen und stoßen auf Grenzen solidarischen Handelns, die der Gleichberechtigung und Integration entgegen stehen. Behindertenpädagogik bedarf deshalb des sozialpolitischen und bildungspolitischen Engagements; gleichzeitig muss sie die Interessen behinderter Menschen wahrnehmen.Auch die Medienpädagogik versteht sich in erster Linie als Pädagogik und setzt die Medien als Werkzeug zum Erreichen ihrer Ziele ein. Die Medienpädagogik stellt für die Behindertenarbeit somit eine methodische Erweiterung dar, die leider noch zu selten genutzt wird...
( merz 2003/03, S. 148 - 151)
- Klaus Lutz: Am Anfang war das Spiel
Klaus Lutz: Am Anfang war das Spiel
In der Regel werden Computerspiele von Kindern gespielt, die bereits die Schule besuchen und lesen und schreiben können.
Es gibt jedoch auch Projekte, die den Computer bereits im Kindergarten spielerisch zum Einsatz bringen, etwa zur gezielten Spachförderung.
(merz 2004-03, S. 34-37)
Beitrag aus Heft »2004/03: Computerspiele - Interessen und Kompetenzen«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDF - Günther Anfang: 40 Jahre medienpädagogische Arbeit
Günther Anfang: 40 Jahre medienpädagogische Arbeit
Medien beeinflussen alle Lebensbereiche und sind deshalb eines der prägenden Zukunftsthemen unserer Zeit. Längst sind Medien ein zentrales Element im Bildungsalltag. Die Aussage „keine Bildung ohne Medien“ der Bildungsinitiative führender Medienpädagoginnen und Medienpädagogen bringt dies gut auf den Punkt. Wo liegen die Gründe, dass die Medienpädagogik in den letzten Jahrzehnten so immens an Bedeutung gewonnen hat? Wo liegen die Wurzeln der aktiven Medienarbeit? Klaus Lutz hat sich mit Günther Anfang – ein Medienpädagoge der ersten Stunde – über die Entwicklung der Medienpädagogik und deren Bedeutung in der heutigen Bildungslandschaft unterhalten.
- Klaus Lutz: Geburtstagsgeschenk 4.0
Klaus Lutz: Geburtstagsgeschenk 4.0
Zugegeben, Geburtstagsgeschenke sind so gar nicht mein Ding. Schon als Kind wusste ich nicht, was ich meinen vier Geschwistern, meinen Eltern, den bei uns im Haus lebenden zwei Tanten und vier Großeltern schenken sollte. Mit Weihnachten, Ostern und Namenstagen (bei guten Katholik*innen war der Namenstag wichtiger als der Geburtstag) war man eigentlich ununterbrochen damit beschäftigt, Geschenke zu basteln oder zu kaufen. Mit zunehmendem Alter blieb bei der Geschenkesuche auch die Unterstützung der älteren Geschwister aus, was die Lage nicht gerade verbesserte. Ich schwor mir daher: Wenn ich erwachsen bin, werde ich diesen unsinnigen Brauch, sich etwas zum Geburtstag zu schenken, abschaffen und außerdem so lange Fernsehen schauen wie ich will.
Das mit dem Fernsehen (jetzt Netflix) hat gut funktioniert, das mit den Geschenken hat sich als schwieriger herausgestellt als gedacht. In die Hände spielte mir zwar zunächst, dass ich – nach eingehender Befragung frei nach Goethe „wie hältst du es mit der Schenkerei?“ – eine Frau geheiratet habe, die dem Brauch des Schenkens genauso ablehnend gegenübersteht wie ich. In mehreren Wellen haben wir also folglich diese (Un-)Sitte auf das absolute Minimum reduziert. Allerdings erlitten wir einen herben Rückschlag, als unser Sohn geboren wurde. Alle Verwandten und Freund*innen witterten ihre Chance, uns in den Kreis der Schenkenden und Beschenkten zurückzuholen. Ab der Geburt überschütteten sie unseren Sohn mit Geschenken: zum Geburtstag, Namenstag, Weihnachten, Ostern und bei sich sonst bietenden Gelegenheiten – natürlich in freudiger Erwartung der zweistufigen Reaktion „innige Danksagung und Gegengeschenk bei nächster Gelegenheit“. Bei vier Schwestern sowie sechs Nichten und Neffen kam das der Kettenreaktion eines Atomreaktors gleich. Wir mussten also wieder einen Geburtstagskalender einführen, um auch bloß niemanden zu vergessen, der*die unseren Sohn beschenkt hatte. Zudem vergrößerte sich natürlich unser Bekanntenkreis mit der Geburt unseres Sohnes – Eltern nebst Kindern aus Geburtsvorbereitung, Rückbildungsgymnastik, PeKiP-Gruppe, Babyschwimmen und Kita kamen hinzu. Auch Einladungen zu Kindergeburtstagen ließen nicht lange auf sich warten. Die pädagogisch bewegten Eltern erwarteten allerdings nicht nur ein Geburtstagsgeschenk für das Geburtstagskind, sondern auch kleine Geschenke für die Geschwister, damit diese sich nicht zurückgesetzt fühlten und später deshalb vielleicht auf die schiefe Bahn geraten würden. Für einen bekennenden Geburtstagsgeschenke-Besorger-Hasser ein echter Albtraum. Aber was bleibt einem bewegten spätberufenen Vater anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mittlerweile ist mein Sohn dem Alter der Kindergeburtstage entwachsen und der Geburtstagsgeschenkewahnsinn bewegt sich wieder in verkraftbaren Bahnen. Ein wenig durchatmen konnte ich schon, als ein Teil der jüngeren Verwandtschaft dazu überging, Geschenkwünsche für ihre Kinder bei mir in Form von Amazon-Links zu hinterlegen, mit Lieferung direkt an das Geburtstagskind. Aber richtig Hoffnung, endgültig aus dieser Zwangsjacke erlöst zu werden, konnte ich neulich bei einer Geburtstagsfeier junger Menschen schöpfen: Sechs Teenager stellten sich im Kreis um das Geburtstagskind, zückten ihr Handy und überwiesen dem Geburtstagskind per Knopfdruck ihr Geburtstagsgeschenk. Das Geburtstagskind zückte ebenfalls sein Handy, überprüfte den Eingang, bedankte sich artig und die Feier konnte beginnen. Genial, dachte ich mir: Kein lästiges Nachdenken über ein geeignetes Geschenk, kein zeitaufwendiges Besorgen des Selbigen und vor allem kein lästiges Einpacken in Geschenkpapier – oder besser noch, im originellen Upcyclingmodus. Jetzt bin ich bereit, wieder in das Geburtstagsgeschenkekarussell einzusteigen. Jetzt macht Schenken wieder Spaß.
- Medien in der offenen Kinder- und Jugendarbeit | Gespräch mit Erhard Bollmann (Tetrix)
Medien in der offenen Kinder- und Jugendarbeit | Gespräch mit Erhard Bollmann (Tetrix)
Mediennutzung ist aus dem Alltag Jugendlicher nicht mehr wegzudenken. Spiegelt sich dies auch in den Angeboten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wider? Welche medienpädagogischen Angebote sind im Setting der Offenen Kinder- und Jugendarbeit umsetzbar? Sind Pädagog*innen bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen? Klaus Lutz hat sich darüber mit Erhard Bollmann unterhalten.
- Mareike Schemmerling/Wolfgang Reißmann/Klaus Lutz: Von aktiver Medienarbeit zur aktiven Arbeit mit Medien? Konstanten, Wandel und aktuelle Entwicklungen
Mareike Schemmerling/Wolfgang Reißmann/Klaus Lutz: Von aktiver Medienarbeit zur aktiven Arbeit mit Medien? Konstanten, Wandel und aktuelle Entwicklungen
In diesem Artikel stellen wir der Aktiven Medienarbeit die Entwicklung hin zu einer vielstimmigen aktiven Arbeit mit Medien gegenüber. Dabei legen wir eine Reihe von Beobachtungen dar, die eine Pluralisierung und bisweilen auch Entgrenzung beschreiben. Keinesfalls geht es darum, unterschiedliche Ansätze der praktischen Medienarbeit gegeneinander aufzuwiegen. Unser Ziel ist vielmehr, Einblicke in die Heterogenität von Herangehensweisen zu geben, die heute auch außerhalb der Medienpädagogik bestehen.
Literatur
Abidin, C. (2018). Internet Celebrity: Understanding Fame Online. Emerald Publishing Limited.
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Holzwarth, P. (2022). Life Skills mit Medien. Projektideen für Selbstbewusstsein und Lebenskompetenzen. kopaed.
Jenkins, H. (2006). Convergence culture: Where old and new media collide. NYU Press.
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Korn, M., Reißmann, W., Röhl, T., & Sittler, D. (2019). Infrastructuring Publics: A Research Perspective. In M. Korn, W. Reißmann, T. Röhl & D. Sittler (Hrsg.), Infrastructuring Publics (S. 11–47). Springer VS.
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Röll, F. J. (1998). Mythen und Symbole in populären Medien: der wahrnehmungsorientierte Ansatz in der Medienpädagogik. Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik, Abt. Verlag.
Rösch, E., Demmler, K., Jäcklein-Kreis, E., & Albers-Heinemann, T. (Hrsg.) (2012). Medienpädagogik Praxis Handbuch. Grundlagen, Anregungen und Konzepte für aktive Medienarbeit. kopaed.
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Schorb, B. (1995). Medienalltag und Handeln. Leske & Budrich.
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Schluchter, J.-R. (2015). Medienbildung als Perspektive für Inklusion. Modelle und Reflexionen für die pädagogische Praxis. kopaed.
Van Dijck, J., Poell, T., & De Waal, M. (2018). The platform society: Public values in a connective world. Oxford University Press.
- Klaus Lutz/Mareike Schemmerling/Wolfgang Reißmann: Editorial: Aktive Medienarbeit in Zeiten ihrer Entgrenzung
Klaus Lutz/Mareike Schemmerling/Wolfgang Reißmann: Editorial: Aktive Medienarbeit in Zeiten ihrer Entgrenzung
Wo genau der Ursprung der Medienpädagogik zu verorten ist, lässt sich nicht mehr ergründen. Einen Meilenstein stellte sicherlich die Erfindung des Buchdrucks um 1440 durch Johannes Gutenberg dar. Durch die Einführung der beweglichen Metalllettern und der Druckerpresse wurde es möglich, Schriften in einer zuvor nie dagewesenen Geschwindigkeit zu vervielfältigen. Somit könnte man die Entstehung des Buchdrucks auch als die Geburtsstunde der Massenmedien bezeichnen. Die Befürchtung, die diese Erfindung begleitete, ist bis heute eine zentrale Fragestellung der Medienpädagogik: Wie wirken Medien auf Nutzer*innen? Und damit verbunden: Welche Auswirkungen hat das auf die gesellschaftliche Ordnung?
In der Geschichte der Medienpädagogik ist ein immer wiederkehrender Rhythmus zu beobachten. Mit dem Aufkommen eines neuen Mediums oder der Weiterentwicklung eines medialen Angebots stehen neben Neugier vor allem zu erwartende Probleme im Vordergrund. Meist wird eine pädagogische Regulierung gefordert. Auf eine Phase der mitunter vehementen Ablehnung folgt oftmals eine pädagogische Annäherung an die Nutzung. In den letzten 35 Jahren hat es sich die medienpädagogische Praxis daher zur Aufgabe gemacht, vor allem junge Menschen dabei zu unterstützen, sich notwendige Kompetenzen für ein souveränes Medienhandeln anzueignen. Eine reflektierte und durchaus kritische Haltung, so der Tenor, bildet hierfür die Grundlage.
Aktive Medienarbeit zur Förderung von Medienkompetenz
Nach wie vor steht dabei die Methode der Aktiven Medienarbeit im Zentrum der außerschulischen Medienarbeit: Der Wechsel von der passiven Nutzung von Medien hin zum aktiven Gestalten mit Medien. Kinder und Jugendliche werden also zu Medienproduzent*innen und durchlaufen im Prozess der Produktgestaltung eine Vielzahl von Lernfeldern. Diese Form des projektorientierten Lernens gilt bis heute als ‚Königsweg‘ medienpädagogischer Praxis. Sie ermöglicht es, alles ü ber die Medien selbst zu lernen – von der technischen Bedienung bis hin zu Manipulationsmöglichkeiten. Die projektorientierte Lernform ist zugleich ein Rahmen für soziales Lernen, denn die gemeinsame Produkterstellung fordert und fördert die Fähigkeit, Sozialbeziehungen einzugehen und die sich daraus ergebenden Konflikte im Hinblick auf das gemeinsame Ziel zu lösen.
Die Weiterentwicklung der Medientechnik und der damit verbundenen vielfältigen neuen Möglichkeiten wie kooperatives Zusammenarbeiten online, Ausweitung und Differenzierung von Social-Media-Angeboten oder die Möglichkeiten von KI werfen nicht nur neue gesellschaftliche und medienpädagogische Fragestellungen auf, sondern schaffen eigene Medienkulturen und Medienpraktiken, Jugendkulturelle Communitys, die sich der Logik Aktiver Medienarbeit zum Teil entziehen. Darüber hinaus sind Medien und Medienprodukte in anderen Bereichen wie politischer Bildung oder Kulturpädagogik ein fest verankerter Baustein geworden.
Zu einem Diskurs, wie sich Ansätze der aktiven Arbeit mit Medien unter diesen Bedingungen verändern, was unverändert bleibt und welche Herausforderungen sich ergeben, möchte dieser Themenschwerpunkt mit Reflexionsanlässen, Praxiseinblicken und professionellen Standpunkten beitragen. In ihrem Einführungsartikel ‚Von Aktiver Medienarbeit zur aktiven Arbeit mit Medien?‘ zeichnet die Fachredaktion, namentlich Mareike Schemmerling, Wolfgang Reißmann und Klaus Lutz, verschiedene Entwicklungslinien der Medienpädagogik der letzten Jahre nach. Dabei geht es nicht um Abgrenzung oder richtig und falsch, sondern um einen 360-Grad-Blick auf daraus resultierende pädagogische und gesellschaftliche Fragestellungen.
Jeffrey Wimmer beschäftigt sich mit Widersprüchen und Ambivalenzen von Gegenöffentlichkeiten in kommerziellen Plattformen und digitalen Infrastrukturen. Diese bieten zwar Frei- und Artikulationsräume, werden aber von marktförmigen Logiken bestimmt. Er plädiert für eine stärkere Berücksichtigung dieser in der Aktiven Medienarbeit. Was macht ein medienpädagogisches Angebot oder Projekt aus? Ist medienpädagogische Arbeit immer klar erkennbar und definierbar? Diesen Überlegungen widmet sich Anu Pöyskö in ‚Minimalinvasive Medienpädagogik‘. Vor allem in der offenen Jugendarbeit braucht es nach ihrer Einschätzung mehr Freiheit bezüglich der Definition von Medienarbeit.
Im Gespräch zwischen Klaus Lutz und Erhard Bollmann geht es um die Frage, wie und unter welchen Rahmenbedingungen sich medienädagogische Angebote in der offenen Jugendarbeit implementieren lassen. Bollmann richtet den Blick unter anderem auf die technische Infrastruktur in den Einrichtungen und die Relevanz medienpädagogischer Praxisangebote. Thomas Knaus, Jennifer Schmidt und Olga Merz plädieren in ihrem Artikel ‚Aktive
Medienarbeit als Vorbild‘ dafür, dem Ansatz der Medienpädagogik eine neue Dimension – die der digitaltechnischen – hinzuzufügen. Leitend ist das Konzept des produktiven Medien- und Technikhandelns, aus dem sie fünf Dimensionen und Schritte der Reflexion auf Design und Gestaltung von Digitaltechnik ableiten.Kathrin Demmler geht in ihrem Beitrag ‚Alles sozial?!‘ auf die Bedeutung von Gruppenprozessen ein. Das Erstellen eines gemeinsamen Medienprodukts ist oft nicht mehr von persönlicher Präsenz abhängig. Welchen Veränderungen Lernprozesse in einem solchen Setting unterliegen, zeigt sie an einem praktischen Beispiel auf.
In einer Zeit des expandierenden Einflusses von Medien ist die Relevanz von Medienkompetenz für eine Teilhabe an der Gesellschaft unumstritten. Ebenso die Methode der Aktiven Medienarbeit zu ihrer Förderung. In ihrem Beitrag ‚Was bleibt von Aktiver Medienarbeit?‘ zeigt Elke Dillmann anhand der Biografie zweier Jugendlicher, welche Kraft Aktive Medienarbeit langfristig entfalten kann.
- Klaus Lutz/Ulrike Wagner: Medienpädagogik im Kontext von Mediensuchtprävention
Klaus Lutz/Ulrike Wagner: Medienpädagogik im Kontext von Mediensuchtprävention
Die gesellschaftliche Lage ist derzeit gekennzeichnet durch zwei Pole: die Forderung nach freiheitlichem Diskurs und Vielfalt sowie die Vereinfachung und Polemisierung komplexer Fragestellungen und Probleme. Im Artikel wird am Beispiel des Themenkomplexes Mediensuchtprävention der Frage nachgegangen, welche Rolle die Medienpädagogik und die aktive Medienarbeit im Kontext von Prävention spielen (können) und in welche Bedingungen medienpädagogische Arbeit dabei eingebunden ist.
Literatur
Thimm, Katja (2011). Kinder in Bedrängnis. Hamburg. www.spiegel.de/politik/kinder-in-bedraengnis-a-5b246e4a-0002-0001-0000-000081015417 [Zugriff: 04.07.2022]
Niederndorfer, Florian (2022). Demokratieforscher zur Impfdebatte: "Sollten aufhören, moralistisch zu argumentieren". Wien. www.derstandard.at/story/2000133237858/demokratieforscher-merkel-aufhoeren-moralistisch-zu-argumentieren [Zugriff: 04.07.2022]
Hurrelmann, Klaus/ Quenzel, Gudrun (2012). Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. 11., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Kammerl, Rudolf/ Wartberg, Lutz/Zieglmeier, Matthias (2018). Kritische Perspektiven auf den Umfang der Internetnutzung Jugendlicher - Eine Frage der Generationszugehörigkeit? In: Niesyto, Horst/Moser, Heinz (Hrsg.), Medienkritik im digitalen Zeitalter. München: kopaed, S. 207–220.
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs) (2020). JIM-Studie 2020. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Stuttgart. www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2020/JIM-Studie-2020_Web_final.pdf [Zugriff: 04.07.2022]
Paus-Hasebrink, Ingrid/Sinner, Philip (2021). 15 Jahre Panelstudie zur (Medien-)Sozialisation. Baden-Baden: Nomos.
Rösch, Eike (2013). Jugendarbeit im Social Web – gute Gründe, damit anzufangen. In: Deutsche Jugend, 4, S. 162–169.
Stiftung für Zukunftsfragen (Hrsg) (2011). Forschung aktuell. Neuer Freizeit Monitor 2011. Bundesbürger haben vier Stunden Freizeit pro Wochentag. In: Forschung aktuell, 32 (232), S. 1–7.
Bayerischer Jugendring (BJR) (2020). Gaming und Jugendarbeit. München. www.bjr.de/nc/service/beschluesse/details/gaming-und-jugendarbeit-3514.html [Zugriff: 04.07.2022]
Beitrag aus Heft »2022/04 Medien. Mediensucht. Mediensuchtprävention«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDF - Mareike Schemmerling/Klaus Lutz/Karin Knop: Editorial: Mediensucht – Ein Thema für die Medienpädagogik?! Impulse für das Zusammenspiel von Medien, Mediensucht und Mediensuchtprävention
Mareike Schemmerling/Klaus Lutz/Karin Knop: Editorial: Mediensucht – Ein Thema für die Medienpädagogik?! Impulse für das Zusammenspiel von Medien, Mediensucht und Mediensuchtprävention
Wie die Mediennutzung von jungen Menschen und deren Bezugspersonen eingeschätzt wird, ist oft im erheblichen Maße abhängig von deren persönlicher Einstellung dem jeweiligen Medium gegenüber. Jedes Medium scheint in der Geschichte seine eigene verlorene Generation zu generieren. Der immer wieder – anhand spezifischer medienhistorischer Phänomene – aufflackernde Diskurs um suchtartige Nutzung unterschiedlicher Medien nimmt in der Corona-Pandemie mit neuer Intensität Fahrt auf. Unter ‚Mediensucht‘ wird dabei ein exzessiver Umgang mit einzelnen oder mehreren elektronischen bzw. digitalen Medien verstanden. Der Begriff wird als Sammelbegriff für vieles gebraucht – häufig wird unter anderem zwischen Computerspielsucht, Social-Media-Sucht, Onlinesucht, Computersucht, Handysucht unterschieden. Dabei ist der Übergang von durchschnittlicher über exzessive bis zur suchtartigen Mediennutzung fließend.
Auffallend ist in aktuellen Diskussionen der oft undifferenzierte Fokus auf die reinen Nutzungszeiten. Zunahmen der Nutzungsdauer von Bildschirm- und Onlinemedien werden im Kontext der Corona-Pandemie mit Nachdruck kommuniziert. Diese erhöhen die Sorge von Eltern und Pädagog*innen. Die reine Quantität der Nutzung sagt jedoch wenig bis gar nichts darüber aus, ob Kinder und Jugendliche den Bereich des selbstbestimmten, funktionalen und kompetenten Medienhandelns verlassen, der ihnen beispielsweise Teilhabe an Bildung und soziale Kontakte ermöglicht.
Vielmehr müssen zur Diagnose von konkreten Mediensüchten spezifische Kriterien wie Kontrollverlust, Vernachlässigung anderer Lebensinhalte und Alltagsaktivitäten sowie die Fortsetzung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen über einen längeren Zeitraum festgestellt werden. Auch wird in der Diskussion häufig übersehen, dass Lockdown, Homeschooling und die Einschränkung alternativer Freizeitaktivitäten unweigerlich zur Erhöhung der Nutzungszeiten führen müssen. Den positiven Aspekten wie dem E-Learning, der Weiterführung sozialer Kontakte und Beziehungen wird zwar Rechnung getragen, die Risikoperspektive dominiert jedoch.
So fordert beispielsweise die DAK-Gesundheitsstudie eine „Präventionsoffensive gegen Mediensucht“ (Thomasius 2021). Die Autor*innen tun dies mit Rekurs auf die beeindruckend hohe Zahl von 700.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland, deren Gaming- und Social-Media-Nutzung als riskant oder pathologisch eingestuft wird. Eine differenzierte Betrachtung des Zusammenspiels von Medien, Mediensucht und Mediensuchtprävention ist daher notwendiger denn je.
Bemerkenswert ist, dass bis vor knapp zehn Jahren keine Form von Mediensucht in einem der einschlägigen medizinischen Manuale geführt und definiert wurde. Felix Reer und Thorsten Quandt legen in ihrem Beitrag entsprechend dar, wie Mediensüchte derzeit definiert werden und welche Risikofaktoren für das Zustandekommen einer suchtartigen Mediennutzung ausschlaggebend sind. Sie geben damit eine Hilfestellung für eine differenziertere Unterscheidung zwischen intensiven und suchtartigen Nutzungsweisen. Neben dieser Grundlegung widmen sie sich der Frage, welchen Einfluss Corona in Hinblick auf eine Ausbreitung suchartiger Mediennutzungsformen hat(te).
Klaus Lutz und Ulrike Wagner nehmen in ihrem Artikel den Stellenwert von Medien im Aufwachsen junger Menschen und konkret der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in den Blick. Sie fordern, dass das Eingrenzen von Mediennutzungszeiten und damit verbundenen Konflikte im Erziehungsalltag viel stärker aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen gesehen werden müssen. Sie legen folglich einen Fokus auf die zentrale Rolle des Medienhandelns in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Ein Steckbrief des GG – E-Sport und Gaming Jugendzentrum dient anschließend als Beispiel für ihr angeführtes Praxisvorhaben.
Mareike Schemmerling hat das Gespräch mit Philipp Benz-Verhülsdonk gesucht. Er arbeitet in der psychosozialen (Sucht-)Beratung für Einzelpersonen, Angehörige und Familien bei der Drogenhilfe Köln. In ihrem Austausch widmen sie sich beispielsweise der Frage, inwiefern sich stoffgebundene Süchte und exzessiven Mediennutzung vergleichen lassen und welche Rolle die Diagnose ‚Sucht‘ im Beratungskontext spielt. Benz-Verhülsdonk gibt darüber hinaus Einblicke in seinen Beratungsalltag.
Auf Basis wissenschaftlicher Studien stellt Karin Knop – nach einer Begriffsbestimmung und einem Exkurs zur Geschichte der Mediensüchte – aktuelle Ergebnisse zur Mediennutzung und Mediensucht von Kindern und Jugendlichen vor und während der Corona-Pandemie vor. Die Befunde zieht Knop heran, um die zeitlos hohe Bedeutung von Medienkompetenzförderung und die Förderung von (medienbezogener) Selbstregulationsfähigkeit und achtsamem Medienhandelns am Beispiel exzessiv-funktionaler bis pathologischer Mediennutzung zu verdeutlichen.
Am Beispiel des Jugendmedienzentrums Connect stellt Florian Seidel präventive Praxisaktivitäten vor. In einer von digitalen Medien durchdrungenen Welt exzessiver und suchtartiger Mediennutzung mit Abstinenz zu begegnen ist für ihn kein zielführender Ansatz. Er beschreibt vielmehr die Bedeutung medienpädagogischer Angebote, in denen Kinder und Jugendliche im Sinne eines handlungsorientierten Ansatzes notwendige Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln können. Ausgehend von Formaten wie FürthCraft und MakerKids geht er auf Potenziale ein, welche medienpädagogische Gamingaktivitäten zur Prävention von problematischen Medienhandeln bieten. Zwischendurch kommen an verschiedenen Stellen immer wieder Jugendliche selbst zu Wort, in Form von markanten Statements aus dem ACT ON!-Jugendpodcast Was geht ... ?.
Nicht zuletzt möchten wir mit diesem Titelthema auch Einblicke geben, wie Jugendliche selbst ihr Medienhandeln erleben, beschreiben, reflektieren, problematisieren und sich damit auseinandersetzen, was eine zuträgliche oder problematische, gar suchtartige Nutzungsweise darstellt.
Literatur
Thomasius, Rainer (2021). Mediensucht während der Corona Pandemie: Ergebnisse der Längsschnittstudie zu Gaming und Social Media. www.dak.de/dak/download/praesentation-2508260.pdf [Zugriff: 06.07.2022]Beitrag aus Heft »2022/04 Medien. Mediensucht. Mediensuchtprävention«
Autor: Mareike Schemmerling
Beitrag als PDF - Klaus Lutz: Schwer erziehbar
Klaus Lutz: Schwer erziehbar
Wir Pädagog*innen sollten eigentlich auf jedes Erziehungsproblem eine Antwort haben. Zum Beispiel, wenn es um das Einschlafen geht, die Trotzphase oder um exzessives Computerspielen. Für jedes Problem haben wir eine Antwort oder zumindest einen Rat. Wenn es aber um die Erziehung unseres Computers geht, sind wir oft selbst überfordert.
Wer kennt das nicht, dass er*sie am Morgen den Computer einschaltet – und der will einfach nicht aufstehen. Statt der üblichen Aufforderung zur Eingabe des Passworts erscheinen seltsame Kreise auf dem Bildschirm, die sich in Endlosschleifen um sich selbst drehen. In solchen Momenten erinnere ich mich dann gerne an die Western meinerKindheit: In fast jedem dieser Filme kam einmal die Szene vor, dass ein völlig betrunkener Held mit einem Eimer kalten Wassers wieder einsatzfähig gemacht wurde. Eine 1:1-Anwendung auf den PC verbietet sich leider. Deshalb drücke ich einfach auf den roten Knopf des Dreiersteckers und zähle bis Zehn, bis ich den Computer wieder mit Strom versorge. Und siehe da, wie im Western rappelt sich der technische Mitarbeiter wieder auf und ist einsatzfähig.
Wie in der Erziehung von Kindern gibt es aber auch Probleme, die sich nicht mit so kleinen Tricks beheben lassen. So habe ich mit meinem Computer fest vereinbart, dass er notwendige Updates bitte nur zwischen 23.00 Uhr und 01.00 Uhr ausführen soll. Wie bei vielen Mediennutzungsverträgen, die man – plakativ aber wirkungslos – mit Kindern abschließt, hält er sich leider nicht daran. Mit Computerverbot zu drohen, scheint mir da wenig wirksam. Also versuche ich es mit der Methode der ‚Stillen Treppe‘: Strom ausschalten, den Laptop zuklappen und ihm in seiner Tasche Zeit geben, über sein Verhalten nachzudenken. Ich kann nicht erklären warum, aber manchmal hilft es.
Wenn ich durch die Gänge unseres Büros laufe, merke ich häufig, dass ich mit meinen Erziehungsproblemen nicht allein bin. Das tröstet sehr. Immer wieder sind heftige Streitgespräche von Kolleg*innen mit ihren Computern zu hören: ‚Kannst du nicht endlich mal das machen, was ich von dir will!‘ ‚Ich habe dir jetzt schon fünfmal gesagt, du sollst den Text drucken, also mach endlich.‘ Neulich war eine Auseinandersetzung so lautstark zu hören, dass ich es mir nicht verkneifen konnte, die Tür des Büros zu öffnen und den Kollegen anzufeuern: ‚Ja, gib‘ ihm mal richtig Bescheid. Lass dir das bloß nicht gefallen!‘
In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass meine Erziehungsarbeit fruchtet und die Beziehung zu meinem Computer von gegenseitiger Rücksichtnahme und Respekt geprägt ist. Bis ich letzten Montag ins Büro kam und mich meine Kolleg*innen grinsend mit einem Stapel Papier in der Hand erwarteten: Mein lieber Laptop hatte meine gesamte private Korrespondenz vom Wochenende einfach mal auf unseren Drucker ins Büro geschickt. Ein Termin bei der Erziehungsberatung für Computer ist nun wohl unausweichlich. Oder ich drohe meinem Laptop mit dem Datenschutzbeauftragten – der hat noch ganz andere Mittel zur Verfügung. Denn so geht es nun wirklich nicht.
Beitrag aus Heft »2022/02 Sprache in den Medien – Deutungshoheit und Sprachschlachten«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDF - Klaus Lutz: Kann ich dir helfen? – Eine unglaubliche, aber fast wahre Geschichte
Klaus Lutz: Kann ich dir helfen? – Eine unglaubliche, aber fast wahre Geschichte
Kann ich dir helfen? – Eine unglaubliche, aber fast wahre Geschichte
Klaus Lutz
Corona hat mein Leben als Medienpädagoge noch digitaler macht. Was mein Umfeld kaum für möglich hielt, ist eingetreten. Meine Bildschirmzeiten sind so stark gestiegen wie mein Puls beim entscheidenden Tor meiner Lieblingsmannschaft im Kampf um den Aufstieg. Weil der Tag für einen Bildschirm aber auch nur 24 Stunden hat, lässt sich ab einem gewissen Punkt mehr Bildschirmzeit nur mit noch mehr Bildschirmen erreichen. Am besten platziert man je einen Bildschirm an strategisch wichtigen Punkten der Wohnung: Toilette, sogenannter Lesesessel (eigentlich mehr Tablet-Sessel), Sofa, Küchentisch etc. Für diese Ausstattung waren einige Neuanschaffungen nötig. Unter anderem zogen zwei neue Tablets bei uns ein. Allerdings entwickelten diese ein unerwartetes Eigenleben: Nach einem langen Arbeitstag mit mehr als neun Stunden Bildschirmzeit hatte ich beschlossen, mich erst einmal aufs Sofa zu werfen und in diese wunderbare Halbwelt zwischen Wachsein und Schlaf zu begeben. Lediglich der Fernseher sollte mir Gesellschaft leisten und meinen Dämmerzustand mit der sonoren Stimme begleiten, die gerne zu langatmigen Dokumentationen gewählt wird.
Plötzlich vernahm ich eine andere Stimme und hörte deutlich: „Kann ich dir helfen?“ ‚Ja, natürlich kann man mir helfen‘, meldete sich mein Unterbewusstsein. ,Gehe ins Arbeitszimmer, rufe meine Mails auf, beantworte die noch 50 offenen von gestern und nimm dir die von heute vor!‘, schoss es mir durch den Kopf. Reflexartig antwortete ich daher im Halbschlaf mit „Ja“. Die Stimme antwortete: „Wie kann ich dir helfen?“ Ich versuchte es mit: „Spiel‘ Musik von Santana!“. Prompte Erwiderung: „Darf ich auf deine Spotify-Daten zugreifen?“, was ich großzügig bejahte und mich von Santana wieder in meinen Dämmerzustand versetzen ließ. Doch schon bald brachte sich die bienenfleißige Stimme in Erinnerung: „Was kann ich noch für dich tun?“ Diese erneute Gelegenheit wollte sich mein Unterbewusstsein nicht entgehen lassen und grätsche meinen eigentlichen Wunsch nach einem fröhlich-bunten Cocktail mit dem Auftrag zur Mailbearbeitung ab. Die Stimme antwortete: „Darf ich auf dein Mailkonto zugreifen?“ Als ich darauf nicht reagierte, setzte sie energisch nach: „Ich benötige zur Bearbeitung Zugang zu deinem Mailkonto. Darf ich auf dein Mailkonto zugreifen? Und auf deine Konto-Login-Daten?“ Vor meinem geistigen Auge löste sich mein Dagobert-Duck-Goldmünzenspeicher in Luft auf – und ich wurde schlagartig wach. Mit leisem Gruseln machte ich mich auf die Suche nach der Stimme und wurde fündig: Sie kam aus einem der neuen Tablets. Ich hatte vergessen, Siri auszuschalten. Warum Siri die Kommunikation von selbst begonnen hatte, ist mir bis heute nicht klar. Vielleicht habe ich im Halbschlaf nach ihr gerufen; oder meine Frau hat Siri so programmiert, dass sie auf mein Schnarchen reagiert. Egal: ich sage jetzt allen Siris dieser Welt gute Nacht und verziehe mich ins Bett, heute mal ganz ohne Bildschirm und somit ohne Einschlafpodcast.
Beitrag aus Heft »2021/04 MedienBildung für nachhaltige Entwicklung«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDF - Nadine Kloos/Klaus Lutz: „Auf die Haltung kommt es an!“ Ein Interview mit Ursula Kluge, Aktion Jugendschutz
Nadine Kloos/Klaus Lutz: „Auf die Haltung kommt es an!“ Ein Interview mit Ursula Kluge, Aktion Jugendschutz
Welche Formen von medienpädagogischer Unterstützung brauchen Eltern? Welche Angebote erreichen und bereichern sie? Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung und Mediatisierung des Familienalltags stellen sich diese Fragen umso dringlicher. Und die Medienpädagogik ist mehr denn je gefordert, Eltern mit Blick auf ihre unterschiedlichen Ressourcen bei der Medienerziehung zu unterstützen und zu beraten. Über Ansatzpunkte, unterschiedliche Formen der Ansprache und strukturelle Anforderungen der medienpädagogischen Elternarbeit haben sich Nadine Kloos und Klaus Lutz mit Ursula Kluge von der Aktion Jugendschutz, Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg unterhalten.
- Nadine Kloos/Klaus Lutz: Editorial: Eltern und Medien
Nadine Kloos/Klaus Lutz: Editorial: Eltern und Medien
Die Lust von Kindern und Jugendlichen an der Nutzung von Medien stellt Eltern im Erziehungsalltag täglich vor schwierige Herausforderungen. In Zeiten der Pandemie sind diese Herausforderungen nicht kleiner geworden. Da gilt es Inhalte zu prüfen, Regeln durchzusetzen, Diskussionen über Altersbeschränkungen zu führen und sich immer wieder von den Erziehungsregeln anderer Familien zu distanzieren.
Kaum ein Argument wird von Kindern häufiger ins Feld geführt als „Die anderen dürfen das aber auch spielen!“ und zeigt dann – in der ständigen Wiederholung – auch Wirkung: Bei aller kritischen Haltung zu Medien will doch niemand das eigene Kind als Außenseiter*in aufwachsen sehen. Schwierigkeiten in der Schule werden auch nicht selten mit übermäßigem Medienkonsum in Zusammenhang gebracht. Vor allem der Leidenschaft von Jungs, ihre Freizeit mit Computerspielen zu verbringen, haftet der Makel an, dass Computerspielen und gute Schulleistungen nicht miteinander vereinbar sind.
Ist die Medienerziehung eines Einzelkindes noch einigermaßen zu bewältigen, so ist die Medienerziehung in Familien mit mehreren Kindern kaum zu schaffen. Die jüngeren Kinder sind oft stumme Beobachter*innen bei den älteren Geschwistern, wenn diese auf YouTube unterwegs sind oder Computer spielen. Dabei sind sie nicht selten mit Inhalten konfrontiert, die nicht für ihre Altersgruppe gedacht sind. Auch ist es in Haushalten, in denen mehrere Kinder leben, herausfordernd bis unmöglich, die Medienzeiten aller individuell zu kontrollieren.
Aber nicht nur die Mediennutzung der Kinder, sondern auch die Mediennutzung der Eltern selbst steht immer wieder in der Kritik. Denkt man nur an die Plakate der Kampagne der Drogenbeauftragten der Bundesregierung,1 die in so manchen Kitas zu sehen sind. Ihre Botschaft soll sein: „Heute schon mit Ihrem Kind gesprochen?“ Auf den Plakaten sind zum Beispiel Eltern abgebildet, die auf dem Spielplatz stehen und auf ihr Handy schauen, anstatt ihr Kind beim Rutschen oder Schaukeln zu beobachten.
In der Blikk-Studie2 haben Kinderärzt*innen in Deutschland rund 5.500 Kinder und Jugendliche untersucht und sie und ihre Eltern zu ihrem Umgang mit digitalen Medien befragt. Die Ärzt*innen leiten aus den Antworten unter anderem ab:
- Nutzt die Mutter, während sie ihren Säugling betreut, parallel digitale Medien, hat das Kind eher Ernährungs- und Einschlafstörungen.
- Kinder unter sechs Jahren, die intensiv digitale Medien nutzen, haben häufiger Störungen bei der Sprachentwicklung, sind eher hyperaktiv oder können sich schlechter konzentrieren.
- Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 13 Jahren, die täglich mehr als eine Stunde digitale Medien nutzen, leiden häufiger unter Konzentrationsschwächen oder sind hyperaktiv. Sie konsumieren mehr süße Getränke und Süßigkeiten und haben eher Übergewicht.
Eltern werden immer wieder mit Ergebnissen solcher Studien konfrontiert und sind verunsichert, wie sie diese Erkenntnisse in ihrem Erziehungsalltag umsetzen können. Zum einen weichen ihre Erfahrungen und Praktiken im Medienerziehungsalltag oft von den Studienergebnissen bzw. -schlussfolgerungen ab. Darüber hinaus sind daraus resultierende Ratschläge im Alltag zum Teil kaum umsetzbar, denn die Nutzung von Medien ist schon vor der Geburt der Kinder fest in den Tagesablauf der Familien eingebaut. Die jetzige Elterngeneration hat meist schon mehr als zwanzig Jahre Mediensozialisation hinter sich, bevor das erste Kind geboren wird.
Mit dieser merz-Ausgabe möchten wir unter anderem dazu beitragen, die Ergebnisse und – zum Teil gegensätzlichen, der Realität von Familien nicht entsprechenden oder gar realitätsfremden – Schlussfolgerungen aktueller Studien für den Alltag von Familien einzuordnen und auf ihre Umsetzbarkeit zu prüfen. Die Autor*innen des Hefts beschäftigen sich darüber hinaus damit, wie Verunsicherungen und Ängste abgebaut und Medien als täglicher Begleiter von Kindern und Eltern kritisch, aber unaufgeregt hinterfragt werden können. Die Anforderungen, Herausforderungen und Dilemmata in Bezug auf das Themenfeld Eltern und Medien werden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet sowie Bedingungen diskutiert, welche Unterstützung und Ressourcen Eltern für eine gelingende Medienerziehung brauchen.
Das Schwerpunktthema wird durch den Beitrag ‚Unter Druck: Doing Family in mediatisierten Lebenswelten‘ von Claudia Zerle-Elsäßer, Thorsten Naab, Alexandra Langmeyer und Stephan Heuberger eröffnet. Anhand des Ansatzes des ‚Doing Family‘ beschreiben die Autor*innen die komplexen Anforderungen, mit welchen sich die Familien von heute konfrontiert sehen. Die Familie von heute ist nicht einfach ein vorgegebenes Konstrukt, sondern muss immer wieder neu verhandelt werden. Hinzu kommt, dass digitale Medien in den Familien eine immer größere Rolle als Instrument der Alltagsorganisation und der Bewältigung von Erziehungsaufgaben einnehmen. Die Autor*innen plädieren deshalb dafür, dass Familien, vor allem jenseits einer bewahrpädagogischen Perspektive, Hilfe und Unterstützung in ihrem erzieherischen Alltag benötigen.
Die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen stellt die Familien im Alltag vor große Herausforderungen. In Zeiten von Homeschooling und Kontaktsperren während des Lockdowns sind die Anforderungen an die Medienerziehung noch differenzierter und schwieriger geworden. Auf Elternveranstaltungen ist es nicht einfach, auf diese komplexe Problemlage einfache Antworten zu geben. In ihrem Beitrag ‚Eltern im Zwiespalt? Von Studien zur Mediennutzung und was sie in Familien auslösen‘ ordnen Sabine Eder und Matthias Felling die Bedeutung von Studien zur Mediennutzung für den Familienalltag ein und plädieren dafür, vorsichtig damit zu sein, Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen vorschnell zu pathologisieren. Es geht für die Autor*innen immer darum, individuelle Lösungen zu finden, die im Alltag auch umsetzbar sind.
Digitale Medien sind in der Lebenswelt wie auch im Familienalltag von kleinen Kindern ein fester Bestandteil geworden. Dies zeigen eindrücklich die Ergebnisse der Langzeitstudie ‚Familien Medien Monitoring‘ des JFF – Institut für Medienpädagogik, die Andreas Oberlinner, Susanne Eggert und Senta Pfaff-Rüdiger in ihrem Artikel ‚Digitale und mobile Medien in Familien mit kleinen Kindern‘ aufzeigen. Die Autor*innen kommen aufgrund der Ergebnisse der Studie zu dem Schluss, dass Medienerziehung in der Familie nur gelingen kann, wenn sie an die jeweiligen individuellen familiären Bedingungen angepasst wird. Den Familien kann also kein Rezept für ihre Fragen zur Medienerziehung angeboten werden, sondern nur Hilfestellung bei der Entwicklung einer auf die persönliche Familiensituation zugeschnittenen Medienerziehung.
Eine kindgerechte Medienerziehung steht auch in dem Spannungsverhältnis von Schutz der Kinder vor Gefahren einerseits und dem Recht der Kinder auf Förderung und Beteiligung andererseits. Welche Anforderungen sich aus diesem Spannungsverhältnis für die Medienerziehung in Familien ergeben und welche Rolle (pädagogischen) Fachkräften bei der Unterstützung von Eltern dabei zukommt, erörtern Kai Hanke, Sophie Pohle und Daniela Tews in ihrem Beitrag ‚Medienerziehung in der Familie – Anregungen aus kinderrechtlicher Sicht‘. Aus dieser Perspektive entwickeln die Autor*innen in ihrem Beitrag neun Leitlinien, an denen entlang sich eine Medienerziehung ausrichten lässt.
In einem Interview mit Ursula Kluge von der Aktion Jugendschutz Baden-Württemberg gehen wir der Frage nach, wie Elternberatung in Sachen Medienerziehung gelingen kann. Dabei rückt Ursula Kluge in den Fokus, dass zu Beginn der Medienerziehung die Klärung der eigenen Haltung zu Medien und zur Mediennutzung der Kinder steht. Darüber hinaus ist entscheidend, den Eltern auf Augenhöhe zu begegnen, sie ernst zu nehmen und ihnen nicht das Gefühl zu vermitteln, alles falsch zu machen. Erst dann ist eine Basis geschaffen, sich konstruktiv mit Erziehungsfragen im Allgemeinen und über Medienerziehung im Speziellen auseinanderzusetzen. Diese Forderung gilt vor allem für Eltern, die mit den üblichen Angeboten nicht erreicht werden. Hier sind mehr innovative Konzepte und Methoden gefragt. Mit ihrer langjährigen Erfahrung als Fachreferentin für Jugendmedienschutz und Medienpädagogik gibt Ursula Kluge interessante und anschauliche Impulse, die zum Gelingen medienpädagogischer Elternarbeit beitragen können.
Wie meist, wenn es um Medien geht, sind Medien zum einen das Problem und zum anderen auch Teil der Lösung. So verhält es sich auch in Zeiten der Corona-Krise. Eltern sind enorm unter Druck, die Familie zu managen und die Mediennutzung ihrer Kinder in Zeiten von Homeschooling und Kontaktsperre sinnvoll zu regeln. Andererseits bieten ihnen Medien auch die Möglichkeit, auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Unter dem Hashtag #CoronaEltern machen Eltern im Netz auf ihre schwierige Situation aufmerksam und regen zu einem öffentlichen Diskurs über die Belastung von Familien in Zeiten der Pandemie an. In ihrem Beitrag ‚Frust, Solidarität und Aktivismus – Das Krisenhashtag #CoronaEltern‘ haben Wolfgang Reißmann, Moe Kinoshita und Miriam Siemon eine erste Analyse versucht, welche Wirkung ein im öffentlichen Raum geführter Diskurs von privaten Sorgen haben kann.
Aber auch die Eltern selbst kommen im Thementeil zu Wort: Auf den Seiten 44/45 finden sich, pointiert zusammengefasst, Fragen von Eltern rund um Medien und medienerzieherische Herausforderungen, die uns und unseren Kolleg*innen auf Elternveranstaltungen gestellt wurden. Die Sammlung ließe sich noch um ein Vielfaches fortsetzen, aber unseres Erachtens veranschaulicht die Auswahl sehr eindrücklich, mit welchen Themen, Ambivalenzen und Unsicherheiten sich Eltern rund um Medien konfrontiert sehen. Ihre Aussagen zeigen einmal mehr: Die Digitalisierung macht auch vor dem Familienleben nicht halt. Angesichts ständig neuer Medienentwicklungen sind viele Väter und Mütter in erster Linie oft unsicher, verzweifelt und haben ständig neue Fragen.
Natürlich gibt es zu diesem komplexen Thema noch viel mehr zu sagen und zu schreiben – entsprechend geht es online auf www.merz-zeitschrift.de weiter: Dort befindet sich ein Überblick an aktuellen Ratgeber-/Unterstützungsangeboten für Eltern rund um Medien und medienerzieherische Fragen. Die Angebote sind nach verschiedenen Kriterien (Verbreitungsweg, Inhalte, Ausrichtung, Besonderheiten) geordnet und werden laufend erweitert und aktualisiert.
Zusätzlich wurde wieder eine Reihe von Podcast-Folgen produziert, in denen sich Expert*innen aus Wissenschaft, Praxis und Medienbranche zu spezifischen Aspekten und Schwerpunkten rund um unser Thema Eltern und Medien(-erziehung) äußern. So befassen sich Astrid Plenk, Programmgeschäftsführerin des KiKA, und Birgit Guth, Leiterin der Medienforschung bei SuperRTL, mit der Frage, wie Sender Eltern und Kinder dabei unterstützen können, Medien kompetent und souverän nutzen zu lernen. Günther Anfang, der in seinem Leben mehr als 400 Elternabende zu medienpädagogischen Themen durchgeführt hat, berichtet genauso aus seinem Arbeitsalltag wie Jürgen Wolf, Leiter der Abteilung Erziehungsberatung des Evangelischen Beratungszentrums München e. V. Aus der frühkindlichen Medienbildung spricht Martin Mucha über den Medieneinsatz in seiner Kita Zauberwind. Außerdem zu Gast bei mehr merz: Professorin Angelika Beranek von der Hochschule München, die von Elternarbeit als Themenschwerpunkt im Studium berichtet und Professorin Ingrid Paus-Hasebrink über ihre Langzeitstudien zur Mediensozialisation sozial benachteiligter Heranwachsender. Schließlich fokussiert Daniel Heinz vom Spieleratgeber NRW auf Gaming-Fragestellungen.
Nun wünschen wir allen Leser*innen eine aufschlussreiche Lektüre und vielfältige Inspiration für die medienpädagogische Arbeit mit Eltern.
Anmerkungen
1www.drogenbeauftragte.de/presse/projekte-undschirmherrschaften/projekte-des-monats/2017/012017-medienfamilieverantwortung.html?L=0
2www.drogenbeauftragte.de/presse/pressekontaktund-mitteilungen/archiv/2017/2017-2-quartal/ergebnisseder-blikk-studie-2017-vorgestellt.html?L=0 - Klaus Lutz: Mein Leben als Captain Kirk
Klaus Lutz: Mein Leben als Captain Kirk
Der Berufsstand der Medienpädagogik ist komplett von der technischen Entwicklung abhängig: Keine Technik – keine Probleme – keine Aufgaben für die Medienpädagogik. In Zeiten von Corona kann ich mich als Medienpädagoge über Problem- und Aufgabenmangel nicht beklagen. Alle, wirklich alle – sogar die Schulen – sind auf die durch Technik unterstützte Wissensvermittlung angewiesen. Die Spitze dieser Entwicklung ist das Web-Seminar. Man braucht nur einen Internetzugang, ein Endgerät mit Kamera und einen Kopfhörer mit Mikro. Dann schaltet man sich zur vereinbarten Zeit ein und schon kann es losgehen. Oder halt auch nicht.
Wie bei einem Offline-Seminar finden nämlich manche Teilnehmende den Weg nicht und müssen per Anruf persönlich zum Seminar navigiert werden. Nach meist 15 Minuten sind endlich alle angemeldeten Personen online und es könnte losgehen. Aber schon fliegen die ersten wieder aus der Konferenz raus. Sei es, dass ihr Internet streikt, der Akku leer ist, sie keine Lust haben teilzunehmen oder den Button ‚Meeting verlassen‘ entdeckt haben, der bei Betätigung wie der Schalter eines Schleudersitzes funktioniert – binnen einer Millisekunde wird man in die unendlichen Weiten des Internets katapultiert. Spätestens jetzt verzichte ich als Kursleiter darauf, mich um die Verluste zu kümmern. Irgendwann muss es ja mal losgehen. Im Idealfall sind alle noch vorhandenen Teilnehmenden auf dem Bildschirm zu sehen und haben ihr Mikro stummgeschaltet. Was nie funktioniert. Denn die einen vergessen es auszuschalten und lassen alle anderen an der Erteilung elterlicher Kommandos fürs Homeschooling teilhaben; die anderen vergessen es einzuschalten, wenn sie etwas sagen wollen. Zum Glück hat die Seminarleitung die Macht, Teilnehmende stummzuschalten. Um die soziale Distanz zu überwinden, die sich auf Grund der technischen Vermittlung ergibt, gilt es erst einmal mit einem Aufwärmspiel die Atmosphäre aufzulockern. Beliebt ist zum Beispiel das alte Kinderspiel ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘: Der Seminarleiter kann dafür seinen Bildschirm freigeben und ein Bild mit vielen Details einblenden. Mein persönlicher Favorit ist es aber, die Teilnehmenden aufzufordern ihre Haustiere vorzustellen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was es da alles gibt: süße Hauskatzen und riesige Hunde in Zweizimmerwohnungen, aber auch exotische Schlangen oder giftige Spinnen. Das Schöne ist, dass dieses Spiel weder für Allergiker*innen noch für Phobiker*innen ein Problem ist. Danach wird mit einem Vortrag über eine für alle sicht- und hörbare Präsentation in das Thema eingeführt. Anschließend werden die Teilnehmenden meist in Gruppen eingeteilt und sollen in sogenannten Breakout Rooms zusammenarbeiten. Die Möglichkeit, Teilnehmende in Breakout Rooms zu schicken, vermittelt mir jedes Mal das Gefühl, als Captain Kirk auf der Brücke der Enterprise zu stehen: Mit einem Klick werden die Teilnehmenden weggebeamt und landen in einem virtuellen Workshop Raum. Noch cooler als das Wegbeamen ist das Zurückbeamen: Nach einem Countdown tauchen sie wie von Geisterhand wieder auf dem Monitor auf. Nun gilt es noch die Ergebnisse zu sichern und sich zu verabschieden. Zähle ich dabei auf dem Bildschirm nochmal alle durch, stelle ich häufig fest, dass auch während des Web-Seminars zwei oder drei Teilnehmende verloren gegangen sind. Ich frage mich jedes Mal, wo sie geblieben sind: Habe ich sie versehentlich zu den Klingonen gebeamt? Teilen sie das Schicksal der in der Waschmaschine verschwundenen Socken? Oder sind sie durch ein schwarzes Loch entwischt? Ich hoffe jedenfalls, sie finden aus den unendlichen Weiten des Internets wieder zurück auf die Erde.
Beitrag aus Heft »2021/01 Flucht nach vorne. Digitale Medien in der Bildung«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDF - Bloech, Michael / Fiedler, Fabian / Lutz, Klaus: Junges Radio. Kinder und Jugendliche machen Radio
Bloech, Michael / Fiedler, Fabian / Lutz, Klaus: Junges Radio. Kinder und Jugendliche machen Radio
Bloech, Michael / Fiedler, Fabian / Lutz, Klaus (2005). Junges Radio. Kinder und Jugendliche machen Radio. Materialien zur Medienpädagogik Band 5. München: kopaed. 143 S., 12 €
Aktive Radioarbeit ist aus der Medienpädagogik nicht mehr wegzudenken. Überall in Deutschland produzieren Kinder und Jugendliche Radio- und Audiobeiträge, sei es in der Schule, in der Universität oder in der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit.
Damit sich das nicht ändert, haben sich die Autoren das Ziel gesetzt, mit diesem Handbuch interessierten PädagogInnen, Studierenden und generell interessierten Menschen alles Wissenswerte für eine moderne medienpädagogische Arbeit mit dem Medium Audio – von der Theorie bis hin zur Praxis – anschaulich zu vermitteln. Das ist den Autoren auch gelungen.
Dieses Handbuch verschafft einen kompakten und gut strukturierten Überblick über die medienpädagogische Radioarbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Konkrete Beispiele aus der medienpädagogischen Praxis, in Verbindung mit fundierten theoretischen Kenntnissen, zeigen die vielfältigen Möglichkeiten der Radioarbeit auf und stellen diese in einen sinnvollen pädagogischen Kontext.
- Klaus Lutz: Außerschulische Bildung mit Medien
Klaus Lutz: Außerschulische Bildung mit Medien
Projekte außerschulischer Bildungsarbeit gibt es viele, gerade im Bereich praktischer Medienarbeit finden sich zahlreiche Angebote für Kinder und Jugendliche. Doch die Effizienz und Güte dieser Projekte lässt sich oft nur schwer bestimmen, da Evaluationen fehlen. Im Folgenden werden zwei Projekte vorgestellt, die bereits evaluiert wurden: das Modellprojekt Parole - Deutsch spielend gelernt und das Projekt erzählkultur. Beide zielen auf Sprachförderung von Kindern mittels praktischer Medienarbeit ab. Ihre Evaluationen zeigen, dass sie dabei bereits beachtliche Erfolge erzielt haben, decken aber auch auf, wo noch Handlungsbedarf besteht.
- Klaus Lutz: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint
Klaus Lutz: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint
Morgens halb zwölf in Deutschland. Entspannt mit dem Familien-Van und Richtgeschwindigkeit 130 unterwegs auf deutschen Autobahnen zum sonntäglichen Schweinebraten bei den Großeltern. Links staut sich eine PKW-Kolonne auf der Gegenfahrbahn, rechts ziehen Verkehrsschilder, Hinweise auf die nächste Autobahnraststätte nebst Autobahnkirche, Tankstellen und McDonalds-Filialen vorbei, außerdem das eine oder andere liegengebliebene Auto, das auf einen gelben Engel wartet. Nichts davon nimmt man mehr so wirklich wahr, bis es plötzlich von hinten kräht „Papa, warum gucken die so traurig?“ Nachdem eigentlich niemand zu sehen ist, erläutert der Nachwuchs noch hilfsbereit: „Na, die Kinder auf den Plakaten!“. Zwei Kilometer weiter lässt sich das Rätsel lösen, zieht doch wieder – an vertrauter Stelle – ein riesiges Schwarzweißplakat mit traurig dreinblickenden Menschen aus der Aktion „Fuß vom Gas“ auf die Autofahrer herab. Erschüttert fordert das Kind zu langsamem Fahren auf dem rechten Fahrstreifen bis zur nächsten Autobahnausfahrt auf, die uns in Bebauungsgebiete und damit zu Plakatwänden führt. Die ausgiebige Rotphase an der nächsten Ampel gibt uns Gelegenheit zum intensiven Studium der auf der großen Plakatwand angebrachten Warnungen vor allem und jedem: Zigarettenrauchen, Aids, sexueller Missbrauch, Unfallgefahren im Haushalt, rasender Verkehr, Depressionen, Holz hacken und Computerspielen.
Wer es also bislang noch nicht wusste, weiß es spätestens nach ein bis zwei roten Ampeln: Das Leben ist gefährlich, lebensgefährlich und – Obacht! die nachfolgende Aussage ist eventuell gefährlich für ihren Gemütszustand – endet regelmäßig mit dem Tod. Zur Reduzierung der Gefahren plädieren wir daher für eine radikale Kennzeichnungspflicht für alles, was gefährlich ist: Rauchen ist tödlich, ungeschützter Sex auch, Banker gefährden die finanzielle Zukunft ganzer Staaten, Autos könnten tödlich sein, Hühnereier auch, Junkfood ist ungesund und schädlich für die Krankenkassen, Computerspiele machen Kinder zu Zombies, Äxte hacken Finger ab, Bäume können auch mal umfallen, Autos gefährden spielende Kinder, Blumen sind gelegentlich sehr giftig, Klebstoffschnüffeleien auch. Und wenn wir schon dabei sind, könnten wir noch hübsche Aufkleber einführen für alles, was ungesund ist, unmoralisch, umweltgefährdend oder ungesetzlich. Das alles macht das Leben dann zwar schön bunt, erzielt aber mutmaßlich nicht den gewünschten Effekt.
Deshalb muss der Superaufkleber her: „Zu viele Warnungen stumpfen ab.“ Denn sonst gehen die wirklich wichtigen Warnungen leider unter. Und die Gewarnten stehen wie paralysiert im Leben und wissen nicht mehr, was sie sich noch trauen dürfen: Kann man mal einen Kaffee mit zwei Stück Zucker trinken und ein Stück Schwarzwälderkirschtorte verdrücken? Mit dem Auto zu einem wunderbaren Ausflug in die Kirschblüte fahren? Holz hacken, im Wald Hütten bauen und Blumen pflücken? Oder ein Paar Weißwürste mit einer Halbe Bier genießen? Und sogar Computer spielen und Spaß dabei haben? Sich über Videos bei YouTube kaputt lachen und laut die Fanhymne der eigenen Fußballmannschaft mitgrölen? Oder ist all das zu verbieten, weil es jährlich 6.600 tödliche Verkehrsunfälle, 2,5 Mio. Alkoholkranke, echt viele Fettleibige und drei Prozent suchtgefährdete jugendliche Computerspieler gibt?P. S. Ein sympathischer Zug wäre es übrigens, wenn Kampagnen so gestaltet würden, dass das Zielpublikum die Kampagnen-DVD nicht im Giftschrank aufbewahren müsste, um Kinder unter zwölf Jahren nicht zu gefährden. Dies hätte auch den Vorteil, dass eine Kampagne vielleicht auch eine wesentlich breitere Wirkung entfalten könnte.
- Klaus Lutz: Hat Technik ein Geschlecht?
Klaus Lutz: Hat Technik ein Geschlecht?
Im pädagogischen Arbeitsfeld sind meist mehr Frauen als Männer zu finden. Beim Blick auf die Computerpädagogik ist allerdings festzustellen, dass insbesondere Games eher Jungen faszinieren und Mädchen nur schwer für dieses Feld zu begeistern sind. Inwieweit sollten Medienpädagoginnen und Medienpädagogen daher spezielle Angebote für Mädchen schaffen, um Berührungsängste abzubauen? Bedarf es überhaupt geschlechtsspezifischer Angebote oder spielt das Geschlecht in Medienprojekten keine Rolle?
Klaus Lutz, pädagogischer Leiter des Medienzentrums Parabol, im Gespräch mit Sonja Breitwieser und Gabi Uhlenbrock.
- Klaus Lutz: Das ferngesteuerte Kind
Klaus Lutz: Das ferngesteuerte Kind
Es gab Zeiten, da musste alles selbst gemacht werden: Die Autofenster mussten heruntergekurbelt, das Geschirr von Hand gewaschen, zum Umschalten am TV-Gerät selbst ein Kopf gedrückt und der Kaffee mit kochend heißem Wasser aufgebrüht werden. Das Telefon hatte eine Schnur, der Rasierapparat keine.
Irgendwann verabschiedete sich das Telefon von der Wählscheibe, in der man so schön mit den Fingern herumbohren konnte, und bekam ein Tastenfeld, später dann einen Touchscreen. Der Geschirrspüler gesellte sich mit dem Trockner zur Waschmaschine, zum Telefon gesellten sich Anrufbeantworter und Router. Auch die Fernbedienungen entwickelten sich weiter: Erst konnten Modellflugzeuge und Rennautos mühelos via Fernsteuerung durch den Raum bewegt und Rollläden rauf- und runtergefahren werden, mittlerweile kann die Heizung längst von unterwegs via App geregelt werden. Wer die Fernbedienung hat(te), hat(te) die Macht – und mächtig ist heute jeder, der über ein digitales Endgerät mit Steuerungsapps verfügt.
Auch Erziehungsberechtigte konnten sich im Laufe der Zeit über eine stetig wachsende Anzahl technischer Hilfsmittel freuen. Diese ließen die Erziehungsverantwortung leichter ertragen, machten den Alltag unkomplizierter: Neben zahlreichen elektronischen ‚Kinderbelustigungsspielzeugen‘ von der singend-summenden Nachtlampe für Babys über Dreiräder mit Hilfsmotor und Babyphone bis hin zu Greifringen für Vorschulkinder mit Handyhalterung, elektronischen Stiften, sprechenden oder gar spionierenden Puppen sowie Spielzeugrobotern ist alles da, was das Kinder- und Jugendherz begehrt – und durch interessante Zusatz- oder Programmierfunktionen auch so manch Erwachsenen.Das mit Abstand beste Gerät ist jedoch das Smartphone für das eigene Kind: So musste man früher noch vor Ort sein, um den Nachwuchs nach frühzeitigem Schulschluss in Empfang zu nehmen. Heute gibt es dafür dankenswerterweise eine ‚Fernbedienung‘, ein internetfähiges Mobiltelefon nämlich, mit welchem sich der Nachwuchs selbstständig nach Hause bringt und bei Bedarf jederzeit ablenken oder beschäftigen kann, so dass Eltern nur für kurze Momente ihre Meetings unterbrechen müssen, um einen sehr kurzen „Geh jetzt los, geh direkt zum Zahnarzt und danach zum Training“-Anruf zu tätigen. Oder noch einfacher, um eine WhatsApp-Nachricht zu schicken.
Apropos Smartphone: Ausgemalt hatte sich das Kind den Besitz eines Mobiltelefons sicherlich viel befreiender und erhebender. Kommunikation ist aber nun mal keine Einbahnstraße. Dank Timer, Geozaun-Funktion und schlüsselanhängergroßen GPS-basierten Tracking- oder Ortungsgeräten können Eltern heute – im großen Gegensatz zu früheren Generationen – das Mobiltelefon entspannt als verlängerten Arm nutzen und selbst auf wohlmeinende „Wo bist du?“- oder drohende „Warum-bist-du-nicht-hier“-Anrufe verzichten. Besonders fiese Eltern greifen einfach zur Überwachungs-App oder dem ultimativen Übel: Sie berauben den teuren Minicomputer seiner Internet-Funktion, bevor sie es süffisant lächelnd wieder ihrem Kind aushändigen.
- Klaus Lutz: Von der Telefonseelsorge zur E-Beratung
Klaus Lutz: Von der Telefonseelsorge zur E-Beratung
Eine gute Beratungs- oder Sozialarbeit zeichnet sich nicht nur durch fachliche Kompetenz, sondern vor allem auch durch die Klientenbeziehung aus. In Zeiten von digitalisierten Lebenswelten besteht eine wesentliche Aufgabe der Sozialen Arbeit darin, auch online Beratungsangebote bereitzustellen, die dem Rechnung tragen (können).
Klaus Lutz, pädagogischer Leiter des Medienzentrum PARABOL in Nürnberg, im Gespräch mit Richard Reindl, Leiter der Studienwerkstatt Onlineberatung an der Technischen Hochschule Nürnberg.
- Verena Ketter/Klaus Lutz/Eike Rösch/Angela Tillmann: Jugendarbeit im digitalen Wandel
Verena Ketter/Klaus Lutz/Eike Rösch/Angela Tillmann: Jugendarbeit im digitalen Wandel
Zur Diskussion gestellt
Was bedeutet der digitale Wandel für die unterschiedlichen Felder der Jugendarbeit? Welche Rolle kann die Medienpädagogik bei einer konstruktiven Gestaltung dieses Wandels übernehmen? Jugendarbeit muss sich mit den Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, aber auch der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie auch der eigenen Arbeitsbedingungen auseinandersetzen. Doch was bedeutet das konkret? Als Diskussionsformat über diese Fragen lädt merz zur Blogparade ein.
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Diskutiert wird auf dem Medienpädagogik Praxis-Blog: mitmachen
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Als Grundlage für die Blogparade hat merz Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis gebeten, Fragen zu beantworten. In diesem Text sind ihre Diskussionsbeiträge zusammengestellt.
Für einen diskursiven Einstieg sorgen: (1) Prof. Dr. Verena Ketter, Professorin für Medien in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Esslingen, (2) Klaus Lutz, pädagogischer Leiter des Medienzentrum PARABOL, (3) Eike Rösch, Herausgeber des Medienpädagogik Praxis-Blog und (4) Prof. Dr. Angela Tillmann, Professorin an der Fachhochschule Köln.
Warum sollte sich Jugendarbeit mit digitalen Medien auseinandersetzen?
Jugendarbeit unterstützt beim Aufwachsen mit Medien und fördert den Mediendiskurs
Rösch Jugendliche weisen Medien eine große Bedeutung und verschiedenste Funktionen innerhalb ihrer Sozialisation zu. Jugendarbeit, die Jugendliche im Aufwachsen unterstützen möchte, muss dem gerecht werden und Medien auch in ihrer Praxis eine ebenso große Rolle zuweisen.
Lutz Zentraler Ansatz der außerschulischen Jugendarbeit ist die Ausrichtung ihrer Angebote an der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Unbestritten sind die Medien zu einem festen Bestandteil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen geworden. Die Medien sind zentrales Werkzeug ihrer Kommunikation, Medienkonsum bestimmt einen großen Teil ihrer frei verfügbaren Freizeit. Daraus ergibt sich für die Jugendarbeit die Notwendigkeit, Medien in die Arbeit mit einzubeziehen. Zum einen, um die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie stehen, zum anderen aber auch, um mit ihnen in den Diskurs über ihren Mediengebrauch zu treten. Dieser Diskurs sollte sich einerseits an ihren Interessen und Leidenschaften in Verbindung mit Medien orientieren, andererseits aber auch eine Reibungsfläche für die Reflektion ihrer eigenen Mediennutzung bieten sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen einer immer stärker mediatisierten Gesellschaft einbeziehen.
Ketter Der Jugendarbeit kommt als ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit die Aufgabe der Bildung und der Unterstützung zu. Neben formalen und informellen Settings stellt sie einen weiteren Bildungsort dar, der einen wechselseitigen Austausch vom Ich und einer durch digitale Medien beeinflussten Welt eröffnet. So sollte Jugendarbeit Heranwachsende bei der Identitätsbildung und Lebensbewältigung unterstützen, Orientierung in der digitalisierten Gesellschaft bieten sowie dem Auftrag nachgehen, soziale Gerechtigkeit herzustellen – vor allem, weil die Digitalisierung zur Reproduktion von Ungleichheitserfahrungen beiträgt.
Medien können zum selbstbestimmten und sozial engagierten Handeln anregen
Tillmann Die Lebenswelten Jugendlicher sind medial durchdrungen. On- und Offline-Welten durchdringen sich vielseitig und dynamisch. Teilhabe bedeutet für junge Menschen heute auch immer digitale Teilhabe. Wenn die Jugendarbeit die digitale Kommunikation und die digitalen Angebote ausblendet, würde sie einen wichtigen Aspekt des (Alltags-)Lebens Jugendlichen ignorieren – und ihrem Auftrag, die Entwicklung Jugendlicher zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern, nicht umfassend nachkommen. Eine Bildung ohne Medien ist heute nicht mehr möglich, darauf hat bereits das von mehreren Institutionen der Medienpädagogik initiierte und ausgearbeitete Medienpädagogische Manifest im Jahr 2009 hingewiesen. Über Medien werden Jugendlichen neue Perspektiven auf die Welt als auch neue Möglichkeiten der Artikulation von eigenen Interessen und Positionen eröffnet. Die Jugendarbeit ist daher aufgefordert, die digitalen Medien und Technologien in ihrer Arbeit zu berücksichtigen und mit den Jugendlichen gemeinsam zu schauen, wie Selbstbestimmung, gesellschaftliche Verantwortung und soziales Engagement auch in Medien oder medienunterstützt möglich sind. Hierbei gilt es auch zu schauen, wie Angebote gemeinschaftlich online ausgestaltet werden können. Darüber hinaus eignet sich die Jugendarbeit aber auch im besonderen Maße für die Förderung von Medienbildung und Medienkompetenz, da sie Jugendliche an anderer Stelle abholt als die Familie, die sich Jugendliche im buchstäblichen Sinne nicht aussuchen können, oder die Schule, die verpflichtend ist und sich noch als ein sehr undemokratischer Ort präsentiert. Leitbegriffe der Freiwilligkeit, Partizipation, Selbstorganisation und Verantwortungsübernahme gehören nach wie vor zu den Leitbegriffen der Jugendarbeit – hierauf verweist beispielsweise auch der 15. Kinder- und Jugendbericht. Dies prädestiniert die Jugendarbeit nicht zuletzt auch für die politische Medienbildung. Die Jugendarbeit kann somit neben Elternhaus und Schule wichtige und notwendige Optionen eröffnen, dass Jugendliche sich kritisch mit der digitalen Kommunikationskultur und Gesellschaft auseinandersetzen – und darin auch eine Sinn für sich erkennen. Im Kontext der Angebote der Jugendarbeit sollte es Jugendlichen dann auch möglich sein, die Bedeutung und den Mehrwert eines sozialverantwortlichen Umgangs in und mit Medien zu erfahren und Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, die sie in je spezifischer Form sowohl on- als auch offline erleben, zu reflektieren und bearbeiten zu können. Es gilt, Jugendlichen darüber hinaus auch Räume zur Verfügung zu stellen, in denen sie ihre Kommunikationsroutinen aufbrechen und die Bedeutung der digitalen Kommunikation und Information für die persönliche Entwicklung als auch für die Kommunikationskultur und Meinungsbildung reflektieren können.
Entstehen neue Methoden, Ansätze oder Inhaltsbereiche für die Jugendarbeit?
Konzepte und Methoden von Jugendarbeit reagieren auf die mediatisierte Lebenswelt und schaffen eine Beziehungsbindung
Lutz Medien sind Mittel zur Kommunikation. Kommunikation ist das zentrale Element zur Beziehungsbindung, welche die Grundvoraussetzung für eine gelingende Jugendarbeit darstellt. Allein die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten durch Medien eröffnen eine Vielzahl von neuen "Kanälen", um Beziehungsstränge mit Jugendlichen zu knüpfen. Diese reichen von der Bewerbung von Veranstaltungen bis zur Lebensberatung in Krisensituationen. Desweitern haben sich die Räume, die der Jugendarbeit zur Verfügung stehen, auf den virtuellen Raum erweitert. Auch wenn Jugendliche nicht vor Ort sind, kann zum Beispiel gemeinsam an Projekten gearbeitet oder ein Turnier gespielt werden.
Rösch Ich bin der Auffassung, dass sich zunächst die Konzepte von Jugendarbeit weiterentwickeln müssen: Sie müssen eine Antwort darauf geben, wie Jugendarbeit grundsätzlich aussehen muss, wenn die Lebenswelt von Jugendlichen weitgehend mediatisiert ist. Medien dürfen hierbei kein Add-on sein, sondern müssen selbstverständlicher Teil der pädagogischen Praxis sein. Auf dieser Basis werden sich auch die Methoden weiterentwickeln, manche auch neu entwickeln. In der mobilen Jugendarbeit ist das heute schon gut zu beobachten. Aber auch andere Bereiche der Jugendarbeit müssen sich ganz grundlegende Fragen neu stellen. Ich denke darüber hinaus, dass sich digitale Jugendkultur zu einem neuen Inhaltsbereich entwickelt. Hierzu gibt es mehr und mehr Angebote auch außerhalb spezifisch medienpädagogischer Projekte – ebenso selbstverständlich wie in anderen jugendkulturellen Bereichen.
Ketter Hypermedialität, Orts- und Zeitunabhängigkeit, Peering, Interaktion, Kollaboration und Sharing sind Prinzipien digitaler Medien, die das professionelle Handeln auf allen Ebenen tiefgreifend beeinflussen. Im administrativen Bereich sind digitale Dienstleistungen vorzuhalten, gesetzlich verankert ist beispielsweise der elektronische Zugang für Bürgerinnen und Bürger zur Verwaltung oder die digitale Aktenführung. Dieser Dateneinsatz wie auch der Einfluss digitaler Medien auf der Adressatinnen- sowie Adressaten- und Professionsebene (zum Beispiel visuelle Methoden, aufsuchende Ansätze, gleichrangige Konzepte) verweisen auf die Notwendigkeit einer Ethik in digitalisierten Arbeitskontexten.
Kann Medienpädagogik zur positiven Gestaltung des "digitalen Wandels" beitragen?Medienpädagogik kann ...
... Kinder und Jugendliche bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit unterstützen
Lutz Zentrale Aufgabe jeder Pädagogik ist es, Kinder und Jugendliche bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen und zu begleiten. Ziel einer erfolgreichen Medienpädagogik ist darüber hinaus die Entwicklung von Medienkompetenz, die Kindern und Jugendlichen ein gelingendes Leben mit Medien ermöglicht. Sowohl eine Persönlichkeit, die zum kritischen Denken fähig ist, als auch Medienkompetenz, die den Einsatz von Medien im Sinne ihrer Nutzer zu steuern weiß, sind beste Voraussetzungen dafür, dass Medien als Gestaltungselement der Zukunft wirksam werden.
... sich in den politischen Diskurs über die Digitalisierung einbringen und positionieren
Ketter Ethnografisch sollte die medienpädagogische Praxis und Forschung Medientechnologien in den Blick nehmen und auf ihre Bedeutung für die Jugendarbeit analysieren, gegebenenfalls übertragen. Zudem muss sich Medienpädagogik im Sinne ihrer Adressatinnen und Adressaten in den politischen Diskurs über die Digitalisierung einbringen und sich positionieren, um restriktive Maßnahmen zu verhindern und Menschenrechte zu wahren. Unerlässlich ist, den Adressatinnen und Adressaten eine Stimme zu geben, sie zu mobilisieren und gemeinsam an der digitalen Weiterentwicklung mitzuwirken, um damit den Wandel nicht nur Medieninstitutionen zu überlassen.
Tillmann Mit ihrem Fokus auf Bildungsprozesse macht Medienpädagogik deutlich, dass es zu kurz greift, nur die ökonomische Seite des digitalen Wandels in den Blick zu nehmen, sondern dass es stattdessen um den Menschen und den Zusammenhalt der Gesellschaft geht, und somit auch um Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des demokratischen Miteinanders in und im Umgang mit Medien und digitalen Technologien. Diese Bildungsprozesse lassen sich nicht steuern und kontrollieren, sondern benötigen anregende Lernorte und Freiräume. Die Medienpädagogik kann, indem sie einen kritisch-reflexiven und sozial verantwortlichen Umgang mit Medien fördert, einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Kommunikationskultur eine demokratische bleibt und Menschen sich für ihr Handeln verantwortlich fühlen, kreativ einbringen und die Kommunikationskultur sowie den digitalen Wandel mitgestalten (möchten). Die Herausforderungen des digitalen Wandels lassen sich also nicht alleine von technologischer, rechtlicher und politischer Seite lösen. Mit ihrem Fokus auf Medienkompetenz und Medienbildung kann die Medienpädagogik zeigen, welche Fähigkeiten, welches Wissen und Können, aber auch welche gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in einer datengetriebenen und kommerzialisierten Welt notwendig sind, damit Menschen die Gesellschaft weiterhin mitgestalten, ihr aber auch widerständig begegnen können.
... Standards zur Fortbildung von Fachkräften in der Jugendarbeit weitergeben
Rösch In der Medienpädagogik gibt es eine breite methodische Erfahrung und eine spezifische Professionalität. Mit der Mediatisierung der Sozialen Arbeit ist eine umfassende Weiterbildung von Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern erforderlich. Medienpädagogik sollte es hier gelingen, ihre fachlichen Standards weiterzugeben. Sie kann zudem dazu beitragen, Brücken zwischen verschiedenen pädagogischen Feldern sowie Szenen zu schlagen. Denn auch für die Jugendarbeit ist es mehr und mehr erforderlich, sich mit Medienproduzentinnen und -produzenten, Hackerinnen und Hackern, Netz- und Techaktivistinnen bzw. -aktivisten sowie anderen zu vernetzen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Nicht zuletzt kann Medienpädagogik Jugendarbeit auch dabei unterstützen, notwendige technische Mittel gemeinsam mit anderen Fachleuten zu entwickeln: etwa Kommunikationsplattformen, die professionellen Standards genügen oder Beteiligungstools, die besonderen Anforderungen entsprechen.
Was sollte im Zuge der "Digitalisierung" nicht passieren?
Der Fokus sollte jenseits des (Jugend-)Schutzgedankens und Big Data liegen
Ketter Im Rahmen der Digitalisierung sollte es nicht passieren, dass die (Jugend-)Schutzgedanken und die enormen Datenbestände ausschließlich in den Fokus medienpädagogischer Praxis und Forschung gestellt und darüber die Relevanz des kreativ-ästhetischen, identitätsfördernden und demokratisierenden Potenzials übersehen werden. Explorative Räume für die medienpädagogische Praxis und Forschung sind weiterhin aufrechtzuerhalten und genussvoll zu erkunden. Dafür ist eine finanzielle Förderung von medienpädagogischer Praxis, Forschung und Weiterqualifizierung sicherzustellen, die über die Projektförderung hinaus verstetigt ist und vielfältige Perspektiven auf- bzw. einnimmt.
Die ökonomische Rationalität sollte nicht über die Gesellschaftsordnung und das mündige Subjekt gestellt werden
Tillmann Das ökonomische Prinzip bzw. die ökonomische Rationalität sollte nicht über die gesellschaftliche Ordnung gestellt werden. Es kann nicht das vordergründige Ziel sein, die Welt effizienter zu gestalten. Hierzu trägt die Digitalisierung aktuell in enger Verbindung mit der Kommerzialisierung und Ökonomisierung bei. So werden zu jeder Zeit und bei zunehmend mehr Gelegenheiten Daten über Menschen gesammelt werden, die zur Mustererkennung eingesetzt werden (können): in der Politik, der Marktforschung, der Medizin, der Verwaltung, im Bildungswesen, in der Sozialen Arbeit etc. Die darauf aufbauenden Entscheidungen und Maßnahmen sorgen allerdings nicht nur für scheinbar effizientere Lösungen, sondern können auch normbildend, verhaltensbestimmend und damit auch diskriminierend wirken. Aktuell wissen wir auch nicht, wer welche Daten in welchem Kontext von uns erhebt und auswertet, und wir können unsere Daten nicht nachträglich löschen. Die intransparente Datensammlung und -verarbeitung tangiert damit unmittelbar unsere Persönlichkeitsrechte. Die Menschen sollten sich mit dieser Situation und Entwicklung nicht abfinden. Parallel zu den Entwicklungen, die mit dem Begriff der Datafizierung beschrieben werden, lässt sich eine Tendenz in der Gesellschaft beobachten, in Folge der die Verantwortung für die Lebensgestaltung immer mehr dem einzelnen Menschen auferlegt wird. In diesem Kontext fügen sich Technologien ein, die Menschen zur Selbstvermessung und zur Selbstoptimierung einladen. Wer Jugendliche als ‚digital natives‘ bezeichnet, bürdet ihnen ebenfalls viel Verantwortung auf und unterstellt, dass sie a priori für die ‚digitale Gesellschaft‘ vorbereitet und qualifiziert sind. Ausgeblendet werden damit strukturelle Rahmenbedingungen von weiterhin bestehenden und sich verfestigenden sozialen Ungleichheiten, die sich im Medienzugang und -handeln zeigen, ebenso wie verschiedene Formen von Benachteiligung und Diskriminierung. Beobachten lässt sich weiterhin, dass die Digitalisierung zur Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen in der Gesellschaft und damit auch einer Steigerung des Lebenstempos beiträgt. Wir sind immer und überall erreichbar, können jederzeit auf Informationen zugreifen, befinden uns in permanenten Reaktionsschleifen. Auf den Einfluss der technologischen Entwicklung auf diese Beschleunigungsprozesse hat bereits vor einiger Zeit Hartmut Rosa hingewiesen. Demnach haben Menschen, die sich den stetig wechselnden Handlungsbedingungen nicht konsequent anpassen, Sorge, die Anschlussvoraussetzungen und -optionen für die Zukunft zu verlieren. Gefördert werden auf diese Weise gleichermaßen Verpassensängste und Anpassungszwänge. Dem gilt es entgegenzusteuern. Darüber hinaus trägt der technologische Wandel auch zu weiteren Entgrenzungen bei – Entgrenzungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Freizeit und Schule sowie Arbeit und so weiter. Alle diese Entwicklungen fordern Menschen, auch schon in jungen Jahren. Es gilt also die Disziplinierungs- als auch Ermöglichungspotenziale der Technologien weiterhin kritisch im Blick zu haben und eine Kommunikationskultur zu etablieren, in der Menschen Zeit und Raum haben, innezuhalten, nachzudenken, sich selbstbestimmt zu orientieren und auch widerständig positionieren zu können.
Rösch Pädagogische Felder müssen generell gefeit sein, dass sie nicht zu einem Teil einer gesellschaftlichen Mobilisierung zur Vorbereitung auf einen angeblichen globalen Wettbewerb zwischen mediatisierten Gesellschaften gemacht werden. Dies passiert aktuell zum Teil in der Schule, wo ‚digitale Bildung‘ zur Grundqualifikation hierfür erklärt wird. Damit läuft Bildung Gefahr, nicht mehr das mündige Subjekt, sondern die toughe Arbeitnehmerin oder den toughen Arbeitnehmer zum Ziel zu haben. Genauso darf Jugendarbeit nicht verzweckt werden, etwa zur Prävention, Problembehandlung oder zur Qualifikation.
Offenheit für Veränderungen, kritische Reflexion und Nutzung von Gestaltungsmöglichkeiten
Lutz Die Zukunftsszenarien bezüglich der fortschreitenden Digitalisierung sind überwiegend besorgt bis ängstlich. Will man die Zukunft mitgestalten, sollte man sich den auf uns zukommenden Veränderungen stellen, sie kritisch reflektieren, aber auch die Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Sicherlich sind die Veränderungen tiefgreifend. Aber immer wenn man denkt "alles soll doch bitte so bleiben wie es ist", wird es höchste Zeit, etwas zu verändern.
Wie kann/sollte Jugendarbeit mit Dilemmata der Digitalisierung, wie mit dem Schutz und der Auswertung von Daten umgehen?
Ein Spagat zwischen Selektion wertvoller Medienangebote, Aufgreifen jugendlicher Alltagspraktiken und Förderung von Medienkompetenz
Lutz Dieses Dilemma ist nicht aufzulösen. Dies entbindet uns aber nicht davon, immer wieder auf dieses Dilemma zu verweisen. Es ist enorm wichtig, Kenntnis davon zu haben, welchen ‚Preis‘ man für die Nutzung moderner Kommunikation zahlt, um für sich persönlich ausloten zu können, wo eine Grenze überschritten wird. Darüber hinaus bedarf es eines Paradigmenwechsels im Bereich des Datenschutzes. Der Einzelne ist nicht mehr in der Lage, durch eigenes Handeln seine Daten zu schützen. Hier verlagert sich die Verantwortung auf eine übergeordnete Ebene. Dem Staat kommt es immer stärker zu, dafür Sorge zu tragen, dass uns die persönliche Datenspur nicht zum Nachteil gereicht wird, die wir durch die – nicht immer frei wählbare – Nutzung von Medien hinterlassen.
Rösch Das Kernproblem hierbei sind die Machtverhältnisse auf den großen kommerziellen Plattformen: Wenige Menschen entscheiden darüber, was dort passiert und was nicht, zahlende Nutzerinnen und Nutzer dürfen die Daten verwenden, während insbesondere Jugendliche de facto gezwungen werden, die gegebenen Bedingungen zu akzeptieren. Jugendarbeit muss das zum Thema machen – mit den Jugendlichen, aber auch auf politischer Ebene –, um eine Sensibilität hierfür, aber auch um andere Rahmenbedingungen zu schaffen. Darüber hinaus kann und muss Jugendarbeit hier an ihren beiden Prinzipien Lebensweltorientierung und Partizipation ansetzen: Einerseits ist es geboten, die Plattformen genau deswegen auch zu nutzen, weil sie eine Bedeutung für Jugendliche haben. Andererseits ist Jugendarbeit gefordert, im angemessenen Maße gemeinsam mit Jugendlichen alternative technische Plattformen zu schaffen und zu pflegen. Auf diese Weise kann sich nach und nach eine andere Praxis entwickeln.
Ketter Abgesehen von pädagogisch initiierten Räumen (Erprobungsräume) bedarf es der Orientierung an der Alltags- und Lebenswelt aller Internetnutzerinnen und -nutzer – unabhängig von der Lebensphase. Nur wenn Medienpädagogik sich kommerzieller Produkte bedient, kann eine anwendungsorientierte Auseinandersetzung erfolgen. Jugendliche lernen zum Beispiel in Beteiligungsprojekten unterschiedliche Mediensysteme kennen, beschäftigen sich reflektiert-kritisch mit der Datenverarbeitung, sodass Daten sensibel mitgeteilt werden. Medienpädagogik hat zugleich die Verantwortung an einer adressatinnen- sowie adressatenorientierten Ausgestaltung der Digitalisierung.
Tillmann Aufgabe der Medienpädagogik ist es, auf Software-Produkte hinzuweisen, die verantwortungsvoll mit den Daten der Menschen umgehen und Aufgabe der Fachkräfte ist es sicher auch, mit gutem Vorbild voran zu gehen. Aber gleichermaßen ist es unsere Aufgabe, Jugendliche bei ihren Alltagspraktiken abzuholen. Medienkompetenz und somit ein kritischer Umgang mit Medien werden im Umgang bzw. in der Auseinandersetzung mit Medien(-angeboten) entwickelt. Für die Medienpädagogik besteht somit die Herausforderung darin, Wege zu finden, wie dieses Dilemma thematisiert werden kann – ohne erhobenen Zeigefinger und ohne, dass jemand ausgeschlossen wird. Vielmehr gilt es die Folgen der Datensammlung und -auswertung erfahrbar zu machen und dafür Strategien und kreative Methoden zu entwickeln. Darüber hinaus greift es aber auch zu kurz, die Verantwortung allein beim Subjekt zu suchen und auf den Selbstschutz zu setzen. Vielmehr sind auch die Unternehmen und die Politik in der Pflicht. Sie sind aufgefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass die privaten Daten weiterhin ausreichend geschützt sind. Auch haben sie Sorge dafür zu tragen, dass Jugendliche in die Diskussion einbezogen werden, sie mitbestimmen können, was mit ihren Daten passiert. So betont auch der 15. Kinder- und Jugendbericht die Notwendigkeit, Jugendliche für die Teilnahme am Diskurs der Netzwerkgesellschaft nicht nur zu befähigen, sondern sie auch daran zu beteiligen. Es gilt somit, gemeinsam mit Jugendlichen Wege zu finden, wie wir unsere informationelle Selbstbestimmung zurückerobern und erhalten.
Sind medienfreie Angebote für Jugendliche in einer von Medien dominierten Welt notwendig?
Medienverzicht kann Inspiration für spannende Erkenntnisse liefern, wenn nicht der moralischen Zeigefinger erhoben wird
Rösch Generell sollten Medien der Zielsetzung eines pädagogischen Angebots dienen. Dazu kann es auch gehören, keine Medien zum Teil des Angebots zu machen – aus welchem Grund auch immer. Das Angebot sollte aber vor allem auch einem Bedürfnis der Jugendlichen entsprechen. Solche mit moralischem Zeigefinger bekommen sie auch woanders, dafür braucht es keine Jugendarbeit.
Lutz Ein systematischer Verzicht auf Dinge und Handlungen, die uns im Alltag als selbstverständlich erscheinen, ist immer ein Quell spannender Erkenntnisse. In diesem Sinne sind sicherlich auch medienfreie Angebote für Jugendliche sinnvoll. Ist das Ziel solcher Angebote aber, Jugendliche zu einem Wandel oder gar stärkeren Verzicht ihrer Mediennutzung im Alltag zu bewegen, halte ich solche Methoden für verfehlt. Es gilt vielmehr, die Medienaffinität Jugendlicher dazu zu nutzen, Themen aufzuarbeiten oder Partizipationsprozesse zu gestalten. Die Medien im Sinne ihrer Interessen einsetzen zu lernen, ist hier oberste Zielsetzung. Dies kann nur mit Medien gelingen.
Angebote ohne Medien können entschleunigen und die Reflexion des Medienhandelns fördern
Tillmann Das übergeordnete Ziel der Pädagogik ist es, die Persönlichkeitsbildung zu fördern – also die Perspektive zu erweitern, neue Zugänge zur Welt zu entwickeln und die Wahrnehmung und Achtsamkeit gegenüber Menschen, Dingen und der Welt zu schulen. Hier bieten Medien einen wichtigen, aber nicht den einzigen Zugang. Es gibt zahlreiche andere Möglichkeiten, soziale Verantwortung zu lernen, Ich-Stärke, Eigensinn, Kritikfähigkeit und Kreativität zu entwickeln. Vor dem Hintergrund der technologisch angetriebenen Beschleunigungsprozesse und impliziten Anpassungszwänge ist es sogar wichtig, sich der digitalen Kommunikation zeitweise zu entziehen. Das eigene Medienhandeln kann Menschen auch in Distanz zu sich, zu anderen Menschen und der Welt bringen. Wenn die Distanz zu groß wird und das alltägliche Leben entgleitet, können medienfreie Angebote helfen, wieder einen Zugang zu sich und der Welt zu finden. Medienfreie Angebote eröffnen außerdem Optionen, Medienerlebnisse zu verarbeiten und das eigene Medienhandeln zu reflektieren.
Analog und digital sind zusammenzudenken
Ketter Es geht nicht um ein Ausspielen von medienfreien und mediennutzenden, pädagogischen Interventionen – analog und digital sind zusammenzudenken. Bildung in einer durch digitale Medien geprägten Gesellschaft bedeutet gerade auch, aus der Vielfalt an Angeboten auszuwählen und die Konzentration auf einen Gegenstand oder eine Angelegenheit richten zu können. Diesen Aspekt in Bildungsarrangements zu vermitteln und währenddessen innovative Konzepte und Ansätze zu entwickeln, ist entscheidend.
Künftiger Arbeitsalltag und Qualifikationen von Fachkräften in der Jugendarbeit
Augenscheinlich geringe Veränderungen bei zunehmender Medienintegration
Lutz Aus meiner Sicht wird sich der Arbeitsalltag in der Jugendarbeit in den nächsten Jahren nicht so entscheidend ändern. Vor allem die mit Medien gestützte Freizeitgestaltung wird eine immer zentralere Rolle im Alltag von Jugendlichen spielen. Dieses Freizeitverhalten wird sich in den Angeboten der Jugendarbeit widerspiegeln müssen, um an den Interessen und Fähigkeiten der jungen Menschen anzuknüpfen. Vor allem die Expertise der Jugendlichen bezüglich ihrer Mediennutzung, sei es die Könnerschaft in Computerspielen oder der virtuose Umgang mit der Handykamera, muss auch in ihrer Freizeit eine Würdigung finden. Dies gilt umso mehr, als ich nicht glaube, dass die Anerkennung dieser Fähigkeiten in der nächsten Zeit in der Schule stattfinden wird.
Rösch Auf den ersten Blick wird sich der Arbeitsalltag der Jugendarbeit nur wenig verändern. An vielen Stellen fällt aber auf den zweiten Blick die selbstverständliche Integration von Medien und mediatisierter Kommunikation ins Auge: nicht nur das Smartphone, sondern auch spezifische Websites und andere Tools. Hiermit gelingt es Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern, Jugendliche in ihrer mediatisierten Sozialisation angemessen zu begleiten. Hilfreich sind dabei Einblicke in die digitale Jugendkultur und mediatisierte Identitätsarbeit. Ebenso sind aber angepasste Konzepte und Methoden wie auch die entsprechende eigene Medienkompetenz der Fachkräfte wichtig.
Ketter Aufgrund der stetigen und rasanten Weiterentwicklung von Medientechnologien – und auch der nicht intendierten Medienpraktiken Heranwachsender – ist bereits der Blick in eine nahe Zukunft unwägbar. Wichtig für die Planung und Durchführung von Fachkräftequalifizierung erscheint das seismografische Arbeiten, das heißt ein immerwährender Abgleich der medientechnologischen Entwicklungen, die Analyse der damit einhergehenden Phänomene, das explorative Erproben und Erforschen sowie ein innovativer Transfer auf die Soziale Arbeit respektive Jugendarbeit.
Tillmann Die Schnittmengen und Überlappungen zwischen On- und Offline-Räumen werden weiter zunehmen, Online-Räume weiter an Attraktivität gewinnen – dies vielleicht umso mehr, je weniger öffentliche Orte Jugendlichen zur Verfügung stehen. Damit ändern sich auch die Entwicklungsbedingungen Jugendlicher (Datafizierung, Datenklau, Fake News, Socia Bots, Hate Speech, Cybermobbing, Sexting usw.). Das hat Auswirkungen auf das alltägliche, soziale und kulturelle Handeln Jugendlicher. Im Zuge dessen verändert sich auch das Arbeitsfeld der Jugendarbeit – steigen die (medien-)pädagogischen Anforderungen an die Fachkräfte. Im 15. Kinder- und Jugendbericht wird darauf hingewiesen, dass es in der Jugendarbeit immer auch darum geht, Jugendliche und junge Erwachsene über schulische Qualifizierungsprozesse hinaus bei der Bewältigung der Kernherausforderungen der Jugendphase – der Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung – zu begleiten und zu unterstützen. Herausgearbeitet wird in dem Bericht, dass das Internet einen wichtigen Ermöglichungsraum darstellt, in dem Jugendliche die drei Anforderungen bearbeiten können. Die Jugendarbeit ist aufgefordert, dieser Entwicklung zukünftig verstärkt Rechnung zu tragen. Zu klären ist weiterhin, wie die Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter den digitalen Kontakt zu Jugendlichen zukünftig gestalten und mit der Rundum-Verfügbarkeit umgehen. Dies setzt eine Diskussion über Standards und Qualitätskriterien voraus und erfordert – angesichts der Dominanz kommerzieller Angebote – auch eine Reflexion der Datensicherheit. Nicht zuletzt gilt es auch im Umgang mit digitalen Medien, klare Qualitätsstandards für Einrichtungen zu entwickeln, die den Mitarbeitenden Sicherheit im Umgang mit der Mediennutzung der Kinder und Jugendlichen geben. Jugendarbeiterinnen sowie Jugendarbeiter in fünf Jahren werden sich also weiterhin den Entwicklungen und Herausforderungen, die mit dem digitalen Wandel einhergehen, stellen müssen. Es wird eine immer engere Verknüpfung von sozial- und medienpädagogischem Wissen in der Jugendarbeit notwendig sein. Erforderlich sind medienpädagogische Fort- und Weiterbildungen, die den Fachkräften eine klare Handlungsorientierung für den Umgang mit Medien in ihrem Arbeitsfeld geben und sie gleichermaßen dazu befähigen, Bildungsgelegenheiten für Jugendliche zu schaffen, die eine (Weiter-)Entwicklung von Medienkompetenz ermöglichen. Ziel ist somit einerseits die Vermittlung eines sozialisatorischen Wissens über das Medienhandeln Jugendlicher als auch die Förderung von Medienkompetenz und mediendidaktischer Kompetenz bei Fachkräften. Nicht zuletzt kann die Jugendarbeit die digitalen Medien zukünftig noch stärker auch zur Vernetzung mit anderen Initiativen nutzen und auch dazu, die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen.
Welche neuen Qualifikationen brauchen Fachkräfte in der Jugendarbeit sowie Medienpädagoginnen und Medienpädagogen?
Lutz Vor allem müssen Fachkräfte verstehen, was Jugendliche an medialen Welten so fasziniert und wie wichtig sie für die Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben sind. Den Überblick zu behalten ist nicht immer leicht – auch nicht für Medienpädagoginnen und Medienpädagogen.
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Aufruf zur Blogparade
merz erkundet in der Ausgabe merz 4/2017 Soziale Arbeit digital Potenziale in der Verbindung von offline und online und ruft mit diesem Beitrag, der auch in der Printausgabe erschienen ist, zu einer Blogparade "Jugendarbeit im digitalen Wandel" auf. Damit sollen neue Räume für die Diskussion über das Heftthema eingebunden werden.
Alle Leserinnen und Leser sind eingeladen, eigene Blogbeiträge zu ihrer Perspektive auf das Thema zu verfassen und diese mit dem Startbeitrag zu verlinken. Die Beiträge werden hier beim Beitrag gelistet, in der kommenden Ausgabe merz 5/2017 erscheint ein Kurzbericht zu den Beiträgen der Blogparade.
Zeitraum der Blogparade ist bis 15. September 2017 .
Beiträge können aber auch danach noch beigesteuert werden.
Für die Beiträge können die nachstehenden Leitfragen beantwortet, aber auch durch weitere Themenfacetten ergänzt werden:- Warum sollte sich Jugendarbeit mit digitalen Medien auseinandersetzen?
- Welche neuen Methoden, Ansätze oder Inhaltsbereiche für die Jugendarbeit entwickeln sich durch den Einbezug digitaler Medien?
- Was kann Medienpädagogik zur positiven Gestaltung des "digitalen Wandels" beitragen?
- Was sollte im Zuge der sogenannten Digitalisierung nicht passieren?
- Wie mit dem Dilemma umgehen, dass wir für unsere Arbeit kommerzielle Produkte nutzen, die Jugendlichen nicht ermöglichen, ihre privaten Daten ausreichend zu schützen? ggf. Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie/siehst du?
- Sind medienfreie Angebote für Jugendliche in einer von Medien dominierten Welt notwendig? Warum?
- Wie sieht der Arbeitsalltag in der Jugendarbeit in fünf Jahren aus? Welche neuen Qualifikationen brauchen Fachkräfte in der Jugendarbeit und Medienpädagoginnen und Medienpädagogen dann?
Es laden ein: Niels Brüggen und Klaus Lutz für merz | medien + erziehung. - Klaus Lutz: Samstags kommt das Sams – oder nicht
Klaus Lutz: Samstags kommt das Sams – oder nicht
Samstag ist aus meiner Sicht der undankbarste Tag der Woche. Entweder steht ein Wochenendseminar mit Jugendlichen an oder ein Vortrag auf einer Tagung. Streckt die Arbeit ihre langen Arme einmal nicht nach einem aus, so ist der Samstag dennoch nie arbeitsfrei. Das Bad und die Toiletten müssen beispielsweise geputzt und die aufgebrauchten Vorräte aufgefüllt werden. So muss man sich also nach dem Frühstück lange Einkaufszettel erklären lassen – als würde sich es um einen lateinischen Text handeln – lassen und dutzende Ermahnungen einstecken, nicht wieder den falschen Käse und zusätzliche kalorienhaltige Leckereien mitzubringen. Erstaunlicherweise teile ich dieses Schicksal mit vielen Männern. Das Internet der Dinge lässt auf sich warten. Mit vielen anderen schiebe ich meinen Einkaufswagen die Regale entlang, kaufe wieder den falschen Käse, saure statt süße Sahne und stelle mich an der Kasse an. Mich stört dieses Warten aber überhaupt nicht, denn das enge Zusammenstehen ermöglicht es mir, meinen – zugegeben etwas absonderlichen – Leidenschaften nachzugehen: Unterhaltungen anderer belauschen oder selbst ein Gespräch mit wildfremden Menschen beginnen.
So auch, als vor mir ein gutaussehender großer dynamischer Mann, etwa Mitte 30 – meine Schwägerin würde sagen „ein Schnittchen“ –, die Kassiererin freundlich begrüßte und während des Kassiervorgangs mit ihr plauderte. Die beiden schienen sich privat zu kennen, denn die Kassiererin erkundigte sich nach der Tochter, die sonst doch immer mitkäme. Der wahrscheinlich auch beruflich sehr erfolgreiche Mann berichtete, dass jetzt, wo sie in der ersten Klasse sei, die Schule vorgehe. Sie sei gestern auf einem Geburtstag gewesen und müsse daher heute ihre Hausaufgaben erledigen. Schließlich sei Schule nun mal wichtig. Super, dachte ich mir, da haben wir es wieder. Die Kindheit ist mit dem Eintritt in die Schule zu Ende. Wahrscheinlich hat der ehrgeizige Vater längst das Gymnasium für das Kind ausgesucht, Klavier spielt sie sicher seit Jahren und die Ausbildungsversicherung für ein Studienjahr im Ausland ist auch längst abgeschlossen. Ich konnte gar nicht schnell genug den Laden verlassen, um meine Empörung über so viel ‚Bildungsfixiertheit‘ mitzuteilen. Zuhause hatte aber – wie jeden Samstag – niemand Zeit und Lust, sich meine Einkaufsgeschichten anzuhören. Gut, dass es die sozialen Medien gibt: Tablet geschnappt, um auf Facebook meine Erlebnisse mitzuteilen.
In kürzester Zeit erhielt ich etliche wütende Kommentare über Eltern, die sich nur über ihre Kinder definieren, Empörung über das Schulsystem und das Ende der Kindheit durch das Selbige. Zufällig ergab es sich, dass ich am darauffolgenden Samstag wieder einkaufen musste – und an der Kasse stand erneut der gutaussehende junge Mann, diesmal mit seiner Tochter. Das kleine freundliche Mädchen, welches offensichtlich ein Down-Syndrom hat, erzählte der Kassiererin gerade begeistert von der Schule und wieviel Spaß ihr diese mache. Plötzlich stand das Ganze in einem neuen Zusammenhang. Ich bewunderte den Vater dafür, dass er seiner Tochter und deren Bildung dieselbe Wichtigkeit und Aufmerksamkeit zukommen lässt wie einem nicht behinderten Kind. Ich schämte mich, dass ich eine Geschichte in die Welt gesetzt hatte, die bei genauer Recherche ganz anders hätte erzählt werden müssen. Ich tröstete mich damit, dass ich immerhin nicht heimlich ein Foto von dem gutaussehenden Mann ins Internet gestellt hatte. Soweit reicht meine Medienkompetenz dann doch noch. Ich leiste hiermit öffentlich Abbitte. Mir wurde eindrücklich klar, wie schnell man zum Produzenten von Fake News werden kann.
- Klaus Lutz: Scannerkassen – Einkaufen 2.0
Klaus Lutz: Scannerkassen – Einkaufen 2.0
Zugegeben, ich bin im Herzen ein Leistungssportler. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die am Sonntagmorgen mal eine gemütliche Runde im Park joggen. Wenn ich die Joggingschuhe schnüre, ist auch immer die Uhr am Handgelenk, die mir Pulsfrequenz sowie Durchschnittstempo anzeigt und piept, wenn ich von meinem einprogrammierten Trainingsplan abweiche. Auch wenn ich mit meinem zweijährigen Sohn und seinem Laufrad zum Spielplatz unterwegs war, musste ich mich sehr zurückhalten, nicht jede Fahrt zu einem Wettrennen mit anschließender Siegerehrung im Sandkasten zu machen. Nun, da ich in die Jahre gekommen bin und meine Zeit als Fußballer und Marathonläufer der Vergangenheit angehört, gilt es, altersgerechte Herausforderungen zu suchen. Eine neue Challenge muss her.
Viele Sportmedizinerinnen und -mediziner raten, man solle sportliche Aktivitäten in den Alltag einbinden, weil man dann am zuverlässigsten zu seinen Trainingseinheiten komme. Alltagskompatibilität ist bei mir zu 100 Prozent gegeben, wenn es wieder einmal heißt: Ich gegen die Scannerkasse.Die ersten Scannerkassen in den Supermärkten waren noch ziemlich träge bei der Erfassung des Strichcodes – ein mehrmaliges Ziehen über die Glasscheibe war erforderlich, bis das erlösende Piepen ertönte. Oft mussten die Kassenkräfte nach mehreren Fehlversuchen den Zahlencode mit der Hand eintippen. Währenddessen hatte man genügend Zeit, die Waren auf das Band zu legen, mit der Kassenschlangennachbarin oder dem -nachbarn zu quatschen und die Waren vor dem Bezahlen in den Einkaufswagen zurückzulegen, Geldbeutel oder Kreditkarte zum Zahlen herauszunehmen und vielleicht auch noch das nötige Kleingeld zu suchen.
Diese Zeiten sind vorbei. Die neuen Hochgeschwindigkeitsscanner machen kaum noch Fehler. Die Kassenkräfte sind dermaßen versiert, dass sie ohne hinzusehen wissen, wo sich das Etikett zum Scannen befindet; manche beherrschen sogar das beidhändige Scannen! Also gilt es, als Sieger beim Wettscannen hervorzugehen. Die Regeln sind einfach: Sobald die Kassenkraft den ersten Artikel in die Hand nimmt, ist die Einkaufsware im leeren Einkaufswagen oder der ökologisch korrekten Mehrwegtasche zu versenken. Für einen Sieg darf sich nach dem letzten Scanvorgang kein Artikel mehr außerhalb des Wagens befinden. Nach anfänglichen Niederlagen wurde meine Technik immer ausgefeilter: Ware in der späteren Einpack-Reihenfolge auf das Band legen; die Strichcodes möglichst ungünstig platzieren, große Abstände zwischen den Waren lassen. Aber es nützte nichts. Wenn man am Samstag auf die absoluten Scan-Profis trifft – oft studentische Aushilfskräfte zwischen 20 und 25 Jahren, die wahrscheinlich auch versierte Computerspielende sind –, ist man meist zweiter Sieger.
Ich werde deshalb jetzt zu den Selbstscankassen wechseln. Hier kann ich wieder mein eigenes Tempo finden und als technischer Berater für Ungeübte agieren, praktisch ehrenamtlich als Medienpädagoge arbeiten. Aber es ist schon wieder eine neue Herausforderung in Sicht. Wie einst die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth gefahren ist, nimmt wieder eine technische Innovation in Fürth ihren Anfang. Pepper ist da! Ein Einkaufsroboter, der die Kundschaft beraten soll, wo zum Beispiel bestimmte Waren zu finden sind. Wo andere das persönliche Erlebnis beim Einkaufen im Hofladen vorziehen, suche ich meine Herausforderungen doch lieber in der digitalen Welt. Nächste Woche werde ich Pepper besuchen. Bin gespannt, ob der Kerl bereit ist, sich einem Wettkampf um den schnellsten Weg zu den Posten meiner Einkaufsliste zu stellen. Einkaufen 4.0 – ich komme.
- Klaus Lutz: Digitale Kindheit
Klaus Lutz: Digitale Kindheit
Wenn es um digitale Bildung in der Grundschule oder in der Kita geht, sehen Eltern eher die Schule als Ort für eine erste Orientierung in einer von Medien durchdrungenen Welt. Eine digitale Transformation muss auch in der Schulbildung stattfinden. Aber ebenso vor Krippen und Kindergärten macht die Digitalisierung nicht mehr Halt, auch wenn hier noch Widerstand geleistet wird. Bund und Länder verhandelten folglich den Digitalpakt und verschiedene Studien befassen sich mit den Entwicklungen und Auswirkungen digitaler Bildung. Dieser Beitrag beleuchtet Herausforderungen und Positionen in den Handlungsfeldern Schule, Politik, Krippen und Kindergärten und weist auf zukunftsgerichtete Projekte in Medienkitas.
Literatur:
Aufenanger, Stefan (2015). Wie die neuen Medien Kindheit verändern. Kommunikative, soziale und kognitive Einflüsse der Mediennutzung. In: merz | medien + erziehung, S. 10–16.
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Bostelmann, Antje (2018a). Antje Bostelmann. www.antje-bostelmann.de [Zugriff: 15.02.2018]
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Bundesministerium für Gesundheit (2017b). Heute schon mit Ihrem Kind gesprochen? Kampagne „Medien-Familie-Verantwortung“. www.drogenbeauftragte.de/presse/projekte-und-schirmherrschaften/projekte-des-monats/2017/012017-medienfamilieverantwortung.html [Zugriff: 15.02.2018]
Gebhard, Ulrich (2010). Wie wirken Natur und Landschaft auf Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität? In: Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.), Naturschutz & Gesundheit. Allianz für mehr Lebensqualität. Bonn, S. 22–28.
IFP – Staatsinstitut für Frühpädagogik (2017). Bildung Erziehung Betreuung von Kindern in Bayern. In: IFP-Infodienst, Jg. 22. www.ifp.bayern.de/imperia/md/content/stmas/ifp/infodienst_2017_web.pdf [Zugriff: 15.02.2018]
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Leonhard, Gerd (2017). Technologie vs. Humanity – Unsere Zukunft zwischen Mensch und Maschinen, München 2017. München: Vahlen.
Lutz, Klaus (2015). Bildergeschichten digital. In: Anfang, Günther/Demmler, Kathrin/Lutz, Klaus/Struckmeyer, Kati (Hrsg.), wischen klicken knipsen. Medienarbeit mit Kindern. München: kopaed.
mpfs – Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2017). KIM-Studie 2016. Kindheit, Internet, Medien. www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2016/KIM_2016_Web-PDF.pdf [Zugriff: 16.02.2018]
Oerter, Rolf (1999). Psychologie des Spiels: Ein handlungstheoretischer Ansatz. Weinheim: Betz.
Renz-Polster, Herbert/Hüther, Gerald (2013). Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Weinheim: Belz 2013.
Tiroler Tageszeitung Onlineausgabe (2017). Jede Maus kann sich besser konzentrieren als Kinder www.tt.com/panorama/13501952-91/jede-maus-kann-sich-besser-konzentrieren-als-kinder.csp [15.02.2018]
- Günther Anfang/Klaus Lutz: Medienerziehung in der Kita
Günther Anfang/Klaus Lutz: Medienerziehung in der Kita
Die voranschreitende Digitalisierung macht auch vor der Kita nicht Halt. Diese Entwicklung wird sowohl in der Fachwelt wie auch unter den Eltern sehr ambivalent beurteilt. Vor allem im Elementarbereich besteht ein breiter Konsens, dass ein möglichst „naturnahes Aufwachsen“ die ideale Grundlage für eine gesunde Entwicklung der Kinder bietet. Das Konzept der Waldkindergärten hat vor allem in der Stadt eine zunehmend hohe Akzeptanz. Natürlich ist es für Kinder von großem Wert, wenn sie die Möglichkeit haben, auf Bäume zu klettern, im Matsch zu spielen oder Käfer und Regenwürmer zu sammeln.
Bedenklich wird es aber dann, wenn diese Form des Aufwachsens so stark idealisiert wird, dass jede Minute, die das Kind mit anderen Dingen als der primären Naturerfahrung verbringt, zu vermeiden sei. Vor allem die Medien sind dabei Zielscheibe der Kritik. Viele Eltern und pädagogische Fachkräfte erleben das Interesse der Kinder an Mediennutzung als Bedrohung in der Eltern-Kind-Beziehung, weit vor der Entfremdungsphase in der Adoleszenz. Es herrscht Unverständnis, nicht selten sogar Entsetzen über die magische Anziehungskraft digitaler Geräte wie Handys, Tablets oder Spielekonsolen. Die Probleme, die das Aufwachsen mit sich bringt, werden nicht selten direkt den Medien zugeschrieben – schlechte Schulleistungen, Übergewicht, Konzentrationsschwierigkeiten und vieles mehr. Vor allem die Hirnforschung liefert hierfür den wissenschaftlichen Unterbau: Kaum ein schwarzes Brett in einem Kindergarten, an welchem nicht Artikel über die Mutation von Kinderhirnen durch den Mediengebrauch angepinnt sind, die oft in apokalyptischer Weise die Zukunft beschreiben, in die unsere Kinder hineinwachsen. Einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema ist hierdurch oft der Weg verstellt. Die Welt ist aber nicht schwarz oder weiß, für Erziehung gibt es keine Patentrezepte, und die Überzeugung, dass früher alles besser war, hilft auch selten weiter.
Es gilt also vielmehr, sich differenziert mit dem Aufwachsen in einer digitalisierten Gesellschaft auseinanderzusetzen. Denn der Mensch ist ein „Hybridwesen“ – wie es der französische Soziologe Bruno Latour beschreibt. In diesem Sinne definiert sich der Mensch sowohl durch sein Verhältnis zur Natur, als auch zu der von ihm geschaffenen technischen Welt. Wenn wir diese Wechselseitigkeit ernstnehmen und die Interessen der Kinder ins Zentrum unserer Bemühungen stellen, gilt es, ihnen den Zugang zu einer vielfältigen, facettenreichen Welt zu erschließen.
Dies ist auch ganz im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention. Kinder haben ein Recht auf Information, auf Bildung, auf Teilhabe – auch mit, durch und in den Medien. In diesem Heft wird der Frage nachgegangen, vor welchen Herausforderungen Kitas stehen, wenn sie sich entschließen, die digitalen Medien in ihre Konzeptionen mit einzubeziehen. Dabei sind mehrere Hürden zu überwinden: Skeptische Eltern, die Medien kritisch betrachten und zumindest teilweise am liebsten eher die medienfreien Kitas bevorzugen, medienpädagogisch unerfahrenes pädagogisches Personal sowie fehlende technische Ausstattung, die einen sinnvollen Medieneinsatz in der Kita erschwert.
Es gibt aber auch positive Erfahrungen in Modellversuchen sowie politische Signale, die sich für eine frühkindliche Medienbildung stark machen. In diesem Heft wird deshalb der aktuelle Stand der Diskussion um eine zukünftige medienpädagogische Ausrichtung der Kita beleuchtet und es werden Erfahrungen, Konzepte und Modellprojekte vorgestellt, die den Weg zur ‚Kita digital‘ eröffnen.
1Zu diesem Heft
Medienarbeit in der Kita sollte sich nach Günther Anfang und Kathrin Demmler an den Grundbedürfnissen der Kinder und ihren altersbedingten Fähigkeiten orientieren. In ihrem Beitrag zur Medienkompetenzförderung in der Kita formulieren sie, dass sich die dortige Medienarbeit immer in ein pädagogisches Gesamtkonzept einordnen muss und niemals der körperlichen, gesellschaftlichen, gefühlsmäßigen und gedanklichen Entwicklung der Kinder im Wege stehen darf. Aus medienpädagogischer Sicht bedeutet dies, Medien für Kinder frühzeitig als Produktionsmittel erfahrbar zu machen, um aufzuzeigen, dass die Medien für unterschiedlichste Begabungen und Interessen Möglichkeiten bieten, sich kreativ auszudrücken und anderen die eigene Sichtweise der Welt mitzuteilen. Medien werden dabei als integrativer Bestandteil des sozialen und gesellschaftlichen Lebens begriffen und die Vermittlung von Medienkompetenz als grundlegende Aufgabe der Kita umrissen. Ziel einer Medienarbeit in der Kita ist, nach Anfang und Demmler, Kinder und Jugendliche für ein souveränes Leben mit Medien stark zu machen und ihre Medienkompetenz zu fördern.
Am Beispiel eines Modellprojekts einer Münchner Kita zeigen die Autorin und der Autor auf, dass Medienarbeit in der Kita gelingen kann und dies viele Potenziale der Förderung von Medienkompetenz beinhaltet. Wissenschaftlich fundiert wird diese Erkenntnis im Beitrag von Jasmin Bastian, Stefan Aufenanger und Hans-Uwe Daumann. Im Projekt KiTab.rlp wurde die Verwendung von Tablets über ein Jahr lang in drei rheinland-pfälzischen Kindereinrichtungen erprobt. In regelmäßigen Abständen wurden dabei Erziehende sowie Eltern zu ihren Einstellungen, Meinungen und Erwartungen befragt und parallel die Tablet- Nutzung beobachtet. KiTab.rlp beleuchtet darüber hinaus die Wahrnehmung der Erzieherinnen und Erzieher zum Umgang mit dem Tablet und die Einschätzung eigener Kompetenzen im Rahmen des Einsatzes digitaler Medien in der Kindertageseinrichtung.
Die Auswertung gibt wichtige Aufschlüsse über die Hürden und Stolpersteine, aber vor allem über den Nutzen und die Potenziale sowie den Abbau von Vorurteilen gegenüber mobilen Geräten, die mit dem Einsatz des digitalen Werkzeugs Tablet in Kindereinrichtungen verknüpft sind. Im Interview mit Eva Reichert-Garschhammer zu Chancen der Digitalisierung im Bildungssystem Kita wird deutlich, dass noch einige Hürden zu überwinden sind, um auch Eltern und pädagogische Fachkräfte von Medienpädagogik in der Kita zu überzeugen. Sie zeigt auf, dass sich Kitas in einem enormen Spannungsfeld befinden, da sie nach den Bildungsplänen der Länder im Sinne einer kind- und lebensweltorientierten Frühpädagogik seit inzwischen 15 Jahren verpflichtet sind, Medienbildung zu leisten, die Diskussion um eine medienfreie Kita dem jedoch immer wieder entgegensteht. Kinder sind nach Meinung Reichert-Garschhammers am besten vor Medienrisiken geschützt, je früher sie sich in einem begleiteten, kindgerechten und zeitlich dosierten Rahmen mit Medien aktiv, kreativ und kritisch auseinandersetzen und so Medienkompetenz entwickeln. Sie plädiert deshalb dafür, Eltern und Fachkräfte darüber zu informieren und Vorurteile abzubauen.
Klaus Lutz beschreibt in seinem Artikel, dass eine Unterscheidung zwischen realer und virtueller Welt so nicht mehr gegeben ist und Kinder von Anfang an mit Medien aufwachsen. Während in der Schule der Umgang mit Medien als wichtiges Ziel erkannt wurde, herrscht im Bereich der Kita nach wie vor große Skepsis. Viele Eltern von Kindern im Alter bis sechs Jahren sind der Überzeugung, dass die Verfügbarkeit von Medien oder eine hohe Mediennutzung den natürlichen Lehr- und Lernraum für ein gesundes Aufwachsen empfindlich stören. Dem stellt Lutz einen Paradigmenwechsel mit Blick auf die Medien gegenüber, die unser Leben in einer atemberaubenden Geschwindigkeit zunehmend verändern. Sich mit ihnen zu beschäftigen, bedeutet nicht, sie unkritisch und mit blinder Technikbegeisterung in all unsere Lebensbereiche aufzunehmen. Als aktiv genutztes Gestaltungsinstrument ermöglichen sie jedoch vielen Menschen, die Zukunft zu begreifen. Um dies zu gewährleisten, bedarf es einer Annäherung an Medien, auch schon bei den Allerkleinsten. Dass digitale Technologien auch in der musikalischen Kinder- und Jugendbildung stetig an Bedeutung gewinnen, beschreibt Matthias Krebs in seinem Artikel zu Musikmachen mit dem Tablet in der Kita. In Musikschulen, im Nachmittags-bereich von Schulen, in Sozial- und Kultureinrichtungen werden Angebote erprobt, in denen Kinder und Jugendliche kreativ-gestalterisch mit Musik-Apps umgehen. Dabei steht im Mittelpunkt, dass Kinder ohne Zwang und Überforderung an gestalterische, kollaborative Projekte mit digitalen Technologien herangeführt werden. Der Autor beschreibt einige Musik-Apps, die in begleiteten Settings das klangliche Experimentieren unterstützen können. Darin werden die bekannten und etablierten Instrumente der ‚analogen Welt‘ nicht ersetzt, sondern durch neue Ausdrucksmöglichkeiten ergänzt. Neue Zielgruppen können sich einen kreativen Umgang mit Musik erschließen und sich damit neue Erfahrungsräume eröffnen.
Im Interview mit Sabine Eder vom Verein Blickwechsel e.V. wird deutlich, dass sich durch den raschen Wandel der Medienlandschaft in der Kita einiges geändert hat. Vieles ist handlicher und einfacher geworden. Medienpädagoginnen und -pädagogen stehen andererseits vor Her-ausforderungen vernetzer Welten, zum Beispiel in Bezug auf den Datenschutz oder die Persönlichkeits- und Urheberrechte. Hier herrscht, laut Eder, eine große Verunsicherung. In vielen Kitas dürfen keine Fotos mehr gemacht werden, weil die Sorge darüber, wo sie verbreitet werden, zu groß geworden ist. Hinzu kommt eine unglaubliche Schnelllebigkeit, angefangen von Apps, die ständig aktualisiert werden, bis hin zu Streamingdiensten, auf denen Kinder Filme oder Serien schauen, von denen Erziehende zumeist zuvor noch nichts gehört haben. Umso wichtiger sei das Interesse und die Offenheit, mit den Kindern und deren Eltern in den Austausch zu kommen und neugierig zu bleiben, sie zu begleiten und sie dabei zu unterstützen, ihren Medienkonsum zu reflektieren.
Abschließend zeigt Anna Hielscher in ihrem Artikel auf, wie eine Frühförderung von sehbehinderten Kindern mit Medien aussehen kann. Für Menschen mit Beeinträchtigung eröffnen digitale Medien große Chancen. Mögliche sinnesspezifische Förderziele beim Einsatz digitaler Medien können so unter anderem die Förderung von Fähigkeiten zum Abgleich und Vergleich sowie zur Raum-Lage-Orientierung, Detailerkennung, Abstraktionsfähigkeit und Beweglichkeit der Augen darstellen. In der Frühförderung können digitale Medien und Apps daher sinnvoll eingesetzt werden, um die Wahrnehmungsbedingungen und Handlungsspielräume von Kindern sowie Pädagoginnen und Pädagogen zu erweitern. Grundsätzlich weisen alle Beiträge des Hefts darauf hin, dass Medien in der Praxis der Kita immer mehr an Bedeutung gewinnen, ob als Instrumente, um Menschen mit Beeinträchtigung zu fördern, oder als kreative Werkzeuge zur Gestaltung des Alltags oder einfach nur, um Spaß zu haben.
Günther Anfang ist Leiter des Medienzentrums München des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Seine Schwerpunkte sind Medienprojekte mit Kindern und Jugendlichen, auch an Schulen und in Kindertagesstätten.Klaus Lutz ist pädagogischer Leiter des Medienzentrum PARABOL e. V. in Nürnberg, Fachberater für Medienpädagogik im Bezirk Mittelfranken sowie Dozent an der Simon-Georg-Ohm Hochschule in Nürnberg.
Beitrag aus Heft »2018/02 Kita digital: Frühe Medienerziehung«
Autor: Günther Anfang
Beitrag als PDF - Niels Brüggen/Klaus Lutz: Smart youth work – zur digitalen Zukunft der Sozialen Arbeit
Niels Brüggen/Klaus Lutz: Smart youth work – zur digitalen Zukunft der Sozialen Arbeit
Seit dem 1. Juli 2017 hat Estland die EU-Ratspräsidentschaft inne. Neben anderen hochbrisanten Themen, wie der östlichen Partnerschaft, wählte Estland die Digitalisierung als eines der Schwerpunktthemen dieser Legislatur. Genauer: Smart youth work.Nach Big Data Analytics und Smart Data kommt nun also Smart youth work. Bei der einen oder dem anderen mag das reflexhafte Abwehrreaktionen auslösen. Bereits häufiger wurde Computern das Potenzial zugesprochen alles besser, genauer und irgendwie intelligenter zu erledigen. Aber rückblickend kam es dann doch immer anders als von Technologie- Evangelisten vorhergesagt. Aber es kam. Was ist also zu erwarten, wenn jetzt Smart youth work als ein Kernthema der europäischen Jugendpolitik gesetzt wird? Geht es dabei primär um den digitalen Binnenmarkt, für den auch die Soziale Arbeit als Geschäftsfeld von IT-Konzernen geöffnet werden soll? Geht es um reine Effizienzsteigerung durch den Einsatz digitaler Technologien bei gleichzeitiger Einsparung pädagogisch qualifizierter Fachkräfte? Wer oder was steht im Fokus solch einer Entwicklung?
Vor dem Hintergrund dieser Fragen ist dieses Zitat von Madis Lepajõe, Staatssekretär im estnischen Jugendministerium, interessant: “Smart youth work will help us identify new methods for targeting youth through evolving technologies and innovation. By involving the youth in the development of smart solutions we also support their digital competences.”Lepajõe spricht zwei wesentliche Aspekte an, die nicht nur in der Jugendarbeit, sondern in einer von Digitalisierung geprägten Gesellschaft für alle Felder der Sozialen Arbeit relevant sind. Zum einen betont er die Möglichkeit, mit digitalen Innovationen neue Ansätze zu gestalten, um junge Menschen anzusprechen und zu erreichen. Diese Idee begleitet verschiedene Felder der Jugendhilfe bereits seit vielen Jahren. Kontaktmöglichkeiten über WhatsApp oder Facebook sind zwar in vielen Einrichtungen umstritten.
Einschlägige Erfahrungen sprechen aber dafür, dass jugendaffine digitale Dienste tatsächlich niederschwellige Möglichkeiten der Ansprache und Kontaktaufnahme bieten. Für alle Felder der Sozialen Arbeit erwachsen daraus Chancen, aber auch Herausforderungen. Dazu gehört, dass die genutzten Dienste in der Regel nicht für die Zwecke pädagogischer Arbeit geschaffen wurden und in den Code andere Verwendungsweisen eingeschrieben sind. Dazu gehört auch, dass bei der Nutzung digitaler Dienste häufig nicht die fachlichen Ansprüche an den Datenschutz gewahrt werden können. Wenn Beratungsangebote auch WhatsApp als Kontaktmöglichkeit anbieten, werden damit nicht nur neue Wege für die (oder zur) Zielgruppe geschaffen. Vielmehr verändert der technische und strukturelle Rahmen auch die professionelle Praxis. Und dieser Veränderungsprozess muss reflektiert werden.
Hier kommt der zweite von Lepajõe angesprochene Aspekt ins Spiel. Für ihn ist es Smart youth work, die digitale Innovationen gestaltet und dabei junge Menschen aktiv beteiligt. Er akzentuiert Jugendarbeit (oder allgemeiner wieder Soziale Arbeit) nicht in der Rolle, auf die von außen kommenden Entwicklungen zu reagieren – auf jene neue App, auf dieses neue Betriebssystem, auf jene neue Plattform. Soziale Arbeit entwickelt Ideen für sinnvolle Einsatzszenarien, Handlungskonzepte und sogar Anwendungen. Das gab und gibt es auch in Deutschland. Und wenn man sich den Katalog von Softwarelösungen für soziale Einrichtungen und Unternehmen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft (www.socialsoftware. de/softwarekatalog.html) ansieht, wird schnell deutlich, dass es nicht nur um die großen digitalen Plattformen geht, die in der Lebenswelt der Zielgruppen eine große Bedeutung haben.
Das Spektrum der Funktionsbereiche, die digital unterstützt werden können, reicht wesentlich weiter und berührt in einigen Bereichen zweifellos das eigene Professionsverständnis – gerade bei der Planung von Maßnahmen oder auch der Falldokumentation. Anregend ist an Lepajões Aussage grundsätzlich das Verständnis, dass pädagogische Fachkräfte in der Sozialen Arbeit selbst die Digitalisierung (mit-)gestalten. Und das gilt, wenn Jugendarbeit (in der Tradition der handlungsorientierten Medienpädagogik und der aktiven Medienarbeit) Jugendliche dazu motiviert, selbst digitale Technologien zur Bearbeitung sozialer Themen zu nutzen. Und es gilt gleichermaßen, wenn social software in verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit eingesetzt wird.
Entsprechend steht in dieser Ausgabe von merz | medien + erziehung nicht die Frage ‚Was macht die Digitalisierung mit der Sozialen Arbeit?‘ im Fokus. Die Frage wird vielmehr umgekehrt und danach gefragt ‚Was machen die Menschen mit der Sozialen Arbeit, wenn sie digitale Medien nutzen?‘. Was können sie gestalten? Wo entstehen Spielräume? Wo werden (neue und alte) Grenzen sichtbar? Im 15. Kinder- und Jugendbericht (KuJ) werden Zumutungen und Herausforderungen des digital-vernetzten Lebens diskutiert, die Jugendhilfe, Jugendarbeit oder allgemein Soziale Arbeit aufgreifen muss. Interessanterweise müssen pädagogische Fachkräfte in diesen Arbeitsfeldern ja ebenfalls mit diesen Zumutungen und Herausforderungen umgehen. Auch die Fachkräfte sind Grenzarbeiter, wie im KuJ-Bericht die Jugendlichen bezeichnet werden, die sich im Netz zwischen widersprüchlichen Anforderungen (Datenschutz) und Funktionslogiken (Plattformen) bewegen. Die vorliegende Ausgabe will diese Grenzarbeit von einer eher individuellen Ebene auf eine überindividuelle heben und übergreifende Phänomene ebenso wie konkrete Beispiele aus den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit betrachten. Sechs Jahre nach merz 3/2011 Jugendarbeit und social networks (Heftredaktion Jürgen Ertelt und Niels Brüggen) mit der online verfügbaren Momentaufnahme der Praxis in der Jugendarbeit mit digitalen Tools (www.merz-zeitschrift.de/ ePublikation_Jugendarbeit_und_socialnetworks) greift merz diese Fragestellung wieder auf und weitet den Fokus dabei auf das Feld der Sozialen Arbeit.
Denn die Diskussionen, die in der Jugendarbeit seit sechs Jahren noch nicht abgeschlossen sind, scheinen jetzt auch in anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit relevant zu werden. Zugleich können Akzentverschiebungen in der Diskussion ausgemacht werden. Während 2011 neue Ansätze der Arbeit mit der Zielgruppe und wie digitale Tools hier entsprechend der Ziele von Jugendarbeit genutzt werden können im Vordergrund standen, stellt sich heute die Frage, welche Entwicklungen im Arbeitsalltag von Fachkräften mit digitalen Tools verbunden sind – etwa im Bereich der Falldokumentationen, der Jugendhilfeplanung et cetera. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Beiträgen der vorliegenden Ausgabe wider.Zu diesem
Heft:
Niels Brüggen eröffnet das Schwerpunktthema, indem er exemplarisch Haltungen in der Pädagogik zu Medien aufgreift, die sich auch im aktuellen Diskurs um digitale Medien erkennen lassen. Die Pole zwischen Technikskepsis und -euphorie setzt Brüggen in ein Verhältnis zu früheren pädagogischen Positionen. Hinter diesen Haltungen, so die These, stehen aber grundsätzliche Annahmen über Medien, mit denen verbunden ist, welche Position Fachkräfte zu (digitalen) Medien einnehmen. Tradierte Medienvorstellungen sind dabei von digitalen Dingen durchaus herausgefordert. Entsprechend skizziert er ein Medienverständnis, das eine Basis für eine eigene Position anbietet. Digitale Medien sind in die Handlungskonzepte Sozialer Arbeit immer stärker eingebunden und verändern somit auch die Rahmenbedingung Sozialer Arbeit nachhaltig.
Nadia Kutscher betrachtet dieses Phänomen unter zwei Aspekten. Zum einen richtet sie den Blick auf die Mediatisierung und nimmt damit die mediale Entwicklung von Kommunikation und Interaktion in den Fokus. Zum anderen richtet sie den Blick auf die Informatisierung, und stellt die Erzeugung, Verbreitung und Prozessierung von Information ins Zentrum. Aus dieser Analyse leitet sie die fachlichen Verpflichtungen für Handlungsfelder der sozialen Arbeit ab und stellt somit ein Analysemodell für die Veränderungen, die sich aus der Logik der Digitalisierung für die Soziale Arbeit ergeben, zur Verfügung. In ihrem Fazit weist sie eindringlich darauf hin, dass die aufgeworfenen Fragen nicht ausschließlich in individualisierter Form oder auf der Ebene der Organisation bearbeitet werden können, sondern erheblicher Handlungsbedarf auf der politischen Ebene besteht.
Barbara Buchegger und Louise Horvath nähern sich den Herausforderungen der digitalen Jugendarbeit aus europäischer Sicht. In der Screenagers- Studie wurde mit fünf Leitfragen erfasst, welchen Stellenwert die digitale Jugendarbeit exemplarisch in fünf verschiedenen Ländern der Europäischen Union besitzt. Unbestritten ist dabei der Stellenwert von Medien im Alltag Jugendlicher. Der Einsatz von Medien in der Jugendarbeit stellt sich in den verschiedenen Ländern aber sehr unterschiedlich dar. Dies ist unter anderem auch auf die sehr unterschiedlichen Einstellungen gegenüber der Online-Welt zurückzuführen. Hier gilt es, Konzepte zu erarbeiten, um diese Unterschiede zu nivellieren.
In einem Interview mit Prof. Dr. Richard Reindl geht Klaus Lutz der Frage nach, ob E-Beratung einen neuen Standard in der Beratungsarbeit setzt oder ob es sich um eine Ergänzung der vielfältigen Betreuungsangebote handelt. Braucht es ganz neue Qualifikationen für eine erfolgreiche Beratung oder sind die Erfahrungen aus der Faceto- Face Beratung zum großen Teil übertragbar? Wird in Zukunft die Maschine die Stelle des Beraters einnehmen? Werden vielleicht sogar die Therapeutinnen und Therapeuten der Zukunft durch Social Bots ersetzt? Mit seiner langjährigen Erfahrung aus der Weiterbildung von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen zu Online-Beraterinnen und -Beratern gibt Prof. Richard Reindl interessante Einblicke in die Entwicklung der E-Beratung und die mediengestützte Sozialarbeit. Die digitale Erfassung von standardisierten Vorgängen sowie die digitale Erfassung von Daten aller Art liegen im Trend. Dies lässt sich unschwer an Entwicklungen wie dem papierlosen Büro, der digitalen Aktenführung oder der Steuererklärung über ein Onlineportal ablesen. Diese Entwicklung macht auch vor der Jugendarbeit nicht halt.
Joshua Weber setzt sich in seinem Beitrag mit digitalen Dokumentationssystemen auseinander, wie sie zum Beispiel in der pädagogischen Falldokumentation zum Einsatz kommen. Er sieht in dieser Entwicklung durchaus Vorteile, warnt aber zugleich vor der Gefahr, dass eine zu starke Standardisierung eine Begrenzung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen mit sich bringt. Er kommt zu dem Schluss, dass eine fachlich begründetet Standardisierung in der Falldokumentation durchaus zur Professionalisierung beitragen kann, aber gleichzeitig genügend Raum für ‚Freitexte‘ bleiben muss, um ein vertieftes Fallverständnis nach Aktenlage zu ermöglichen.Mit dem Aufruf zu einer Blogparade zum Thema „Jugendarbeit im digitalen Wandel“ versucht diese merz, eine neue Diskurskultur anzustoßen. Anhand von sieben Leitfragen wurden Expertinnen und Experten aus der medienpädagogischen Forschung und Praxis gebeten, in eine Diskussion einzutreten.
Die im Heft abgedruckten Statements sind nur ein Ausschnitt aus den eingegangenen Texten. Die Volltexte sind über merz-zeitschrift.de und den Medienpädagogik Praxis-Blog verfügbar. Vom 15. August bis 15. September 2017 besteht die Möglichkeit, sich online an diesem Diskurs zu beteiligen. Niels Brüggen und Klaus Lutz laden alle Interessierten herzlich dazu ein.
- Günther Anfang, Susanne Eggert, Klaus Lutz: Editorial
Günther Anfang, Susanne Eggert, Klaus Lutz: Editorial
Das Medienangebot für Kinder hat sich in den letzten Jahren enorm verändert und vergrößert. Angefangen vom digitalen Fotoapparat, den Kinder bereits im Alter von zwei Jahren bedienen, um das Familienalbum zu bereichern, bis hin zu den diversen Apps für Smartphones und Tabletcomputer, die Kindern von lustigen Spielen bis ernsthaften Lernprogrammen eine breite Palette von Nutzungen ermöglichen. Vor allem die Touch-Screen-Funktion der Tablets und Smartphones hat es Kindern angetan. Die intuitive und kindgerechte Bedienungsoberfläche macht es Kindern leicht, diese digitale Welt zu erobern. Das schreckt natürlich nicht nur Hirnforscher auf, die die Gefahr einer digitalen Demenz heraufbeschwören, sondern auch Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen, die verunsichert sind, ob das denn nun alles zum Heil der Kinder ist. Denn im Prozess des Aufwachsens werden die Allerkleinsten mit besonderer Sorgfalt bedacht. Die Sorge ist groß, es könnten in diesem frühen Stadium durch pädagogisches Fehlverhalten die Grundlagen für spätere Probleme gelegt werden. So ist die Elementarpädagogik eher geprägt vom Schonraumgedanken als von Experimentierräumen, wie wir sie aus der Jugendarbeit kennen. Hier gibt es viele Bedenkenträger, die eine Mediennutzung unter fünf Jahren strikt ablehnen und bei Zweijährigen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Andererseits kann man aber gerade diese Zweijährigen beobachten, wie sie munter und ohne Scheu auf die Geräte zugehen und neugierig auf diese bunte, lustige Bilderwelt sind. Medien sind für sie Alltag und warum sollten sie diese nicht nutzen? Als attraktives Spielgerät sind sie allemal tauglich, auch wenn sie gerne mal im Eifer des Gefechts zu Boden fallen.
Da müssen diese Geräte eben robuster gebaut werden. In der familiären Alltagswelt des Kindes sind viele unterschiedliche Medien in Gebrauch und so in das Familienleben integriert, dass die Medien den Alltag in der Familie zu einem maßgeblichen Teil auch mitbestimmen. Diese Entwicklung hat auch den Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs) dazu veranlasst, zusätzlich zur KIM-Studie erstmals die miniKIM durchzuführen, in der die Eltern von Zwei- bis Fünfjährigen zum Medienumgang ihrer Kinder befragt wurden. Die Ergebnisse liegen der KIM-Studie 2012 bei, die Mitte April erschienen wird. Wenn Kinder aber in eine Welt hineingeboren werden, in der sie von Anfang an mit der ganzen Bandbreite der Medien in Berührung kommen, so stellt sich für die pädagogische Praxis die Frage, wie sie darauf reagieren muss? Im Mittelpunkt dieses Hefts steht somit die Frage, welche Antworten die Pädagogik auf die veränderten Medienumgebungen und damit einhergehend auf den veränderten Medienumgang von kleinen Kindern hat. Soll sie diesen verteufeln, aussitzen oder kreativ produktiv nutzen, um die Medienkompetenz von Kindern von Anfang an zu stärken? Einen Einblick in den veränderten Medienumgang von Kindern auf der Basis neuester Studien gibt zunächst Stefan Aufenanger. Er kommt zum Schluss, dass sich die vorliegenden Studien zur Mediennutzung von Kindern unter fünf Jahren fast ausschließlich auf traditionelle elektronische Medien, insbesondere das Fernsehen, konzentrieren. Aktuelle digitale Medien wie etwa Smartphones, Videospiele oder Tablets wurden bisher kaum in den Blick genommen.
Um einen ersten repräsentativen Einblick in die aktuelle Mediennutzung in der jüngsten Altersgruppe zu bekommen, wurde deshalb von Aufenanger im Frühjahr 2011 eine Befragung von Müttern mit Kindern im Alter von null bis fünf Jahre durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass zum einen das Fernsehen bei den Kindern dieser Altersgruppe mit dem Alter stetig zunimmt und dieses Medium bei diesen Kindern nach wie vor das beliebteste Medium ist. Zugleich wird aber deutlich, dass auch bei der Gruppe der unter Fünfjährigen die neuen, digitalen Medien zunehmend Einfluss gewinnen. Hier bedarf es jedoch weiterer Studien, die gerade die Veränderungen der letzten beiden Jahre in den Blick nehmen, da Smartphones und Tablets einen deutlichen Zugewinn erfahren haben.Welche Veränderungen die digitalen Medien im Kindergarten mit sich gebracht haben, ist Thema des Artikels von Gudrun Marci-Boehncke, Anita Müller und Sarah Kristina Strehlow. Ausgangspunkt des Artikels ist, dass Kindergartenkinder heute Zugriff auf ein breites Medienarsenal haben. Während sich neue Technologien wie Digitalkamera, iPod und (Kinder-)Computer in den Kinderzimmern der ‚Kleinen‘ etabliert haben, scheinen die Institutionen der Frühen Bildung von der digitalen Welt noch weit entfernt zu sein. Der Medieneinsatz in der Kita beschränkt sich vorrangig auf Printmedien und der Computer ist auch in den meisten Bildungsplänen nicht explizit als zu nutzendes oder zu reflektierendes Medium aufgeführt. Statt an der Medienrealität heutiger Kindergenerationen mit aktiven und kreativen Angeboten anzuschließen, stellen eine Überbetonung des Gefahrenpotenzials und die Schaffung medienfreier Räume noch immer die gängigen Reaktionen auf die neuen Anforderungen der Mediatisierung der Lebenswelt dar.
Das Interventions- und Forschungsprojekt KidSmart – Medienkompetent zum Schulübergang, das von den Autorinnen vorgestellt wird, versucht dem entgegenzuwirken und macht sich zur Aufgabe, Medienbildung exemplarisch in Dortmunder Kitas auf den Weg zu bringen. Über einen Zeitraum von drei Jahren (2010-2013) begleitete das Projekt Erzieherinnen und Erzieher sowie Kinder in ihrer aktiven Medienarbeit vor Ort. Anhand erster Ergebnisse wird dargestellt, inwiefern ein Projekt wie KidSmart durch interventive Medienbildungsmaßnahmen die pädagogische Praxis in Kitas verbessern kann.Im Mittelpunkt des Beitrags von Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen steht die frühe Sprach- und Leseförderung mit Medien. Nach den Erkenntnissen der Stiftung Lesen können digitale Medien auf verschiedene Weise eingesetzt und in einem positiven Sinne wirksam werden. Sie sind Trägermedien für E-Book-Formate, setzen begleitende und ergänzende Impulse, zum Beispiel mit Animationen, Musik und Spielen bei Vorlese- Apps und bieten spielerisch-pädagogische Anreize in Gestalt von Lernsoftware sowie spielerisch- motorische Elemente mit Angeboten für Konsolen, die mit Bewegungssensoren arbeiten.
Digitale Medien setzen Anreize und machen Inhalte attraktiv, die in gedruckter Form schwerer zugänglich sind. Somit schaffen sie einen medialen Raum, in dem ein sprach- und leseförderndes Klima entstehen kann. Einen Überblick über den Medienmarkt für Kinder in Bezug auf Fernsehen, Apps und Internetseiten geben Kati Struckmeyer und Michael Gurt. Angefangen von den Fernsehlieblingen on- und offline, über Internetangebote für die Kleinsten bis hin zu unterhaltsamen und lehrreichen Apps wird der Medienmarkt für die Jüngsten kritisch unter die Lupe genommen und in seinen verschiedenen Facetten dargestellt. Den Dauerkonflikt rund um die Mediennutzung in der alltäglichen (elterlichen) Erziehungspraxis zeigt Klaus Lutz in seinem Artikel auf. Er weist darauf hin, unter welchem Druck Erziehende stehen, die Mediennutzung von Kindern in gesellschaftlich gewünschte Bahnen zu lenken. Dabei ist die Familie ein Ort, an dem unterschiedlichste Einstellungen zum Umgang mit Medien aufeinandertreffen. Daraus entstehen nicht selten Konflikte unter den Erziehungsberechtigten und in deren Umfeld, die der vor allem im Vorschulalter geforderten Konsequenz in der Erziehung entgegenwirken.
Im Mittelpunkt des Praxisteils stehen erste Erfahrungen beim Einsatz von Tablets in der Kita sowie Konzepte der aktiven Medienarbeit mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren. Im Beitrag von Susanne Roboom vom Verein Blickwechsel e. V. werden die Risiken und Chancen von Tablets in der Kita beschrieben. Die Vorzüge von Tablets liegen auf der Hand: Sie vereinen in einem einzigen Gerät Fotoapparat, Videokamera, Mikrofon und PC sowie eine Fülle von kreativen Werkzeugen und Anwendungsmöglichkeiten. Wo sonst viele Kaufentscheidungen nötig waren, muss sich das Team nun nur für ein Gerät entscheiden und kann aus einer Fülle von Apps wählen. Die „digitalen Alleskönner“ sind außerdem kinderleicht zu bedienen und machen den Kindern sehr viel Spaß. Wie grundsätzlich beim Einsatz von Medien kommt es aber auch hier darauf an, sie gezielt und pädagogisch begründet einzusetzen. Wie eine Medienerziehung in der Krippe aussehen kann, beschreibt Günther Anfang in seinem Artikel, in dem er erste Versuche der aktiven Medienarbeit mit Krippenkindern aufzeigt.
Im Mittelpunkt der konzeptionellen Überlegungen einer Medienpädagogik in der Krippe steht dabei die Frage, was Kinder in diesem Alter können und wo Medienerziehung ansetzen muss, die Kinder in ihren Kompetenzen fördert und spielerisch eine Auseinandersetzung mit Medien ermöglicht. Beispielhaft wird das Konzept eines Medienvormittags für Krippenkinder beschrieben, bei dem den Kindern neben Unterhaltung und vielen Ess- und Trinkpausen auch jede Menge an aktiven Gestaltungsmöglichkeiten geboten werden. Mit den Medienzwergen wird am Schluss von Birgit Hock noch ein Konzept der aktiven Medienarbeit in der Kita vorgestellt, das von der Stiftung MedienKompetenz des Forums Südwest als Broschüre nun auch allen Erziehenden zur Verfügung steht.
- Günther Anfang, Kaus Lutz, Kathrin Demmler: Mit Kamera, Maus und Mikro.
Günther Anfang, Kaus Lutz, Kathrin Demmler: Mit Kamera, Maus und Mikro.
Die Interessen und Bedürfnisse der Kinder im Umgang mit Medien stehen im Mittelpunkt des von Günther Anfang, Kathrin Demmler und Klaus Lutz herausgegebenen Bandes „Mit Kamera, Maus und Mikro“.
Dabei geht es nicht darum, Kinder möglichst frühzeitig im Umgang mit den Medien zu qualifizieren, sondern altersgemäße Formen der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Medien aufzuzeigen.
Neben der theoretischen Fundierung einer Medienarbeit mit Kindern vermittelt der Band als praktische Handreichung Ideen und Konzepte für die medienpädagogische Arbeit mit Kindern (Materialien zur Medienpädagogik Band 4, kopaed, München 2003, 190 S., 14,50 Euro).
- Klaus Lutz: stichwort Darknet
Klaus Lutz: stichwort Darknet
Spätestens seit dem Amoklauf in München im Juli 2016, der neun Menschen das Leben kostete, ist das Darknet in aller Munde. Der Amokläufer hatte seine Waffe und Munition mit hoher Wahrscheinlichkeit dort gekauft. Das Internet besteht nämlich aus drei unterschiedlichen Schichten: 1) dem Clearnet, das jeder nutzen kann. Dort findet man sich mit Suchmaschinen wie Google zurecht; 2) dem Deep-Web, das 400-mal größer ist als das von uns im Alltag genutzte Internet, dessen Inhalte nicht öffentlich zugänglich sind. Es wird für illegale Inhalte genutzt, aber auch ganz unspektakulär für riesige Informationsdatenbanken von Universitätsbibliotheken oder firmeninterne Intranets; 3) dem Darknet, an dessen Inhalte man nur mit besonderer Software gelangt. Inhalte, die man mit einem normalen Browser ohne Zusatzsoftware öffnen kann, liegen vielleicht im Deep-Web, aber niemals im Darknet.
Der Schlüssel zum Darknet ist ein spezieller Browser namens Tor. Dieser erlaubt es jedermann, anonym(er) im Internet zu surfen – und eben auch, einen Blick in das sonst geheime Darknet zu werfen. Der Browser lässt sich problemlos googeln und kostenfrei herunterladen – und bietet die wichtigste Voraussetzung für das anonyme Surfen, die Verschlüsselung der Verbindungsdaten. Diese werden über zufällig ausgewählte Kontenpunkte geleitet: Der erste Knotenpunkt kann nur Ausgangsort und Zielpunkt einer Anfrage entschlüsseln; Inhalte kann er nicht auslesen. Erst die letzte Station kann die Daten auslesen, aber nicht mehr, woher diese kommen. Die digitale Währung Bitcoins, mit der im Darknet die Bezahlung abgewickelt wird, ist ein weiterer Baustein der Anonymisierung. Mit dieser Bezahlweise ist nicht nachweisbar, von wem die Bezahlung geleistet wurde. Das Surfen im Darknet als solches ist übrigens erstmal nicht strafbar, mit Ausnahme der Suche nach Kinderpornografie, die der Gesetzgeber – völlig zu Recht – schon unter Strafe stellt.
Gleichzeitig kann man sich dort auch nicht einfach problemlos Waffen oder Drogen kaufen. Ein Ergebnis der Ermittlungen im Fall des Münchner Amoklaufes war, dass der Amokläufer sich zwei Jahre im Darknet um eine Waffe bemüht hatte. Denn umso tiefer man in das Darknet vordringt, umso komplizierter wird es, an illegale Inhalte heranzukommen. Ohne Kontakte und spezielles Insiderwissen kommt man nicht weiter. Doch es gibt auch eine helle Seite des Darknet: Spätestens seit Edward Snowden wissen wir, dass die Geheimdienste in der Lage sind, einen großen Teil des Internets auszuspionieren. In Diktaturen beispielsweise ist es für viele Journalistinnen und Journalisten oder Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten überlebenswichtig, Inhalte ins Netz stellen zu können und dabei anonym zu bleiben. Auch ihnen bietet das Darknet diese Möglichkeit. Selbst Facebook hat eine Seite im Darknet eingerichtet, um es solchen Gruppen zu ermöglichen, sich unbeobachtet zu organisieren und auszutauschen.
Der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, antwortete auf die Frage, ob man das Darknet nicht abschalten sollte, in einem Radio-Interview: „Nein, das Darknet sollte man nicht abschalten, denn es dient dazu, dass gefährdete Personen nicht so leicht ermittelbar sind. In vielen Ländern der Erde ist so etwas überlebensnotwendig. Der Missbrauch durch kriminelle Gruppen ist aber auch offensichtlich und dem gilt es etwas entgegenzusetzen.“ Holger Münch bringt damit die Problematik gut auf den Punkt. Die Gesellschaft muss sich mit dem Darknet auseinandersetzen.
- Der Mensch transformiert sich ohnehin
Der Mensch transformiert sich ohnehin
Sind wir am Ende unserer Datenschutzdebatte? Klaus Lutz im Gespräch mit Prof. Dr. Benjamin Jörissen über das Mensch-Maschine-Verhältnis, das Ende des Privaten, die Macht der Algorithmen und den Angriff auf die Einzigartigkeit des Menschen durch den Transhumanismus.
Prof. Dr. Benjamin Jörissen ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik mit Schwerpunkt Kultur, ästhetische Bildung und Erziehung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienbildung, Kulturelle und Ästhetische Bildung in der digitalen Transformation
- Klaus Lutz: James Bond und die Elementarpädagogik
Klaus Lutz: James Bond und die Elementarpädagogik
Wir verlieren unsere Jungs auf dem langen Weg durch die Bildungsinstitutionen. Das Abitur wird zunehmend weiblich, die Folgen davon sind – wie beim Klimawandel – nicht absehbar. Es scheint nur einen Ausweg zu geben: Mehr Männer braucht die Pädagogik! Doch woran liegt es, dass sich Männer bislang nicht für Erziehungsaufgaben im Elementarbereich begeistern lassen? Ist es die schlechte Bezahlung, sind es die geringen Aufstiegsmöglichkeiten, das weibliche Image des Berufs oder – wie so oft – die Medien, die in ihrer Rollenzuschreibung Kindererziehung als Aufgabe der Frauen sehen? Da die Medien schon für so viele Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht wurden, kann man ihnen dieses Problem ja auch noch zuschreiben. Oder mal ganz anders gedacht: Hängt das Desinteresse des starken Geschlechts vielleicht sogar mit der Abwesenheit von Medien zusammen? Jeder, der schon einmal einen Elternabend in Kindergarten oder Grundschule besucht hat, stellt fest, dass der Anteil der Männer dort überschaubar ist. Spielen bei solchen Veranstaltungen aber Medien eine Rolle, etwa gemeinsames Computerspielen von Kindern und Eltern, steigt ihr Anteil sprunghaft an.
Meist sind ja auch die Väter für die mediale Infrastruktur zuständig: Homepage einrichten, Netzwerkarchitektur aufbauen oder den Film vom letzten Sommerfest schneiden. Auf diese Rolle werden schon die ganz jungen Jungs geeicht. Wenn etwa ein Elfjähriger in seiner Klasse als Held gefeiert wird, weil er einen Laptop an den Beamer anschließen kann, ist klar, dass er nie einen Beruf ergreifen wird, in welchem Medien primär als Störfaktor gesehen werden. Und wer den neuen James Bond gesehen hat, in dem 007 vom jungen Q (regelmäßiges Rasieren ist noch nicht notwendig) erklärt wird: „Ich kann mit meinem Laptop frühmorgens im Pyjama mehr Schaden anrichten, als Sie in einem Jahr Außeneinsatz!“ weiß, aus welchem Holz die zukünftigen Helden sind. Vielleicht sollte man sich ohnehin Skyfall zum Vorbild nehmen und die guten alten Kitas ein wenig ummodeln: Jedes Kind bekommt ein Chip-Armband (kennt es ja schon aus dem all-inclusive-Familiencluburlaub) und ein Passwort – gerne auch mit Symbolen aus Bobbycar, Apfel und Fußball – womit es sich in die Mittagsspeisung einloggen kann. Die Erziehenden, immer per Headset verbunden, verfolgen auf dem großen Flatscreen in der Kommandozentrale, wie sich das Kind bewegt, welche Kinder es trifft und was es zum Mittagessen ordert; erstellt dann Profile, mit welchen die Erziehungsberechtigten beim nächsten Elterngespräch fundiert über Bewegungs-, Essens- und Spielvorlieben sowie Sozialkontakte informiert werden.
Die vom Kind gewählten Speisen und Getränke werden auf Vitamin-, Ballaststoff- und Fettgehalt analysiert und etwaigenFehlentwicklungen wird sachte entgegengewirkt. Nein, es geht natürlich auch eine Nummer kleiner. Wenn Kitas und Grundschulen das Interesse von Kindern an der Mediennutzung stärker in ihre pädagogische Arbeit integrieren würden, wäre schon viel gewonnen. Die Kinder könnten den aktiven Umgang mit Medien lernen, das pädagogische Personal könnte von den Kindern lernen, die Väter würden sich in die Elternarbeit einbringen und vielleicht gäbe es dann auch mehr Männer in Kitas und Grundschulen. Möglicherweise enden Kinderbücher in der Zukunft dann auch einmal so: „Und lange schallt´s im Kindergarten noch: unser WLAN lebe hoch.“
- Klaus Lutz: Der Dauerkonflikt um die Mediennutzung
Klaus Lutz: Der Dauerkonflikt um die Mediennutzung
Für die jungen Generationen stellen digitale Medien keine Besonderheit mehr dar. Sie wachsen mit diesen auf und sind oft kompetenter im Umgang damit als die eigenen Eltern. Inwieweit die Mediennutzung junger Kinder im ‚normalen‘ Bereich liegt, stellt sich für Eltern oft als wichtige Frage. Sie sind häufig überfordert oder ahnungslos und stehen im Zwiespalt zwischen dem breiten Medienangebot für die Kleinen und einer angemessenen Dosierung deren Konsums.
Literatur:
Elschenbroich, Donata (2002). Weltwissen der Siebenjährigen – Wie Kinder die Welt entdecken können. München: Goldmann.
Hauesler Tanja/Haeusler Johnny (2012). Netzgemüse – Aufzucht und Pflege der Generation Internet. München: Goldmann.
Theunert, Helga/Lange, Andreas (2012). „Doing Family“ im Zeitalter von Mediatisierung und Pluralisierung. Inmerz – medien + erziehung, 57. Jg., 02/2012. München: kopaed.
Internetquellewww.saferinternet.at/news/news-detail/article/aktuellestudie-41-prozent-der-3-bis-6-jaehrigen-regelmaessig-im-internet-338/ [Zugriff: 15.05.2013].
- Roland Bader, Klaus Lutz: Editorial
Roland Bader, Klaus Lutz: Editorial
In der alltäglichen Lebensbewältigung könnte vieles für uns einfacher sein, wäre da nicht diese unselige Tendenz zum Exzess. So ziemlich jede Verhaltensweise kann exzessiv betrieben werden und zur Sucht ausarten: das Einkaufen, das Schokolade essen, das Arbeiten, das Geld anhäufen, der Sex. Und natürlich auch die Mediennutzung. Bedauerlicherweise fehlt dem Menschen offensichtlich ein Gen, das für das Maßhalten und die Balance zuständig ist. Gelegentlich essen wir mehr als für uns gut ist, trinken zu viel Alkohol, arbeiten mehr als unserer Gesundheit zuträglich ist. Und wir halten uns länger in Facebook oder mit einem Computerspiel auf als gut für uns ist. Scham, Schuldgefühle, Selbstzweifel und Katzenjammer sind die emotionalen Indizien nach dem Exzess, die uns warnen, dass es zu viel geworden ist. Maßlosigkeit ist ein gesellschaftlich relevantes Thema, und das nicht erst, seit in den modernen Erziehungsratgebern den Eltern mehr Grenzen gegenüber ihren Sprösslingen empfohlen werden. Maßlosigkeit ist auch dasjenige menschliche Streben, das – neben einem Mangel an effizienter Regulierung – in der öffentlichen Darstellung für die Finanzkrise verantwortlich gemacht wurde und wird. Die Tendenz zur Maßlosigkeit ist weder ein historisch neues Phänomen, noch ist sie auf Mediennutzung beschränkt. In der christlichen Tradition, als die conditio humana noch vom Mangel geprägt war, galten Gier und Maßlosigkeit als Todsünde. Historisch-ökonomisch neu ist der Überfluss, der uns Vieles im Übermaß bereitstellt und uns selbst Genügsamkeit und Mäßigung als Pflicht zur Selbstdisziplinierung auferlegt. Die Grenzen sind von außen nach innen gewandert, wie schon Norbert Elias in seiner Geschichte der Zivilisation (Elais 1976) dargestellt hat. Kein Weg führt in der Postmoderne daran vorbei, dass wir zu Managern unserer selbst werden, unser Verhalten ständig überwachen, kontrollieren, an Maßstäben ausrichten, regulieren und korrigieren (Foucault 2009).
Peter Sloterdijk (2009) hat den Trend zur (manchmal übersteigerten) Selbstreflexion und Selbstoptimierung zum Thema eines Buchs gemacht. Doch bevor wir Maßlosigkeit in Bausch und Bogen verurteilen, sollten wir noch festhalten, dass sie eng verwandt ist mit dem Leistungsmotiv, einer durch und durch positiv konnotierten Verhaltenstendenz: eine Sache um ihrer selbst willen so gut zu machen, wie es einem möglich ist. Die Leistungsmotivation ist dafür verantwortlich, dass ein Skifahrer an der Eleganz seiner Schwünge und eine Wissenschaftlerin an der Fortführung ihrer Forschungsfragen arbeitet und ein Künstler das nächste Bild in Angriff nimmt, obwohl er gerade eines fertiggestellt hat. Kaum zu übersehen sind hier die Parallelen zu Computerspielen mit ihren Anregungspotenzialen, die nach einer ständigen Verbesserung der Performace-Werte schreien.Wenn es in diesem Heft um Mediensucht und medienbezogenes exzessives Verhalten geht, können wir die gesellschaftliche Rahmung, in der exzessives Verhalten seine Bedeutung und Wertigkeit erhält, nicht außer Acht lassen. Diese Rahmung ist selbst durch Extrempole bestimmt: einerseits die ökonomischen Rahmenbedingungen einer völlig aus dem Ruder gelaufenen grenzenlosen Wachstumsideologie. Ihre Begleitmusik aus der Werbung trichtert uns Konsum als dominantes Lebensmodell ein und suggeriert, dass es keine Grenzen gibt, nicht einmal Grenzen für den unmäßigen Konsum von Chips, Süßigkeiten und Smartphones. Auf der anderen Seite steht die Ideologie der Individualisierung, die uns für die Mühen beständiger Selbstoptimierung und Leistungssteigerung Erfolg im Leben in Aussicht stellt, aber nicht verspricht. Dafür belastet sie uns aber individuell mit dem Risiko, dass unsere Lebensentwürfe scheitern. Dazu gehört der basso continuo des Selbstmanagements und der Selbstoptimierung: „Mach etwas aus dir! Nutze deine Ressourcen optimal!“ Kinder und Jugendliche nehmen gesellschaftliche Werte in ihrer Sozialisation auf und eigenen sie sich für ihre eigene Werthaltung an. Die widersprüchlichen Ideologien lassen sich nicht einfach übernehmen, sie fordern, dass man sich dazu positioniert und sie lebt. Dazu gehört, sich in dieser gesellschaftlichen Rahmung für exzessives Verhalten zwischen den unvereinbar widersprüchlichen Polen eine eigene Position zu erarbeiten. Nehmen wir als Beispiel Facebook: Einerseits ist das ein für Jugendliche unverzichtbar gewordenes Tool, um ihre Identität und ihre sozialen Beziehungen zu managen (Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2009), anderseits ist es das Suchtmittel par excellence, wenn es habwüchsigen Mädchen nicht mehr gelingt, im immerwährenden Rauschen der Nachrichten von Freunden den Logout-Button zu finden, ohne das Gefühl zu haben, sich selbst von den wesentlichen Nachrichten des Lebens auszuschließen (Rumpf/Meyer/Kreuzer/John 2011).
So eng können Nutzen und Schaden, notwendige funktionale Mediennutzung und übermäßiger dysfunktionaler Konsum beieinander liegen. Wenn in diesem Heft die exzessive Mediennutzung Thema ist, so wollen wir, die Fachredaktion, dieses Thema nicht allein in dem defizitär orientierten Diskurs verstanden wissen, der sich damit zufrieden gibt, Maßstäbe zu benennen, diesseits derer Verhaltensweisen noch akzeptabel, jenseits derer sie als abweichend zu gelten haben und die Betroffenen in die Zuständigkeit der Klinik übergeben werden. Eine solche Grenze, wie sie von besorgten Eltern und pädagogischen Fachkräften oft gefordert wird, bemisst sich in der Regel an der Zeit der täglichen Mediennutzung. Doch eine solche Grenzlinie greift zu kurz, sie ist selbst das Problem und nicht die Lösung. Denn sie ist Indiz eines scheinheiligen Umgangs einer Gesellschaft mit ihrer Suchtproblematik, ähnlich wie wenn Alkohol schamhaft in Papiertüten versteckt wird und für ein Glas zu viel Rechtfertigungsdruck aufgebaut wird, es andererseits aber als abweichend gebrandmarkt wird, wenn jemand beim Drink nach der Arbeit Alkohol verweigert. Ziel dieses Hefts ist es nicht, die gefühlten 1.053sten medienpädagogischen Ratschläge zur täglichen Mediennutzungszeit empirisch fundiert zu formulieren, sondern das Augenmerk auf die Lebensbewältigung der Betroffenen zu richten, die eine Sisyphusarbeit war und ist, um in ihr Leben Struktur, Ordnung und Balance zu bringen, die immer wieder auseinanderzubrechen drohen. Hierfür spielt der lebensweltliche Kontext der Betroffenen eine entscheidende Rolle: Bindungen und wichtige persönliche Beziehungen, Anregungen und Impulse von außen wie zum Beispiel Unterstützung und Druck durch die Eltern oder Partner und die Peergruppe, Maßstäbe für das eigene Leben, die einem persönlich wichtig sind, wie persönliche Ziele und Zukunftsperspektiven, das Ringen um Bewältigung und Selbstbestimmung, persönliche Ressourcen wie Geld und Bildung, aber auch individuelle Eigenschaften wie zum Beispiel Hang zu Depressionen oder andere körperliche und psychische Störungen. Biografische Brüche finden in Kindheit und Jugend vielfach statt, wie etwa durch den Wechsel des Wohnorts, des Freundeskreises, das Ende der Schulzeit und die Aufnahme eines Studiums oder einer Berufsausbildung, neue Partnerschaften. Dazu bemühen wir uns darum, eine Vielfalt möglicher Perspektiven auf das Phänomen „exzessive Mediennutzung“ einzuholen, um möglichst viel von der Rahmung dieses Phänomens deutlich werden zu lassen.
Der Fragestellung „Machen Medien süchtig?“ nähert sich Rudolf Kammerl mit einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu diesem Phänomen. Er macht deutlich, dass Computerspiel- und Internetabhängigkeit – entgegen häufig anderslautender Berichte – noch nicht als eigenständige Störung anerkannt ist. In seinem Überblick über den internationalen Forschungsstand zeigt er auf, wie stark die Zahlen über suchtartiges Verhalten bezüglich der Mediennutzung divergieren und wirft einen differenzierten Blick auf das Phänomen „Medien machen süchtig“, indem er die Medienangebote, die Nutzenden sowie das soziale Umfeld in die Beurteilung mit einbezieht. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass der Übergang zwischen exzessiver und pathologischer Mediennutzung fließend ist und die Bedingungen zur Überwindung exzessiver Phasen noch weitgehend unerforscht sind. Hier sieht Kammerl vor allem auch unter dem Blickwinkel der Familie dringenden Forschungsbedarf. Aus der Sicht der jungen Mediennutzerinnen und -nutzer nähert sich Klaus Lutz dem Phänomen der starken Anziehung, die Medien auf Kinder und Jugendliche ausüben. Insbesondere versucht er aufzuzeigen, dass die Medien für die heranwachsende Generation weit mehr als nur Unterhaltung sind: Medien sind für sie ein zentrales Element ihrer Sozialisation und unverzichtbar für die Organisation ihres Alltags; erzieherische Maßnahmen in Bezug auf „zu viel Medien“ müssen diesen Aspekt deshalb stets berücksichtigen, um ein erfolgreiches erzieherisches Handel möglich zu machen.
Einen Einblick in die diagnostische und therapeutische Praxis des pathologischen Medienkonsums bei Kindern und Jugendlichen geben Maximilian Maywald und Sylvia Dettmering, die am Josefinum Augsburg, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie arbeiten. Sie sind der Auffassung, dass es sich beim pathologischen Medienkonsum um eine ernsthafte Erkrankung handelt, die aber jeweils eine Einzelfallbetrachtung erfordert, um einerseits eine generelle Stigmatisierung von jungen Mediennutzenden zu vermeiden, andererseits jedoch vor einer Verharmlosung dieses Phänomens zu schützen. Christa Gebel und Susanne Eggert zeigen das Konfliktpotenzial der Computerspielnutzung im familiären Alltag auf. Das Ergebnis einer aktuellen Studie zeigt, dass das negative Potenzial von Computerspielen höher eingeschätzt wird als das positive. Deutlich wird auch, dass Konflikte hinsichtlich der Computerspielnutzung zum familiären Alltag gehören. Wie diese Konflikte verlaufen und wie zu einer konstruktiven Lösung beigetragen werden kann, hängt ganz von den Erziehungsmustern ab, die von den Eltern genutzt werden. Aber auch der häufig unterschiedliche Gebrauch von Medien beider Erziehungspartner trägt zu Konflikten im Erziehungsalltag bei. Dabei sehen die Autorinnen in einer konfliktfreien Medienerziehung eher ein Zeichen mangelnder Auseinandersetzung mit dem Medienumgang der Kinder. Für sie ist ein konstruktiver Umgang mit den auftretenden Konflikten der Schlüssel zu einer gelingenden Medienerziehung. Dass die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen eines der zentralen Themen im Erziehungsalltag darstellt, geht aus dem Artikel von Cordula Dernbach deutlich hervor, die aus dem Alltag einer Erziehungsberatungsstelle berichtet. Hier wird auch noch einmal deutlich, dass es auch von Seiten der Eltern der Bereitschaft bedarf, sich mit den Motiven der jungen Mediennutzerinnen und -nutzer auseinanderzusetzen und ihr Erziehungsverhalten in einem größeren Rahmen als nur bezogen auf die Mediennutzung der Kinder zu reflektieren. Aus der Sicht der Autorin erfordert eine erfolgreiche Medienerziehung vor allem gegenseitiges Verständnis bezüglich der Mediennutzung und eine Festigung der Beziehungsebene.
Zwischen die Artikel sind Interviews eingestreut, die Roland Bader, Michaela Hauenschild und Klaus Lutz geführt haben. Dabei kommen exzessive Computerspieler zu Wort, eine Pädagogin berichtet über den Umgang mit Computerspielen in der Offenen Jugendarbeit und eine überdurchschnittlich medienaffine Medienpädagogin beschreibt den Stellenwert der Medien in ihrer eigenen Sozialisation. Was sind hier Aufgaben und Möglichkeiten der Medienpädagogik? Neben der Forschung, die hier aufbereitet wird, stellt sich die Frage, ob Medienpädagogik als erzieherische Praxis ein wirksames Mittel sein kann, um Kinder, Jugendliche und Familien bei der Lebensbewältigung zu unterstützen. Bei den ersten Ideenskizzen für dieses Heft hatten wir die Intention verfolgt, den Handlungsrahmen der Medienpädagogik in dem oben skizzierten Spannungsfeld zwischen der ‚Lust am Exzess‘ und der Notwendigkeit zum ‚Selbstmanagement, der Selbstoptimierung und -disziplinierung‘ auszuloten. Kann Medienpädagogik, im Sinn des Suchtpräventionsgedankens, das Ziel verfolgen, ‚starke Kinder‘ zu fördern, Jugendliche und Familien zu stärken in ihrer Lebensbewältigung? Es wäre vermessen, das pauschal zu behaupten. Doch dies hat sich als zu großes Projekt erwiesen, es wäre Gegenstand eines eigenen notwendigen Forschungsprojekts.Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Exzessive Mediennutzung‘ wird deutlich, dass Medienabstinenz, anders als die radikalen Vertreter populistischer Lösungen uns gern glauben machen wollen, in aller Regel keine Option für die Betroffenen ist (Mücken/Teske/Rehbein/te Wildt 2010). Denn ein Leben ohne Medien ist für die meisten von uns nicht vorstellbar. Dies gilt auch für Heranwachsende. Auch scheinbar plausible Erziehungsratschläge haben in ihrer Wirksamkeit oft sehr eng gesteckte Grenzen und dienen gelegentlich eher der Selbstberuhigung der Ratschlagenden. Je rigider allerdings eine Gesellschaft die Grenze zwischen Normalität und Abweichung festschreibt, desto stärker gerät eine Medienpädagogik argumentativ in die Defensive, die einerseits medienoptimistisch für mehr Medienkompetenzförderung plädiert, andererseits aber auch in Legitimationsnöte gerät, indem man ihr vorwirft, die negativen Seiten der Mediennutzung schön zu reden oder gar zu ignorieren. Hier kommen sich gelegentlich Medienpädagoginnen und -pädagogen missverstanden vor, ähnlich wie Ernährungsberater, denen man vorwerfen würde, sie wollten Kinder zum unmäßigen Konsum von Schokolade verführen. Zu zeigen, dass es zwischen der Schwarz- und der Weißmalerei eine ganze Menge Grauschattierungen gibt, dies ist ein Anliegen dieses Hefts.
Literatur:
Elias, Norbert (1976). Über den Prozess der Zivilisation. 26. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2009). Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesungen am Collège de France 1982/83. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Mücken, Dorothee/Teske, Annette/Rehbein, Florian/ te Wildt, Bert (Hrsg.) (2010). Prävention, Diagnostik und Therapie von Computerspielabhängigkeit. Lengerich: Pabst.
Rumpf, Hans-Jürgen/Meyer, Christian/Kreuzer, Anja/John, Ulrich (2011). Prävalenz der Internetabhängigjeit (PIN¬TA). Online: www.drogenbeauftragte.de/fileadmin/datei¬en-dba/DrogenundSucht/Computerspiele_Internetsucht/ Downloads/PINTA-Bericht-Endfassung_280611.pdf [Zugriff: 22.07.2013]
Schmidt, Jan-Hinrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe (Hrsg.) (2009). Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Schriftenreihe Medienforschung der LfM. Bd. 62. Düsseldorf: Vistas.
Sloterdijk, Peter (2009). Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
- Klaus Lutz: minus mal minus ist plus
Klaus Lutz: minus mal minus ist plus
Zwar ist es keine Besonderheit mehr, dass Kinder, Jugendliche wie auch Erwachsene in der Öffentlichkeit stetig Medien nutzen, doch im Erziehungs- und Bildungsalltag erweisen sich diese Medien noch häufig als sehr konfliktbehaftet. Eltern und pädagogische Fachkräfte sehen mediale Nutzungszeiten im Wettbewerb mit schulischen Lern- und Übungszeiten. Diese Verunsicherung resultiert oftmals in einer Einschränkung der Mediennutzungszeiten. Doch fördert dieses Handeln tatsächlich einen kompetenten Umgang mit Medien?
Literatur:
Haeusler, Tanja/Haeusler, Johnny (2012). Netzgemüse. Aufzucht und Pflege der Generation Internet. München: Goldmann.
Koller, Hans-Christoph (2004). Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer.
Rösch, Eike (2013). Jugendarbeit im Social Web. In: Deutsche Jugend, 4, S. 162-169.
Theunert, Helga (1999). Medienkompetenz: Eine pädagogische und altersspezifisch zu fassende Handlungsdimension. In: Schell, Fred/Stolzenburg, Elke/Theunert, Helga (Hrsg.), Medienkompetenz, Grundlagen und pädagogisches Handeln. München: kopaed. S. 50-59.
Wagner, Ulrike/Gerlicher, Peter/Ring, Sebastian/ Schubert, Gisela (2013). Computerspiele in der pädagogischen Arbeit. Expertise im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts GamesLab. Online: www.jff.de/games/wp-content/uploads/2013/03/Games¬Lab%20Expertise.pdf
- Lutz Hagen, Rebecca Renatus und Susan Schenk: Mediale Ubiquität als Faktor jugendlicher Lebenswelten
Lutz Hagen, Rebecca Renatus und Susan Schenk: Mediale Ubiquität als Faktor jugendlicher Lebenswelten
Die Internetnutzung über mobile Geräte beschränkt sich nicht auf eine technische Avantgarde, sondern ist bereits zum weit verbreiteten Jugendphänomen avanciert. Das zeigt eine Befragung unter 2.200 sächsischen Schülerinnen und Schülern. Im Zuge der anwachsenden medialen Ubiquität werden vor allem Soziale Plattformen zunehmend ‚Treiber‘ im Sozialisationsprozess, der in steigendem Maße auf der Eigenaktivität des Individuums beruht. Ebenso steigt der Einfluss der Peergroup. Sie wandert mit dem Smartphone quasi in die Hosentasche. Vor allem Mädchen greifen von unterwegs aus auf das Internet zu, da sie ihre kommunikativen Bedürfnisse auf sozialen Plattformen offenbar besonders gut ausleben können.
Internet-access using mobile devices are no more restricted to a technical avant-garde but rather a wide spread phenomenon among youths. This is shown using data from a survey of 2.200 pupils in Saxony. Ubiquitisation leads to more mediated socialization, mainly via social platforms and fosters self-socialization, too. Also, the influence of peergroups is on the rise. Smartphones make them wander into the pocket, so to say. It is predominantly girls, making mobile uses of the net – being able to act out their specific communicative needs.
Literatur:
ARD/ZDF Medienkommission (Hrsg.) (2012). ARD/ZDF-Online Studie. www.ard-zdf-onlinestudie.de [Zugriff: 15.06.2013].
Bruns, Axel (2008). Blogs, Wikipedia, Second Life and beyond. From production to produsage. New York: Peter Lang.
De Sombre (2012). ACTA 2012. Der Smartphone Boom verändert die Internetnutzung. www.ifd-allensbach.de/fileadmin/ACTA/ACTA_Praesentationen/2012/ACTA2012_deSombre.pdf [Zugriff: 15.06.2013].
Hurrelmann, Klaus (1983). Das Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 3 (1), S. 91-103.
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.)(2013). JIM-Studie 2012. www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf12/JIM2012_Endversion.pdf [Zugriff: 07.06.2013]
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) (2012). JIM-Studie 2011. www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf11/JIM2011.pdf [Zugriff: 15.06.2013].
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Krotz, Friedrich (2001). Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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Mikos, Lothar (2004). Medien als Sozialisationsinstanz und die Rolle der Medienkompetenz. In: Hoffmann, Dagmar/Merkens, Hans (Hrsg.), Jugendsoziologische Sozialisationstheorie. Impulse für die Jugendforschung. Weinheim: Juventa, S. 157-171.
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Statista (2013a). Anteil der befragten Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die das Internet mobil nutzen (nach Altersgruppen). de.statista.com/statistik/daten/studie/243505/umfrage/mobile-internetnutzung-durch-kinderund-jugendliche-nach-altersgruppen [Zugriff: 15.06.2013].
Statista (2013b). Online: de.statista.com/themen/258/mobiles-internet [Zugriff: 15.06.2013].
Scherer, Helmut/Berens, Harald (1998). Kommunikative Innovatoren oder introvertierte Technikfans? Die Nutzer von Online-Medien diffusions- und nutzentheoretisch betrachtet. In: Hagen, Lutz (Hrsg.), Online-Medien als Quellen politischer Information. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 54-93.
Schimpl-Neimanns, Bernhard (2004). Zur Umsetzung des internationalen Sozioökonomischen Index des beruflichen Status (ISEI) mit den Mikrozensen ab 1996. In: ZUMANachrichten, 28 (54), S. 154-170.
Schmidt, Jan/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe/Lampert, Claudia (2009). Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. www.hans-bredowinstitut. de/webfm_send/367 [Zugriff: 07.06.2013].
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Theunert, Helga/Schorb, Bernd (2010). Sozialisation, Medienaneignung und Medienkompetenz in der mediatisierten Gesellschaft. In: Hartmann, Maren/Hepp, Andreas (Hrsg.), Mediatisierung der Alltagswelt. Wiesbaden: VS Verlag, S. 243-254.
Wagner, Ulrike (2011). Medienhandeln, Medienkonvergenz und Sozialisation. Empirische Befunde und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven. München: kopaed.
Weiser, Mark (1993). Some Computer Science Issues in Ubiquitous Computing. thor.cs.ucsb.edu/~ravenben/papers/coreos/Wei93.pdf [Zugriff: 07.06.2013].
Zinnecker, Jürgen (2000). Selbstsozialisation – Essay über ein aktuelles Konzept. In: Zeitschrift für Soziologie und Erziehung der Soziologie, 20 (3), S. 272-290.
Beitrag aus Heft »2013/06: Aufwachsen in komplexen Medienwelten«
Autor: Susan Schenk
Beitrag als PDF - Klaus Lutz: Heimatbegriff und Heimatpflege
Klaus Lutz: Heimatbegriff und Heimatpflege
Heimat ist ein schwieriger Begriff. Auf der einen Seite ist er für die Entwicklung einer eigenen Identität von großer Bedeutung, auf der anderen Seite lässt er sich nur schwer fassen, da er sehr emotional belegt ist. merz hat sich mit der Kulturreferentin und Bezirksheimatpflegerin des Bezirks Mittelfranken Dr. Andrea Kluxen über ihre Arbeit unterhalten und dabei auch nachgefragt, welche Rolle Medien in der Auseinandersetzung mit Heimat spielen.
- Klaus Lutz, Albert Fußmann: Im Universum zuhause
Klaus Lutz, Albert Fußmann: Im Universum zuhause
Heimat als Schwerpunktthema in einer Zeitschrift, die sich der fortschreitenden Entwicklung der (digitalen) Medien, dem World Wide Web widmet? Wo dieser Begriff doch zunächst etwas muffig riecht nach Geranien, Stammtisch und räumlicher Enge?
Der Versuch einer Definition
Was ist „Heimat“ heute? Ist es doch mehr als der Ort, aus dem man herkommt, mehr als ein Klingelschild oder ein Absender? Ist „Heimat“ meine Facebookseite? Oder ist Heimat nur eine Erinnerung, ein Sehnsuchtsort, so wie es die Filme von Edgar Reitz nahelegen? Wenn man nicht mehr arbeitet, wo man lebt; wenn man groß wird an einem Ort, in dem man nicht geboren ist; wenn man in Zukunft nicht mehr dort sein wird, wo man sich bisher auskennt – dann gewinnt der Begriff der „Heimat“ Im Universum zuhause einen neuen, ortsungebundenen Wert. Heimat gilt dann als Synonym für ein Gefühl, angenommen zu werden. Schon lange vor der digitalen Zeit bekannte der Philosoph Karl Jaspers: „Heimat ist da, wo ich mich verstehe und wo ich verstanden werde.“ In Zeiten von raschen gesellschaftlichen Umbrüchen, von weitgehender Mobilität und Globalisierung, gewinnt Heimat eine neue Verortung: Es ist der (umfassend verstandene) Raum um das Individuum herum. Neben einer temporär eingeschränkten Kernfamilie sind dies Freundinnen und Freunde, bei manchen das Kollegium, aber eben auch die Freunde in der digitalen Welt. Das Netz ist zunehmend weniger ein Medium, sondern selbst eine Heimat. Man verschickt nicht nur berufliche E-Mails oder tätigt dort Käufe, sondern begegnet interessanten und wertvollen Menschen (vgl. Sascha Lobo in S. P. O. N., 2011).
Nur im Vordergrund besteht das WWW aus Drähten, Satelliten und Computern, dahinter stehen echte Menschen mit Charakteren, Haltungen, Wissen und Interessen. Heimat als Wahloption emanzipiert sich von der Eingeschränktheit des Raums, immer mehr treten in den Vordergrund: ähnliche Ansichten, gleiche Interessen, schnelle Kontaktmöglichkeiten. An die Stelle von vertrauten Geräuschen, Gerüchen und Gebräuchen tritt die Wahlheimat in der digitalen Welt mit ihrer Riesenauswahl rund um den Globus, dafür aber passgenau. Immer exakter kann man sich in dieser Welt seine ‚Alter Egos‘ suchen, Menschen, mit denen man auf einer Wellenlänge liegt, die einem Anreize geben und einfach das Gefühl: „da ticken noch andere genauso wie ich“, „da ist es jemandem wichtig, etwas von mir zu hören“. Dieser Prozess ähnelt somit dem, was Hartmut Rosa in Beschleunigung und Entfremdung beschreibt: Der Raum schrumpft und die Zeit wird größer (Rosa 2013, u. a. S. 23 f.) – entscheidend ist nicht mehr der Raum des Kontaktes, sondern die zur Verfügung stehende Zeit und Wahloption von Menschen und Interessen. Die Emanzipierung vom Raum geht einher mit einer Verengung auf die eigenen Gedanken und Gefühle.
Die digitale Welt ist frei von der sozialen Kontrolle durch die Nachbarschaft, frei von – vor allem in der Jugend oft leidvoll erfahrenen – Kompromissen. Sie erlaubt Kontakte, Austausch, Wettbewerb und Freundschaft bis an die Grenze der Zeit. Hat früher die Entfernung die Heimat begrenzt, so ist die Grenze der Heimat im digitalen Raum die einem persönlich zur Verfügung stehende Zeit. Gilt also jetzt: Heimat ist, wenn ich Anschluss ans Internet habe?
Kurzer Erfahrungsbericht
In den Osterferien reiste mein (K. L.) zehnjähriger Sohn mit seiner Volleyballmannschaft für zwölf Tage nach Italien in ein Beachvolleyball-Trainingscamp. Heftig grübelnd machte ich mir – als zugegebenermaßen und vor allem im Vergleich zur co-erziehungsberechtigten Mutter eist etwas überbehütender Vater – so meine Gedanken, ob angesichts der circa 1.200 Kilometer, die nun zwischen meinem Sohn und seinem Zuhause lagen, nicht etwas Heimweh aufkommen würde. Nachdem – wie meist – der Sohn sich nicht von selbst meldete, versuchte ich, ihn auf seinem Handy zu erreichen, was mir nach vielen Freizeichen und „der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar“ schließlich auch gelang. Auf meine Frage, wie es ihm denn gefalle, bekam ich folgende Antwort: „Gut, in der Hotellobby vier Striche und im Zimmer drei Striche und superschnell. Habe jetzt keine Zeit. Und Tschüss.“ Mit dieser für nicht Eingeweihte vielleicht kryptisch klingenden Aussage beschrieb er kurz und knapp die Stärke des WLAN-Empfanges. Das mit dem Heimweh hat sich dann übrigens auch in der Folgezeit nicht eingestellt. Ob es wohl am WLAN lag, mit dem sich jederzeit das Gefühl von ‚Zuhause-sein‘ über Hunderte von Kilometern herstellen ließ?
Zuhause in der digitalen Welt
Die aktuellen Medienangebote im Internet und insbesondere soziale Netzwerkdienste wie Facebook oder YouTube sind für Jugendliche wichtige Räume für die Kommunikation und Interaktion mit Gleichaltrigen, für Unterhaltung, für Rezeption und Weiterverbreitung von Informationen, aber auch Teilhabe am kulturellen Leben. Damit sind sie wichtige Orte, an denen Jugendliche heute altersspezifische Entwicklungsaufgaben wie Identitätsarbeit, die Gestaltung sozialer Beziehungen sowie soziale Einbettung und Partizipation verhandeln. Die von Jugendlichen genutzten Online-Angebote sind als erweiterte Sozialräume der Jugendlichen anzusehen, in denen sie soziale Kontakte aus den realweltlichen Lebenszusammenhängen weiterführen, aber auch neue Kontakte zu Menschen knüpfen, um zum Beispiel gemeinsame Interessen zu verfolgen und die Welt neu zu gestalten. Ein Privileg der Jugend ist es, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und somit die Welt auch immer wieder neu zu erfinden. Dies ist allerdings nicht einfach, wenn schon alle Achttausender bestiegen sind, jeder Gedanke schon gedacht scheint und man unter ständiger Beobachtung von Erwachsenen steht.
Die unendlichen Weiten der virtuellen Welten scheinen hier noch Platz für Abenteuer und Identitätsfindung zu bieten. Sherry Turkle beschreibt die virtuellen Welten als ein rasant expandierendes System von Netzen, das Millionen von Menschen in virtuellen Räumen verbindet. Der Aufenthalt in diesen neuen Räumen verändert unsere Denkweise, den Charakter unserer Sexualität, die Form der Gemeinschaftsbildung, die Identität selbst (vgl. Turkle, 1998, S. 9). Aber was sind virtuelle Lebenswelten, wer hält sich in ihnen auf und wie kommt man dorthin und bewegt sich in ihnen? Die Nutzung von Medien allein ist nicht das Eingangstor zu virtuellen Welten: Der im Alltag für Kinder und Jugendliche längst zur Selbstverständlichkeit gewordene Umgang mit Medien macht diese zwar zu einem festen Bestandteil ihrer Lebenswelt. Aber erst durch die Möglichkeiten der Interaktivität werden Medienwelten zu virtuellen Welten. Der Unterschied zur medialen Welt besteht also in der Möglichkeit der aktiven Teilhabe. Erst durch das aktive Handeln entfaltet sich die virtuelle Welt und ihre Elemente werden sichtbar (vgl. Fritz 2003, S. 17). Vernetzte Spiel- und Kommunikationswelten bieten den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit der aktiven Teilhabe und werden von ihnen auch rege genutzt. Sie tauchen ein in virtuelle Erlebnis- und Kommunikationsräume und machen darin ‚reale‘ Erfahrungen, die sie auch als Persönlichkeiten prägen.
Man könnte auch sagen, die Jugend von heute ist im Netz zuhause. In seinem Artikel Was ist Heimat? Unser Zuhause ist das Internet liefert Günther Hack eine Definition von Heimat aus dem Blickwinkel eines „digital native“ – also der Generation, die mit digitalen Technologien vertraut ist, da sie mit diesen aufgewachsen ist. Für ihn ist Heimat eine „kleine elektrochemisch erzeugte Wirklichkeit im Gehirn. Eine dieser wärmenden Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit [...]. Heimat ist also ein Phänomen, das aus regelmäßig aktualisierten Mustern neuronaler Impulse hervorgeht. Das macht sie den Wirklichkeiten des Netzes ähnlich, die ebenfalls auf ständige Zufuhr von Energie und Aufmerksamkeit angewiesen sind“ (Hack 2012). Man könnte also auch sagen, dass die Heimat einen neuen Ort bekommen hat – das Netz. Um dies nachvollziehen zu können, muss man das Netz nicht als ‚Maschine‘, sondern als einen Ort der Begegnung von Menschen erlebt haben. Nochmals Sascha Lobo, einer der bekanntesten Netzphilosophen und „digital native“ schreibt in seiner Kolumne Meine Heimat Internet in Spiegel Online dazu: „Die einen kennen das Glück, im Netz interessanten und wertvollen Menschen zu begegnen, die anderen buchen dort Flüge und finden Onlinebanking irre praktisch. [...] Man muss im Netz Freude und Freunde gefunden haben, man muss vor dem Bildschirm gelacht und geweint, diskutiert und gestritten haben. Man muss die Netzwärme gespürt haben, denn da ist unendlich viel Wärme im Netz“ (Lobo 2011). Nur wenn man solche Erfahrungen gemacht hat, kann man nachvollziehen, dass das Netz für viele junge Menschen zur Heimat geworden ist. Auch wenn dies bei manchen Erwachsenen noch ein ungläubiges Kopfschütteln auslöst, so ist doch unbestritten, dass das Netz neben der Familie und der Peergroup zu einem zentralen Ort der Sozialisation von jungen Menschen geworden ist, wenn nicht sogar zu dem zentralen Ort. Nicht nur die Zeit, die Jugendliche im Netz verbringen, sondern vor allem die auch dort stattfindenden sozialen Begegnungen machen das Internet zu einem wichtigen Ort. Ein junger Mann, der nach einwöchigem und höchst unfreiwilligem Aufenthalt auf hoher See von einem havarierten Kreuzfahrtschiff gerettet worden war, antwortete einem Reporter auf die Frage, worauf er sich nun am meisten freue: „Auf die Dusche und das Internet“.
Längst gibt es für junge Menschen kein Leben ohne Internet mehr. Längst ist das Internet für viele junge Menschen zur Heimat geworden, die sie vielleicht eines Tages auch wieder verlassen werden, um nach einer neuen Heimat Ausschau zu halten. Vor diesen gesellschaftlichen Veränderungen versuchen die nachfolgenden Artikel aus unterschiedlichen Blickwinkeln eine Annäherung an den Begriff der Heimat in der digitalen Welt und seine pädagogische Bedeutung für die Jugendlichen. In der ihm eigenen Geschwindigkeit beschreibt Franz Josef Röll die historischen Wurzeln des Heimatbegriffs von progressiv bis reaktionär und geht ausführlicher auf die sozialwissenschaftlichen Motive und Begründungen des Heimatbegriffes in der Moderne ein. Er zeigt dabei, wie aus dem gestalteten Raum ein zu gestaltender wird und bezeichnet die digitale Welt als einen hybriden Raum oder eine vireale Wirklichkeit. Dem Pädagogen als Navigator kommt dabei die Rolle des kompetenten Fremdenführers zu. „In einer globalisierten Welt braucht man mehr denn je eine Rückbindung in kleinere Strukturen, ob die jetzt real vor Ort sind oder in einer virtuellen Welt“, beschreibt Andrea Kluxen (Bezirksheimatpflegerin Mittelfranken) im Interview. Sie versteht Heimat weniger als eine vorgegebene Struktur, sondern als eine zu gestaltende. Den Medien kommt dabei nach ihrer Auffassung sowohl eine kommunikative Rolle zu als auch eine, die Zeugnis ablegen kann, die Erinnerungen bewahren und vielfältig zugänglich machen kann. Martin Geisler beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Vergemeinschaftungsformen in der PC-Spielewelt. Detailliert beschreibt er diese Formen und diskutiert, ob man diesen Gruppen, den Gilden, nicht die wesentlichen Merkmale sozialer Gruppen zuschreiben kann. Er interpretiert diese Gilden als Suche nach dauerhaften und verlässlichen Beziehungen in einer als fragil erlebten realen Welt. Die besondere Funktion der digitalen Medien für das Heimaterleben von Menschen mit Migrationshintergrund ist Gegenstand in Susanne Eggerts Beitrag. Digitale Medien dienen der Verbindung zur alten Heimat, sie dienen der Diskussion unter Menschen, die eine ähnliche Erfahrung zu verarbeiten haben und sie dienen auch dem Vertrautwerden mit der Kultur des jetzigen Aufenthalts. Die Nutzung der Medien verstärkt, je nachdem, wie sie genutzt werden, die Emotionen: sei es in die Vergangenheit, sei es in die Aufarbeitung von Traumata oder sei es zur Identitätsbildung in der Gegenwart. Das Thema Heimat und Identität steht auch im Mittelpunkt eines Projekts des Bayerischen Rundfunks und der Stiftung Zuhören. Die Journalistin Elke Dillmann berichtet von mündlich überlieferten oder auch neu erfundenen Geschichten, die sozusagen medial haltbar gemacht, sprich dokumentiert werden und so in einem weiteren Schritt pädagogisch nutzbar gemacht werden können.
Das digitale Lagerfeuer erlischt nicht, sondern kann beliebig oft wiederholt, bearbeitet und reflektiert werden. Ob draußen mitten in der Nacht, beim Storytelling in der Gruppe oder bei der digitalen Reproduktion: Immer geht es bei diesen Geschichten um die Kernfragen, die sich gerade Jugendliche stelle: Wer bin ich? Wie will ich leben? Diese Fragestellung spiegelt sich auch in vielen Filmproduktionen von Jugendlichen. Eine kleine Filmauswahl von Produktionen junger Menschen zeigt, dass diese sich immer wieder mit dem Heimatbegriff beschäftigen – und damit unterschiedliche Diskussionsansätze bieten, was Heimat für sie heute bedeutet. Dabei wird deutlich, dass nicht nur für junge Menschen mit Migrationshintergrund die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft eine zentrale Rolle in ihrer Identitätsfindung spielt. Heimat und digitale Medien – auch im Spannungsfeld dieser beiden Begriffe zeigt sich die umfassende Durchdringung des Alltags mit den Medien, ihr Wert für die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Zukunft, für Regeln und Werte, für die Konstruktion des Sozialen.
Literatur:
Fritz, Jürgen/Fehr, Wolfgang (Hrsg.) (2003). Computerspiele – Virtuelle Spiele- und Lernwelten. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Hack, Günter (2012). Was ist Heimat? Unser Zuhause ist das Internet. In: Spiegel-Online; ww.spiegel.de/netzwelt/web/was-ist-heimat-a-825382.html [Zugriff: 07.05.2013].
Lobo, Sascha (2011). S.P.O.N. – Die Mensch-Maschine: Meine Heimat Internet. In: Spiegel-Online; www.spiegel.de/netzwelt/web/s-p-o-n-die-mensch-maschine-meineheimat-internet-a-792647.html [Zugriff: 07.05.2013].
Rosa, Hartmut (2013). Beschleunigung und Entfremdung. Berlin: Suhrkamp.Turkle, Sherry (1998). Leben im Netz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
- Klaus Lutz: Sehnsuchtsort Natur oder das Verschwinden der sinnlichen Wahrnehmung
Klaus Lutz: Sehnsuchtsort Natur oder das Verschwinden der sinnlichen Wahrnehmung
Die Natur-Angst früherer Zeiten hat sich zu einer Technik-Angst gewandelt, die die Natur ‚romantisiert‘ und für die Förderung der kindlichen Entwicklung idealisiert. Sowohl Natur- als auch Technik-Angst sind aus einem Gefühl des Kontrollverlusts und der Nichtbeherrschbarkeit durch eine ‚Eigendynamik‘ von Natur bzw. Technik entstanden. Es wird für eine Pädagogik plädiert, die Kindern sowohl in der Natur als auch in den Medien Freiräume lässt, aber zugleich Anregungen liefert.
Literatur:
Bunz, Mercedes (2012). Die stille Revolution: Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen. Berlin: Suhrkamp.
Renz-Polster, Herbert/Hüther, Gerhard (2013). Wie Kinder heute wachsen: Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Weinheim/Basel: Beltz.
Sadigh, Parvin (2013). „Begeisterung soll das Kind leiten“. Wir setzen zu sehr auf kognitive Fertigkeiten, findet Kinderarzt Herbert Renz-Polster: Kinder sollen sich in der Natur ihre fundamentalen Kompetenzen aneignen. Interview mit Herbert Renz-Polster. In: Zeit Online vom 10.09.2013. www.zeit.de/gesellschaft/familie/2013-09/renz-polster-natur-kind [Zugriff: 12.02.15].
- Klaus Lutz: Zukunftsträume
Klaus Lutz: Zukunftsträume
Ich liebe Preisverleihungen im Fernsehen! Ob Bambi, Webvideopreis oder Sportler des Jahres, wenn ich Zeit habe, bin ich gerne vom Sofa aus live dabei. So auch am 02. Dezember 2015, als ich nach einem anstrengenden Arbeitstag unvermittelt bei der Preisverleihung des deutschen Zukunftspreises gelandet bin, von dessen Existenz ich bis dato noch keine Kenntnis hatte. Prämiert werden – soweit ich das verstanden habe – innovative Erfindungen der deutschen Wirtschaft. Eine der nominierten ‚Erfindungen‘ ist ein ausgeklügeltes Radarsystem für Fahrzeuge, welches in seiner letzten Ausbaustufe Fahrerinnen und Fahrer überflüssig macht. Nach einem gut gemachten Sendung mit der Maus-Erklärvideo bittet Moderatorin Maybrit Illner – heute ein Traum in rosa – Ralf Bornefeld von Infineon auf die Bühne. Sie konfrontiert ihn gleich zum Einstieg mit der Frage, ob der deutsche Mann bzw. die Frau (genau in dieser Reihenfolge) schon bereit sei, sich das Lenkrad von einer Maschine aus der Hand nehmen zu lassen. Leider ereilt mich – während ich noch gespannt der Antwort entgegenfiebere – in diesem Moment das Schicksal von so vielen Fernsehabenden. Es fällt mir immer schwerer, die Augen offenzuhalten, in mein Bewusstsein dringen nur noch Begriffsfetzen wie Zukunft und Industrie 4.0 vor sowie Teile des „auch du, Klaus, sollst mehr auf Sauberkeit achten, wenn ich schon das Putzen übernehme“-Monologs meiner Freundin, bevor ich die Reise in die Welt der Träume antrete: Nach einem langen Arbeitstag komme ich gegen 20.30 Uhr nach Hause.
In Gedanken bei meiner To-Do-Liste für die Woche versuche ich, die Wohnungstür aufzuschließen. Der Chip – früher Schlüssel – gibt diese aber nicht frei. Nach mehreren vergeblichen Versuchen lese ich auf dem Türdisplay ‚Bitte erst Schuhe ausziehen‘. Schlagartig erinnere ich mich daran, dass ich letzte Woche einen neuen Teppichboden habe verlegen lassen und sich deshalb die Tür erst öffnen soll, nachdem ich die Schuhe ausgezogen habe. Und dank des Microchips in meinen Schuhen weiß die Tür auch, ob ich brav in die Hausschlappen geschlüpft bin – oder nicht. Also: Schuhe aus, Tür öffnet sich. Ich gehe zum Kühlschrank, um mir ein Feierabendbier zu holen. Dieser öffnet sich zwar, das Fach mit den alkoholischen Getränken leider nicht. Das Kühlschrankdisplay verrät mir aber, dass meine Freundin, die zurzeit im Ausland weilt, heute beim Frauenarzt war und in der dritten Woche schwanger ist. Da ich ihr leichtsinnigerweise versprochen hatte, bei einer Schwangerschaft gemeinsam mit ihr auf Alkohol zu verzichten, ist der Kühlschrank nicht mehr bereit, das Alkoholfach freizugeben. Also, einmal durchschnaufen, über den Nachwuchs freuen, und beim Nachbarn dessen Bier saufen. Nur blöd, dass das Türschloss Wind von dem Plan bekommen hat und nicht bereit ist, die Wohnungstür zu öffnen. Was soll‘s: rauf aufs Sofa, vor die Glotze. Doch statt Preisverleihungen oder Autoschrauber-Sendungen erfahre ich heute alles, was es über Schwangerschaften zu wissen gibt. Später im Bett werde ich auch noch im Zwei- Stunden-Takt durch ein Rütteln der Matratze geweckt, die mich auf den neuen Schlafrhythmus vorbereiten möchte. Wer zum Teufel hat der Matratze von der Schwangerschaft erzählt? Entnervt nehme ich meine Decke und ziehe aufs Sofa um.
Am Morgen lese ich auf meinem Handydisplay, dass ich um 17.00 Uhr einen Termin bei meiner Therapeutin habe, die wissen möchte, warum ich die Nacht auf dem Sofa verbracht habe. Ich mache Frühstück und gebe dem Sofa, der alten Petze, einen Tritt, bevor ich verärgert aus der Wohnung stolpere ... und wache wieder auf. Ich bin etwas verwirrt, weil Maybrit Illner anscheinend schon Feierabend gemacht hat, ohne sich von mir zu verabschieden. Es ist bereits nach Mitternacht und ich begebe mich direkt ins Bett. Jaja, ohne Zähneputzen. Beim Einschlafen überlege ich leicht panisch, ob meine elektrische Zahnbürste dies wohl direkt an meine Zahnärztin weitergibt. Dann aber schnaufe ich erleichtert durch, denn noch ist das alles Zukunftsmusik. Oder doch nicht?
- Roland Bader, Klaus Lutz: Viel Science, wenig Fiction – willkommen in der Zukunft
Roland Bader, Klaus Lutz: Viel Science, wenig Fiction – willkommen in der Zukunft
Die Zukunft hat begonnen. So könnte man die Entwicklung der Produkte, die unter dem Sammelbegriff ‚Internet der Dinge‘ (‚Internet of things‘) mit Hochdruck erfunden werden, beschreiben. Es ist eine technische Revolution der eher leisen Töne. Sie vollzieht sich überwiegend im Verborgenen, wird aber unser Leben nachhaltig verändern. Das Internet der Dinge löst einen schleichenden, aber umso graviererenden Umwälzungsprozess unserer menschlichen Daseinsform aus. Die Ausmaße dieses Prozesses werden dann in ihrer Tragweite sichtbar, wenn der Alltag ohne diese Technologie nicht mehr organisierbar ist. Dabei handelt sich nicht um eine einzelne neue technische Errungenschaft wie bei der Erfindung der Elektrizität oder der Dampfmaschine. Viele kleine und allerkleinste Dinge beginnen, unseren Alltag zu steuern.
Im Internet der Dinge schicken alle möglichen Geräte jeder Art beständig Daten ins Netz, die dort gespeichert und ausgewertet werden. Nicht mehr nur Handys tun dies, sondern auch Smart Watches, smarte Stromzähler oder DHL-Pakete, die fröhlich ihre Ankunft ankündigen. Der Alltag wird dadurch bequemer. ‚Smart‘ bezieht sich dabei auf Potenziale, die nun erschlossen werden können; beispielsweise Energieeffizienz, Logistik und Gesundheitsvorsorge. Wenn Autos ‚kommunizieren‘, lassen sich im Sinne ‚kluger Lösungen‘ in Echtzeit Staus vermeiden, Unfälle verhindern und der Energieverbrauch optimieren. Der Rohstoff, aus dem all diese Anwendungen generiert werden, sind die gigantischen Datenmengen, die täglich anfallen und gespeichert werden. Big Data Analytics ist die Voraussetzung für diese Revolution, die Verwertung eines riesigen Datenschatzes, der aus unseren täglichen Kommunikationen, Aktivitäten und Bewegungen gespeist wird. Algorithmen generieren daraus immer neue smarte Lösungen für unseren Alltag. Die schrittweise Ersetzung vormals dummer Geräte durch smarte Techniken und ihre Vernetzung lässt die Digitalisierung unserer Lebenswelt zum Internet der Dinge verschmelzen.
Tagtäglich erscheinen neue Anwendungen auf dem Markt, wie etwa die Smart Sole der Firma Way4net, eine Lösung zur Betreuung von dementen und orientierungslosen Menschen im Alter. Mit dieser Einlegesohle für den Schuh soll eine Notfallortung immer möglich sein – auch ohne dass die Person, die sie trägt, aktiv werden muss. Andere smarte Lösungen, etwa im Bereich der medizinischen Therapie, basieren auf der Auswertung im Idealfall kontinuierlich erhobener persönlicher Körper- und Gesundheitswerte. Lösungen können deshalb individuell auf den Einzelnen zugeschnitten werden und müssen nicht mehr nur – wie bisher – auf den Daten standardisierter Durchschnittspatientinnen und -patienten beruhen, wie Kucklick in seiner Publikation Die granulare Gesellschaft (2015) aufzeigt. Dies geschieht um den Preis immer größerer Transparenz und Abhängigkeit. Wir werden es zulassen müssen, dass in immer größerem Ausmaß Daten von uns erfasst und zu aussagekräftigen Profilen verdichtet werden. Durch die flächendeckende Internetabdeckung können diese Daten in hoher Geschwindigkeit miteinander abgeglichen, gefiltert und zielgenau geleitet werden. Was genau ist aber das ‚Internet der Dinge‘? Wie lässt es sich fassen und beschreiben? Harald Gapskinennt vier grundlegende Dimensionen oder Treiber, die allen Techniken zugrunde liegen: Digitalisierung, Vernetzung, Sensorisierung und Algorithmisierung (siehe Gapski in dieser Ausgabe). Am eindrücklichsten jedoch lässt sich das Internet der Dinge an Beispielen aus unserem Alltag beschreiben, denn die Welt des Internet der Dinge trifft unsere Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, mithin unseren Alltag im Kern.
Eine scharfe Abgrenzung des Internet der Dinge von anderen technischen Trends wie Big Data Analytics oder die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz fällt schwer und ist auch nur bedingt sinnvoll. Nicht nur wegen der abertausenden Gadgets und Apps, die täglich neu den Markt überfluten, sondern auch deshalb, weil die parallel stattfindenden Entwicklungen – von denen jede einzelne revolutionäre Potenziale hat – Hand in Hand gehen und eine wiederum die Voraussetzung für die andere ist. Angela Merkel und Horst Seehofer haben wiederholt die Digitalisierung als „Mega-Herausforderung“ für die aktuelle Politik bezeichnet. Und sie erhält als die fundamentale Revolution derzeit einen prominenten Platz in den Parteiprogrammen aller Parteien. Die SPD misst der „Industrie 4.0“ herausragende Bedeutung bei und richtet das Augenmerk damit auf die anstehenden Umstrukturierungsprozesse in der Produktion, mit massiven Auswirkungen – nicht nur – auf Arbeitsplätze.
Ein weiterer, damit zusammenhängender Aspekt liegt in der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Sie macht gerade revolutionäre Sprünge, so dass erstmals in der Menschheitsgeschichte die Vorstellung einer „Superintelligenz“ nicht mehr nur eine gänsehauterzeugende U- oder Dystopie ist, sondern ein handfest empirisch erforschbares Zukunftsszenario, wie Nick Bostom (2014) in seinem gleichnamigen Buch gezeigt hat.Noch nicht einmal ansatzweise hat unsere Gesellschaft die Enthüllungen Edward Snowdens vom Sommer 2013 verarbeitet, dass all unsere Kommunikation ausgespäht wird. Sascha Lobo hat das als die „vierte große Kränkung der Menschheit“ bezeichnet, nach Kopernikus, Darwin und Freud. Konsequenzen aus dem Wissen um den Kontrollverlust haben wir als Gesellschaft noch nicht ansatzweise gezogen.
Augenfällig werden die Zusammenhänge zwischen Big Data Analytics, Internet der Dinge und Künstlicher Intelligenz an der Zukunft unseres Lieblingsspielzeugs – dem Automobil. Fast wöchentlich vermelden die Nachrichten Spektakuläres oder Skurriles, Empörendes, Fragwürdiges, Technisches oder Rechtliches von der Front der neuen Auto- Mobilität, die von BMW und Tesla, aber auch von Google, Apple und anderen unerbittlich vorangetrieben wird. Von den aktuellen Automodellen mit mehr als 70 smarten Bauteilen und vielfältigen Assistenzsystemen hin zum selbstfahrenden Auto ist es nur ein Schritt. Im Unterschied zu vergleichsweise schlichten Internet der Dinge-Anwendungen wie einer intelligenten Energiesteuerung im Haus werden mit dem selbstfahrenden Auto eine Vielzahl komplexer Vorgänge automatisiert, die lange Zeit nur von Menschen beherrschbar erschienen. Selbstfahrende Autos benötigen Rundumsensoren und höchst präzise Echtzeitinformationen aus Geodaten über ihre aktuelle sich ständig bewegende Umgebung. Sie müssen auch intelligent zwischen Hindernissen und anderen Verkehrsteilnehmenden unterscheiden können, autonome Entscheidungen in mehrdeutigen Verkehrssituationen treffen und sogar vorhersehen können, wann das vorherfahrende Fahrzeug die Spur zu wechseln gedenkt. Hier gehen die Entwicklungen des Internet der Dinge und der Künstlichen Intelligenz, speziell der Musterkennung und des Autonomen Lernens, Hand in Hand und werfen neue Fragen über Haftung und Verantwortung auf.
Das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine steht an einer neuen Schwelle, die viele verunsichert. Denkt man weiter in die Zukunft, so scheint die Symbiose von Mensch und Maschine vor einer weiteren evolutionären Stufe zu stehen. Optimiert und automatisiert das Internet der Dinge derzeit noch überwiegend alltägliche Abläufe, so ist durchaus denkbar, dass neue Technologien die menschlichen Fähigkeiten optimieren und uns schneller laufen, länger ohne Sauerstoff unter Wasser oder mit weniger Schlaf auskommen lassen. Der Mensch könnte sich mithilfe von Biotechnologie und Robotik zu einem intelligenteren und robusteren Wesen weiterentwickeln. Diese Entwicklung wird unter dem Begriff des Transhumanismus gebündelt.
Mit diesen kurz angerissenen Prozessen – in ihren Einzelheiten, Zusammenhängen, aber auch mit ihrer möglichen Bedeutung für unser zukünftiges Leben – setzen sich die Beiträge dieser Ausgabe auseinander. Dabei werden einerseits die Einzelheiten des Phänomens herausgestellt, andererseits aber auch die Entwicklungen in ihrem größeren Zusammenhang beleuchtet, wodurch eine gesellschaftliche und medienpädagogische Einordnung möglich wird. Bei der Größe und Relevanz des gesamten Themenfelds bleiben viele Aspekte unbearbeitet, die auch ihren Platz hätten finden können oder – vielleicht sogar – müssen. Sicherlich werden uns als Gesellschaft, aber auch die Medienpädagogik und merz viele Entwicklungen in naher Zukunft noch intensiv beschäftigen und Gelegenheit bieten, weitere Facetten zu beleuchten.
Zu diesem Heft
Roland Bader zeigt die Veränderungen, die das Internet der Dinge mit sich bringt, an drei zentralen Lebensbereichen auf: Wohnen, Körper/Gesundheit sowie Mobilität/Städtisches Leben. Die von ihm in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellten Bereiche sind zentraler Ankerpunkt unserer Lebenswelt. Was in der Zukunft noch alles möglich scheint, liest sich wie ein Science-Fiction-Roman. Was wird der Mensch der Zukunft sein? Konsument, Sensor oder autonom handelnder Bürger? Welchen Einfluss hat diese revolutionäre Veränderung unserer Lebenswelt auf die Medienpädagogik und die Definition eines ihrer zentralen Begriffe, der Medienkompetenz? Stößt mit dem Internet der Dinge die enge Verzahnung von Medienkompetenz und kommunikativer Kompetenz an ihre Grenzen? Diese Fragestellung greift Harald Gapski in seinem Artikel auf. An den im medienpädagogischen Diskurs entwickelten Zielvorstellungen wie dem kritisch-reflektierten und sozialverantwortlichen Umgang mit Medien hält er in seinen Ausführungen weiterhin fest. Mit den Entwicklungen der digitalen Gesellschaft scheint der kompetente individuelle Umgang mit den Medien als zentrale Voraussetzung für eine souveräne Mediennutzung zumindest in Teilbereichen an seine Grenzen zu stoßen. Es gilt daher, sich der Grenzen der informationellen Selbstbestimmung bewusst zu werden und damit umzugehen. Klaus Lutz stellt im Gespräch mit Benjamin Jörissendie grundsätzlichen Fragen der revolutionären Umwälzung, die das Internet der Dinge mit sich bringt und die gleichzeitig über die bisher absehbare Entwicklung hinausreicht, ins Zentrum: Ist Datenschutz überhaupt noch umsetzbar? Wie gehen wir mit den Zukunftsängsten um, die diese technische Revolution mit sich bringt? Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine?
An diesen Überlegungen knüpft der Aufsatz von Roland Poellinger an. Er stellt die Frage, ob bei moralischen Problemstellungen immer der Mensch als Letztverantwortlicher miteinbezogen werden muss. Dabei nutzt er den Turing-Test und deutet ihn für die Qualifizierung moralischer Fragestellungen in einer Mensch-Maschine-Kommunikation um. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass die Nutzung künstlicher moralischer Systeme sogar moralisch geboten ist und formuliert drei Bedingungen, die diese Nutzung begleiten sollten. Wie wirken sich diese technischen Innovationen nun auf die Arbeitswelt und die unzähligen Rechtsvorschriften aus, die unseren Alltag regeln? Muss unser sehr ausdifferenziertes Rechtssystem neu geschrieben und unser Verständnis von Datenschutz auf ein neues Fundament gestellt werden? Kai Hofmann, Thomas Knieper, Katrin Tonndorf und Julian Windscheid gehen auf diese Fragen ein und formulieren Bedingungen, wie diese Veränderungen erfolgreich gemeistert werden können.
Daniel Seitz stellt im Gespräch mit Roland Bader das Projekt Jugend hackt vor. Unter dem Slogan „mit dem Code die Welt verbessern“ setzen sich junge Menschen mit Problemen unserer Zeit auseinander und versuchen, mit dem Programmieren von kleinen Programmen, Lösungsansätze zu finden. Wichtig dabei ist nicht das perfekte Ergebnis, sondern die Erfahrung, mit technischen Mitteln zu Lösungen für die Probleme der Zukunft beitragen zu können. Ein Projektansatz, der über die bisherigen Methoden der aktiven Medienarbeit hinausgeht und die gesellschaftlichen Veränderungen durch die technische Entwicklung stärker mit einbezieht.
Grundlegende gesellschaftliche Veränderungen stellen – vor allem wenn sie durch technische Innovationen hervorgerufen sind – auch immer das Selbstverständnis medienpädagogischen Handelns in Frage. So rufen auch die Entwicklungen des Internet der Dinge Verunsicherungen in der Medienpädagogik hervor. Wie diesen Irritationen zu begegnen ist und welche neuen methodischen Ansätze hieraus erwachsen können, stellen Gerda Sieben und Henrike Boy in ihrem Artikel dar. Nicht nur die Gesellschaft wandelt sich laufend durch medientechnische Innovationen, auch die Medienpädagogik muss zukunftsfähig bleiben. Überlegungen zu diesen Entwicklungen enden meisten mit dem Postulat: ‚Es gibt Chancen und Gefahren – wir müssen diese Entwicklung gestalten‘. Ja, wir müssen diese Entwicklung gestalten, wie man Zukunft immer gestalten muss. Wir haben die Chance dazu. Die Zukunft hat begonnen.
Literatur:
Bostrom, Nick (2014). Superintelligenz. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Kucklick, Christoph (2015). Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. Berlin: Ullstein.
Dr. Roland Bader ist Professor für Medienpädagogik und Medienwissenschaft an der Fakultät Management, Soziale Arbeit, Bauen der HAWK Hochschule Hildesheim Holzminden Göttingen. Neben seinem Engagement in vielen Forschungsprojekten der Medienpädagogik war er über viele Jahre in der Forschung zu und im Aufbau von E-Learning-Angeboten und in der geschlechtersensiblen Jungenarbeit engagiert. Klaus Lutz ist pädagogischer Leiter des Medienzentrums PARABOL e. V. in Nürnberg, Fachberater für Medienpädagogik im Bezirk Mittelfranken sowie Dozent an der Simon-Georg-Ohm Hochschule in Nürnberg.
- Klaus Lutz: nachruf Dieter Glaap
Klaus Lutz: nachruf Dieter Glaap
Es gibt viele gute Pädagoginnen und Pädagogen, aber nur wenigen ist es vergönnt, frühzeitig zu erkennen, welche pädagogischen Fragestellungen in der Zukunft von zentraler Bedeutung sein werden. Dieter Glaap war einer der Pädagogen, der diese visionäre Gabe besessen hat. Obwohl sein medienpädagogisches Wirken als Dozent und Fachleiter für Medienpädagogik der Akademie Remscheid primär in der Film- und Videoarbeit verankert war, erkannte er sehr frühzeitig das Potenzial der aufkommenden Computertechnik für die Medienpädagogik.
Schon in den 1980er-Jahren lud er jedes Jahr zum Remscheider Computerforum ein. Jenseits einer Kultur, die den Einzug von Computern in die Jugendzimmer unter rein jugendschützerischen Aspekten diskutierte, ermöglichten diese Vernetzungstreffen einen Erfahrungsaustausch für Pädagoginnen und Pädagogen, die an der Entwicklung von Konzepten der aktiven Medienarbeit mit Computern interessiert waren. Über lange Zeit hat es Dieter Glaap verstanden, diesem Diskurs immer wieder neue Impulse zu verleihen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der neue kreative Projekte entwickelt werden konnten. Eine ganze Generation von Medienpädagoginnen und Medienpädagogen sind viele Jahre seinem Ruf nach Remscheid gefolgt und haben gemeinsam die Entwicklung der Medienpädagogik mit dem Computer vorangetrieben.
Auch in den heutigen Konzepten und Projekten lassen sich immer noch Spuren seines Wirkens erkennen.Leider ist unser sympathische Kollege und Pionier der Medienpädagogik im März 2016, kurz nach seiner Pensionierung, an einem Herzleiden verstorben. Lieber Dieter Glaap, wir danken dir für die Innovationen, die du über viele Jahre in die Medienpädagogik eingebracht hast!