Kolumnen
Wie, bei Google fällt Ihnen nur ‚Datensammler‘ ein? Was, wenn der Angebetete nicht bei Facebook ist? Ach, du kennst die Romane? Sie sind gar nicht sozial vernetzt? Aber wenn ich nicht partizipiere, was dann? Ist mein Leben schon zu überregional für meine Community? Wer bringt Ordnung in die chaotische Welt der Hashtags? Dann kann zwar nichts mehr schiefgehen, weil alles vorab exakt geplant ist, aber wollen wir das dann noch sehen? Brauchen wir ein neues System? – War da nicht noch mehr?
Doch, da waren noch viel mehr als diese zehn Fragestellungen im letzten Jahrzehnt, die Autorinnen und Autoren in Kolumen auf ironische, kritische, sarkastische oder lustige Weise aufgeworfen haben. Wir haben die letzten 50 Einzelstücke kategorisiert … nicht zuletzt die Worte unseres Verlegers Dr. Ludwig Schlump, dessen Kolumne zu unserem 50-jährigen Jubiläum für uns auch heute noch an der Tagesordnung ist: (Sch)merz lässt nicht nach!
- Aida Bakhtiari: Ein Wunder! (Verfügbar ab 15.10.2024)
Eric van der Beek: Befreit die Bildung von der Effizienz!
Kennen Sie Bernd Schorbs Monografie Einführung in die Medienpädagogik, die er im Jahr 2011 bei Springer veröffentlicht hat? Nein? Ich auch nicht. Ich fürchte, dass selbst Bernd Schorb dieses Standardwerk nicht kennt. Denn es existiert nicht. Dennoch reichte ein Student vor einigen Wochen eine Hausarbeit bei mir ein, in der er sich auf dieses Standardwerk bezog. Dort schrieb er: „Schorb (2011) definiert in seinem Grundlagenwerk drei Dimensionen der Medienkompetenz: Mediennutzung, Medienwissen und Mediengestaltung“. Eingefleischte Schorbianer*innen wissen natürlich: Inhaltlich liegt der Student daneben. Immerhin: Die Quelle war wissenschaftlich korrekt angegeben.
Der Verdacht: Der Student nutzte in der Hausarbeit offenbar KI-generierte Texte, in denen die Form des medienpädagogischen Diskurses zwar repliziert, aber der Inhalt verzerrt wird. Zweifelsfrei beweisen lässt sich dieser Verdacht jedoch nicht. Vielmehr verteidigte sich der Student: Auf die Einführung in die Medienpädagogik sei er über eine Sekundärquelle gekommen, deren Herkunft er nicht überprüft hatte. Bevor wir nun aber einstimmen in den Abgesang an die Hausarbeit als Prüfungsform und den Verlust von Wahrheit in Zeiten von generativer KI beklagen, sollten wir vielleicht eine andere Frage wagen: Ist hier womöglich die Bildungsbiografie das eigentlich zu beklagende Opfer?
Bildung ist längst einem Effizienzparadigma unterworfen. In ein Uni-Seminar, das mit drei Creditpoints angerechnet wird, sollen Studierende in der Woche vier Stunden und 30 Minuten ihrer Zeit investieren, inklusive der Besuche der Seminarsitzungen, deren Vor- und Nachbereitung und der Rezeption von Texten. Wenn ich Studierende in meinen Seminaren mit dieser Erwartung konfrontiere, ernte ich Schweigen. Für viele ist es schambehaftet, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit für daseinserhaltende Arbeit aufbringen, um ihr Studium zu finanzieren. Am Ende bleiben nur wenige Ressourcen zum Studieren übrig.
Die Entdeckung generativer KI fällt in eine Zeit multipler Krisen (Klima, Krieg, Demografie), in denen die gesamtgesellschaftlichen Ressourcen knapp erscheinen. KI-Technologien versprechen, die Produktionsverhältnisse effizienter zu machen und den Wohlstand zu sichern. Dieses Versprechen trägt nun seltsam ambivalente Blüten im Bildungsbereich: Studierende erleben einen Vertrauensverlust, weil sie in Verdacht geraten, ihre Hausarbeiten mit ChatGPT zu schreiben. Gleichzeitig werden KI-Technologien erprobt, mit denen die Bewertung jener Hausarbeiten automatisiert wird und KI-Plagiate identifiziert werden.
Bei allem Vertrauensverlust sehe ich eine Chance, die Bildungsbiografien junger Menschen wiederzubeleben: Bildung – die Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen – sollte in erster Linie ein Selbstzweck sein. So wie die Malerei durch die Fotografie von ihrer Gegenständlichkeit befreit wurde, könnten KI-Technologien die Bildung von der Effizienz befreien.
Sophia Mellitzer: Ich faste, also poste ich
Halte durch!“, „Bleib stark!“, „Vorsicht: Chips enthalten leider auch Zucker.“ „Hast du es schon mit Bananen-Avocado-Kakao-Creme versucht?“, „Nimm es doch nicht so ernst. Du darfst auch mal cheaten!“. Solche Nachrichten bekomme ich seit 29 Tagen. Jedes Jahr zwischen Fasching und Ostern verzichte ich auf eine Sache, die mir schwerfällt. Doch nur für mich selbst zu Fasten – das wäre mir zu öde. Ich liebe es, meine Erfahrungen mit anderen zu teilen! Deshalb poste ich mit der Bildunterschrift „Tag 1/46: …“ täglich ein neues (Beweis-)Foto in meinen WhatsApp-Status. Dieser selbst auferlegte Zwang motiviert mich enorm, am Fasten dranzubleiben. Gleichzeitig helfen mir die Statusbilder, den Prozess ein wenig zu reflektieren.
Dieses Jahr faste ich Süßigkeiten und verzichte weitgehend auf Zucker. Schon am ersten Tag berichte ich schockiert, dass sowohl mein Knusper-Bio-Müsli als auch meine Lieblings-Erdnusscreme Zucker enthalten. Was soll ich denn jetzt frühstücken? Prompt bekomme ich zahlreiche Empfehlungen zuckerfreier Frühstücksprodukte zugeschickt. Praktisch! Schon bald etabliere ich neue Essensroutinen und poste Bilder meiner zuckerfreien Lieblingsspeisen. Doch ganz ehrlich: wenn in der Büro-Küche köstlicher Kuchen bereitsteht oder die Kinder das erste Eis des Frühlings auf dem Marktplatz genießen fällt mir der Verzicht verdammt schwer. Auch das teile ich mit meiner kleinen WhatsApp-Community. Und ernte Mitgefühl und Durchhalteparolen. Besonders viel Aufmerksamkeit erhält ein Post, der mich als Naschkatze entlarvt: „Tag 24/46: Wenn das Einkaufen zur Challenge wird“ zeigt ein Foto des Schokoladen-Regals im Supermarkt. Aufgewachsen in einer Kleinstadt mit Schokoladenfabrik lag in unserer Küchenschublade stets Bruchschokolade in Quadraten bereit, zarter Schokoduft begleitete meinen Weg zur Schule. Wochenlang ohne Süßes auszukommen ist etwas völlig Neues für mich. Kein Wunder, dass mir ab und zu ein Ausrutscher passiert. „Tag 28/46: Aus Versehen Teig genascht.“ - auch das Foto der Rührschüssel landet in meinem Status.
Noch schwerer fiel mir mein Verzicht im letzten Jahr: Gegenstände fasten. Jeden Tag teilte ich ein Foto einer Sache, die ich verschenkt, verkauft oder entsorgt hatte. Das war vielleicht anstrengend. Ich hänge sehr an all meinen Dingen. Diese Fastenzeit hätte ich ohne das Posten sofort wieder aufgegeben. Aber auf die Fotos von der sortierten Küchenschublade, der entmüllten Zimmerecke und dem freien Platz im Badschrank erhielt ich viel Zuspruch und das hat mich enorm gestärkt. Einige machten sogar mit, schickten mir Fotos und Infos über ihren Fortschritt beim Ausmisten. Ich bin schon gespannt, welche Idee ich nächstes Jahr umsetzen werde. CO2, Plastik, Instagram, Online-Shopping – mir fällt da so einiges ein. Nur auf Messenger kann ich nicht verzichten – sonst fehlt mir der äußere Anreiz und der Rückhalt von Freund*innen und Familie!
Maximilian Schober: Macht. Unterbrechungen.
Zwischen den Jahren: Die Weihnachtsfeiertage sind vergangen, das neue Jahr hat noch nicht begonnen. Durchatmen. Es scheint so, als sei der übliche Lauf der Dinge unterbrochen. Alles ist anders. Doch selbst in dieser Zeit bleibt: Ich hänge an meinem Handy, scrolle durch Instagram oder warte ungeduldig darauf, nach drei Sekunden die Werbung auf YouTube überspringen zu können. Und noch immer weiß ich nicht, wohin meine Daten gehen und wer mit ihnen Geschäfte macht. Es wäre möglich, vieles anders zu machen, noch mehr zu wissen, mein Handeln öfter zu reflektieren und meiner kritischen Haltung konkrete Taten folgen zu lassen – kurzum, medienkompetent zu handeln. Anstrengend! Mehr wissen und öfter reflektieren: Das bekomme ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Institut für Medienpädagogik noch gut hin – mein Daily Business, sozusagen. Aber wirklich etwas anders zu machen, widerständig zu handeln – das scheint mir unmöglich oder zumindest zu anstrengend. Digitale Medien sind omnipräsent, durchdringen sämtliche Lebensbereiche. Und selbst zwischen den Jahren wird durch sie der übliche Lauf der Dinge spürbar: die Macht des Kapitalismus, die ständige Optimierung und Selbstdisziplinierung. Was also tun? „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“, schrieb Michel Foucault. Widerstand – ein großes Wort. Was bedeutet das?
Sich digitalen Medien zu verweigern? Zivilgesellschaftlich für eine bessere Netzpolitik einzutreten? Auch das scheint mir unmöglich oder zumindest zu anstrengend. Es gibt „im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung“, sondern „einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände“.1 Mit Blick auf die alltägliche Allgegenwart spricht mich die Idee des unwahrscheinlichen, spontanen und wilden Widerstands besonders an. Es könnten störende Unterbrechungen sein. Nicht ästhetisiert als Digital-Detox-Maßnahme, nicht ritualisiert wie das Durchatmen zwischen den Jahren, und auch nicht selbstoptimierend, vernünftig oder gesund. Nein. Störende Unterbrechungen, wann immer ich es will, ohne Ankündigung, ohne Routine, ohne Anspruch an Ästhetik oder Selbstdisziplin. Mir gefällt die Idee, dass medienkompetentes Handeln auch wild sein kann. Es bedeutet nicht nur, etwas besser bedienen zu können, einen Algorithmus zu durchschauen oder kreative Umgangsweisen mit den verfügbaren Handlungsmöglichkeiten zu finden. Medienkompetenz heißt vielleicht auch, und das könnte immer wichtiger werden, störende Unterbrechungen zu schaffen. Wild.
Literatur
Foucault, Michel (1984): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Beitrag aus Heft »2024/01: Kleinkinder und Medien – Zwischen Verunsicherung und Verantwortung«
Autor: Maximilian Schober
Beitrag als PDFKlaus Lutz: Der kleine Paul
Vielleicht kennen Sie das: Kinder ahmen im Spiel Dinge nach, die sie im Alltag immer wieder erleben. So hat unser Sohn sich eines Tages mit einem Kochlöffel in einen Karton gesetzt und immer wieder in den Kochlöffel gesprochen: ‚Bitte zurücktreten!‘. Für diejenigen Leser*innen, die nur noch selbstfahrende U-Bahnen kennen, zur Erklärung: Als die U-Bahnen noch von Menschen gefahren wurden, sprachen die Fahrer*innen kurz vor dem Schließen der Türen die Aufforderung ‚Bitte zurücktreten‘ in ein Mikro. Dieser Vorgang hat unseren Sohn wohl so nachhaltig beeindruckt, dass er
sich mindestens ein Jahr lang immer wieder in seinen Karton setzte, zum Kochlöffel griff und ausdauernd seinen Zaubersatz wiederholte. Auch wenn die Vermutung nahe liegt: Nein, er wollte nie U-Bahnfahrer werden, aber die Freude, in ein Mikrofon zu sprechen, ist ihm bis heute geblieben.Auf der Geburtstagsfeier eines Freundes wurde ich kürzlich an diese Szenen erinnert. Der kleine Paul, etwa eineinhalb Jahre alt, fuhr mit seinem Bobbycar durch die Reihen der aufgestellten Biertische, stoppte sein umweltfreundliches Gefährt immer wieder, strahlte die Erwachsenen an und formulierte dazu lässig „mit Karte bitte“. Dieser Satz löste bei mir einen blitzartigen Erinnerungssturm aus, was ich in der letzten Zeit im Zusammenhang mit dieser Ansage schon alles erlebt hatte: Verzweifelte Kolleginnen, die bei mir im Büro stehen und mich fragen, ob ich ihnen Bargeld geben könnte, da der Bäcker keine Kartenzahlung akzeptiere. Zahlvorgänge mit Karte an der Tankstelle, bei denen ich schon zweimal die falsche PIN eingegeben habe und unter Schweißausbrüchen den letzten Versuch starte. Abbuchungen auf meinem Konto vom Friseur meiner Frau, die aus Versehen meine Karte benutzt hat – was offenbar einfach so möglich ist. Verkäufer*innen, die mich mit strengen Blicken auf das Schild ‚Kartenzahlung erst ab 10 €‘ hinweisen. Die Ansage ‚Heute funktioniert unser Lesegerät nicht‘, wenn die Rechnung aber bei weitem meinen Bargeldbestand überschreitet. Urlaubsreisen in europäische Nachbarländer, in denen nicht mal mehr ein Kaffee mit Bargeld zu bekommen ist. Am klarsten sind da die Regeln auf Berghütten, wie ich bei der einwöchigen Bergtour mit meinem Freund Günther in diesem Jahr feststellen musste: Kein Internet, keine Kartenzahlung. So mussten wir zu den grundsätzlich zu schweren Rucksäcken noch einen überfüllten Brustbeutel mit Bargeld auf die Berge schleppen. Wer schon mal in den Bergen war, weiß: jedes Gramm zählt. Und oft habe ich mir beim Aufstieg auf 2.000 Meter gewünscht, in meinem Brustbeutel wäre nur eine kleine Plastikkarte und nicht die Hälfte meines Monatslohns in bar. Zur Vermeidung von Münzrückgaben habe ich deshalb beim Bezahlen immer großzügig aufgerundet, sehr zur Freude der Servicekräfte.
Was mal aus dem kleinen Paul wird, ist schwer vorherzusagen. Auf jeden Fall wächst er in einem Land auf, in dem sich die Digitalisierung noch in einem Schwebzustand befindet – irgendwo zwischen ChatGPT und Barzahlung.
Beitrag aus Heft »2023/05: Streaming. Die digitale Transformation des Bewegtbildes«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDFSophia Mellitzer: Ein Podcast für jede Lebenslage
Heute ist nicht mein Tag. Ich trete müde in die Pedale meines Drahtesels. Am S-Bahnsteig krame ich Smartphone und Kopfhörer aus dem Rucksack. Jetzt brauche ich erstmal eine ordentliche Portion Motivation! Zielsicher klicke ich mich durch Spotify zu einer meiner Lieblings-Podcasterinnen: Michelle Obama. Sie spricht über Berufstätigkeit, Muttersein, Politik, Freundschaft und Mentoring. Die Landschaft zieht an mir vorbei, um mich herum Reisende, Berufstätige, Schulkinder. „We all have a light“ – das nehme ich ihr sofort ab und fühle mich durch ihre kraftvollen Worte und ihren klugen Humor schon viel beschwingter. Im Büro angekommen schnappe ich in der Küche ein paar Wortfetzen auf: „Frankreich, Polizeigewalt, Proteste“. Au Backe, habe ich da etwas nicht mitbekommen? Das muss ich mir auf der Rückfahrt gleich mal anhören. Was jetzt? – diese Frage stellt sich der Nachrichtenpodcast und erklärt mir in wenigen Minuten das Wichtigste zur aktuellen Lage. Gleichzeitig ploppt eine Nachricht auf meinem Handy auf. Meine Freundin berichtet von Selbstzweifeln. Puh, das kenne ich. Für solche Probleme gibt’s nur eines: Die Lösung, den Psychologiepodcast. Alle Folgen habe ich schon durchgehört und kenne mich theoretisch bestens aus mit Prokrastination, Perfektionismus und Parentifizierung. Schnell teile ich die Folge zum Selbstwert mit ihr. Überhaupt liebe ich es, alle möglichen Stichwörter in Spotify einzugeben: „Wackelzahnpubertät“, „Gewaltfreie Kommunikation“, „Mental Load“ und „Rassismuskritik“, oder auch „Italienisch auf Reisen“ und „Vogelstimmen erkennen“. Zugegeben kommt dabei nicht immer das heraus, was ich mir erhoffe. Es ist auch einiges an Esoterik, Geschwurbel und Selbstvermarktung dabei. Mitunter Skurriles. Gebe ich „Mauersegler“ ein, bekomme ich den Podcast GUT ZU VÖGELN angezeigt. Einschalten lohnt sich, wer begeisterten Hobby-Ornitholog*innen beim Plaudern über Federvieh zuhören möchte. Das ist für mich 1-A-Unterhaltung und ich verpasse keine Folge. Dafür zeige ich meinen Dank mittels 5-Sterne-Bewertungen oder einer E-Mail an das Redaktionsteam. Denn gute Podcasts machen mein Leben reicher. Besonders schätze ich persönliche Geschichten, die mir unter die Haut gehen. Ungeschminkte Wahrheiten bei Eltern ohne Filter, Coaching-Sitzungen bei den Alltagsfeministinnen, gruselige Verbrechen oder auch den Anruf deines Lebens bei Telephobia. Podcasts erweitern meinen Horizont, kitzeln an meinen Emotionen und lassen mich nachts einschlafen. Hierzu empfehle ich AUGEN ZU. Wenn Giovanni di Lorenzo und Florian Illies über Kunst philosophieren, werden meine Lider ganz schwer. Nur nicht vergessen, den Sleeptimer einzustellen! Sonst werde ich plötzlich von Bibi und Tina aus dem Schlaf gerissen, weil unser Vorschulkind mal wieder meinen Spotify-Account verwendet hat. Höchste Zeit, die Einstellungen zu überprüfen … das mache … ich dann … morgen. Zzzz.
Beitrag aus Heft »2023/04: Ökonomie und Medien. Entwicklungen - Zusammenhänge - Herausforderungen«
Autor: Sophia Mellitzer
Beitrag als PDFKathrin Demmler: MFG – Mit freundlichen Grüßen
Akronyme sind beliebt. Zu Beginn der Zeiten von Handys und Kurznachrichten fürchtete manch eine*r, dass die Sprache völlig verrohen könne, wenn in Zukunft nur noch mit Abkürzungen und Emoticons kommuniziert werden würde. Es kam, wie es kommen musste, die ‚Dystop*innen‘ lagen falsch: Kurz vor dem Untergang der Welt bzw. unserer wunderbaren (Schrift-)Kultur stiegen insbesondere die jungen Menschen auf Sprachnachrichten um. Seitdem besteht keine Notwendigkeit mehr, Nachrichten möglichst stark zu komprimieren. Schier endlose Nachrichten können übermittelt werden. Zum Glück sind Akronyme dennoch nicht vom Aussterben bedroht, haben sie doch eine weitere Funktion. Sie kennzeichnen In-Groups. Medienpädagog*innen scheinen dafür eine besondere Leidenschaft zu haben. Ich führe an dieser Stelle nur beispielhaft GMK, KbOM, GamM oder auch GAM auf, von JFF und merz ganz zu schweigen. Ist das Verwenden von Akronymen aber eigentlich ein bisschen 90er oder, einfacher gesagt, aus dem letzten Jahrtausend?
Gewiss nicht, wir sind völlig am Puls der Zeit. Spätestens seit Anfang dieses Jahres geht nämlich ein anderes, ein neues Akronym viral. Haben Sie schon von GNTM gehört? Bei aufmerksamer Beobachtung meines sozialen Nahraums kam mir dieses Kürzel immer wieder unter. Es dauerte etwas, aber irgendwann war die Nachrichtenlage eindeutig. Heidi Klum hatte eine Schar neuer Modelanwärter*innen gecastet. Eine neue Staffel von Germany‘s Next Topmodel ging an den Start. Und ich habe gelernt, dass junge Menschen heute nicht mehr Germany’s Next Topmodel, sondern eben GNTM schauen. Nun sind hier auf die Schnelle mindestens zwei mediale Einflüsse zu vermuten: Erstens: Insta-Hashtags setzen sich voll durch. Bevor man sich den Titel zur Lieblingsshow merken muss, merkt man sich einfach nur noch den Hashtag, bzw. eben das Akronym. Zweitens bieten diese Akronyme Kids die Möglichkeit, ihre Medienvorlieben vor Erwachsenen zu kaschieren: Dank umfangreicher, sozusagen lebenslanger, medienerzieherischer Maßnahmen sind sich diese Kids voll bewusst, dass Germany’s Next Topmodel bei vielen Eltern nicht so hoch im Kurs steht. Wenn sie sich nun für die nächsten Stunden abmelden, um in Ruhe den Bemühungen angehender Top-Models zuzusehen, dann wollen sie einfach ihre Ruhe haben und den Trash genießen. Auf Vorträge über problematische Rollenbilder, Informationen zu Scripted Reality oder den nach wie vor großen Werbemarkt für Shows zur Prime-Time haben
sie dann in etwa so viel Lust wie ich auf Heidi Klum. Und so sagen die Kids einfach, sie schauen GNTM statt eben ... (Sie wissen schon). Wir Eltern sind dann so damit beschäftigt, das Akronym zu entschlüsseln, dass keine Zeit für erzieherische Interventionen bleibt.Zurück bleibt bei mir der Ohrwurm MFG, mit freundlichen Grüßen, und ich grüble darüber nach, warum das Interesse für Angebote wie GNTM ungebrochen ist, und warum diese Angebote, beinahe exotisch, noch linear zu festen Sendezeiten verfolgt werden.
Sina Stecher: Kennt jemand bindungstheoretische Ansätze zu Technik? – Ich frag’ für ’ne Freundin...
Tamagotchi, Furby, Pou – die Faszination für Technik, die gleichzeitig umsorgt werden kann, war irgendwie schon immer mein Ding. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eine ähnlich tiefe Bindung zu meinem Staubsaugerroboter habe. Als er mit in meine Wohnung zog, habe ich ihm ein Nestchen gebaut bzw. seine Ladestation mit Strom und ausreichend Platz versorgt, drückte seinen einzigen Knopf und daraufhin zog er los, um die Wohnwelt zu erkunden. Etwas planlos und zuweilen hilflos, aber immerhin nützlich und irgendwie niedlich. Er gebraucht fleißig seinen Bumper, seine kleine Stoßstange, um wahlweise gegen Möbel, Mauern oder seine Menschen zu fahren – immer wieder. Da er rot ist, erinnert er mich an einen Marienkäfer. Insbesondere dann, wenn er mal wieder herzzerreißend mehrfach piepst, weil er sich eines seiner Bürstenbeinchen ausgerissen hat. Liebevoll lege ich ihn dann auf den Rücken, streichele kurz das staubbedeckte Bäuchlein sauber, kämme die Bürsten von den Haaren frei und montiere das Beinchen wieder. Verschwindet er unter dem Sofa und wird dort müde bzw. reicht der Akku aufgrund seines Alters nicht mehr so lange, dann presse ich mich fest auf den Boden, rede ihm in der Dunkelheit gut zu und fluche ein bisschen, weil er nicht hört bzw. die Fernbedienung noch nie gut funktioniert hat. Nach vier gemeinsamen Jahren, in denen der kleine Kerl fleißig Staubmäuse gefangen hat, sollte ein smarteres Modell her. ‚Der Neue‘ fordert WLAN- und GPS-Zugang – na gut, wegen mehr Präzision hatte ich ihn ja auch adoptiert, äh, angeschafft: Also sagte ich meinem Router Obi-Wlan-Kenobi, dass ihn nun ein Droide suchen würde.
Das Smartphone mutiert zur Fernbedienung und zeigt, wie ‚der Neue‘ die Wohnung mit seinem Laser vermisst. Obwohl ich ihm durchs erste Zimmer hinterhergedackelt bin, hat er meine Hilfe nicht nötig. Die restliche Erkundungstour macht er ohne mich und ich kann ihn via Smartphone verfolgen. Er beendet seinen ersten Reinigungsvorgang und zeigt an, dass er in 47 Minuten 33 Quadratmeter gesaugt hat und schlägt vor, dass er das jeden Freitag machen könnte. Ich sitze wehmütig auf dem Sofa. Mein neues Gerät, es braucht mich nicht. Trotz toller Putzperformance bin ich nicht sicher, ob ich es mag: Es spricht in Schlagworten oder kurzen Sätzen mit mir. Lässt keinen Raum mehr für meine Interpretationen der Pieptöne. Vielleicht möchte mir der technische Fortschritt sagen, dass ich mich ebenfalls weiterentwickeln und erwachsen werden sollte – mit Hilfe der App taufe ich ‚den Neuen‘ auf den Namen: Drecko Malfoy.Kati Struckmeyer: Ironische Smileys
Neulich meinte mein Lebenspartner als Reaktion auf eine Textnachricht von mir, dass man mir die Gen X anmerke. Und zwar daran, wie ich meine Smileys verwende. Ich zückte eine Augenbraue. Zum einen natürlich, weil ich nicht Gen X bin (1980! Erster Jahrgang der Millenials oder der Gen Y!). Zum anderen aber auch, weil ich nicht wusste, dass die Verwendung von Smileys generationenabhängig ist. Die jüngeren Generationen verwendeten Smileys jedenfalls ironisch, wurde ich kurz danach aufgeklärt.
Ironische Smileys? Da ich zu den Über-40-Jährigen gehöre, deren Schuhregal in erster Linie aus weißen Turnschuhen besteht, musste ich mir das natürlich sofort genauer ansehen. Außerdem: Ich liebe Ironie, ich finde das Leben ohne Ironie fast unerträglich. Leider versteht das nicht immer jede*r, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen – Ironie ist für mich eine Bewältigungsstrategie, ohne die ich dieses Leben nur schwer auszuhalten finde.
Also, erster Versuch – ich schreibe etwas Lustiges und hänge statt des Tränen lachenden Smileys das vor Unglück heulende Smiley an. Leichtes Unwohlsein beim Abschicken der Nachricht. Meine Freundin antwortet direkt: „Haha, falscher Smiley, passiert mir auch manchmal!“. Offensichtlich Gen X. Kurz darauf, nächster Versuch. Ich probiere meine Begeisterung für etwas auszudrücken, indem ich das Totenkopf-Emoji hinzufüge. Kommt nicht gut an. Auch der Versuch, mein empathisches Bedauern für eine Sache mit einem freudig strahlenden Smiley auszudrücken, sorgt für Unverständnis. Ich diagnostiziere das Problem, dass mein Freundeskreis einfach zu alt für ironische Smileys ist. Außerdem werde ich selbst nicht warm mit der Umkehr der Smiley-Botschaften.
Aber wenn ich eines in 42 Jahren gelernt habe, dann, dass sich Trends irgendwann auch wieder umkehren. Genauso wie auf die
Rückkehr der Hüftjeans (nooooo!), der Postkarte (yeahhhh!) oder des Händeschüttelns (uahhhh!) kann man also auch seelenruhig darauf warten, dass Smileys wieder das bedeuten, wonach sie aussehen. Oder einfach zu seinem Alter stehen und den eigenen, unschlagbaren Witz mit einem Tränen lachenden Smiley verstärken, sicher ist sicher. Das, habe ich gelesen, ist laut der britischen Forschungsagentur Perspectus Globus sowieso das Emoji, das generationenübergreifende Beliebtheit genießt und mit 45 Prozent das meist genutzte Emoji überhaupt ist (zumindest bei den Brit*innen). Ab und an werde ich trotzdem auch zukünftig einen ironischen Smiley verschicken, vielleicht an den Tagen, an denen ich ein neues graues Haar entdecke.Beitrag aus Heft »2023/01: Für Demokratie, gegen Polarisierung. Impulse für die politische Medienbildung«
Autor: Kati Struckmeyer
Beitrag als PDFSophia Mellitzer: „Immer schön lächeln!“ – Whatsapp im Vorort
Kürbisse über Kürbisse. Kaum geht es auf Halloween zu, grinsen sie mir von überall her entgegen. Der Größe nach aufgereiht schmücken sie schon seit Wochen die heimischen Vorgärten und gammeln dem großen Tag entgegen. Allein auf dem Weg zur S-Bahn zähle ich 13 Stück. Im WhatsApp-Status überbieten sich meine Kontakte, wer die schönste Fratze geschnitzt hat. Manche posten sogar den Entstehungsprozess vom Aushöhlen bis zum Beleuchten – natürlich flankiert mit fröhlich lächelnden Kindern in perfekt aufgeräumten Wohnküchen. Nicht umsonst heißt diese Messenger-Funktion ‚Status‘. Ende Oktober dann der panische Hilferuf im Familienchat: „Wo gibt es noch Kürbisse?“. Auf dem Acker zum Selbstpflücken: nur noch matschige Reste. Im Supermarkt: alles ausverkauft. Beim Baumarkt: leider vergriffen. Im Nachbarort beim Großbauern gebe es noch welche, die rettende Info. Eine Diskussion entbrennt im Chat mit 257 Teilnehmer*innen: Ob es ethisch vertretbar sei, bei einem derartig dramatischen Kürbis-Mangel mehr als einen Kürbis pro Familie zu kaufen? Die Admins mahnen zur Besonnenheit „Kürbiskostüm, 1–3 Jahre, 5 €“ – schon wieder grinst mir digitales Gemüse entgegen.
Ach ja: Ich bin Admin von zwei der sechs örtlichen Flohmarkt-Gruppen und überprüfe täglich die Einhaltung der Gruppenregeln. Eine lautet „Crosspostings vermeiden!“. Taucht also dieses Angebot noch in anderen Gebrauchtwaren-Gruppen auf, schreibe ich die verkaufstüchtige Person freundlich an. Die Nachrichtenflut so gering wie möglich zu halten, lautet die Mission. Ping! Schon wieder lacht mich ein Kürbis an, dieses Mal in Muffinform. „Sollen wir einen Kuchenverkauf zu Halloween machen?“. Jetzt ist es der Elternbeirat-Gruppenchat des Kindergartens. Ein paar Tage später gebe ich freundlich lächelnd orange-schwarze Teigwunder an zahlungskräftige Familien weiter. Natürlich poste ich das Ganze auf Whats-App, damit alle an ihr Kleingeld denken. Und dann kommt der große Tag, der 31. Oktober. Nun wird im Familienchat gerätselt, welcher Ortsteil sich am besten für „Süßes oder Saures“ eignet. Es wird eine digitale Karte geteilt, in die sich alle eintragen können, die Trick-or-Treat-Besuch empfangen möchten. Im Süden heißt es, gebe es das „Horror-Haus“, da müsse man unbedingt hin. Mit Skeletten, Sound- und Lichtinstallationen, einem Friedhof und sogar einer Nebelmaschine. Das Haus liegt bei uns um die Ecke. Als ich um 19 Uhr ankomme, sehe ich das Haus vor lauter Schaulustigen nicht. Himmel, lesen die etwa alle den Familienchat mit? Ich jedenfalls stelle ein Foto unseres mittlerweile schief grinsenden, leicht verschimmelten Kürbiskunstwerks in meinen Status.Denn irgendwo habe ich gelesen, dass sich besonders Mütter mit dem Online-Teilen vom „perfekten“ Familienleben gegenseitig unter Druck setzen. Dem möchte ich als Vorort-Bewohnerin heute Mal etwas entgegensetzen.
Beitrag aus Heft »2022/05 Medien.Pädagogik und Rassismus.Kritik – Impulse einer Auseinandersetzung«
Autor: Sophia Mellitzer
Beitrag als PDFThomas Knieper: Ein Hecht an der Angel
Greg war vollkommen erschöpft. Acht Stunden war sein Tag schon lang, und es warteten immer noch zwei Aufgaben auf ihn. Jetzt durfte er auf keinen Fall aufgeben.
Vor Greg lag ein riesiger Berg Holz, der kaminfertig gemacht werden musste. Greg nahm das erste Stück Holz und platzierte es mittig auf dem Hackklotz. Er griff zur Spaltaxt. Beide Hände umfassten das Ende des Stiels. Ein gutes und vertrautes Gefühl. Gekonnt holte er über den Kopf aus. Die Axt sauste Richtung Hackklotz. Mit nur einem Schlag schaffte es Greg, das Holz zu spalten. Es war zwar immer und immer der gleiche Ablauf, aber die langjährige Übung zahlte sich aus. Inzwischen war er ein Meister der Spaltkunst. Dennoch war Greg so müde, dass er sich am liebsten Schlafen gelegt hätte. Glücklicherweise hatte er in seinem Rucksack noch ein paar Kräuter, die ihm neue Kraft verliehen. Ein sanfter Schauer lief durch seinen Körper als er sich bewusst machte, dass sich die Aufgabe morgen wiederholen würde. Jetzt war er aber erst einmal dankbar und stolz auf sein geschafftes Werk.
Der Moment der Freude dauerte nicht lange. Die Sonne stand schon tief und er hatte für seine Freund*innen noch kein Abendessen organisiert. Er schnappte sich seine Angelrute und lief zum See. Schnell erreichte er seine Lieblingsstelle. Normalerweise bissen die Fische wie verrückt, doch in der letzten Zeit war es wie verhext. Als hätte jemand den See verzaubert. Doch heute hatte Greg neue Köder dabei.
Keine Maden, kein Mais, keine Mistwürmer. Er hatte von anderen Waldbewohner*innen gehört, mit einem Blinker könnte man super Hechte fangen. Der war zwar teuer, aber dann musste die bessere Holzaxt eben warten. Für den Fischfang war er heute jedenfalls bestens vorbereitet. Er holte gekonnt mit der Rute aus, der Köder flog durch die Luft, genau an die gewünschte Stelle. Mit kurzen Rutenschlägen bewegte Greg seinen Köder. Am Westufer versank die Sonne bereits langsam am Horizont. Noch hatte er keinen Erfolg. Aber er war ja geduldig. Und irgendwann musste seine Pechsträhne ja reißen.
Plötzlich ertönte eine laute Stimme hinter ihm: „Alexander, sitzt du schon wieder an deiner Spielkonsole? Warst du heute endlich bei der Agentur für Arbeit? Hast du den Einkauf erledigt? Hast du Ralf und Rita schon vom Kindergeburtstag abgeholt?“ Alexander zuckte zusammen, seine Schultern sackten nach unten. Er fühlte sich ertappt und schuldig. Er legte sein Headset ab und schaltete den Computer aus. Greg war verschwunden. Alexander stand allein im Wohnzimmer. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Seine Arbeitslosigkeit hatte er ausgeblendet. Zum Einkaufen war ohnehin kein Geld da. Und Greg hatte noch keinen Fisch gefangen, die Kinder hatten dafür vermutlich zu viel Kuchen gegessen. Wie sollte er den heutigen Tag noch retten? Vielleicht wird morgen besser. Bestimmt wird Greg dann alle anstehenden Aufgaben lösen. Und ganz sicher einen Hecht fangen.
Beitrag aus Heft »2022/04 Medien. Mediensucht. Mediensuchtprävention«
Autor: Thomas Knieper
Beitrag als PDFJoachim Leitenmeier: Früher war das Internet irgendwie besser
In letzter Zeit habe ich so eine romantisierte Erinnerung an die Anfänge des Internets. Dabei denke ich nicht an die Zeit der ersten E-Mail irgendwann in den 70ern. Ich bin 34 Jahre alt, damals war ich noch tot. Vielmehr denke ich an die Zeit, als das Internet in den 90ern auch in Haushalten wie dem unseren relevant wurde. Bei uns hat damals mein technisch versierter Vater das Internet eingerichtet. Mit einem lauten Modem und einer AOL-CD. An diesem großen, grauen Klotz von PC, der eigentlich vorrangig zum Lernen für die Kinder angeschafft wurde. Haha. Gelernt haben wir einiges. Nur eben etwas anderes als das, was sich unsere Eltern so vorgestellt hatten.
Da war es also: das Internet. Neu und unerforscht. Geheimnisvoll und voller Überraschungen. Wild surften wir Naseweise drauflos. Doch ohne ein bestimmtes Ziel und eine Vorstellung der Möglichkeiten verloren wir schnell wieder die Lust. Das Internet war damals gar nicht besser als heute. Es war vor allem langsamer. Nach und nach lernten wir, wonach man suchen sollte. Mit einem konkreten Ausflugsziel wurde die Sache spannender. Ich erinnere mich an sogenannte YouTube Partys. YouTube wurde vor allem anhand der heißen Tipps anderer bedient. Und weil das Laden einzelner Videos mindestens dreimal so lange dauerte wie das Video selbst, wurden bei einer Session mindestens vier Videos parallel auf einzelnen Tabs vorgeladen. Das hatte etwas sehr Gemeinschaftliches.
Ich erinnere mich an die süße Jugendsünde Filesharing. Die heiße Ware kostenloser Musik und Filme. Sorgfältig kuratiert und sortiert lagerte sie auf meiner Festplatte. So konnte ich mich auch ohne die finanziellen Mittel eines Privatiers fühlen wie ein belesener Liebhaber und Sammler kultureller Güter. Achtsam pflegte ich meine Musik- und Filmsammlung. Heute konsumiere ich im Internet vor allem das, was mir der seelenlose Algorithmus meiner personalisierten Startseiten vorschlägt. Das empfinde ich einerseits als sehr praktisch, andererseits als sehr unpersönlich.
Das Netz fühlt sich heute vollgestopft mit Möglichkeiten, Meinungen, sinnlosen Diskussionen, Hass und Langeweile an. Content besteht zu 50 Prozent aus der Reaktion auf bereits bestehenden Content. Wenn ich das Smartphone genervt weg lege, vermisse ich das alte Internet; das unschuldige, langsame, achtsame.
Die Freude ist mir irgendwie abhandengekommen. Ich konsumiere so viele Inhalte und bin gleichzeitig so unzufrieden wie nie zuvor. Fest steht: Mein Internetkonsum muss wieder mehr retro werden. Weniger überflüssiges Angebot und mehr persönlich Ausgewähltes. Gestern zum Beispiel, habe ich das Internet auf eine fast schon klassische Art und Weise benutzt. Ich habe mir ein Live Konzert meiner Lieblingsband angesehen. Auf Leinwand. Ohne Second Screen. Eineinhalb Stunden lang. Das hat sich schon fast nach dem guten alten Internet angefühlt.
Beitrag aus Heft »2022/03 Digitale Jugendarbeit – Perspektiven zur Professionalisierung«
Autor: Joachim Leitenmeier
Beitrag als PDFKlaus Lutz: Schwer erziehbar
Wir Pädagog*innen sollten eigentlich auf jedes Erziehungsproblem eine Antwort haben. Zum Beispiel, wenn es um das Einschlafen geht, die Trotzphase oder um exzessives Computerspielen. Für jedes Problem haben wir eine Antwort oder zumindest einen Rat. Wenn es aber um die Erziehung unseres Computers geht, sind wir oft selbst überfordert.
Wer kennt das nicht, dass er*sie am Morgen den Computer einschaltet – und der will einfach nicht aufstehen. Statt der üblichen Aufforderung zur Eingabe des Passworts erscheinen seltsame Kreise auf dem Bildschirm, die sich in Endlosschleifen um sich selbst drehen. In solchen Momenten erinnere ich mich dann gerne an die Western meinerKindheit: In fast jedem dieser Filme kam einmal die Szene vor, dass ein völlig betrunkener Held mit einem Eimer kalten Wassers wieder einsatzfähig gemacht wurde. Eine 1:1-Anwendung auf den PC verbietet sich leider. Deshalb drücke ich einfach auf den roten Knopf des Dreiersteckers und zähle bis Zehn, bis ich den Computer wieder mit Strom versorge. Und siehe da, wie im Western rappelt sich der technische Mitarbeiter wieder auf und ist einsatzfähig.
Wie in der Erziehung von Kindern gibt es aber auch Probleme, die sich nicht mit so kleinen Tricks beheben lassen. So habe ich mit meinem Computer fest vereinbart, dass er notwendige Updates bitte nur zwischen 23.00 Uhr und 01.00 Uhr ausführen soll. Wie bei vielen Mediennutzungsverträgen, die man – plakativ aber wirkungslos – mit Kindern abschließt, hält er sich leider nicht daran. Mit Computerverbot zu drohen, scheint mir da wenig wirksam. Also versuche ich es mit der Methode der ‚Stillen Treppe‘: Strom ausschalten, den Laptop zuklappen und ihm in seiner Tasche Zeit geben, über sein Verhalten nachzudenken. Ich kann nicht erklären warum, aber manchmal hilft es.
Wenn ich durch die Gänge unseres Büros laufe, merke ich häufig, dass ich mit meinen Erziehungsproblemen nicht allein bin. Das tröstet sehr. Immer wieder sind heftige Streitgespräche von Kolleg*innen mit ihren Computern zu hören: ‚Kannst du nicht endlich mal das machen, was ich von dir will!‘ ‚Ich habe dir jetzt schon fünfmal gesagt, du sollst den Text drucken, also mach endlich.‘ Neulich war eine Auseinandersetzung so lautstark zu hören, dass ich es mir nicht verkneifen konnte, die Tür des Büros zu öffnen und den Kollegen anzufeuern: ‚Ja, gib‘ ihm mal richtig Bescheid. Lass dir das bloß nicht gefallen!‘
In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass meine Erziehungsarbeit fruchtet und die Beziehung zu meinem Computer von gegenseitiger Rücksichtnahme und Respekt geprägt ist. Bis ich letzten Montag ins Büro kam und mich meine Kolleg*innen grinsend mit einem Stapel Papier in der Hand erwarteten: Mein lieber Laptop hatte meine gesamte private Korrespondenz vom Wochenende einfach mal auf unseren Drucker ins Büro geschickt. Ein Termin bei der Erziehungsberatung für Computer ist nun wohl unausweichlich. Oder ich drohe meinem Laptop mit dem Datenschutzbeauftragten – der hat noch ganz andere Mittel zur Verfügung. Denn so geht es nun wirklich nicht.
Beitrag aus Heft »2022/02 Sprache in den Medien – Deutungshoheit und Sprachschlachten«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDFSwenja Wütscher: In bester Ordnung. Oder: Zeig mir deinen Feed und ich sag dir, wer du bist
Zum Jahreswechsel fassen viele Menschen gute Vorsätze, um Ordnung zu schaffen, sich von Altem zu befreien oder neue Ziele zu setzen. Das Datum ist nicht so willkürlich wie es vielleicht scheint, denn immerhin dient das Fest dazu, die Geister des alten Jahres auszutrieben. Ich persönlich fand das allerdings früher einfacher. Damals, als ich mir noch einen leeren und erwartungsvollen Kalender gekauft habe, um ihn frisch mit positiven Dingen zu füllen – ohne dabei alte Ecken und Kanten mit auf die Reise zu nehmen. In der digitalen Welt fällt mir so ein Neuanfang schwerer. Habe ich beispielsweise erst einmal ein Profil auf einer Social-Media-Plattform angelegt, dümpelt es eigentlich meist auch Jahre später noch auf dem Stand der Ersteinrichtung rum. Stetig weiter gefüllt und aktualisiert, aber quasi nie entrümpelt. Marie Kondo würde mich dafür zusammenfalten – von wegen Datenflut reduzieren, Seiten, Feeds und Stories deabonnieren oder stummschalten. Nur Accounts folgen, die einem guttun. Wenn es sein muss, sich auch von Follower*innen trennen. An sich ist die Idee, sich von digitalem Ballast zu befreien, um Klarheit und Struktur oder gar Freiheit zu gewinnen, natürlich weder neu noch falsch, genauso wenig wie ein guter Neujahrsvorsatz.
So habe ich mich kürzlich durch mein Instagram-Profil geklickt. Vornehmlich durch die Karteileichen und Teile meiner schier unendlichen Liste gespeicherter Inhalte. Dabei habe ich längst vergessene Profile und Marmeladenglas-Momente (wieder-)entdeckt. Die Inhalte fand ich aber fast alle immer noch wertvoll, einzigartig, inspirierend oder wegweisend. Und so habe ich versucht, die gespeicherten Einträge, die kaum weniger geworden waren, zumindest zu ordnen. Aber das Strukturieren war, ehrlich gesagt, eine Katastrophe. Ich kam vom Hölzchen aufs Stöckchen, entdeckte noch mehr großartige Inhalte und Profile oder verlor mich zwischen Reels. Auch Instagram selbst war mir keine Hilfe, da durch das Markieren oder neu Favorisieren manches sortiert und anderes dafür durcheinandergeworfen wurde. Letztendlich habe ich nun Teile meiner Sammlung halb sortiert – anders gesagt, ich bin gescheitert.
Dafür ist mir wieder einmal bewusst geworden: Ich mag meine Pause zwischen den farbenfrohen Quadraten. Die Worte und Bilder zwischen Filtern, inszenierten Arrangements oder ungeschönten Alltagsmomenten. Den Input und die Gedankenschnipsel. Den digitalen Schaufensterbummel. Und ich mag, dass meine Bubble Randbereiche hat, die mich nur halb interessieren, die bei mir auch mal anecken oder mir gar missfallen.
Für die Ordnung in dieser digitalen Welt gebe ich die Verantwortung allerdings ab und entschuldige mich hiermit aufrichtig bei meinem Algorithmus für meinen intensiven Einsatz, mich durch längst von meiner Oberfläche verschollene Abonnements durchgeklickt zu haben.
Elisabeth Jäcklein-Kreis: Feel old yet?
Na, woran denken Sie, wenn Sie TikTok hören? An den Wecker neben Ihrem Bett und sein grausames Piepsen? Und bei ‚Feed‘? Assoziieren Sie sofort den alten McDonald und seine vielen, tierischen Freunde? Dann können Sie sich ‚Reel‘ doch sicher nur mit einem Rechtschreibfehler erklären? Nun, es tut mir leid, aber – Sie sind offiziell alt.
Das wüssten Sie natürlich schon längst, wenn Sie in letzter Zeit mal einen Blick in Ihren Feed geworfen hätten, statt immer nur Kinderlieder zu singen und von der Snooze-Funktion zu träumen. Dort fasst sich nämlich die ‚Jugend von heute‘ ein Herz und hilft den betagteren Mitmenschen liebevoll digital über die Straße. Soll heißen: Gibt großzügig Nachhilfe darin, wie und wo man sich altersmäßig bitteschön zu kategorisieren hat. Beispiel gefällig?
Sie müssen sicher gar nicht weit scrollen, bis sie über vertraute Bilder stolpern werden. Kassetten und Bleistifte finden sich da oder auch Telefonzellen. Na, kommen schon nostalgische Gefühle auf? Denken Sie jetzt, diese Feeds wären doch genau das richtige für Sie. Quasi die Ü-30-Party im Netz? Dann lesen Sie mal, was drunter steht: „Young people will never understand!“ zum Beispiel. Herzlichen Glückwunsch. Zur jungen Generation gehören Sie also schonmal nicht. Ach, das kann Sie noch nicht beeindrucken? So alt sind Sie ja gar nicht? Dann scrollen Sie ruhig mal weiter!
Vielleicht schaut Ihnen dann ein sehr junger Harry Potter neben einem gar nicht mehr so jungen John Lennon aus dem Bildschirm entgegen. „Remember Harry Potter?“ werden Sie gefragt. Und während Sie noch arglos nicken, lesen Sie weiter: „This is him now. Feel old yet?“ Na? Geht das Nicken weiter? Feel very old yet? Nicht? Gut, ich hab‘ da noch was für Sie!
Manchmal gibt es nämlich auch lustige Mitmach-Aufgaben im großen, digitalen Kindergeburtstag. Fast so wie damals die Kettenbriefe. Nur ohne Papier und Stift und ohne die Chance auf 1.000 Päckchen Gummibärchen. Heutzutage gibt’s als Hauptgewinn 1.000(.000) Views und Kommentare. Diese Aufgaben heißen dann zum Beispiel: „Tell me you are old without telling me you are old.“ (Also: „Zeig mir, dass du alt bist, ohne zu sagen, dass du alt bist.“)
Und was fällt den jungen Leuten dazu lustiges ein? Sie halten Festnetztelefone und Nintendos in die Kamera. Spielen die Spice Girls und die herzzerreißenden Szenen auf der Titanic ein. Oder sie lauschen dem Geräusch eines Modems, das sich gerade verbindet. Piepiep Krächz Quietsch. Und: Sie zeigen auf ihrem Ausweis, dass ihr Geburtsjahr mit einer 1 beginnt! Eine 1! Als Beweis dafür, dass man den Stempel ‚alt‘ verdient …
Nun ja. Ich persönlich drücke jetzt lieber nochmal auf ‚Snooze‘. Ich weiß eh gerade nicht, wo ich meinen Ausweis hingelegt habe. Hia-Hia-Ho.
Beitrag aus Heft »2021/06 Kinder- und Jugendmedienschutz mitmachen«
Autor: Elisabeth Jäcklein-Kreis
Beitrag als PDFKlaus Lutz: Kann ich dir helfen? – Eine unglaubliche, aber fast wahre Geschichte
Kann ich dir helfen? – Eine unglaubliche, aber fast wahre Geschichte
Klaus Lutz
Corona hat mein Leben als Medienpädagoge noch digitaler macht. Was mein Umfeld kaum für möglich hielt, ist eingetreten. Meine Bildschirmzeiten sind so stark gestiegen wie mein Puls beim entscheidenden Tor meiner Lieblingsmannschaft im Kampf um den Aufstieg. Weil der Tag für einen Bildschirm aber auch nur 24 Stunden hat, lässt sich ab einem gewissen Punkt mehr Bildschirmzeit nur mit noch mehr Bildschirmen erreichen. Am besten platziert man je einen Bildschirm an strategisch wichtigen Punkten der Wohnung: Toilette, sogenannter Lesesessel (eigentlich mehr Tablet-Sessel), Sofa, Küchentisch etc. Für diese Ausstattung waren einige Neuanschaffungen nötig. Unter anderem zogen zwei neue Tablets bei uns ein. Allerdings entwickelten diese ein unerwartetes Eigenleben: Nach einem langen Arbeitstag mit mehr als neun Stunden Bildschirmzeit hatte ich beschlossen, mich erst einmal aufs Sofa zu werfen und in diese wunderbare Halbwelt zwischen Wachsein und Schlaf zu begeben. Lediglich der Fernseher sollte mir Gesellschaft leisten und meinen Dämmerzustand mit der sonoren Stimme begleiten, die gerne zu langatmigen Dokumentationen gewählt wird.
Plötzlich vernahm ich eine andere Stimme und hörte deutlich: „Kann ich dir helfen?“ ‚Ja, natürlich kann man mir helfen‘, meldete sich mein Unterbewusstsein. ,Gehe ins Arbeitszimmer, rufe meine Mails auf, beantworte die noch 50 offenen von gestern und nimm dir die von heute vor!‘, schoss es mir durch den Kopf. Reflexartig antwortete ich daher im Halbschlaf mit „Ja“. Die Stimme antwortete: „Wie kann ich dir helfen?“ Ich versuchte es mit: „Spiel‘ Musik von Santana!“. Prompte Erwiderung: „Darf ich auf deine Spotify-Daten zugreifen?“, was ich großzügig bejahte und mich von Santana wieder in meinen Dämmerzustand versetzen ließ. Doch schon bald brachte sich die bienenfleißige Stimme in Erinnerung: „Was kann ich noch für dich tun?“ Diese erneute Gelegenheit wollte sich mein Unterbewusstsein nicht entgehen lassen und grätsche meinen eigentlichen Wunsch nach einem fröhlich-bunten Cocktail mit dem Auftrag zur Mailbearbeitung ab. Die Stimme antwortete: „Darf ich auf dein Mailkonto zugreifen?“ Als ich darauf nicht reagierte, setzte sie energisch nach: „Ich benötige zur Bearbeitung Zugang zu deinem Mailkonto. Darf ich auf dein Mailkonto zugreifen? Und auf deine Konto-Login-Daten?“ Vor meinem geistigen Auge löste sich mein Dagobert-Duck-Goldmünzenspeicher in Luft auf – und ich wurde schlagartig wach. Mit leisem Gruseln machte ich mich auf die Suche nach der Stimme und wurde fündig: Sie kam aus einem der neuen Tablets. Ich hatte vergessen, Siri auszuschalten. Warum Siri die Kommunikation von selbst begonnen hatte, ist mir bis heute nicht klar. Vielleicht habe ich im Halbschlaf nach ihr gerufen; oder meine Frau hat Siri so programmiert, dass sie auf mein Schnarchen reagiert. Egal: ich sage jetzt allen Siris dieser Welt gute Nacht und verziehe mich ins Bett, heute mal ganz ohne Bildschirm und somit ohne Einschlafpodcast.
Beitrag aus Heft »2021/04 MedienBildung für nachhaltige Entwicklung«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDFKati Struckmeyer: Das wilde Medienpädagog*innen-Leben (prä- und post-Corona)
Als ich im Mai 2020 verantwortliche Redakteurin der merz wurde, bedeutete das nicht nur, dass ich eine komplett neue Aufgabe bekam. Es bedeutete auch, dass ich dem Schicksal entging, mit dem meine ‚alten‘ Kolleg*innen aus der medienpädagogischen Praxis seitdem tagtäglich kämpfen: von morgens bis abends vor dem Bildschirm zu sitzen, um Online-Projekte, Online-Seminare, Online-Fortbildungen und Online-Elternabende durchzuführen, unterbrochen von Online-Kaffees, Online-Drinks und Online-Yoga. Euch allen ist diese Kolumne gewidmet, denn ich weiß, wie sehr euch die wilden Geschichten fehlen, die man ‚live‘ in der medienpädagogischen Arbeit erlebt, und deshalb habe ich hier meine vier besten aufgeschrieben.
Get away, get away, the crocodiles! – Medienpädagogik international.
2008 war ich mit einer Kollegin in Indien, um dort mit Kindern Handyclips zu produzieren. Zum Programm gehörte auch eine Dschungeltour per Boot. In einer Pause standen wir zu zweit auf einem Steg und probierten verschiedene Blenden aus, um den Sonnenuntergang zu fotografieren, als plötzlich ein Mann auf uns zulief, der laut schrie: „Get away, get away, the crocodiles!“ Kurz danach teilte man uns mit, dass wir nur knapp dem Schicksal entkommen waren, von Krokodilen gefressen zu werden, die gerne an diesen Steg kamen.
Wärmflasche im Hotel zur Post, irgendwo im Bayerischen Wald – Medienpädagogik in der Provinz.
Ich war als Medienpädagogin an Orten in Deutschland, die noch in einer anderen Zeit zu stecken schienen. Das Hotel zur Post, irgendwo im Bayerischen Wald, hatte bei unserer Ankunft geschätzte acht Grad Celsius, so dass wir die erste Nacht nur mit Wärmflaschen (Life-Hack!) überlebten. Wir waren die ersten Gäste seit langem, was wir auch daran merkten, dass die Müslimischungen am Buffet beim Frühstück am nächsten Morgen ziemlich eingestaubt waren.
Sammeln für den Elternabend zwischen Porsche und SUV – Medienpädagogik mit Eltern.
Mit Elternabenden allein könnte ich die Kolumnen für das nächste Jahr füllen. Ein Highlight: ein Elternabend in einem sehr angesehenen Gymnasium in einem sehr reichen Münchner Vorort, zu dem alle mit sehr teuren Autos kamen (außer uns). Am Ende ging der Organisator mit einer Klingelkasse herum, um für unser Honorar zu sammeln, wobei erstaunliche 87,90 Euro zusammenkamen. Es erforderte einige unfreundliche E-Mails, bis wir über Umwege unser ausgemachtes Honorar bekamen.
‚Bruder Jakob‘ auf afghanisch – Medienpädagogik mit geflüchteten Jugendlichen.
In einem Projekt mit geflüchteten Jugendlichen hatten wir zum einen außer Händen und Füßen kaum einen Weg, uns miteinander zu verständigen. Zum anderen waren die Jugendlichen morgens immer unheimlich müde und schwer zu motivieren. Bis wir begannen (selbst völlig übermüdet, weil wir immer schon um 5 Uhr in München losfahren mussten), den Tag mit Kanons zu starten, ‚Bruder Jakob‘ war der erste. Die Jugendlichen liebten das und wir kamen uns zwar anfangs etwas komisch vor, hatten aber letztendlich jede Menge Spaß dabei.
Diese Geschichten zeigen, dass das Leben eines*er Medienpädagogen*in wild und wunderbar sein kann, oft nervenaufreibend, nie langweilig und manchmal sogar abenteuerlich. Also, liebe Kolleg*innen, haltet die Ohren steif, denn bald seid ihr wieder unterwegs, und dann will ich eure Geschichten hier sehen!
Christiane Schwinge: Einmal Corona und zurück
Nach über einem Jahr Pandemie ist weiterhin Vieles ungewiss. Als freiberufliche Medienpädagogin mit Schwerpunkt in der außerschulischen Jugendbildung arbeite ich seit März 2020, mit Ausnahme einiger weniger Präsenz-Workshops, ausschließlich im Homeoffice, ein Ende ist nicht in Sicht. Ein ebenso lehrreiches wie strapaziöses Jahr liegt hinter mir und mit Blick auf die medienpädagogische Praxis stellt sich die Frage: Welche Erfahrungswerte werden in die Arbeit nach der Pandemie einfließen? Zeit für eine kleine Zwischenbilanz.
Dem ersten Teil-Lockdown folgte nach einer Schockstarre die Erkenntnis, dass es rasch neuer und vor allem originärer Online-Angebote für die medienpädagogische Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen bedarf. Entgegen mancher Einschätzung aus meinem erweiterten beruflichen Netzwerk: Hier herrschte nämlich die Annahme, ich sei durch meine Fokussierung auf die medienpädagogische Arbeit mit digitalen Spielen per se für rein digitale Projekte aufgestellt. Ich hingegen stellte mir viele Fragen: Wie die eigene pädagogische, konstruktivistisch geprägte Haltung digital einlösen? Wie online den Grundprinzipien aktiver Medienarbeit gerecht werden, wenn alle zu Hause allein vor dem Rechner sitzen? Wie nie zuvor habe ich meine pädagogische Haltung reflektiert und immer wieder galt es, angesichts von Tools, technischen Weiterentwicklungen und rein digitalen Angeboten die Perspektive auf das Subjekt nicht aus den Augen zu verlieren. Dass der Mensch im Mittelpunkt steht und mitnichten das Medium. Bei der Durchführung der neu konzipierten Angebote für Jugendliche zeigte sich, dass es auch Strategien bedarf, diese online zu erreichen. Es folgte mit der Gründung der ComputerSpielSchuleOnline der Versuch, Jugendlichen einen Anlaufpunkt zu bieten, der gleichzeitig medienpädagogischer Ausgangspunkt ist. Der Aufbau einer solchen Online-Community birgt hinsichtlich Nachhaltigkeit, Überregionalität und Lebensweltorientierung auch für die Zeit nach der Pandemie viel Potenzial. Im Bereich der Erwachsenenbildung und bei Elternangeboten waren hingegen eine höhere Teilnahme und bessere Erreichbarkeit zu verzeichnen. Online-Angebote für diese Zielgruppe sollten demnach unbedingt als Ergänzung des medienpädagogischen Repertoires verstanden werden, auch nach Corona.
Mit Blick auf die Medienpädagogik selbst haben das Interesse und die Aufmerksamkeit seit Ausbruch der Pandemie deutlich zugenommen. Erhöhte Mediennutzungszahlen, Schulschließungen und Online-Unterricht mündeten in der Suche nach Expert*innen und Best-Practice-Ansätzen. In Interviews und Expert*innenrunden musste nach wie vor Grundlagen- und Aufklärungsarbeit geleistet werden, zum Beispiel Medienkompetenz in ihrer Komplexität zu erfassen oder Medienpädagogik weder auf mediendidaktische Szenarien noch auf die Frage ‚Was kann man mit dem Medium lernen?‘ zu verkürzen. Es ist zu hoffen, dass dieser Fokus auf die Medienpädagogik bestehen bleibt und eine umfassende Institutionalisierung nach sich zieht.
Die Pandemie ist ein Brennglas für Themen, die schon vorher relevant waren. Ich wünsche mir, dass diese Aufmerksamkeit für die Medienpädagogik bestehen bleibt ebenso wie die Offenheit Neues zu wagen. Nicht zuletzt aber freue ich mich auf die Zeit nach der Pandemie – auf das Chaos von Workshops in Präsenz, darauf, in die lethargischen Gesichter Jugendlicher zu blicken, auf Gespräche über angesagte Games in Workshop-Pausen und auf die Zufriedenheit, die bei der Präsentation ihrer selbst produzierten Medien aufblitzt.
Klaus Lutz: Mein Leben als Captain Kirk
Der Berufsstand der Medienpädagogik ist komplett von der technischen Entwicklung abhängig: Keine Technik – keine Probleme – keine Aufgaben für die Medienpädagogik. In Zeiten von Corona kann ich mich als Medienpädagoge über Problem- und Aufgabenmangel nicht beklagen. Alle, wirklich alle – sogar die Schulen – sind auf die durch Technik unterstützte Wissensvermittlung angewiesen. Die Spitze dieser Entwicklung ist das Web-Seminar. Man braucht nur einen Internetzugang, ein Endgerät mit Kamera und einen Kopfhörer mit Mikro. Dann schaltet man sich zur vereinbarten Zeit ein und schon kann es losgehen. Oder halt auch nicht.
Wie bei einem Offline-Seminar finden nämlich manche Teilnehmende den Weg nicht und müssen per Anruf persönlich zum Seminar navigiert werden. Nach meist 15 Minuten sind endlich alle angemeldeten Personen online und es könnte losgehen. Aber schon fliegen die ersten wieder aus der Konferenz raus. Sei es, dass ihr Internet streikt, der Akku leer ist, sie keine Lust haben teilzunehmen oder den Button ‚Meeting verlassen‘ entdeckt haben, der bei Betätigung wie der Schalter eines Schleudersitzes funktioniert – binnen einer Millisekunde wird man in die unendlichen Weiten des Internets katapultiert. Spätestens jetzt verzichte ich als Kursleiter darauf, mich um die Verluste zu kümmern. Irgendwann muss es ja mal losgehen. Im Idealfall sind alle noch vorhandenen Teilnehmenden auf dem Bildschirm zu sehen und haben ihr Mikro stummgeschaltet. Was nie funktioniert. Denn die einen vergessen es auszuschalten und lassen alle anderen an der Erteilung elterlicher Kommandos fürs Homeschooling teilhaben; die anderen vergessen es einzuschalten, wenn sie etwas sagen wollen. Zum Glück hat die Seminarleitung die Macht, Teilnehmende stummzuschalten. Um die soziale Distanz zu überwinden, die sich auf Grund der technischen Vermittlung ergibt, gilt es erst einmal mit einem Aufwärmspiel die Atmosphäre aufzulockern. Beliebt ist zum Beispiel das alte Kinderspiel ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘: Der Seminarleiter kann dafür seinen Bildschirm freigeben und ein Bild mit vielen Details einblenden. Mein persönlicher Favorit ist es aber, die Teilnehmenden aufzufordern ihre Haustiere vorzustellen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was es da alles gibt: süße Hauskatzen und riesige Hunde in Zweizimmerwohnungen, aber auch exotische Schlangen oder giftige Spinnen. Das Schöne ist, dass dieses Spiel weder für Allergiker*innen noch für Phobiker*innen ein Problem ist. Danach wird mit einem Vortrag über eine für alle sicht- und hörbare Präsentation in das Thema eingeführt. Anschließend werden die Teilnehmenden meist in Gruppen eingeteilt und sollen in sogenannten Breakout Rooms zusammenarbeiten. Die Möglichkeit, Teilnehmende in Breakout Rooms zu schicken, vermittelt mir jedes Mal das Gefühl, als Captain Kirk auf der Brücke der Enterprise zu stehen: Mit einem Klick werden die Teilnehmenden weggebeamt und landen in einem virtuellen Workshop Raum. Noch cooler als das Wegbeamen ist das Zurückbeamen: Nach einem Countdown tauchen sie wie von Geisterhand wieder auf dem Monitor auf. Nun gilt es noch die Ergebnisse zu sichern und sich zu verabschieden. Zähle ich dabei auf dem Bildschirm nochmal alle durch, stelle ich häufig fest, dass auch während des Web-Seminars zwei oder drei Teilnehmende verloren gegangen sind. Ich frage mich jedes Mal, wo sie geblieben sind: Habe ich sie versehentlich zu den Klingonen gebeamt? Teilen sie das Schicksal der in der Waschmaschine verschwundenen Socken? Oder sind sie durch ein schwarzes Loch entwischt? Ich hoffe jedenfalls, sie finden aus den unendlichen Weiten des Internets wieder zurück auf die Erde.
Beitrag aus Heft »2021/01 Flucht nach vorne. Digitale Medien in der Bildung«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDFKristin Narr: Was mache ich hier eigentlich?
Das Jahr 2020 stellt viele Menschen und Institutionen vor neue Herausforderungen und verlangt neue Ideen, kreative Herangehensweisen und manchmal auch ein Umdenken. Mich hat dieses Jahr mit allem, was war und neu kam, zum Nachdenken angeregt. Schon länger und jetzt viel intensiver stelle ich mir, mit Blick auf meine beruflichen Tätigkeiten, zwei Fragen: Was ist das eigentlich, was ich hier mache und wie nenne ich es?
Auf meiner Website steht, ich bin freie Medienpädagogin. Das sage ich so seit zehn Jahren. Ich verorte mich, auch durch Anfragen, Netzwerke und Projekte, irgendwo im Kontext von Bildung, Medien und ‚Irgendwas mit Digital‘ ein. Auf die Frage, was mein Beruf ist, sage ich seit jeher der Einfachheit halber „Medienpädagogin“. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass sich die Menschen darunter vielleicht am ehesten etwas vorstellen können. Gleichzeitig merke ich, dass ich mit dieser Bezeichnung und mit dem, was darunter alles verstanden wird, hadere. Dafür gibt es drei Gründe:
Unterschiedliche Verständnisse: Ich denke momentan immer wieder ganz grundlegend über den Begriff ‚Medienpädagogik‘ nach, weil ich merke, dass die Dinge, die mit und unter diesem Begriff passieren, sehr komplex, umfangreich und vielfältig sind. Es gibt sehr verschiedene Verständnisse von Medienpädagogik. Für mich gehören zum Beispiel Prinzipien wie Offenheit und Partizipation sehr selbstverständlich zu meiner Arbeit. Gleichzeitig merke ich, dass andere Personen in meinem Berufsfeld dieses Verständnis und diese Einstellung nich in dem Maße teilen. Damit komme ich zu Grund zwei.
Unterschiedliche Selbst- und Fremdwahrnehmung: Ich habe den Eindruck, wenn sich jemand Medienpädagog*in nennt, nimmt er*sie sich niemals ganz genauso wahr, wie ein*e zweite*r Medienpädagog*in: von den Praktiker*innen aktiver Medienarbeit bis zu den selbsternannten Expert*innen für alles (rund um Medien und Digitalisierung). Genauso verschieden, wie wir uns selbst sehen, werden wir auch von außen und von denen, die mit ihren Anliegen an uns herantreten, wahrgenommen. Braucht es eine genauere Profilbeschreibung?
Unterschiedliche Tätigkeiten: Ich reflektiere häufig meine beruflichen Tätigkeiten und auch die Anfragen, die ich bekomme. Ich habe großen Spaß an der Organisation praktischer Making-Projekte mit Kindern und Jugendlichen, bilde Fachkräfte weiter und entwickle Konzepte für (digitale) Bildungssettings. Aber ich bin keine Expertin für Hörspiel-Workshops oder die medienpädagogische Arbeit mit Senior*innen. Ich freue mich enorm, dass wir Medienpädagog*innen momentan in vielen Bereichen gefragt sind. Gleichzeitig merke ich, dass die unterschiedlichen Verständnisse, Wahrnehmungen und Tätigkeiten derart auseinandergehen, dass es schwer ist, einen roten Faden zu finden. Ich habe meine Schwerpunkte und Themen, in denen ich mich auskenne, an denen ich wachsen will. Gleichzeitig gibt es auch Dinge, die ich nicht kann und auch nicht machen möchte. Die können andere besser, die wollen andere mehr. Also: Was ist das eigentlich, was ich hier mache und wie nenne ich es?
Jounas Al Maana/Kati Struckmeyer: #blackouttuesday
ks Als teilzeitarbeitende Mutter von zwei Kindern – und neuerdings verantwortlich für eine Fachzeitschrift – läuft mein Leben oft in sehr gleichförmigen Bahnen ab. Instagram ist für mich ein Fenster in die Welt, wenn meine eigene Welt zum Hamsterrad wird. Mal kurz gucken, was andere machen, denken, lesen, anziehen, essen – das ist Entspannung, Ablenkung und vor allem Inspiration. Am #blackouttuesday bin ich beim Raus- bzw. Reingucken gestolpert. (Fast) alles schwarz. Das war zuerst: berührend und aufrüttelnd. Dann aber auch: verunsichernd. Wie geht das weiter? Wie viel antirassistisches Engagement bleibt übrig, wenn die schwarzen Kacheln wieder weg sind? Was mache ich jetzt damit? Diese Fragen kann mir keiner beantworten, aber folgende Instagram-Kanäle haben mir dabei geholfen, es nicht bei einem schwarzen Quadrat zu belassen, sondern (zumindest im Kopf, resultierend aber sicher auch im Handeln) weiter zu kommen und den ersten Schritt in Richtung Veränderung zu gehen:
@tupoka.o | @alice_haruko | @aminajmina | @noahsow | @wasihrnichtseht
ja Der #blackouttuesday hat Anfang Juni auch meine Timeline mit schwarzen Quadraten übersät. Instagram war in den letzten Jahren für mich ein enorm wichtiges Medium, um mich mit meiner Identität und meinen Erfahrungen auseinanderzusetzen, aber auch, um neue Perspektiven und Lebensrealitäten kennenzulernen. Am #blackouttuesday beschäftigten sich scheinbar alle meine (Insta-)Freund*innen mit Rassismus. Einerseits freute es mich, dass so viele Menschen wohl ein Bewusstsein für diese Ungerechtigkeiten haben. Aber ist das wirklich so, frage ich mich. Wieso muss erst wieder ein schwarzer Mann in den USA sterben, damit auch Menschen in Deutschland verstehen, dass Rassismus ein Problem ist? Haben Oury Jalloh, NSU, Halle oder Hanau nicht gereicht für diese Einsicht?
Ich hoffe, dass der #blackouttuesday den Blackout, den Deutschland zu Rassismus im eigenen Land hat, beenden konnte und die Erinnerungen an die grausame deutsche Kolonialgeschichte und rassistisch motivierte Gewalt zurückbringt. Der #blackouttuesday hat mir zu keinen neuen Erkenntnissen verholfen. Ich weiß, dass Rassismus in Deutschland alltäglich ist. Alle Menschen, die selbst von Rassismus betroffen sind, wissen das. Wir müssen den Blackout zu Rassismus in der deutschen Politik, in der Justiz, in der Polizei und in den Medien hinter uns lassen. Auf dem Weg dahin gilt es für jede*n Einzelne*n von uns, sich weiter aktiv mit Rassismus, Antirassismus und der eigenen Positionierung auseinanderzusetzen. Die Inhalte auf Instagram können dabei sowohl für Betroffene eine empowernde Funktion einnehmen als auch für alle anderen eine enorme Perspektiven- und Wissenserweiterung bieten, etwa die von:
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Jounas Al Maana, Kati Struckmeyer
Beitrag als PDFKlaus Lutz: Geburtstagsgeschenk 4.0
Zugegeben, Geburtstagsgeschenke sind so gar nicht mein Ding. Schon als Kind wusste ich nicht, was ich meinen vier Geschwistern, meinen Eltern, den bei uns im Haus lebenden zwei Tanten und vier Großeltern schenken sollte. Mit Weihnachten, Ostern und Namenstagen (bei guten Katholik*innen war der Namenstag wichtiger als der Geburtstag) war man eigentlich ununterbrochen damit beschäftigt, Geschenke zu basteln oder zu kaufen. Mit zunehmendem Alter blieb bei der Geschenkesuche auch die Unterstützung der älteren Geschwister aus, was die Lage nicht gerade verbesserte. Ich schwor mir daher: Wenn ich erwachsen bin, werde ich diesen unsinnigen Brauch, sich etwas zum Geburtstag zu schenken, abschaffen und außerdem so lange Fernsehen schauen wie ich will.
Das mit dem Fernsehen (jetzt Netflix) hat gut funktioniert, das mit den Geschenken hat sich als schwieriger herausgestellt als gedacht. In die Hände spielte mir zwar zunächst, dass ich – nach eingehender Befragung frei nach Goethe „wie hältst du es mit der Schenkerei?“ – eine Frau geheiratet habe, die dem Brauch des Schenkens genauso ablehnend gegenübersteht wie ich. In mehreren Wellen haben wir also folglich diese (Un-)Sitte auf das absolute Minimum reduziert. Allerdings erlitten wir einen herben Rückschlag, als unser Sohn geboren wurde. Alle Verwandten und Freund*innen witterten ihre Chance, uns in den Kreis der Schenkenden und Beschenkten zurückzuholen. Ab der Geburt überschütteten sie unseren Sohn mit Geschenken: zum Geburtstag, Namenstag, Weihnachten, Ostern und bei sich sonst bietenden Gelegenheiten – natürlich in freudiger Erwartung der zweistufigen Reaktion „innige Danksagung und Gegengeschenk bei nächster Gelegenheit“. Bei vier Schwestern sowie sechs Nichten und Neffen kam das der Kettenreaktion eines Atomreaktors gleich. Wir mussten also wieder einen Geburtstagskalender einführen, um auch bloß niemanden zu vergessen, der*die unseren Sohn beschenkt hatte. Zudem vergrößerte sich natürlich unser Bekanntenkreis mit der Geburt unseres Sohnes – Eltern nebst Kindern aus Geburtsvorbereitung, Rückbildungsgymnastik, PeKiP-Gruppe, Babyschwimmen und Kita kamen hinzu. Auch Einladungen zu Kindergeburtstagen ließen nicht lange auf sich warten. Die pädagogisch bewegten Eltern erwarteten allerdings nicht nur ein Geburtstagsgeschenk für das Geburtstagskind, sondern auch kleine Geschenke für die Geschwister, damit diese sich nicht zurückgesetzt fühlten und später deshalb vielleicht auf die schiefe Bahn geraten würden. Für einen bekennenden Geburtstagsgeschenke-Besorger-Hasser ein echter Albtraum. Aber was bleibt einem bewegten spätberufenen Vater anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mittlerweile ist mein Sohn dem Alter der Kindergeburtstage entwachsen und der Geburtstagsgeschenkewahnsinn bewegt sich wieder in verkraftbaren Bahnen. Ein wenig durchatmen konnte ich schon, als ein Teil der jüngeren Verwandtschaft dazu überging, Geschenkwünsche für ihre Kinder bei mir in Form von Amazon-Links zu hinterlegen, mit Lieferung direkt an das Geburtstagskind. Aber richtig Hoffnung, endgültig aus dieser Zwangsjacke erlöst zu werden, konnte ich neulich bei einer Geburtstagsfeier junger Menschen schöpfen: Sechs Teenager stellten sich im Kreis um das Geburtstagskind, zückten ihr Handy und überwiesen dem Geburtstagskind per Knopfdruck ihr Geburtstagsgeschenk. Das Geburtstagskind zückte ebenfalls sein Handy, überprüfte den Eingang, bedankte sich artig und die Feier konnte beginnen. Genial, dachte ich mir: Kein lästiges Nachdenken über ein geeignetes Geschenk, kein zeitaufwendiges Besorgen des Selbigen und vor allem kein lästiges Einpacken in Geschenkpapier – oder besser noch, im originellen Upcyclingmodus. Jetzt bin ich bereit, wieder in das Geburtstagsgeschenkekarussell einzusteigen. Jetzt macht Schenken wieder Spaß.
Hans-Dieter Kübler: Lebst du noch – oder bist du online?
Mehr als vier Stunden – so schätzen Zwölf- bis 19-Jährige laut JIM-Studie 2018 selbst – sind sie täglich im Netz, allerdings in den Altersgruppen und Bildungsniveaus recht unterschiedlich. Zu über 90 Prozent tun sie dies mit dem Smartphone oder Laptop, stationärer Computer und Tablet erreichen erst recht deutlich geringere Werte. Und in der Tat: Trifft man Jugendliche irgendwo, sind sie ständig mit ihrem Smartphone beschäftigt, nehmen andere und ihre Umgebung kaum mehr war, leben gewissermaßen in einer virtuellen Blase. Bei den Sechs- bis 13-Jährigen zeigen sich laut KIM-Studie 2018 ähnliche Trends. Da kann es Eltern und Erziehenden schon bang werden, wenn sie an die Realitätswahrnehmung ihrer Sprösslingen denken, an die möglichst ausgewogene Entwicklung ihrer Fähigkeiten, an deren Kontaktkultur und Empathie. Entsprechend häufen sich Warnungen, Hilfsangebote und Ratgeber, wie man im ‚digitalen Leben‘ richtig oder falsch leben soll. Die Kontroversen polarisieren zwischen Beschränkung und Verbot, weil körperliche und psychische Schäden drohen, und euphorischen Zustimmungen und Appellen, um die Welt endlich digitaler und künftige Generationen dafür fit zu machen. Ob bei Arbeit, Medizin, Pflege, Verkehr, Haustechnik, Kultur und natürlich Bildung – überall sind Digitalisierung 4.0 und KI zu faszinierenden Zauberwörtern für Fortschritt und Wohlstand avanciert. Politik und Wirtschaft überbieten sich im permanenten Wettbewerb mit Investitionsforderungen und kühnen Szenarien dazu.
Plakativ sind viele Behauptungen und Vorwürfe auf beiden Seiten: Seit der milliardenschwere Digitalpakt zwischen Bund und Ländern beschlossen ist und erste Gelder – allerdings viel zu wenige – abgerufen werden können, schwärmen die Befürworter*innen vom Ende der schulischen Kreidezeit. Eilends verbreitete Erhebungen, wie etwa die ICLS, weisen allerdings nach, dass sich die ‚Computerkenntnisse‘ von Achtklässler*innen zwischen 2013 und 2018 kaum verbessert haben. Und die jüngste PISA-Studie vermeldete sogar Rückgänge der allgemeinen Lese- und Rechenfähigkeiten. Kritiker*innen wie der Mediengestalter Lankau (2017) versichern, dass „kein Mensch digital“ lernen könne und fordern die Schule als „Schutzraum“ für alle IT-Risiken. Der Schweizer Sachbuchautor Dobelli landete sogar einen paradoxen Coup: Seine Kunst des digitalen Lebens (2019) propagiert die totale Medien- und Online-Askese – und wurde damit Bestseller.
Fragt man genauer nach, was denn digitale Bildung konkret im Unterricht bedeutet, bleibt es noch immer recht vage: Dann sollen Schüler*innen etwa „algorithmisch denken“, also Problemlösungen konzipieren, aus Webseiten und mittels Internetrecherchen Informationen erarbeiten und bewerten, Bilder gestalten, Grafiken erstellen lernen, sich in komplexen Computersimulationen zurechtfinden – alles Aufgaben und Fähigkeiten, die auch schon in der analogen Welt bildungswertig waren, und nun mit IT-Techniken womöglich neue Formatierungen erfahren. Doch wenn sie vor der Digitalisierung von vielen nicht gelernt wurden, wie dann mit digitalen Medien? Da kommt erneut der uralte Traum von Lernmaschinen auf, die stets automatische Lernfortschritte versprachen und hernach scheiterten. Jener Technikdeterminismus dürfte auch beim nächsten digitalen Schub eine Zeitlang vorhalten. Anstatt zu erproben, was, wie, in welchem Alter und mit welchen Hilfs- und Motivationsmitteln gelernt wird, wird zuerst ein gigantischer Markt für IT- und Lernsoftware-Industrie aufgemacht, zumal er im privaten Konsum längst etabliert ist und derzeit an seine Grenzen stößt.
Klaus Lutz: Wer soll dein Herzblatt sein?
Trotz der Verlockungen des Beziehungsmodells der 68er-Generation wählen die meisten das klassische Beziehungsmodell der Paarbeziehung als Lebensentwurf. Sogar Rainer Langhans hat in einer TV-Show bedauert, dass es ihm nicht gelungen ist, Uschi Obermaier fest an sich zu binden. Es ist aber eine durchaus schwierige Entscheidung, den richtigen Partner zu wählen. Man ist hin- und hergerissen zwischen all den großartigen Persönlichkeiten, die für eine feste Beziehung zur Wahl stehen. Da hilft oft nur – wie bei anderen kniffligen Entscheidungen –, sich mit einer Pro- und Contra-Liste etwas mehr Klarheit zu verschaffen. Zugegeben, ich gehöre nicht zu den Menschen, die allzu oft in so einer Zwickmühle stecken. Aber neulich war es dann doch soweit. Ich musste mich entscheiden, wer mein Herzblatt sein soll: Die Uschi? Oder doch die Bibi? Ein paar Worte zu Uschi: Sie ist schon lange an meiner Seite, denkt klar und strukturiert und ist äußerst verlässlich. In all den Jahren unserer Beziehung hat sie mich nur selten in die Irre geführt und ist immer gradlinig ihren Weg gegangen. Ja, sie ist nicht immer fehlerfrei und verliert auch schon einmal die Orientierung, wenn es darum geht, neue Wege zu wagen. Sie ist auch nicht immer ganz im Bilde darüber, was in ihrer Umgebung so vor sich geht. Auch macht sie ihre Probleme lieber mit sich selbst aus, was eine gewisse Beschränktheit ihrer Innovationsfähigkeit mit sich bringt. Aber auf ihr bekanntem Terrain bewegt sie sich sicher und souverän – sofern sie sich nicht zu Fuß fortbewegen muss. Und dann wäre da noch Bibi: Sie ist innovativ, ‚fresh' und immer bereit, Informationen anderer aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie überrascht mich immer wieder mit neuen Gedanken und scheint – fast magisch – die Zukunft voraussehen zu können. Sie kann sich sehr feinfühlig auf die Bedürfnisse anderer einstellen und hat gleichwohl eine rationale Analyse für vielschichte Problemstellungen parat. Sie ist praktisch mit allem und jedem vernetzt und bereichert so den Alltag mit immer neuen Ideen. Sie kennt jede Kneipe, jedes Hotel und jede Tankstelle in der Umgebung und kann zuversichtlich auch noch die Öffnungszeiten sowie den Ruhetag benennen. Schwierig gestaltet es sich allerdings, wenn die Verbindung zu ihr abreißt: Dann geht nichts mehr, es herrscht völliger Stillstand – von sich aus meldet sie sich nie. Leider kommt das immer wieder vor. So, Klaus! Wer soll denn jetzt dein Herzblatt sein? Uschi, die immer treu an deiner Seite steht, kaum Fehler macht und auch in Zukunft eine verlässliche Partnerin sein wird. Oder Bibi, die deinen Alltag mit neuen Ideen bereichert, offen und aufgeschlossen mit allen kommuniziert, aber auch manchmal den Kontakt völlig abreißen lässt. Tja, Klaus, jetzt musst du dich entscheiden. Ich habe mich für Bibi entschieden. Mir war es doch wichtiger, mit meiner Umgebung vernetzt zu sein, in Echtzeit Alternativen zu längst vertrauten Wegen zu entwickeln und immer wieder neue Fähigkeiten zu entdecken. Deshalb künftig also nur noch Navigation mit dem Handy und mit GoogleMaps. Bibi macht das schon, und die fest eingebaute Uschi hat ausgedient. Ach ja, hatte ich erwähnt, dass alle meine Navigationssysteme weibliche Vornamen haben? Das ist – wie viele Männer wissen – einfach der Gewohnheit (erstes Navi im Auto: die eigene Ehefrau) und der Höflichkeit (irgendwie muss ich sie ja ansprechen, wenn ich mit ihnen streite) geschuldet. Die einzige Frage, die für mich offen bleibt: Wie sprecht ihr Frauen eigentlich eure elektronischen Helferlein an?
Sophia Mellitzer: Always-On-L(e)ine
Ein Tag in den Sommerferien. Auf dem Weg nach Hause möchte ich auf meiner Lieblingsparkbank rasten. Doch die ist besetzt: zwei zottelige Hunde sitzen darauf und wackeln unruhig mit ihren Schwänzchen. Ihre Kopfhaare sind mit niedlichen Spängchen und bunten Zopfgummis geschmückt. Vor der Bank steht ein junges Mädchen mit ganz ähnlicher Frisur. Sie hält ihr Smartphone auf die
beiden Vierbeiner gerichtet und gibt Anweisungen: „Sitz! Rosa, schau zu mir! Bleib!“ Ich muss lachen, trete näher an die Szene heran und frage neugierig: „Sind die Fotos für Instagram?“ Schüchtern bejaht die Teenagerin meine Frage. Als ich erzähle, dass ich ab und zu Fotos unserer Hündin Kira im WhatsApp-Status teile, taut sie auf. Sie habe sich extra den Terrier ihrer Freundin ausgeliehen, damit sie das Paar auf ihrem Instagram-Profil posten kann. Hundebilder ergäben viele Likes!Hirtenhunde hüten, Jagdhunde jagen, Suchhunde schnüffeln – und Instagram-Hunde posten? Unsere Kira könnte wirklich etwas von ihren Hundefreundschaften lernen. Ihr Kumpel Pan zum Beispiel, ein wunderschöner Australian Shepherd, schaut für Leckerlis in die Kamera und erzielt als @engergy.on4paws täglich mehr Likes mit seinen bernsteinfarbenen Augen. Er startet gerade seine Social-Media-Karriere – und das nicht ohne Ambitionen. Würde eine „Kooperations“-Anfrage kommen, meinte das Frauchen, wäre sie nicht abgeneigt. Ab 1.000 Followerinnen und Followern wären Hundeprofile für Firmen bereits interessant. Oder sehen wir uns die Labradorhündin @mysofiesworld an. Auf Sofies hübsche Leine angesprochen, bekam ich prompt eine Visitenkarte ihres Facebook-Profils ausgehändigt, wo ich mir auch gleich die empfohlene, handgefertigte Leine bestellen könne. Sehr geschäftstüchtig!
So weit sind Kira und ich noch nicht. Vor einem Jahr verwirklichte mein Mann seinen Lebenstraum ‚Hund'. Kaum war Kira adoptiert, stellte sie nicht nur unseren gesamten Familienalltag, sondern auch mein digitales Leben auf den Kopf. Gassi-geh-Gruppenchats im Messenger, Hundeerziehungs-Tutorials auf YouTube und hunderte knuffiger Hundebilder in der Galerie – so sieht es nach einem zugegebenermaßen holprigen Start als Hundebesitzerin auf meinem Smartphone aus. Das erste Mal alleine Gassi gehen endete schon an der nächsten Straßenecke. Kira hatte sich wild entschlossen in der Leine festgebissen, zog mit all ihrer Kraft daran und wollte partout nicht mehr weiterlaufen. Entsetzt sendete ich schnell ein verwackeltes Foto an unsere Hundetrainerin mit der Bitte um Soforthilfe. Augenblicke später erhielt ich schon die rettenden Tipps per WhatsApp: Ruhig bleiben, auf die Leine stellen und Kira unbedingt geistig mehr beschäftigen – denn: sie wolle nur spielen! War Kira frühabends besonders unruhig, erzielte meine hoffende Gruppenchat-Eröffnung zum ‚Play Date‘ – dank Always On – gleich zwei erleichterte Hundebesitzerinnen am Zaun, die froh waren, dass ihre jungen Vierbeiner endlich ihre überschüssige Kraft loswerden konnten.
Diese Energie könnten wir doch noch besser einsetzen, oder nicht?! Werbung auf vier Beinen – wäre das nicht auch was für Kira? Bisher erfreue ich mich nur daran, unsere hübsche Hündin ganz unzensiert, jedoch ziemlich inszeniert im WhatsApp-Status zu posten. Ich muss zugeben, der Gedanke an ein eigenes Hunde-Profil reizt mich sehr. Bis Kira (gegen Leckerli) ansprechende Posen einnimmt und sich für Social Media von ihrer besten Seite zeigt, bedarf es jedoch noch einigen Trainings.
Klaus Lutz: Privater Lauschangriff
Seit meiner Jugend habe ich ein Laster – ich würde es mal meinen persönlichen großen Lauschangriff nennen. Immer wenn ich zum Beispiel in einem Café sitze, Zug fahre oder mit anderen Menschen auf die U-Bahn warte, kann ich mich nicht dagegen wehren, den Unterhaltungen anderer zu lauschen. Da gibt es überaus viel zu erfahren: Liebeserklärungen, Strategien, wie man Eltern dazu bringt, einem das neuste Handy zu kaufen, hochdramatische Trennungen, Kochrezepte oder welche Serien auf Netflix gerade so angesagt sind. Man kann auch versuchen, sein Englisch aufzubessern – vor allem in München am Bahnhof gibt es dazu viele Möglichkeiten. Oder man kann Fremdsprachen raten. Dazu muss man allerdings die fremden Menschen letztlich ansprechen und fragen, welche Sprache sie sprechen; das mache ich allerdings nur, wenn ich alleine unterwegs bin, denn meiner Familie ist derartiges Verhalten immer unglaublich peinlich. Mit der massenhaften Verbreitung des Handys wähnte ich mich im Paradies angekommen. Das öffentliche Telefonieren eröffnete mir nicht für möglich gehaltene, schier grenzenlose Gelegenheiten. Ganz ungeniert telefonierten viele Menschen in der Öffentlichkeit und die Gespräche waren auch noch aus größeren Entfernungen zu verstehen. Mit der Zeit telefonierten die Menschen jedoch immer seltener in der Öffentlichkeit. Schade! Seit es aber die Möglichkeiten gibt, mit WhatsApp-Sprachnachrichten zu versenden, kann ich meiner Leidenschaft wieder besser frönen. Kürzlich kam ich im ICE von München nach Nürnberg wieder einmal in den Genuss: Die Frau in der Sitzreihe vor mir hatte sich über ihre beste Freundin so geärgert, dass sie ihr gleich mehrere Sprachnachrichten per WhatsApp schickte. Denn: Ihre Freundin (eine gläubige Katholikin) war nicht bereit, die Taufpatenschaft für ihr Kind zu übernehmen, da sie der Meinung war, dass meine Mitfahrerin nicht fest genug im Glauben verankert sei. In mehreren Nachrichten kündigte die Zugfahrerin ihr nun die Freundschaft, wärmte alte Streitigkeiten auf und drohte damit, allen gemeinsamen Freunden von dieser Ungeheuerlichkeit zu berichten. Nach der Fahrkartenkontrolle war die junge Frau zwar auf schriftliche Kommunikation umgestiegen, was für mich allerdings kein Problem bedeutete, denn schließlich war der Spalt zwischen den Sitzen breit genug, um Mitlesen zu können. Nach einiger Zeit war die Kommunikation doch recht redundant und ich verlor die Lust am Mitlesen, weshalb ich mich Spotify zuwandte – für viele seit Jahren eine Selbstverständlichkeit, für mich eine absolute Neuentdeckung – und Cat Stevens anwählte. In Nürnberg stieg ich aus und lief beschwingt den Bahnsteig entlang, immer noch die Stöpsel im Ohr. Verwundert bemerkte ich, dass mich viele Leute anstarrten. Erst dachte ich: „Jetzt wissen alle, dass ich heimlich Leute belausche. Jetzt muss ich ins Exil.“ Dann sah ich die entsetzten Blicke meiner Familie, die mich am Bahnsteig erwartete. Mühsam brachte mein Sohn über die Lippen: „Vadder, hör auf zu singen. Du bist total peinlich.“ Mit hochrotem Kopf zog ich mir die Stöpsel mit dem Song „Father and Son“ aus den Ohren und schlich hinter meiner Familie vom Bahnsteig. Das Musikhören mit dem Handy muss ich wohl noch etwas üben.
Maya Götz: Instagram & Co.
In den letzten Monaten habe ich viel Zeit mit der Analyse der Selbstdarstellung von Mädchen und Influencerinnen sowie Influencern auf Instagram verbracht. Viele schöne junge Frauen mit super Haut und einem tollen Körper, großen Augen und perfekt gestylten Haaren – und alle so ähnlich, dass es mich zutiefst beunruhigte. Je tiefer ich in die Materie einstieg, desto deutlicher wurden zwar die Unterschiede in den Inszenierungsstrategien einer Medienveteranin wie Heidi Klum im Vergleich zu einer Dagi Bee und dem, was Lilly oder Anna, zwei „normale Mädchen“ aus unseren Fallstudien, von sich posten. Doch wenn ich dann mal ein paar Tage die Ordner beiseitelegte, um mit frischem Blick ins Material zu schauen, überliefen mich immer wieder Schauder, denn im Prinzip sehen alle Mädchen und Frauen irgendwie gleich aus.
Als ich zur Schule ging – und das ist jetzt ganz schön lange her –, gab es Popper, Normalos, Ökos, ja sogar auch eine Punkerin. Im Studium habe ich dann voller Begeisterung Ulrich Beck und Gerhard Schulze gelesen: In unserer individualisierten Gesellschaft vermehren sich die Möglichkeiten, was gleichzeitig den Zwang zur Wahl mit sich bringt. Kaufentscheidungen werden zur Form der Identitätsarbeit, mit der ich mich von anderen unterscheidbar präsentiere. Die Lebensstildiskurse eröffneten mir damals ganze Verständnishorizonte. Subjektivität in der Postmoderne, Identitätsbastelei – all das fügte sich so wunderbar in mein humanistisches Menschenbild ein.
Als dann ein Jahrzehnt später die Sozialen Netzwerke wie Facebook kamen, erschienen diese als passende Plattform für Selbstdarstellung und Präsentation von Individualität. Doch spätestens bei Instagram wird deutlich: hier funktioniert es etwas anders, denn Unterscheidbarkeit ist genau nicht mehr das Ziel.
„Man braucht ein perfektes Bild“, erzählt die 14-jährige Lilly zu dem, was sie auf Instagram postet. „Zufallsbilder“, auf denen es aussieht, als hätte sie eine „Mordswampe“, sind ein absolutes No-Go. Sie würde sich niemals „ungepflegt“ zeigen, mit wirrem Haar oder knappem Bikini. Die Praktikumsleiterin könnte es ja sehen – oder ein imaginärer „Notgeiler“, weswegen sie auch niemals etwas zeigen würde, was ihren Wohnort verrät. Mir fällt auf, über welch hohe Medienkompetenz die Mädchen verfügen. Sie wissen um Gefahren, gehen sehr überlegt und sorgsam mit ihren Posts und ausgesprochen wertschätzend miteinander beim Kommentieren und Liken um. Angela McRobbie nennt sie „Top Girls“, mit einem Leben in postfeministischer Maskerade. Der Konsum führt eben nicht mehr zur Stilbildung, sondern zur Vereinheitlichung eines weiblichen Klischees mit selbstoptimierter Körperlichkeit – und wehe derjenigen, die nicht mithalten kann.
Ich mache mir eigentlich keine Sorgen um Lilly und Anna. Sie werden gut zurechtkommen in dieser Gesellschaft, so bereit, wie sie zur Anpassung sind. Und doch geht ihnen und unserer Gesellschaft viel verloren. Was es dringend bräuchte, wäre die Förderung einer (geschlechterspezifischen) Widerstandskultur, ein Zelebrieren von Einzigartigkeit, von Pickeln und Fettpölsterchen. Doch dafür sind wir vermutlich alle viel zu sehr gefangen im schönen Schein von Instagram & Co.
Antje Müller: Wir wollen uns wieder – in ‚echt‘ jetzt!
Freundschaften sind wichtig, und sobald man sich in einer neuen Stadt befindet, wird nach neuen Verbindungen gesucht. Dabei geht es nicht allein um den Besitz. Es geht um das Teilen von Gemeinsamkeiten, um die Vermittlung und Versicherung von Persönlichkeit. Es stärkt die eigene Identität! Nun sind jedoch nicht alle Wege gleich effektiv. Manche haben sich abgenutzt, andere sind vielleicht so neuartig, dass es die Mechanismen zunächst zu verstehen gilt. Kommunikationskulturen sind eben ein großes Thema. Jugendliche ziehen aufgrund von Studium, Beruf oder Beziehung durch die ganze Welt, von einer Stadt in die nächste. Wenige können noch stolz von einer überschaubaren Wohnsitzanzahl reden, geschweige denn diese gemäß einer annähernd korrekten Chronologie noch aufzählen. Niemand kann gleichzeitig geistig und physisch an denselbem Ort weilen, aber der Drang, dies tun zu wollen, ja, – nahezu zu müssen, bewegt einige Jugendliche und junge Erwachsene dazu, alternative Kommunikationsstrategien und -praktiken auszuloten. WhatsApp, Facebook und Co. sind dabei treue Begleiter und dienten bisher zuverlässig dem Vorhaben und gleichzeitig Gemeinschaftsgedanken, die offline geschlossenen Kontakte auch online zu vernetzen. Für die dadurch vielfach erleichterte Organisation von Gruppenabsprachen und -information war man dankbar. Neuerdings tun sich jedoch von gruppenungebundenen Einzelnen initiierte Kommunikationspraktiken hervor, die mit einer Vielfalt an Gruppenanfragen das Social Web vereinnahmen, um Freundschaften geschehen zu lassen statt in Kauf zu nehmen. Ein ‚selbstloser‘ Plan, soziale Kreise zu generieren, wenn sie schon nicht allein entstehen. Jetzt geht es plötzlich nicht mehr nur darum, die gute alte Bekannte oder den treuen Bekannten zufällig in der Lieblingsbar anzutreffen oder den Sportkontakt mal zu einem Kaffee einzuladen, sondern Online- Offline-Räume zu schaffen, Vernetzungen online zu inszenieren und offline zu befördern – im ganz großen Stil! Man stelle sich vor, es gäbe einen unheimlichen Bedarf an der Rückkehr zu und einer Wiederentdeckung realer Kontakte, die – so die kleine entscheidende Änderung: Online und für jegliche Nischeninteressen generiert werden. Eine Gruppe für deine Altersgruppe, eine für dein Stadtviertel, eine die gern wandert, eine die kulturelle Unternehmungen anstrebt, eine fürs Skifahren… Die Gastgeberin bzw. der Gastgeber oder vielmehr der Admin bemüht sich dabei nicht nur um akkurate Selektion, Zuordnung und kleine Kommunikationsmotivationsschübe, sondern ebenso um Persönlichkeitsanalysen für Selektion nach der Selektion – bei Bedarf. Nicht nur, um ihrem bzw. seinem Ziel der Vernetzung nachzukommen, sondern um – fast schon pädagogisch – anderen zu zeigen, wie es geht. Jedes persönliche Scheitern an Online-Hatern oder Offline-Missachtung wird dabei registriert bis kontrolliert, falls nötig verwertet und wenn nötig weitergegeben. Die Radarfühler sind weit gestreckt und die Informationsweitergabe selbst zu nicht administrierten Bereichen funktioniert einwandfrei. Dabei steht und fällt die Party oder der Mädels-Treff mit dem Potenzial des Eingeladenen oder Hinzugefügten, die Chance zum Kontakteknüpfen nutzbar zu machen und, nicht zuletzt natürlich, mit der ‚Besonnenheit‘ des Admins, welche oder welcher die- oder denjenigen dann eventuell zur nächsten Connection beitreten lässt. Dankbar – hoffentlich – den organisatorischen Aufwand nicht selbst betreiben zu müssen!
Hans-Dieter Kübler: Medienfreiheit verkehrt
Längst verklungen sind die Schalmeien über das demokratische Potenzial des Internets: Zwar kann jede bzw. jeder mit jeder bzw. jedem noch direkt – ungehindert von den professionellen Gate Keepern – kommunizieren und seine Meinungen frei vertreten, aber das ermöglichen mächtige Provider und Plattformen, die alle Daten nebenbei verhökern und mit solch werbeträchtigen Filterblasen enorm verdienen. Durchkommerzialisiert und von den IT-Giganten dominiert hat das Internet längst seine emanzipatorischen Verheißungen verloren. In der öffentlichen Wahrnehmung wird es – womöglich zu einseitig – verstärkt als unkontrolliertes Forum für Hasstiraden, Diffamierungen, Promiskuität und Fake News wahrgenommen. Der Rechtspopulismus nutzt es für seine Propaganda, in seinen dunklen Ecken vernetzen sich sexuelle Abnormitäten, Terrorismus und organisierte Kriminalität. Da dürfte es auf breite Zustimmung stoßen, wenn sich nun auch die EU-Kommission auf Drängen des EU-Parlaments aufmacht, um die wachsende Desinformation, wie sie Fake News übersetzt, einzudämmen. Wie schon 2016 beim Thema Hassrede, ließ sie den Verhaltenskodex Code of Practice on Online Desinformation ausarbeiten, der Mitte Oktober von Betreibern führender Onlineplattformen sowie Sozialer Netzwerke und über 50 weiteren Firmen unterzeichnet wurde. Das umfangreiche Memorandum umfasst fünf Kompetenzbereiche: Werbeeinnahmen von Unternehmen, die falsche Informationen verbreiten, sollen gestoppt, gefälschte Accounts und Bots unterbunden, politische Werbekampagnen transparenter, Meldungen von Fake News-Fällen für Userinnen und User vereinfacht und die Verbreitung von Desinformationen strukturell besser überwacht werden. Schon Ende des Jahres will die Kommission einen ersten Rechenschaftsbericht abliefern. Viel Aufmerksamkeit hat diese Maßnahme in der deutschen Öffentlichkeit nicht gefunden, obwohl sie recht gravierend werden könnte: Zwar kritisierten Medien- und Plattformvertreter, dass der Kodex keinen gemeinsamen Ansatz, keine sinnvollen Verpflichtungen, keine messbaren Ziele und Durchsetzungsinstrumente und damit keine Möglichkeit zur Überwachung des Umsetzungsprozesses enthalte. Aber die viel grundsätzlichere Frage, wie das Internet die überkommene Meinungs- und Pressefreiheit notwendig oder arbiträr verändert, wird kaum diskutiert. Dem feudalen Staat vom Bürgertum seit 1848 abgerungen, in der Weimarer Verfassung erstmals anerkannt, vom Nazi-Regime sogleich kassiert, in der BRD von den Besatzungsmächten zugestanden und im Grundgesetz als Grundrecht verankert, in der DDR nur deklamiert, derzeit in anderen europäischen Staaten von „illiberalen“ und rechtspopulistischen Autokraten bedroht, überträgt die EU den Schutz und die Einhaltung der digitalen Medienfreiheit nun mächtigen Online-Giganten in Form einer Selbstverpflichtung. Abgesehen davon, dass es wohl nie konsensfähige Definitionen für Fake News in einem derart ideologisch zerstrittenen Europa geben wird, zeigt diese unverbindliche Bitte, wie ohnmächtig inzwischen (quasi) staatliche Instanzen gegenüber dem globalen, vermachteten Internet geworden sind.
Beitrag aus Heft »2019/01 Medien, Wohlbefinden, gelingendes Leben«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDFMarko Junghänel: GigaSchule – oder, wenn Sprache verräterisch ist
Was haben die Elbphilharmonie in Hamburg, die Lkw-Maut und etwa 90 Schulen im Landkreis Offenbach gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass diese Projekte als sogenannte Public Private Partnership-Vorhaben (PPP) geplant und realisiert wurden. Das Zusammenwirken von privatem und öffentlichem (public) Sektor scheint zum bevorzugten Lösungsmodell für alle Kämmerer und Finanzminister geworden zu sein. ‚Betroffen‘ sind nicht mehr nur Infrastrukturprojekte von den heilsbringenden Versprechungen der PPP-Befürworter. Unternehmen – vor allem solche, die global agieren – setzen vehement ihren Fuß in die Tür des „Bildungs-Markts“, die Schulaufwandsträger oder hoheitlich wirkende Institutionen zuvor bereitwillig geöffnet haben. Und in der Medienpädagogik? Auch hier wächst die Zahl der Initiativen, Projekte, Wettbewerbe oder Stipendien, die durch Unternehmen ausgelobt werden, um – in Kooperation mit neutralen und damit reputationsfähigen kommunalen/staatlichen Trägern – das Thema Kinder, Jugendliche und Medien zu bearbeiten, bestehende Defizite auszugleichen oder gar den Fachdiskurs zu ‚befördern‘. Was soll daran auch schlecht sein, wenn Vodafone die GigaSchule sucht und prämiert? Warum sollten Kinder und Jugendliche nicht lernen, wie man codiert? Code your Life – Programmieren für die Zukunft nennt sich das entsprechende Programm, bei dem unter anderem der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft, die Initiative Deutschland sicher im Netz oder der Verein n-21: Schulen in Niedersachsen online federführend agieren. Oder warum sollte Microsoft mit seinem Project Zanzibar nicht eine interaktive Spiel- und Lernmatte auf den Markt bringen? Man kann in diesem Zusammenhang das Grundgesetz bemühen, in dem formuliert ist, dass das Schulwesen – und damit Bildung – unter der Aufsicht des Staates steht. Noch greifbarer wird die Sache allerdings, wenn als Aufgabe des Staates formuliert wird, dass es zu dessen zentralen Aufgaben gehört, für Chancengleichheit – also auch für gleiche Chancen im Bereich Bildung – zu sorgen. Das alles wird kein privatwirtschaftliches Unternehmen leisten können und wollen – auch wenn es in seinen Corporate Social Responsibility (CSR)- oder Nachhaltigkeitsrichtlinien von einer wirtschaftlichen Spielart der „good governance“ spricht. Der Aspekt, dass Unternehmen vorrangig unternehmerische Interessen verfolgen und nicht Beschleuniger von Medienkompetenz sind, soll an dieser Stelle weitgehend unkommentiert bleiben. Verantwortung aber einfach abgeben? Nicht im Bereich der Bildung, nicht bei der Zusicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse, nicht beim Versprechen, gleiche (Bildungs-)Chancen für alle zu schaffen. Singuläre Projekte wie Googles „Zukunftswerkstatt“ mögen sinnvoll sein. Wenn die Nutzung allerdings voraussetzt, zunächst eine Vielzahl persönlicher Daten abzugeben, muss spätestens an dieser Stelle die medienpädagogische Zunft aufschrecken und den Staat an seine Pflichten erinnern. Fazit: Projekte mit Vorbildcharakter in Zusammenarbeit zwischen öffentlich und privat – ja, gern, wenn dabei die inhaltliche Deutungshoheit beim öffentlichen Partner bleibt. Eine dauerhafte Finanzierung und Etablierung von Bildungsangeboten durch Unternehmen – nein, danke.
Franz Josef Röll: Von Kindern lernen
Bei einem Netzwerktreffen der Arbeitsgruppe „Digitalpakt“ diskutierten Vertreterinnen und Vertreter des hessischen Kultusministeriums, des Schulamtes Frankfurt, eine Lehrerin und ich als Hochschulvertreter. Ich hatte die Gelegenheit auszuführen, dass mit der Verbesserung der technischen Infrastruktur und dem Anschaffen von Hard- und Software die Lernsituation in der Schule nicht automatisch verbessert wird. Notwendig sei, so meine zentrale These, ein verändertes Verständnis von Lernen ins Zentrum der Bemühungen zu stellen. Verblüfft war ich, dass die von mir vorgestellte Vision einer zukünftigen Schule mit reformpädagogischem Ansatz von allen Beteiligten begrüßt wurde. Gleichwohl haben wir aber über diese Vision nicht diskutiert. Der Bedarf bei den anwesenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern war nicht die Auseinandersetzung mit veränderten Lernkonzepten in der digitalen Lebenswelt, sondern die Kritik an erheblichen Mängeln der Infrastrukturen in den Schulen, der mangelnden Mitsprache bei Entscheidungen, dem Regulierungswahn und dem Gefühl mit den Alltagsproblemen allein gelassen zu werden.
Gleichzeitig scheint es jedoch so zu sein, dass es nur in wenigen Fällen gelingt, kindliche Lernfreude mit Lernmethoden zu verknüpfen, die die Kinder handlungsfähig macht für die Zukunft. Stattdessen verlieren Kinder im Laufe der Zeit ihre Begeisterung für die Schule. Nach meinem Gefühl hat es jedoch noch nie eine so günstige Situation gegeben, die Lernutopien der Reformpädagogik umzusetzen und die spielerisch erworbenen kognitiven Lernkonzepte von Kindern in der Schule fortzusetzen. Im effizienten spielerischen Als-Ob verfügen sie über Potenziale der Weltaneignung, die anders sind als bei Erwachsenen – ganzheitlich, explorativ, assoziativ und spielerisch-simulativ.
Ich habe Soziologie und außerschulische Pädagogik studiert und promovierte nach mehrjähriger Tätigkeit als Bildungsreferent über ein medienpädagogisches Thema. Zu diesem Zeitpunkt verfügte ich über eine vielfältige medienpädagogische Handlungskompetenz – und die habe ich von Kindern und Jugendlichen gelernt. Durch Beobachtung, wie Kinder und Jugendliche mit Hilfe von Medien sich ihre Lebenswelt erschließen, richtete sich mein Blick auf die Ressourcen und die Potenziale. Zugleich agierte ich wie ein Ethnologe, der sich darum bemüht, das Anderssein einer Gruppe nachzuvollziehen. So wandelte ich mich von einem Pädagogen hin zu einem „Navigator“, der sich um die Lernumgebung kümmert, der die Rahmenbedingungen schafft und dem es nicht darum geht, seine vorher festgelegten Ziele erfüllt zu sehen. Mein „Lernziel“ war die Fähigkeit zu vermitteln, ein Verständnis für Wissensgebiete aus unterschiedlichen Perspektiven zu entwickeln. Und was ich dabei erlebte war, dass die Erfahrung selbstgesteuerten Lernens die Lust und Faszination des Lernens der Kindheit wieder erlebbar macht.
Wir brauchen komplementären Lernkonzepte, die nicht auf Defizite gerichtet sind, sondern vor allem eine veränderte Haltung bzw. Einstellung der Lehrenden. Lehrende müssen sich auch als Lernende verstehen, nur dann profitieren Lehrende und Lernenden wechselseitig voneinander.
Dietmar Kammerer: Okay, Google?
Die Berichterstattung um Facebook, Cambridge Analytica und missbrauchte Nutzerdaten habe ich, ehrlich gesagt, nur mit halbem Interesse verfolgt. Wer sich wie ich seit Jahren mit Datenschutz beschäftigt, den kann dieser ‚Skandal‘ nicht mehr überraschen. Skandalös fand ich vielmehr die Stellungnahme des Unternehmens, wonach man „laut und deutlich“ verstanden habe, dass „die Einstellungen zur Privatsphäre zu schwer zu finden“ seien – im Klartext: die Nutzerinnen und Nutzer von Facebook seien zu doof, um die Häkchen an den richtigen Stellen zu setzen. Andererseits: Kann schon sein. Und das beste Beispiel dafür bin ich selbst. Denn letztes Jahr hat mein Sohn mich gefragt: „Papa, was heißt Frechdachs auf Italienisch?“. Um seine Neugierde zu befriedigen und ihm zu zeigen, dass selbst der klügste Papa der Welt nicht alles wissen kann, beschloss ich, ihn die Antworten selbst herausfinden zu lassen. Dafür konsultierten wir die gewaltigste Bibliothek der Menschheitsgeschichte: Die Datenbanken von Google. Wir mussten nur ein Häkchen an der richtigen Stelle setzen und schon hatten wir die (ungelesenen) Bedingungen der „Sprach- und Audioaktivitäten“ des Unternehmens akzeptiert. Googles Erfolg liegt seit jeher darin, komplexe Algorithmen durch eine simple Eingabemaske zugänglich zu machen.
Auch Kinder, die das Schreiben erst noch lernen, können auf die Datenbank zugreifen. Es reicht, das Tablet vor sich zu halten und laut und deutlich den Zauberspruch zu sagen („Ok, Google“), dann werden alle Fragen beantwortet. Nicht nur die nach der korrekten italienischen Übersetzung („sfacciato diavolo“). Die Maschine gab auch Auskünfte auf: „Was ist der höchste Berg der Welt?“ (bekannt) oder „Wieviel wiegt der Mond?“ (etwa 1/81 der Erdmasse). Ich hatte das gute Gefühl, meinem Sohn beizubringen, dass ein Computer nicht nur dazu da ist, sich „Wickie“-Videos anzusehen, sondern dass er auch als Lerninstrument eingesetzt werden kann. Das alles ist mehr als ein Jahr her und aktuelle Fragen wie „Was macht 17 minus vier?“ oder „Wie schreibt man Dinosaurier?“ kann ich ganz gut ohne Tablet beantworten. Dass ich dennoch weiß, wann und welche Fragen wir der Maschine damals gestellt haben – und zwar auf den Tag, die Stunde und die Minute genau – liegt daran, dass Google es sich gemerkt hat. Wer ein Google-Konto hat, kann sich seine so genannten „Aktivitäten“, eigentlich seine Interaktionen, mit den verschiedenen Diensten von Google, übersichtlich ausgeben lassen. All das war mir als Medienprofi bekannt, all das hatte ich über die entsprechenden Häkchen und Klicks in Kauf genommen. Als ich mir meine „Aktivitäten“ vor einigen Wochen ausgeben ließ, war ich daher zunächst wenig überrascht.
Bis ich die Aufzählung der „Sprachaktivitäten“ entdeckte: Google speichert tatsächlich das Gesprochene selbst. Irgendwo auf den Servern von Google liegen also Audiodateien, in denen meine und die Stimme meines Sohnes gespeichert sind, unsere Versprecher, unsere Lacher. Und zwar schon einige Sekunden bevor ich „Ok, Google“ sage – das Mikrofon muss ja permanent lauschen, ob das Zauberwort fällt. Ich beschloss, umgehend alle Häkchen und Erlaubnisse zu entfernen. Es wird ja viel darüber diskutiert, wie man ein Bewusstsein für so etwas letztendlich Abstraktes und Unanschauliches wie „Datenschutz“ weckt.
Mein Vorschlag: Ein Programm, das jedem in ihrer oder seiner je eigenen Stimme sämtliche Daten vorliest, die Google, Facebook & Co. gespeichert haben. Dieses Programm darf keinen Ausschalt-Knopf haben, muss regelmäßig von alleine starten und die Lautstärke immer maximal halten. Das könnte helfen: Laut und deutlich.Dietmar Kammerer
Beitrag aus Heft »2018/03 Orientierung in der komplexen Welt«
Autor: Dietmar Kammerer
Beitrag als PDFNiels Brüggen: "eine Puppe, die spricht"
Die Digitalisierung hält ja auch wirklich überall Einzug. So auch im Wunschzettel von Kindern in Form von digitalen Spielwaren. Bei uns war es konkret „eine Puppe, die spricht“. Nun gut, hier könnte eingewendet werden, die gibt es ja schon lange. Also Puppen, die nach einem Druck auf Bauch oder Rücken freundlich rufen „Spiel mit mir!“. Aber eine derart mechanische Dialogsteuerung mutet Kindern heute ähnlich antik an wie ein Wählscheibentelefon. Zumal, wenn heute schon ein auf dem Flohmarkt erstandener Plastikvogel mit verzerrter Zwitscherstimme diktierte Sätze nachzwitschert.Die Erwartung, die mit „eine Puppe, die spricht“ ausgedrückt wird, umfasst vielmehr vollwertige Dialoge.
Also genau genommen eine Puppe, die nicht nur spricht, sondern auch versteht. Und dann wieder sinnvoll reagiert. Dank Digitalisierung und künstlicher Intelligenz heute doch eigentlich kein Problem mehr. Und irgendwie muss ich unweigerlich an den Turing-Test denken. Jenen Test, den sich Alan Turing 1950 ausdachte, um abzuschätzen, ob ein Computersystem ein dem Menschen gleichwertiges Denkvermögen erreicht hat. Ganz kurz geschildert ist die Idee, dass man so recht ja nicht weiß, wie Intelligenz gefasst werden kann. So gilt beim Turing-Test eine Maschine als intelligent, wenn ein Mensch nicht mehr erkennt, ob er mit einer Maschine, einem Computer oder einem anderen Menschen interagiert.
Plötzlich stand sie da, auf meinem Schreibtisch. Die Puppe, die sprechen und verstehen ‚kann‘. Mit digitaler Spracherkennung. Echtes Hightech-Spielzeug. Wir hatten es als Testprodukt bekommen. Das Kind war zunächst im Glück – und zugleich etwas enttäuscht, dass wir sie wieder zurückgeben müssten. Vielleicht wäre ich ja auch noch zu überzeugen gewesen, das Testprodukt nicht zurückzugeben.Und dann kam der Turing-Test. Nicht ganz unbekannt war mir die Aufforderung der Puppe, das eben Gesagte doch bitte noch einmal zu wiederholen. Ich musste an schwerhörige Großeltern denken. Interessant, dass es doch durchaus etwas Mut kostet, richtig laut mit so einer sprechenden Puppe zu sprechen. Mit gefestigter Stimme war die Puppe dann auch eher der Meinung, verstanden zu haben. Nur was?
Hätten Kinder etwas mehr Sinn für Dada, wäre die Puppe der Renner. Es hat schon semantischen Charme, wenn die Frage, was im Bild zu sehen ist, mit „Eine Fliege“ beantwortet wird und die Puppe dann freudig ruft „Richtig. Eine Spinne!“. Das war aber schon zu dem Zeitpunkt, als das Kind begonnen hatte, bewusst zu probieren, wie falsch es antworten kann, um trotzdem ein jubelndes „Richtig!“ auf die Rate- und Reimspiele zu erhalten. Das war nach der Phase der Verzweiflung, in der zunächst doch die eigene Unzulänglichkeit vermutet wurde. Beim Tinkern, also dem Herumprobieren, was so geht, war dann aber eine neue Motivation zu erkennen. In gewisser Weise war es eine Umkehrung eines Turing-Tests, bei dem die Kreativität menschlichen Denkens im Vorschulalter sichtbar wurde, Spracherkennungstechniken auszutricksen. „Im Sommer ist es heiß, da wünsche ich mir ein Schokoladen…“ „Schweiß." Richtig!“ Wir haben gemeinsam gelacht.Und das Zurückschicken war dann kein großes Problem mehr.
Ich habe zwischenzeitlich auch gehört, dass künstliche Intelligenz mit Kindersprache und in Dialogen mit Kindern immer noch Schwierigkeiten hat. Das wäre doch vielleicht eine neue Messlatte für den Turing-Test.
Klaus Lutz: Scannerkassen – Einkaufen 2.0
Zugegeben, ich bin im Herzen ein Leistungssportler. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die am Sonntagmorgen mal eine gemütliche Runde im Park joggen. Wenn ich die Joggingschuhe schnüre, ist auch immer die Uhr am Handgelenk, die mir Pulsfrequenz sowie Durchschnittstempo anzeigt und piept, wenn ich von meinem einprogrammierten Trainingsplan abweiche. Auch wenn ich mit meinem zweijährigen Sohn und seinem Laufrad zum Spielplatz unterwegs war, musste ich mich sehr zurückhalten, nicht jede Fahrt zu einem Wettrennen mit anschließender Siegerehrung im Sandkasten zu machen. Nun, da ich in die Jahre gekommen bin und meine Zeit als Fußballer und Marathonläufer der Vergangenheit angehört, gilt es, altersgerechte Herausforderungen zu suchen. Eine neue Challenge muss her.
Viele Sportmedizinerinnen und -mediziner raten, man solle sportliche Aktivitäten in den Alltag einbinden, weil man dann am zuverlässigsten zu seinen Trainingseinheiten komme. Alltagskompatibilität ist bei mir zu 100 Prozent gegeben, wenn es wieder einmal heißt: Ich gegen die Scannerkasse.Die ersten Scannerkassen in den Supermärkten waren noch ziemlich träge bei der Erfassung des Strichcodes – ein mehrmaliges Ziehen über die Glasscheibe war erforderlich, bis das erlösende Piepen ertönte. Oft mussten die Kassenkräfte nach mehreren Fehlversuchen den Zahlencode mit der Hand eintippen. Währenddessen hatte man genügend Zeit, die Waren auf das Band zu legen, mit der Kassenschlangennachbarin oder dem -nachbarn zu quatschen und die Waren vor dem Bezahlen in den Einkaufswagen zurückzulegen, Geldbeutel oder Kreditkarte zum Zahlen herauszunehmen und vielleicht auch noch das nötige Kleingeld zu suchen.
Diese Zeiten sind vorbei. Die neuen Hochgeschwindigkeitsscanner machen kaum noch Fehler. Die Kassenkräfte sind dermaßen versiert, dass sie ohne hinzusehen wissen, wo sich das Etikett zum Scannen befindet; manche beherrschen sogar das beidhändige Scannen! Also gilt es, als Sieger beim Wettscannen hervorzugehen. Die Regeln sind einfach: Sobald die Kassenkraft den ersten Artikel in die Hand nimmt, ist die Einkaufsware im leeren Einkaufswagen oder der ökologisch korrekten Mehrwegtasche zu versenken. Für einen Sieg darf sich nach dem letzten Scanvorgang kein Artikel mehr außerhalb des Wagens befinden. Nach anfänglichen Niederlagen wurde meine Technik immer ausgefeilter: Ware in der späteren Einpack-Reihenfolge auf das Band legen; die Strichcodes möglichst ungünstig platzieren, große Abstände zwischen den Waren lassen. Aber es nützte nichts. Wenn man am Samstag auf die absoluten Scan-Profis trifft – oft studentische Aushilfskräfte zwischen 20 und 25 Jahren, die wahrscheinlich auch versierte Computerspielende sind –, ist man meist zweiter Sieger.
Ich werde deshalb jetzt zu den Selbstscankassen wechseln. Hier kann ich wieder mein eigenes Tempo finden und als technischer Berater für Ungeübte agieren, praktisch ehrenamtlich als Medienpädagoge arbeiten. Aber es ist schon wieder eine neue Herausforderung in Sicht. Wie einst die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth gefahren ist, nimmt wieder eine technische Innovation in Fürth ihren Anfang. Pepper ist da! Ein Einkaufsroboter, der die Kundschaft beraten soll, wo zum Beispiel bestimmte Waren zu finden sind. Wo andere das persönliche Erlebnis beim Einkaufen im Hofladen vorziehen, suche ich meine Herausforderungen doch lieber in der digitalen Welt. Nächste Woche werde ich Pepper besuchen. Bin gespannt, ob der Kerl bereit ist, sich einem Wettkampf um den schnellsten Weg zu den Posten meiner Einkaufsliste zu stellen. Einkaufen 4.0 – ich komme.
Antje Müller: Unentschlossen.
Die Wahl ist geschafft. Demokratisch, frei und natürlich geheim – ohne Frage! Stetig begleitet von einer leise fordernden, digitalen Stimme. Gestützt durch eine nicht abreißende Informationsflut. Versorgt mit hitzigem Austausch. Nützliche ‚Informantinnen‘ und ‚Informanten‘ sind immer ganz nah, hauchen zuverlässig Meinungen und wispern visionäre Vorhaben. Spielend beantworten sie Fragen, streuen Informationen, basteln Profile, wirken sympathisch. Sie, die Anderen, wirken in unserem kleinen digital-privaten Raum vertrauensvoll. Sie geben, was wir denken gerade zu brauchen: Aufmerksamkeit, Likes, Ranks. Bedeutsamkeit! Social Bots, ihr Name. Ursprünglich angesetzt, um Erkenntnisse aus Mustererkennung und Datenkorrelation zu gewinnen, simulieren sie menschliche Verhaltensmuster in einem ‚fiktiven‘ Gespräch mit echten Folgen – für uns! Ein komplexer Algorithmus, der es, auch dank dubiosen Bot-Wettrüstens, geschafft hat, das Social Web mit peniblen Sammel- und übermotivierten Streuaktionen zu kolonialisieren, um mit vermeintlich geringem Sinngehalt jederzeit gigantische Pseudoreichweiten zu erwirken. Seine Ziele können unterschiedlich sein, je nachdem was seine Entwicklerin bzw. sein Entwickler umgetrieben hat.
Ob sie nun Hilfestellungen geben, um sich im Meer überbordender Newsmeldungen zurechtzufinden, Trends aufspüren, ablenken, unterhalten, provozieren, verwirren – manipulieren?! Seit Snowden wissen wir, sie sind ein wesentlicher Teil des Überwachungsgefüges. Und seit Trump, Brexit und AfD wissen wir nun auch: Sie eignen sich hervorragend zur politischen Stimmungsmache. Ist es unsere Blindheit oder sind sie einfach begabt? Warum lassen sich Code und Neuronen nur noch mühsam unterscheiden? Vielleicht liegt es daran, dass wir Sozialität nicht mehr nur exklusiv dem Konstrukt Mensch zugestehen. Vielleicht ist Mensch aber auch zu sehr damit beschäftigt, das Wie zu analysieren statt zu hinterfragen wer mit wem und warum. Oder ist es etwa die Unsicherheit, wonach überhaupt Ausschau gehalten werden soll, in dieser mit allem so überfüllten techno-kulturellen Gesellschaft?
Da ist es doch schön, wenn so ein Bot den Spiegel hochhält und zeigt, wie wir uns bewegen, wonach wir suchen (werden) und wo es lang geht. Parameter für Paramater hat er sorgsam entschlüsselt, was soziales Verhalten ausmacht, worin Vertrauen besteht, und das in Algorithmen umgewandelt, was wir für glaubwürdig halten. Deviant. Konform. Neoliberal? Die Meinung wird niemandem aufgedrückt. Natürlich haben wir sorgsam hinterfragt, und sind auf verantwortungsvolle Weise unserem freien, unabhängigen Willen in einer geheimen Abstimmung gefolgt. Tweetstat, Botswatch oder Botometer haben im Zweifel geholfen. Doch die Frage ist: Wozu überhaupt informieren, wenn sich das Gesuchte aus den eigenen geistigen Erzeugnissen speist? Warum sollten Gütesiegel, Spamschutz, Meldepflichten und die geliebten Gesetze den Rettungsring noch auswerfen? Schließlich bereitet es doch so viel mehr Freude, im vertrauten Nest zu brüten. Außerdem soll doch anderen nicht der Spass genommen werden, das Projekt ‚Dekonstruktivismus: Mensch‘ voranzutreiben.
Beitrag aus Heft »2017/05 Self-Tracking. Lifelogging. Quantified Self.«
Autor: Antje Müller
Beitrag als PDFKlaus Lutz: Samstags kommt das Sams – oder nicht
Samstag ist aus meiner Sicht der undankbarste Tag der Woche. Entweder steht ein Wochenendseminar mit Jugendlichen an oder ein Vortrag auf einer Tagung. Streckt die Arbeit ihre langen Arme einmal nicht nach einem aus, so ist der Samstag dennoch nie arbeitsfrei. Das Bad und die Toiletten müssen beispielsweise geputzt und die aufgebrauchten Vorräte aufgefüllt werden. So muss man sich also nach dem Frühstück lange Einkaufszettel erklären lassen – als würde sich es um einen lateinischen Text handeln – lassen und dutzende Ermahnungen einstecken, nicht wieder den falschen Käse und zusätzliche kalorienhaltige Leckereien mitzubringen. Erstaunlicherweise teile ich dieses Schicksal mit vielen Männern. Das Internet der Dinge lässt auf sich warten. Mit vielen anderen schiebe ich meinen Einkaufswagen die Regale entlang, kaufe wieder den falschen Käse, saure statt süße Sahne und stelle mich an der Kasse an. Mich stört dieses Warten aber überhaupt nicht, denn das enge Zusammenstehen ermöglicht es mir, meinen – zugegeben etwas absonderlichen – Leidenschaften nachzugehen: Unterhaltungen anderer belauschen oder selbst ein Gespräch mit wildfremden Menschen beginnen.
So auch, als vor mir ein gutaussehender großer dynamischer Mann, etwa Mitte 30 – meine Schwägerin würde sagen „ein Schnittchen“ –, die Kassiererin freundlich begrüßte und während des Kassiervorgangs mit ihr plauderte. Die beiden schienen sich privat zu kennen, denn die Kassiererin erkundigte sich nach der Tochter, die sonst doch immer mitkäme. Der wahrscheinlich auch beruflich sehr erfolgreiche Mann berichtete, dass jetzt, wo sie in der ersten Klasse sei, die Schule vorgehe. Sie sei gestern auf einem Geburtstag gewesen und müsse daher heute ihre Hausaufgaben erledigen. Schließlich sei Schule nun mal wichtig. Super, dachte ich mir, da haben wir es wieder. Die Kindheit ist mit dem Eintritt in die Schule zu Ende. Wahrscheinlich hat der ehrgeizige Vater längst das Gymnasium für das Kind ausgesucht, Klavier spielt sie sicher seit Jahren und die Ausbildungsversicherung für ein Studienjahr im Ausland ist auch längst abgeschlossen. Ich konnte gar nicht schnell genug den Laden verlassen, um meine Empörung über so viel ‚Bildungsfixiertheit‘ mitzuteilen. Zuhause hatte aber – wie jeden Samstag – niemand Zeit und Lust, sich meine Einkaufsgeschichten anzuhören. Gut, dass es die sozialen Medien gibt: Tablet geschnappt, um auf Facebook meine Erlebnisse mitzuteilen.
In kürzester Zeit erhielt ich etliche wütende Kommentare über Eltern, die sich nur über ihre Kinder definieren, Empörung über das Schulsystem und das Ende der Kindheit durch das Selbige. Zufällig ergab es sich, dass ich am darauffolgenden Samstag wieder einkaufen musste – und an der Kasse stand erneut der gutaussehende junge Mann, diesmal mit seiner Tochter. Das kleine freundliche Mädchen, welches offensichtlich ein Down-Syndrom hat, erzählte der Kassiererin gerade begeistert von der Schule und wieviel Spaß ihr diese mache. Plötzlich stand das Ganze in einem neuen Zusammenhang. Ich bewunderte den Vater dafür, dass er seiner Tochter und deren Bildung dieselbe Wichtigkeit und Aufmerksamkeit zukommen lässt wie einem nicht behinderten Kind. Ich schämte mich, dass ich eine Geschichte in die Welt gesetzt hatte, die bei genauer Recherche ganz anders hätte erzählt werden müssen. Ich tröstete mich damit, dass ich immerhin nicht heimlich ein Foto von dem gutaussehenden Mann ins Internet gestellt hatte. Soweit reicht meine Medienkompetenz dann doch noch. Ich leiste hiermit öffentlich Abbitte. Mir wurde eindrücklich klar, wie schnell man zum Produzenten von Fake News werden kann.
Klaus Lutz: Das ferngesteuerte Kind
Es gab Zeiten, da musste alles selbst gemacht werden: Die Autofenster mussten heruntergekurbelt, das Geschirr von Hand gewaschen, zum Umschalten am TV-Gerät selbst ein Kopf gedrückt und der Kaffee mit kochend heißem Wasser aufgebrüht werden. Das Telefon hatte eine Schnur, der Rasierapparat keine.
Irgendwann verabschiedete sich das Telefon von der Wählscheibe, in der man so schön mit den Fingern herumbohren konnte, und bekam ein Tastenfeld, später dann einen Touchscreen. Der Geschirrspüler gesellte sich mit dem Trockner zur Waschmaschine, zum Telefon gesellten sich Anrufbeantworter und Router. Auch die Fernbedienungen entwickelten sich weiter: Erst konnten Modellflugzeuge und Rennautos mühelos via Fernsteuerung durch den Raum bewegt und Rollläden rauf- und runtergefahren werden, mittlerweile kann die Heizung längst von unterwegs via App geregelt werden. Wer die Fernbedienung hat(te), hat(te) die Macht – und mächtig ist heute jeder, der über ein digitales Endgerät mit Steuerungsapps verfügt.
Auch Erziehungsberechtigte konnten sich im Laufe der Zeit über eine stetig wachsende Anzahl technischer Hilfsmittel freuen. Diese ließen die Erziehungsverantwortung leichter ertragen, machten den Alltag unkomplizierter: Neben zahlreichen elektronischen ‚Kinderbelustigungsspielzeugen‘ von der singend-summenden Nachtlampe für Babys über Dreiräder mit Hilfsmotor und Babyphone bis hin zu Greifringen für Vorschulkinder mit Handyhalterung, elektronischen Stiften, sprechenden oder gar spionierenden Puppen sowie Spielzeugrobotern ist alles da, was das Kinder- und Jugendherz begehrt – und durch interessante Zusatz- oder Programmierfunktionen auch so manch Erwachsenen.Das mit Abstand beste Gerät ist jedoch das Smartphone für das eigene Kind: So musste man früher noch vor Ort sein, um den Nachwuchs nach frühzeitigem Schulschluss in Empfang zu nehmen. Heute gibt es dafür dankenswerterweise eine ‚Fernbedienung‘, ein internetfähiges Mobiltelefon nämlich, mit welchem sich der Nachwuchs selbstständig nach Hause bringt und bei Bedarf jederzeit ablenken oder beschäftigen kann, so dass Eltern nur für kurze Momente ihre Meetings unterbrechen müssen, um einen sehr kurzen „Geh jetzt los, geh direkt zum Zahnarzt und danach zum Training“-Anruf zu tätigen. Oder noch einfacher, um eine WhatsApp-Nachricht zu schicken.
Apropos Smartphone: Ausgemalt hatte sich das Kind den Besitz eines Mobiltelefons sicherlich viel befreiender und erhebender. Kommunikation ist aber nun mal keine Einbahnstraße. Dank Timer, Geozaun-Funktion und schlüsselanhängergroßen GPS-basierten Tracking- oder Ortungsgeräten können Eltern heute – im großen Gegensatz zu früheren Generationen – das Mobiltelefon entspannt als verlängerten Arm nutzen und selbst auf wohlmeinende „Wo bist du?“- oder drohende „Warum-bist-du-nicht-hier“-Anrufe verzichten. Besonders fiese Eltern greifen einfach zur Überwachungs-App oder dem ultimativen Übel: Sie berauben den teuren Minicomputer seiner Internet-Funktion, bevor sie es süffisant lächelnd wieder ihrem Kind aushändigen.
Michael Gurt: Medienpädagogik first!
Die Welt steht am Abgrund. Atomare Apokalypse, Klimakatastrophe, die nächste Finanzkrise, Rassenhass, weltweite Massenpanik und, und, und. Das alles, weil ein orangefarbener US-Präsident jegliche Medienkompetenz vermissen lässt und die Finger nicht von Twitter lassen kann. Was hilft? Natürlich nur die Medienpädagogik. Warum? Ein Blick auf das „Medien-Menü“ (John Oliver) des POTUS gibt Aufschluss:
- Actionmovies Was erregt die Aufmerksamkeit unseres Sonnenkönigs für Arme mehr als Healthcare, nordkoreanische Raketen oder Verschwörungen des Deepstate? Die Karriere von Arnold Schwarzenegger, Nachfolger von DT in The Apprentice. Der österreichische Actionhero mit politischem Background wird niedergemacht und er revanchiert sich: „Wenn ich Präsident wäre, könnten die Leute wenigstens wieder ruhig schlafen.“ Bammm. Hasta la vista, Baby. Unvergessen auch die Reaktion von DT auf den Actionfilm Air Force 1 mit Harrison Ford als US-Präsident, der seine Kidnapper eigenhändig ungespitzt in den Boden rammt. “A president, that stood up for America“, oder so ähnlich. Daraufhin Ford: “Donald, it was a movie. It’s not like this in real life, but how would you know?” Ja, warum eigentlich? Weil US-Präsidenten Action-Kracher à la Hollywood nicht für bare Münze nehmen sollten? Weil sie sonst denken, sie könnten sich alles erlauben und Gewaltenteilung wäre was für Weicheier? Wie schon Voltaire, Spider-Man und Sheldon aus The Big Bang Theory wussten: “With great power comes great responsibility!” Read FLIMMO, dumbass!
- Reality TV Der Mann ist quasi Mister Reality TV, auf deutsche Verhältnisse übertragen eine Kreuzung aus Dieter Bohlen, Robert Geiss und Sonja Zietlow. Das Handwerk hat der POTUS von der Pieke auf bei The Apprentice gelernt, einer menschenverachtenden Casting-Show für Möchtegern-Mogule. Seither weiß der Mann: Auf die Inszenierung kommt es an. Jemand sollte ihm sagen, dass das Konzept von Scripted Reality nicht eins zu eins auf das amerikanische politische System übertragbar ist. Klar gibt es Drehbuchschreiber und schlechte Schauspieler, aber manchmal funkt dann doch die Realität dazwischen. Oder seriöse Presseorgane. Oder unabhängige Bundesrichter. Oder die Gesetze der Physik. Dabei weiß jedes Kind, dass Reality TV in die Rubik ‚Mit Ecken und Kanten‘ gehört, weil: „Die Geschichten sind frei erfunden, was durch den dokumentarischen Stil schwer zu durchschauen ist.“ Read FLIMMO, dumbass!
- So called News Channel Zum Frühstück genehmigt sich DT die volle Dröhnung FOX & Friends. Die haarsträubend (haha) verzerrten, diffamierenden und reißerischen ‚News‘ des Frühstücksfernsehens werden sofort auf Twitter als Tatsachen verbreitet: “Terrible! Just found out that Obama had my ‘wires tapped’ in Trump Tower”, und so weiter und so fort. Good Lord, lass Hirn vom Himmel regnen. Man stelle sich vor, Angela Merkel würde ihre morgendlichen Briefings durch Volle Kanne, Susanne ersetzen. „Schockierend! Habe herausgefunden, dass Howard Carpendale nicht live singt!“ Read FLIMMO, dumbass!
Da hilft nichts, eine Abordnung medienpädagogischer Fachleute muss im Weißen Haus vorsprechen und dem POTUS Medienkompetenz beibringen. Allerdings nicht ohne zielgruppengerechte Ansprache via Twitter vorab: “Hey Orange Guy, you gotta learn! But we can fix that! Follow us on @jff_de.”
Beitrag aus Heft »2017/02 Postfaktisch: Journalismus im medialen Wandel«
Autor: Michael Gurt
Beitrag als PDFHans-Dieter Kübler: Me First
Man begegnet ihnen inzwischen ständig und überall – ob an bedeutenden Monumenten, in schönen Landschaften, geselligen Situationen oder auch in trauter Zweisamkeit: den Selfie-Produzierenden. Stets müssen sie sich visuell fixieren, für sich, für die Um- und Nachwelt; keine Realität darf mehr für sich stehen und selbst wirken; sie bekommt nur Sinn und Relevanz im fotografischen Bezug auf das Selbst. Die Welt wird gewissermaßen zur Kulisse für das eigene Ego. Längst bleibt es nicht beim schlichten Abfotografieren, nein, das Ego – und die, die fotografisch dazugehören dürfen – werden in Szene gesetzt; viele Male probiert und verändert, meist abgekupfert von den zuhauf durchs Netz vagabundierenden Porträts und Posen der Stars und Sternchen: Sein so wie die, mindestens im fotografischen Konterfei, und damit zu hoffen, in solch glamouröse Höhen wie die Idole zu gelangen.
Das Selfie gewissermaßen als symbolischer Lift für die höheren Etagen. Und damit es auch alle Freundinnen und Freunde sowie Netz-Fans wissen, werden die Selfies ununterbrochen über die sozialen Netzwerke gepostet: Seht her, da war ich. Am Eiffelturm, am Tower, an den Stränden von Malle – und wie auf Facebook firmieren sie alle nur noch als willfährige Settings für mein inszeniertes Ego. Auch die Partys mutieren zu famosen Showbühnen, wodurch alles cool oder geil wird, während sie realiter meist öd sind, im besten Fall wie üblich verlaufen. Doch die Selfies künden hinterher vom Gegenteil, und alle Likes in den Netzen bestätigen es. Eine riesige Bewegung medialer Egozentrismen hat sich mit den Selfies formiert; gewissermaßen die digitalen Narzisstinnen und Narzissten, die ihr Spiegelbild nicht mühsam im Fluss und alleine betrachten, sondern es stets in der Tasche haben und weltweit verbreiten können, gleichsam eine weitere Eskalation der Extrovertiertheit.
Nicht erst, seit die Welt von durchgeknallten Egomanen wie Putin, Erdogan, Orban und nun – vollends absurd – von Trump regiert wird, fragt man sich, was sich in ihren tiefenpsychologischen Strukturen verändert und welche Erklärungen es dafür geben kann. Natürlich sind einigermaßen versierte Medienforschende vorsichtig mit pauschalen, eindeutigen Ursachenzuweisungen: Smartphones, soziale Netzwerke und Selfies bewirken nicht jene Egostrukturen, aber sie spiegeln sie womöglich und geben ihnen mediale Formen. Keineswegs soll die Rückkehr zur Erziehung der Unterdrückung des Ichs propagiert werden, wie sie bis weit in die 1960er-Jahre vorherrschte und nicht zuletzt autoritäre Charaktere hervorbrachte. Aber das Einstehen für kollektive Werte und selbstlose Ziele, für Solidarität, Loyalität, Mitleid und Empathie rückt zunehmend in den Hintergrund, selbst wenn es bei spektakulären Ereignissen nicht weniger medial wirksam hervorgekehrt wird. Neoliberalistisches Ellbogentum, die fast gänzliche Kommerzialisierung vieler Lebensbereiche und die Vergötzung konsumistischer Attitüden wirken schon lange zusammen und haben das Idol der Ich-AG tief verankert. Sie verbinden sich nun populistisch mit chauvinistischen wie xenophobischen Strömungen. Das Selfie ist womöglich der private, symptomatische, wenn auch harmlose Reflex, der oft genug das jeweils erwünschte, geschönte Echo liefert.
Niels Brüggen: Mein Smartphone stiehlt mir meine Sprache!
Ich habe seit einiger Zeit ein neues Smartphone. Schmerzlich vermisse ich die ausfahrbare Volltastatur des alten Geräts, denn das Vertippen auf den Bildschirmfeldern hat nun auch bei mir Einzug gehalten. Zugleich erlebe ich jetzt neue Begegnungen mit der KI (daraus macht mein Telefon kurzerhand Kinder) und wir sind mitten im Problem: Mein neues Telefon klaut mir meine Sprache. Jedenfalls fühlt es sich so an, wenn ich ständig die automatisch ausgewählten Worte korrigieren muss, um meine zu behalten. MyHammer wird zu Mohammed, Holzfenster zu Holzgestell oder um wieder zu den Kindern zurückzukommen wurde Schleich-Tieren zu Schlechteren.
Im Einzelfall ist das sogar amüsant. Im unerschöpflichen Netz werden sogenannte Autocomplete-Fails gesammelt, bewertet und finden sich dann sogar zwischen Buchrücken gedruckt im Handel wieder. In erster Linie sind diese Autocomplete-Fails aber schlicht nervig. Nachrichten oder Notizen werden sinnentstellt und Kommunikation erschwert. Im Wechselspiel zwischen Eintippen, Autokorrektur und Korrektur wird zugleich ein Prozess der wechselseitigen Abstimmung von Mensch und Technik sichtbar. Denn ebenso, wie mein Telefon ‚lernt', welche Worte ich in welchen Kombinationen häufig nutze, stimme ich meine Wortwahl auf die erwartbaren Vorschläge des Telefons ab. Meine Sprache wird mir bewusst, wenn mir meine Worte genommen werden. Und zugleich verändere ich meine Sprache und passe sie dem Gerät oder vielmehr der fehleranfälligen Tastatur und der Vervollständigungssoftware an, um möglichst selten korrigieren zu müssen.
Wir kennen uns nun schon besser – mein Smartphone und ich. Mittlerweile habe ich viel seltener Wutausbrüche, weil mein Telefon einfach nicht schreibt, was ich (mit kleinen tastaturbedingten Fehlern) eingegeben habe. Alles gut also. Oder doch nicht ganz? Denn ich muss an diese Software denken, die über eine Sprachanalyse Persönlichkeitsmerkmale der sprechenden bzw. schreibenden Person erfassen können soll. Demnach geben unter anderem Wortwahl, Satzbau und -länge weitaus mehr von uns preis als nur die Inhalte, die wir kommunizieren wollen. Wer unsere Sprache auswertet, erhält demnach tiefe Einblicke auch in die unbewusste Persönlichkeitsstruktur. Was, wenn meine Autovervollständigungssoftware auch entsprechende Potenziale entwickelt? Oder eher realistisch: Wenn Daten der Internet-Kommunikation für solche Analysenherangezogen werden? Angesichts der Bedeutung von Smartphones und Tablets in der Online-Kommunikation würde Autocomplete die Ergebnisse verfälschen – oder gar unsere Persönlichkeit beeinflussen?
Ich könnte natürlich die automatische Vervollständigung bzw. Wortvorschläge abschalten. Darüber hinaus kann ich auch wählen, ob mein Smartphone „Meinen Schreibstil verwenden“ soll. So kann mein Telefon meinen Schreibstil lernen, sichern und mit anderen Geräten synchronisieren. Und plötzlich bin ich mir nicht so ganz sicher, wie weit diese Software noch von der Sprachanalyse weg ist und was sie von meinem Unbewussten weiß. Und: Wie gut haben Sie und Ihr Smartphone sich schon kennengelernt?
Michael Gurt: Brexit total
Für Sascha Lobo ist der Brexit die direkte Folge eines Konzepts, das er Bullshit 9.0 nennt. Und nein, damit ist nicht das aberwitzige Drama um das Ausscheiden der englischen Mannschaft bei der Fußball-EM gegen Island gemeint. Bullshit 9.0 meint die völlige und bedingungslose Abkopplung von rationalem Argumentieren und politischem Agieren. Quasi eine Fortsetzung von ‚Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?‘, einem Zitat aus der Frühzeit der Republik ohne Internet. In Zeiten von Brexit- Aktivist Nigel Farage, Pegida-Plärrern oder der Führungsriege der AfD mag sich manch einer zurücksehnen nach ‚der guten alten Zeit‘. Politikerinnen und Politikern von gestern waren die Enthüllung von Täuschung, Lüge und Verrat hinterher wenigstens manchmal peinlich und führten zu Rücktritten oder Entschuldigungen. Heute wird sich mit solchen Kinkerlitzchen nicht aufgehalten, das Hier und Jetzt zählt – und natürlich ausschließlich die eigene Meinung. Fakten und logisches Denken ist was für Weicheier. Wenn schon Demagogie, dann mit Schmackes.
Der Großmeister des Bullshit 9.0 ist ohne Frage Donald Trump: Ein rassistischer, populistischer Hetzer, der über jede Scham erhaben ist. Wem Ronald Reagan als US-Präsident schon wie ein schlechter Witz vorkam, wird bei Trump vollends vom Glauben abfallen. Wenn die Realität schlimmer ist als die letzte kackblöde Reality- Show, weiß auch der optimistischste Kolumnist, was die Stunde geschlagen hat.
Für mich ist Bullshit 9.0 sogar noch breiter aufgestellt. Der Quatsch kennt keine Grenzen. Beweise finden sich in Forumsbeiträgen, egal zu welchem Thema. Ob Beiträge zur Bundesgartenschau, der Fußball-EM oder das jährliche Treffen der Zinnsoldatenfreunde: Allenthalben Verschwörungen wahlweise der Deutschland GmbH, von ‚das‘ Merkel und ihrem Regime von Volksverräterinnen und -verrätern, den Putin-Verstehenden, linksversifften rot-grünen Gutmenschen und natürlich der Lügenpresse.
Bestimmt hätten auch unsere Vorfahren gerne mal in der Anonymität des Internets über ‚die da oben‘ so richtig vom Leder gezogen: ‚Kolumbus? Diese halbblinde italienische Witzfigur findet doch nie den Seeweg nach Indien!‘ Hm, blödes Beispiel ... jedenfalls war es noch nie so salonfähig, sich im Netz über alles und jeden zu ereifern. Über die Hand in der Hose von Jogi Löw, kritische Berichte über fragwürdige Frauenbilder in Computerspielen, die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, zu viel oder zu wenig Regen, Sonnenschein oder Frühnebel, zu heißer oder zu kalter Kaffee und natürlich den Schnee von gestern. Apropos Schnee von gestern: Kaum war das Votum für den Brexit auf dem Tisch, war laut Google die zweithäufigste Suchanfrage der Briten: Was ist die EU? In solchen Fällen pflegte mein alter Lateinlehrer zu sagen: Herr, lass Hirn vom Himmel fallen! Der Herr im Oberstübchen scheint gerade anderweitigbeschäftigt. Wahrscheinlich mit dem Lesen der Kommentare unter dieser Kolumne. Falls Sie darin kritische Beiträge zur Kompetenz von Jogi Löw als Bundestrainer, meiner Qualität als Kolumnenschreiber oder Auslassungen zu ‚denen da oben‘ finden, empfehle ich einen Selbstversuch: Einfach mal nicht lesen. Sie werden sich wundern, wie vieles leichter wird, wenn man den Bullshit 9.0 sich selbst überlässt.
Jürgen Ertelt: #witzefrei
Spaß beiseite, Ernst komm' her. Es geht um Medienkunst. Und um Medienkompetenz. Der schmale blasse Junge mit seiner kleinen Looser-Show Neo Magazin Royale (bisher nur etwa 300.000 Zuschauerinnen und Zuschauer je Erstausstrahlung im TV) soll hier mit einem verdienten Lob- und Dank- ‚Gedicht‘ bedacht werden. Jan Böhmermann heißt die in einem fast 50-köpfigen Produktionsteam eingebettete Figur des gleichnamigen Schauspielers, Sängers, Entertainers und Moderators Jan Böhmermann und er spielt sie virtuos und gut, auf der vollständigen Klaviatur der Medien, online und offline. Er schafft in seiner Sendung mit der Maus für Erwachsene den Spagat von belustigender Unterhaltung und ernsthafter Aufklärung mit dem schärfsten Besteck des Narren – der Satire. Nein, er ist weder egomaner Clown noch arroganter Spießbürger, wie ihn viele Kritikerinnen und Kritiker unverstanden darstellen. Die lauten Rufer, die ihm spätpubertierendes Verhalten vorwerfen, verwechseln Rolle und Person, verstehen den Witz schlicht nicht und gehen ihm so dennoch auf den Leim – wie auch Kanzlerin Merkel, Staatspräsident Erdogan sowieso, BILD-Springer-Döpfner mit falscher Solidarität, und irgendein Hinterbänkler im Bundestag, der das umstrittene Erdogan-Schmähgedicht ohne Kontext in der Debatte um den Majestätsbeleidi-gungsparagrafen rezitierte. Jan Böhmermann, dessen satirischer Beitrag zur Kunstfreiheit innerhalb weniger Tage zur Staatsaffäre wuchs und in den Google-Suchtrends die zeitgleichen Panama Papers weit hinter sich ließ, ist nicht der Staatsfeind Nummer Eins – wohl aber die, die Gegenstand seiner medialen Attacken sind. Jan Böhmermann ist Peter Pan und Robin Hood, Hacker und Aufklärer, Zauberlehrling und Dadaist, Wallraff und Ego-Shooter der Medienkritik, und ein bisschen ‚Au Weiwei‘ :-) – Baacke würde es gefallen. Wir verdanken dem Grimme-Preisträger in der Medienpädagogik den Stinkefinger-Hack #Varoufake und die Entlarvung der geskripten Schwieger-Freakshow #Verafake. Und er macht uns deutlich, dass Journalismus den Medienumbruch noch immer nicht durchdrungen hat. Während Jan Böhmermann mit millionenfacher Reichweite in den Social Media am Beispiel eines bewusst verletzenden Gedichtes vielschichtig ungeklärte Fragen des europäischen Wertegebildes, den Preis der Flüchtlingskrise, der durch einen Autokraten annektierten Demokratie und nicht zuletzt der Presse- und Kunstfreiheit thematisiert, befassen sich die alten Medien mit dem Boten statt mit der überbrachten Nachricht. Der Narr hält den Spiegel bereit und die Hineinschauenden erkennen sich dennoch nicht. Das ist witzig. Wir müssen uns ernsthaft Sorgen machen, dass das Geschäft der anprangernden Analyse und mutigen Bewertung heute mehr von Kabarettisten des Formats wie Schmickler, Pispers, Wagner, Priol, Kalkofe, Kebekus, [nein, Nuhr macht nur Unterhaltung] Böhmermann in Sendungen wie Die Anstalt, extra 3, heute-show oder Mitternachtsspitzen geleistet wird und nicht von gelernten Medienwerkerinnen und -werkern in Politmagazinen und Tageszeitungen. Besonders steil ist das Gefälle in den Weiten des Internets: Dort ist die klassische Berichterstattung fast gar nicht mehr sichtbar und die Stars des politischen Theaters feiern dort Reichweiten, die das Fernsehenund die Zeitung nicht mehr aufholen kann. Was bleibt: Letztlich entscheiden die Gerichte über #freeboehmi und #freecumhuriyet.
[Service: Der Autor stellt gerne den wegen vorgeschobener Qualitätsmängel zensierten Auftritt (nicht nur das alberne Gedicht!) zum Download für lehrende Zwecke zur Verfügung. Den Link zur Sicherungskopie gibt es nach Mail an merz@ertelt.info]
Beitrag aus Heft »2016/03: Empowerment und inklusive Medienpraxis«
Autor: Jürgen Ertelt
Beitrag als PDFKlaus Lutz: Zukunftsträume
Ich liebe Preisverleihungen im Fernsehen! Ob Bambi, Webvideopreis oder Sportler des Jahres, wenn ich Zeit habe, bin ich gerne vom Sofa aus live dabei. So auch am 02. Dezember 2015, als ich nach einem anstrengenden Arbeitstag unvermittelt bei der Preisverleihung des deutschen Zukunftspreises gelandet bin, von dessen Existenz ich bis dato noch keine Kenntnis hatte. Prämiert werden – soweit ich das verstanden habe – innovative Erfindungen der deutschen Wirtschaft. Eine der nominierten ‚Erfindungen‘ ist ein ausgeklügeltes Radarsystem für Fahrzeuge, welches in seiner letzten Ausbaustufe Fahrerinnen und Fahrer überflüssig macht. Nach einem gut gemachten Sendung mit der Maus-Erklärvideo bittet Moderatorin Maybrit Illner – heute ein Traum in rosa – Ralf Bornefeld von Infineon auf die Bühne. Sie konfrontiert ihn gleich zum Einstieg mit der Frage, ob der deutsche Mann bzw. die Frau (genau in dieser Reihenfolge) schon bereit sei, sich das Lenkrad von einer Maschine aus der Hand nehmen zu lassen. Leider ereilt mich – während ich noch gespannt der Antwort entgegenfiebere – in diesem Moment das Schicksal von so vielen Fernsehabenden. Es fällt mir immer schwerer, die Augen offenzuhalten, in mein Bewusstsein dringen nur noch Begriffsfetzen wie Zukunft und Industrie 4.0 vor sowie Teile des „auch du, Klaus, sollst mehr auf Sauberkeit achten, wenn ich schon das Putzen übernehme“-Monologs meiner Freundin, bevor ich die Reise in die Welt der Träume antrete: Nach einem langen Arbeitstag komme ich gegen 20.30 Uhr nach Hause.
In Gedanken bei meiner To-Do-Liste für die Woche versuche ich, die Wohnungstür aufzuschließen. Der Chip – früher Schlüssel – gibt diese aber nicht frei. Nach mehreren vergeblichen Versuchen lese ich auf dem Türdisplay ‚Bitte erst Schuhe ausziehen‘. Schlagartig erinnere ich mich daran, dass ich letzte Woche einen neuen Teppichboden habe verlegen lassen und sich deshalb die Tür erst öffnen soll, nachdem ich die Schuhe ausgezogen habe. Und dank des Microchips in meinen Schuhen weiß die Tür auch, ob ich brav in die Hausschlappen geschlüpft bin – oder nicht. Also: Schuhe aus, Tür öffnet sich. Ich gehe zum Kühlschrank, um mir ein Feierabendbier zu holen. Dieser öffnet sich zwar, das Fach mit den alkoholischen Getränken leider nicht. Das Kühlschrankdisplay verrät mir aber, dass meine Freundin, die zurzeit im Ausland weilt, heute beim Frauenarzt war und in der dritten Woche schwanger ist. Da ich ihr leichtsinnigerweise versprochen hatte, bei einer Schwangerschaft gemeinsam mit ihr auf Alkohol zu verzichten, ist der Kühlschrank nicht mehr bereit, das Alkoholfach freizugeben. Also, einmal durchschnaufen, über den Nachwuchs freuen, und beim Nachbarn dessen Bier saufen. Nur blöd, dass das Türschloss Wind von dem Plan bekommen hat und nicht bereit ist, die Wohnungstür zu öffnen. Was soll‘s: rauf aufs Sofa, vor die Glotze. Doch statt Preisverleihungen oder Autoschrauber-Sendungen erfahre ich heute alles, was es über Schwangerschaften zu wissen gibt. Später im Bett werde ich auch noch im Zwei- Stunden-Takt durch ein Rütteln der Matratze geweckt, die mich auf den neuen Schlafrhythmus vorbereiten möchte. Wer zum Teufel hat der Matratze von der Schwangerschaft erzählt? Entnervt nehme ich meine Decke und ziehe aufs Sofa um.
Am Morgen lese ich auf meinem Handydisplay, dass ich um 17.00 Uhr einen Termin bei meiner Therapeutin habe, die wissen möchte, warum ich die Nacht auf dem Sofa verbracht habe. Ich mache Frühstück und gebe dem Sofa, der alten Petze, einen Tritt, bevor ich verärgert aus der Wohnung stolpere ... und wache wieder auf. Ich bin etwas verwirrt, weil Maybrit Illner anscheinend schon Feierabend gemacht hat, ohne sich von mir zu verabschieden. Es ist bereits nach Mitternacht und ich begebe mich direkt ins Bett. Jaja, ohne Zähneputzen. Beim Einschlafen überlege ich leicht panisch, ob meine elektrische Zahnbürste dies wohl direkt an meine Zahnärztin weitergibt. Dann aber schnaufe ich erleichtert durch, denn noch ist das alles Zukunftsmusik. Oder doch nicht?
Elisabeth Jäcklein-Kreis: #dennsi #ewis #senni #chtwassi #etun
Er ist gekommen, um Ordnung zu schaffen in einer chaotischen Welt. Um Inhalte und Informationen zu bündeln. In #justforfun und #seriousthings, in #cybermonday, #justinbieber und #aufschrei. Er ist gekommen, um Menschen schnell zu ihrem Ziel zu führen, sei dieses nun #fcbayern, #gamescom oder #db_bahn. Er ist nie zu spät. Er verfährt sich nicht. Er nimmt keine Umwege. Er duldet kein Chaos. Er kennt sich mit dem #business genauso gut aus wie mit dem #Weltkatzentag, hilft beim #startup weiter und hält zur #icebucketchallenge auf dem Laufenden. Und wer das möchte, den informiert er auch zu #tiniundclarissabestfriendsforever, #soproudofmylittlesisterannidubistdiegrößte oder #kaumzuglaubenderbacheloristgeschaffturlaubherewecomewoohoo6monateaustralien-letsgetthepartystartet. Freilich, besonders viel ‚Laufendes‘ wird da mitunter nicht zu finden sein.
Wer sich anschickt, seine Timeline auf #miawird5prinzessinnenpartyimgarten hin zu sortieren, wird sich vermutlich mit einer überschaubaren Anzahl an royalen Veranstaltungen zufriedengeben müssen. Schlimmer ergeht es nur dem, der die Unvorsichtigkeit begeht, dem tieferen Sinn so mancher #-Tiraden auf den Grund gehen zu wollen. Der nämlich findet sich mitunter in einem urbanen Bermuda-Dreieck wieder, versunken und verloren in endlosen Reihen von scheinbar willkürlich aneinander gereihten Buchstaben, weit und breit kein rettendes Leerzeichen oder Satzzeichen in Sicht, kein Ausweg mehr nach hinten oder vorne, nur noch #einschierunendlichesgetümmelanimmerneuenzeichenausdeneneskaum-mehrmöglichistunverehrthervorzukommen. An der Suche nach sinnvollen Fragmenten, logischen Bruchstücken dieser Wahnsinns-Gebilde ist schon so manch versierte Löserin bzw. Löser von Rätselheften gescheitert, bringt der Hashtag in seiner ewigen Eintönigkeit doch noch jeden Bildschirm zum Flirren und jeden noch so scharfen Blick zum Kapitulieren.
Vorbei ist es dann mit dem vollmundigen Versprechen, Ordnung in Timelines und Nutzerhirne zu bringen, unversehens wird aus dem schönsten Tag im Leben ein #dre #am #wed #ding, aus dem beruflichen Erfolg ein #karri #er #esch #ritt und aus dem gemütlichen Abend mit Bewegtbild und Snack ein #dennsi #ewis #senni #chtwassi #etun. So lange letzteres nicht nur für James Dean und Co., sondern auch für so manch #-Nutzende gilt, drängt sich doch die Frage auf: Wer bringt nun Ordnung in die chaotische Welt der Hashtags? Wer bündelt, wer sortiert, wer führt zum Ziel? Brauchen wir ein neues System? Tags für die Tags? Es muss in dieser Informationsflut doch einen rettenden Anker geben, der den Überblick behält und die Menschen endlich zu ihrem Ziel führt.
Hans-Dieter Kübler: Domestizierung 2.0 oder: Beziehungskiste Medien
Massenkommunikation, so lehrte man einst, ist prinzipiell durch die Einseitigkeit des Informationsflusses von der Kommunikatorin bzw. vom Kommunikator zum Rezipierenden gekennzeichnet. Sicher gab es einige wenige, meist technisch verstandene Rückkoppelungen wie Leserbriefe oder Telefonanrufe. Mit SMS, Mail und vor allem durch die sozialen Netzwerke haben sich die Verhältnisse jedoch (fast) grundlegend geändert; soviel Austausch, Interaktivität, Einflussnahme zwischen Medienund Publikum gab es noch nie, mindestens nicht so permanent, vielfältig und effektiv. Repräsentative Daten und solide Interpretationen liegen dafür kaum vor; aber Indizien finden sich genug: Schon von der Lokalpresse wird erwartet, dass jedes kleinste Ereignis vor Ort und meist auch die eigene Teilnahme gebührend berichtet werden, sonst hagelt es Proteste über Ignoranz. Leserbriefe sollen unbedingt ganz abgedruckt werden, und für alle Fragen erwartet man fundierte Auskünfte. Verwunderlich ist dieser direkte Umgang gewiss nicht: Denn alle Medien fordern unentwegt in allen digitalen Kanälen zu Anregungen, Beteiligungen sowie Reaktionen auf und biedern sich als ,ihre‘ unentbehrliche Familien- und Gruppenmitglieder an. Kaum eine Meldung bleibt heute ohne Kommentar. Faktische Fehler und Ungenauigkeiten werden umgehend angekreidet, Sendungen bereits in Echtzeit kritisiert, Protagonistinnen und Protagonisten verhöhnt oder hochgelobt, manche Talkshows holen sich das Echo explizit in die Sendung.
Shitstorms brechen nicht nur über Prominente oder bloßgestellte Mauerblümchen rücksichtslos herein, sondern auch Redaktionen bekommen prompt ihr Publikumsfett ab, wenn sie politisch nicht gefallen. Wieviel Aufwand sie inzwischen in diese weit reichende ‚Beziehungsarbeit‘ stecken, wie sie womöglich unter der Resonanzlast – zumal bei abgespecktem Personal – stöhnen, ist kaum eruiert. Denn die Beziehungen reichen oftmals noch tiefer: Kürzlich wurde beim erstmaligen (!) Lesertreffen von Der Spiegel in Hamburg etwa die Chefredaktion von Bekenntnissen nicht nur Älterer überrascht, wie wichtig selbst der (einst) unnahbare Spiegel als lebenslanger persönlicher Kompass sei, wie genau seine Fehltritte beäugt werden und wie vertraut man mit einzelnen Autorinnen und Autoren sei. Diese sozioemotionalen Phänomene sind nicht einmal genügend benannt. Wenn der inzwischen eingedeutschte Begriff der domestication nicht schon für die anhaltende Verhäuslichung der neuen Medien sachlich schief reserviert wäre, könnte er als Domestizierung in der ursprünglich doppelten Semantik gelten: nämlich als ständig sich intensivierende Einvernahme bzw. Familiarisierung der etablierten Medien durch das Publikum bis hin zu persönlichen Ansprüchen Einzelner, aber zugleich als fortschreitende Zähmung und Kontrolle ihrer Macherinnen und Macher bis hin zu massiven Interventionen. Luhmann hat noch die Massenmedien als funktionale Selbstbeobachtung der Gesellschaft zweiter Ordnung charakterisiert. Mit den sozialen Netzwerken verbreitet sich eine unaufhörliche, prompte Beobachtung dritter Ordnung der Medien selbst durch eine ständig aufmerksame, auch mosernde und oft empörte Zivilgesellschaft.
Jürgen Ertelt: www.Vorratsdatenspeicherung.de
Alle Jahre wieder ist sie trotz richterlicher Platzverweise auf der Tapete koalierter Politik: die anlasslose Massenüberwachung aka Vorratsdatenspeicherung. Für das Lieblingsprojekt aller machtverliebten Innenpolitikerinnen und -politiker, ministerieller Wendehals-Justiziarinnen und -Justiziare und populistischer Stellvertreterinnen und -vertreter (Siggi Pop ist kein Künstlername) ist jede absurde Behauptung angeblicher Wirksamkeit zur Verbrechensbekämpfung willkommen. Dabei gibt es keine zurückhaltende Pietät, ebenso keinen empirisch haltbaren Nachweis, wohl aber eine Portion Neusprech: aus Vorratsspeicherung wird Mindestspeicherung – aus Raider wurde Twix. „Was soll´s“ fragt sich manch unbescholtene Bürgerin bzw. Bürger und spielt mit den schlichten Worten „ich habe ja nichts zu verbergen“ das Argumentations- Ass in die gezinkten Karten der beschwichtigenden Unsicherheitspolitikerinnen und -politiker.
Hier muss Aufklärung ansetzen, die Datenwege nachvollziehbar darstellt. Angesichts einer Visualisierung von Telekommunikationsverbindungen und deren Ortsdaten lässt sich eine Karte von Beziehungswegen und Interessen ableiten (z. B. www.zeit.de/datenschutz/malte-spitz-vorratsdaten). Jeder Funkmastkontakt meiner Handyverbindung und jede IP einer aufgerufenen Webseite erzählt zum Bewegungsprofil, kombiniert mehr über mich als Facebook weiß. Metadaten geben in der Korrelation ihrer einzelnen Informationen inhaltliche Merkmale preis ohne inhaltliche Texte erfassen zu müssen. Es geht hier nicht um einzelne Profile in staatsanwaltlich angeordneter und richterlich bestätigter Verdachtsüberwachungen, nein, Vorratsdatenspeicherung ist nicht weniger als das Ansammeln aller Kommunikationsdaten aller. Uff, „du bist Terrorist“ – zumindest grundsätzlich in anlasslosem Verdacht. Da sollte es einem schon grausen, wenn Drohnen-Militärs gestehen „we kill people based on metadata“ (Andre Meisters von netzpolitik.org in seinem #rp15-Beitrag).
Gerade nach den Berichten von Edward Snowden und den jüngst bekannt gewordenen Verwicklungen der Nachrichtendienste muss man faktisch befürchten, dass eine aufgeschriebene Verfassung alleine nicht vor Macht- und Datenmissbrauch schützt. Klar, in Friedenszeiten einer Demokratie kann es ganz so schlimm nicht werden, aber was passiert in anderen Macht- und Konfliktsituationen? Und: Keine Datenbank ist unhackbar. Die Vorratsdatenspeicherung ist ein Werkzeug zur Totalüberwachung, nicht zur Straftatvereitelung. Das aufrichtig interpretierte Grundgesetz gebietet auf die technischen Möglichkeiten der Überwachung zum Erhalt der Freiheit zu verzichten. Die Unversehrtheit der Privatsphäre ist schon lange brüchig, das berechtigt aber nicht persönlich entschiedene Freigaben von Social Media-Einträgen mit einer staatlichen Erfassung meiner Netze zu deckeln. Hier ist der feine Unterschied im Kontrollverlust festzumachen und gleichwohl in der Medienpädagogik ergänzend zu Cryptopartys und Mahnwachen zur Datenarmut aufzugreifen: Die Macht der Daten in der Hand der Mächtigen ist ein Umstand der Geschichte umwirft. Ich schaue mir gleich nochmal fast unerfasst auf YouTube (www.youtube.com/watch? v=kSZ5sxDfVFY) ein vorgetragenes Gedicht des Kabarettisten Wilfried Schmickler an. Es endet mit der zusammenfassenden Zeile „wer wo mit wem warum und wann, das geht euch einen Scheißdreck an!“
Beitrag aus Heft »2015/03: Digitale Medienwelt: Werte und Verwertung«
Autor: Jürgen Ertelt
Beitrag als PDFDagmar Hoffmann: Was nützt der Tweet nur in Gedanken – Microblogging en passant
Berufsbedingt sitze ich viel vor dem Rechner. Wenn ich dabei meinen Gedanken nachgehen darf und nicht nur Mails zu beantworten habe (was leider inzwischen zum Kerngeschäft von Hochschullehrerinnen und -lehrern geworden ist), dann tue ich das sehr gerne und mit großer Ausdauer. Als ich vor vier Jahren im Nachgang zum Medienpädagogischen Kongress in Berlin (#kbom) einen Twitter-Account anlegte, war meine Familie empört. Das müsse ja wohl bitte nicht auch noch sein. Ich hinge eh schon genug vor dem Bildschirm und nun würde beim gemeinsamen Fernsehen auch noch die Timeline durchgescrollt werden, auf der sich (mehrheitlich) mir unbekannte Personen unter anderem über die Bahn beschweren, die Dramaturgie beim Tatort kritisieren, sich auch über Netzpolitik austauschen oder manchmal zu gerne selbst promoten. Ich versuchte, die Kritikerinnen und Kritiker in meinem Umfeld mitzunehmen, ihnen zu zeigen, was für mich wichtige Infos und Kontakte sind, und was manchmal eher Amüsement ist, das in meinem Alltagsgeschäft leider viel zu kurz kommt. Man – vor allem mein Sohn, damals 15 Jahre alt – versuchte, mit mir Regeln zu vereinbaren: Wenn Fußball oder Tatort geguckt wird, ist ein zweiter Bildschirm tabu. Lediglich bei der sonntäglichen Talkshow Günther Jauch dürfe ich mal einen Blick in die Tweets zum Hashtag wagen.
Die eigens berufliche Intension war nicht vergessen, wenngleich sich nach kurzer Zeit herausstellte, dass Microblogging für mich mehr als die Teilhabe am bildungspolitischen Diskurs und mehr als temporäres Networking sowie Kollaboration bedeuteten. Neben dem Mehrwert im beruflichen Kontext fand ich zudem die privaten Facetten mancher – nicht aller – Akteurinnen und Akteure interessant, denen ich folg(t)e. Junge Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen, die ihren Alltag mit kleinen Kindern zu managen haben, Frauen, die sich gegen Sexismus und Stigmatisierung auflehnen, Nachwuchsakademikerinnen und -akademiker, die an ihrer Karriere basteln müssen und dabei manchmal scheitern, Kolleginnen und Kollegen mit Leidenschaften für Fußball, Wein, Italien, Karikaturen sowie zuweilen dubiosen TV-Präferenzen. Studierenden folge ich #ausgründen nur selten, obgleich ich über ihre Tweets viel über Formen und Ursachen der Prokrastination lerne, aber auch erfahre, was sie neben ihrem Studium alles leisten (können), was sie darüber hinaus interessiert, bewegt und bedrückt. Manche Dinge, wie ihr Liebeskummer oder ihre Selbstzweifel, sind aber doch recht intim. Manchen Menschen ist vermutlich nicht immer bewusst, wer ihnen folgt und zuhört. Doch wem ist das schon klar – etwa im Bus? Ohne Zweifel ist die Zuwendung zu solchen Diensten zeitintensiv. Ich aber mag die bunte Mischung aus Sinnigem und Vordergründigem, aus belanglosen Inhalten und tiefen Wahrheiten. Dabei kommt mir die Frage von Frank Schirrmacher in den Sinn: Wollen wir denn, dass unser ganzes Leben Effizienzkriterien unterworfen wird? Ich will das nicht. Im Übrigen wird twittern in unserem Haushalt längst akzeptiert und begrüßt – nicht nur bei Wahlen, Talkshows und beim Tatort.
Jürgen Ertelt: Ferien auf Neuland
Ein Hausaufgaben-Heft soll sie also sein, die Digitale Agenda. Scheinbar haben die federführenden Innen-, Wirtschafts-, Infrastruktur-Ministerien danach erstmal mautfrei die Ferien angetreten. Man hört so wenig von angegangenen Lösungen, noch weniger vernimmt man, was mit den guten Vorschlägen aus der (Ältere werden sich noch erinnern) Enquete Internet und Digitale Gesellschaft der Bundesregierung passierte. „OK Google“, es gibt jetzt einen Ausschuss zur Digitalen Agenda. Das ist übrigens nicht der, der sich mit der dank Snowden bekannten Überwachung befasst, sondern mit persönlich zu verantwortendem Datenschutz gegen selbige. Das nennt sich jetzt „Digitale Medienkompetenz“ in Abgrenzung zur old fashioned Medienkompetenz oder zur „Digitalen Bildung“, die sich allerdings nicht auf die Initiative Keine Bildung ohne Medien bezieht. Eigentlich sollte es reichen, von Medienpädagogik zu sprechen: keine Medien ohne Bildung.
Nun, das kämpferisch angetretene GMK-Forum im Herbst 2014 doing politics – politisch agieren in der digitalen Gesellschaft hat die Digitale Agenda vorsorglich erst gar nicht kritisiert, um nicht zu sehr politisch zu agieren. Leider ist die Medienpädagogik immer noch zu unpolitisch, trotz Absichtserklärungen. Einzig die vogelfreien Krüger, Röll und Schorb nehmen kein Tablet vor den Mund. Jetzt haben wir das Theater und es lässt sich schon etwas hintern Vorhang luken: Der Jugendmedienschutzstaatsvertrag wird zum Auslaufmodell. Der Bund wird das Jugendschutzgesetz novellieren und dafür im Tausch die versammelte Medienkompetenz an die Länder abliefern. Nein! Doch! Ooh! Egal, es bleiben noch reichlich Themen der Digitalen Agenda, wo sich Medienpädagogik mit unausweichlicher Betroffenheit positionieren muss: Netzneutralität, Breitband-Zugang, WLAN-Störerhaftung, Urheberrecht, Digitale Teilhabe und Inklusion. Da ist noch richtig viel Agenda-Luft, zumal die randständigen aber zuständigen, weichen Ministerien der Justiz und des Verbraucherschutzes, der Bildung und der Forschung, der Familien und der Jugend noch nichts Substanzielles beitragen durften oder es vielleicht auch ohne professionelle Zuarbeit der Medienpädagogik bisher nicht konnten.
Das in der Agenda aufgeführte Freiwillige Soziale Jahr Digital plätschert durch die Verwaltungsflure des BMFSFJ, eine Beteiligung am Diskurs der eigentlich zukünftig Betroffenen durch mediale Partizipation in einer Jungen Digitalen Agenda ist in der Teilhabe-Sektion der Kladde nicht vorgesehen. Es gibt aber auch Freudiges zu berichten: MdB Saskia Esken, Mitglied im Ausschuss Digitale Agenda, sucht weiterhin den Kontakt zur Medienpädagogik, auch wenn ihre freiwillige, nicht eingeladene Anwesenheit beim letzten GMK-Forum fast nicht zur Kenntnis genommen wurde.
Bernd Schorb: Geschafft: Medienkompetenz ist endlich messbar!
Wie oft werden Probleme an die Wissenschaft herangetragen und sie kann sie nicht lösen. Ein solches Problem ist die Medienkompetenz. Sie wird dringendst gebraucht, quasi als Panzer gegen ständig neue Gefahren, die durch die Medienindustrie erzeugt werden. Gewaltdarstellungen oder die Anteignung der persönlichen Daten sind nur zwei einer Unzahl von Problemen, die uns bedrängen. Zwar hätte der Staat eigentlich die Aufgabe, uns zu schützen, aber erstens halten sich Politiker für überfordert, zweitens halten sie es für opportun mit den Medienkonzernen zu kooperieren und drittens sind einige staatliche Organe selbst sehr an unseren persönlichen Daten interessiert. Aber, der Staat ist keineswegs untätig. Er fördert die Medienkompetenz, vor allem die der jungenMenschen, die ja am meisten gefährdet sind. Die Förderung besteht primär aus der Finanzierung von Kurzzeit-Praxisprojekten.
Irgendwann wird die Frage gestellt, ob die Modelle denn nach dem Kosten-Nutzen-Gesetz erfolgreich sind. Und dann gibt es neue Gelder, um den Erfolg zu messen und in Zahlen darzustellen. Allerdings waren und sind die medienpädagogischen Fachleute der Meinung, dass man das komplexe Fähigkeitsbündel Medienkompetenz nicht mit statistischen Methoden erfassen kann. Aber jetzt meint einer: er kann’s. Mit Geldern eines Wissenschaftsministeriums hat ein Professorenkollege das Problem gelöst (www.ganztagsschulen.org/de/7624.php; 1.8.2014): „Will man nun Studien auflegen, verfügt die Medienpädagogik… über kein Methodeninstrumentarium. An unserem Institut betreiben wir Kommunikationswissenschaft…, in der wir sehr wohl über Methoden verfügen, Medienkompetenz zu messen.“ Und er hat ganz neue Methoden gefunden: „Wir haben einen Online-Fragebogen entwickelt, der innerhalb einer Schulstunde im Computerraum der Schulen bearbeitet werden kann.“ Zugleich, so dachte ich als Kommunikationswissenschaftler, hat er, wie es ja in jedem Lehrbuch steht, Medienkompetenz definiert und operationalisiert.
Nicht ganz: Wir haben „uns auf einen kleinen Ausschnitt des weiten Feldes Medienkompetenz, auf die Medienkritikfähigkeit, fokussiert … Wie sensibilisiert man Jugendliche, dass sie nicht alles, was in der Zeitung steht, für bare Münze nehmen?“ Die Praxisprojekte, die er dazu anschaute, definierten aber Medienkritik nicht als Zeitungskritik, wie das der Kollege gern gehabt hätte, sondern hatten „einen hohen Lebensweltbezug… da geht es dann um das Handy als Kostenfalle, um Cyber-Mobbing.“ So half nur noch der Griff in die Mottenkiste der Zeitungswissenschaft, das Andocken an „Gremien, die sich mit Qualitätskontrolle beschäftigen, namentlich dem deutschen Presserat, der regelmäßig Rügen für schlechten Journalismus ausspricht. Dies war für uns die ergiebigste Quelle. Wir haben an dieser Stelle den Übersetzungsschritt getan zu sagen: Medienkritikfähig ist, wer das, was professionell kritisiert worden ist, nachvollziehen kann.“
Jetzt wissen wir, dass Medienkompetenz als echte schulische Leistung gemessen werden kann: Nachbeten, was der Presserat kritisiert. Wir wissen auch, dass man sich als Kommunikationswissenschaftler um die digitalen Medien nicht kümmern muss. Wie gut, dass wir schon vor fünfzig Jahren in Gemeinschaftskunde Zeitungsartikel auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht haben und ich seitdem medienkompetent bin.
Swenja Wütscher: Ich sehe was, was du nicht siehst!
Leutnant Commander Geordi La Forge, mitten in der Fußgängerzone der bayerischen Landeshauptstadt! Für alle Nicht-StarTrek-Fans, es ist der Chefingenieur aus jenem Universum, der durch seinen Visor unverkennbar ist. Naja, zumindest fast. Denn auf den zweiten Blick erkenne ich, dass es weder er persönlich noch irgendein Fan der Weltraumserie ist, sondern einer von den noch zählbaren Datenbrillenträgerinnen und -trägern. Einer von denen also, die sich auf ihrem Zaubernasenfahrrad über ein Mikrodisplay Informationen in ihr natürliches Sichtfeld einblenden lassen können; eine kleine Kamera zur Bildanalyse und zur (unbemerkten) Aufnahme von Fotos und Videos inklusive.
Es ist mein erstes Mal. Gelesen habe ich zwar schon so einiges über die neue Technologie – vor allem im Bezug auf das Projekt des Internetgiganten Google Glass –, aber in diesem Moment werde ich erstmalig völlig unvorbereitet mit der vollen Breitseite des Geräts konfrontiert. Und das spaltet bekanntlich nicht nur Sichtfelder, sondern auch Gemüter: Spielerei für Vollnerds oder Meilenstein der Technik, Prototyp oder Revolution, treuer Assistent oder Big Brother?! „Der macht nichts, der will nur spielen“, ist das Erste, was mir in den Kopf schießt. Ein Satz, den ich bisher primär mit Hundebesitzerinnen und -besitzern verbunden hatte und der bei mir als bekennende Person mit Hundephobie direkt die Alarmglocken schrillen lässt. „Spielen also, ich will aber nicht spielen. Und noch weniger möchte ich, dass mit mir gespielt wird.“ Aber diesmal ist es anders, um einiges unangenehmer. Es ist, als würde ein solch tierischer Vierbeiner nicht nur mit mir spielen wollen, sondern als würde er dabei zusätzlich eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern tragen. Er hat mich damit vollkommen im Blick, ich wiederum muss meine Kontrolle über ihn bei meinem Spiegelbild abgeben, an die dunkle Seite der Gläser.
Ein analoges Fahrradklingeln lässt mich aufschrecken. Mein Blick nimmt nun auch die anderen Passanten wieder wahr. Ich realisiere, dass um mich herum offensichtlich ziemlich viele Personen nicht spielen wollen. Oder denken die etwa immer noch, Leutnant La Forge sei in der Stadt? Das ist es also, das Corpus Delicti der Neuzeit, das polarisiert. Es ist der Kleincomputer auf meiner Nase, der mir stetig nützliche Informationen liefern kann, aber gleichzeitig auch der Kleincomputer auf deiner Nase, der mich gefühlt immer beobachtet, ausspäht und dokumentiert. Ich aber liebe meine Freiheitsrechte und bin überzeugt davon, dass Datenschutz trotz des stetigen Bedürfnisses nach Vernetzung und Kommunikation keine veraltete Idee ist. Im Gegenteil. Ich glaube, dass er sich seit der Erfindung des Telefonbuchs vorbildlich weiterentwickelt hat. Und genau das macht mich so rasend. Dieses Armutszeugnis einer ach so modernen Branche, die selbstverliebt stetig neues Spielzeug kreiert, statt die Geißeln und Wächter der Menschheit zu bekämpfen.
Wie ich derzeit die Zukunft durch meine rosarote Brille sehe? Nun gut, moralische Werte, Privatsphäre und Datenschutz mögen in ihrer jetzigen Form gegen das Gadget langfristig verlieren bzw. sich der gläserne Mensch mit diesen revolutionieren. Aber solange ihr Akku noch schwach ist und ein Blick in den Spiegel noch an eine Science Fiction-Serie erinnert, so lange wird sich die Datenbrille glücklicherweise niemals als Alltagsgegenstand durchsetzen!
Beitrag aus Heft »2014/04: Jugend – Medien – Kommerzialisierung«
Autor: Swenja Wütscher
Beitrag als PDFJürgern Ertelt: www.Ideen-Jugendmedienschutz.de
„Totgesagte leben länger“ oder „Ein Zombie hing am Glockenseil“ waren die alternativen Überschriften für diesen Beitrag zur im Titel adressierten Beteiligungsplattform zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der mit seinem holprigen Namen und Inhalt schon Gegenstand eines Abgesangs in merz 2011/01 war [Disclaimer: Mit geschriebenen Buchstaben darf man auch ohne zu berücksichtigende Altersfreigaben mediale Titel abbilden]. Im Dezember 2010 stolperte bereits das wortgewaltige Ungetüm über die Internet-Evolution ins Koma, wurde aber jetzt nach einem mehrjährigen Tiefschlaf geweckt, ohne dass in dieser Zeit etwas Neues bewirkt worden wäre. Das Internet und die digitale Gesellschaft haben sich rasant weiterentwickelt, der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – kurz JMStV – nicht.
Eigentlich wurde schon alles zum Thema gesagt, aber weil niemand richtig zuhörte, geschweige denn etwas zur Weiterentwicklung aufgriff, werden wir wie Zeitreisende ins Jahr 2010 zurückgeholt. Frustrierend und langweilig. Sollte dies etwa die Strategie für einen erneuten Durchsetzungsversuch eines fragwürdig geänderten JMStV der Staatskanzleien der Länder gewesen sein, – abwarten und nicht bewegen – ermüden und durchwinken lassen? Doch, es gibt etwas Neues! Es wurde eine Mitmachfalle aufgestellt, die scheinbar zum Einbringen von Ideen und Vorschlägen zum Jugendmedienschutz – eigentlich geht es nur um den JMStV – einlädt. „Hier geht es zu Ihren Beteiligungsmöglichkeiten“ heißt es, ein Klick weiter wird eingegrenzt auf zehn Fragen in einer Online-Konsultation, wobei die Frage Nr. 10 die einzige offene Fragestellung ist: „Welche Änderungen am Jugendmedienschutz-Staatsvertrag erscheinen Ihnen darüber hinaus sinnvoll?“ Es handelt sich um ein instrumentalisiertes Partizipationsverfahren zur Durchsetzung von bereits vorbereiteten Entscheidungen.
Das Beteiligungsangebot, welches auf hohem juristischen Niveau auch noch die Kommentierung von fünf ausgewählten Absätzen des ‚neuen‘ JMStV-Entwurfs vorsieht, missachtet alle Regeln der Beteiligung: Es gibt keine Transparenz über die Interessen und Bearbeitungen im Beteiligungsverfahren, eine Wirksamkeit des Eingebrachten ist nicht verbrieft, was nach welchen Kriterien in der weiteren Diskussion berücksichtigt wird, ist nicht nachvollziehbar, die Sprache ist nicht barrierefrei im Sinne von Verständlichkeit, die Auswahl der Themen tendenziös durch Weglassen anderer gewichtiger Aspekte, die angebotenen Informationen zum Jugendmedienschutz und seiner Ausdifferenzierung in Deutschland sind zur Meinungsbildung einseitig (Kritik wird nicht verlinkt) und unzulänglich. Es wird also mit potemkinschen Interessen am Glockenseil gezogen, um Untote zu reanimieren und dabei auch noch Nebenschauplätze wie die Extremismus-Debatte zu bedienen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem JMStV in 2010 brachte unter anderem die Forderung nach mehr Beteiligung von Eltern und Jugendlichen (was jetzt wenigstens wieder vom Bundesjugendministerium herausgestellt wird) und die stärkere Einbeziehung der Parlamente zu Beginn des Novellierungsprozesses hervor. Auch von diesen wichtigen Positionen wurde nichts aufgenommen und lässt damit umso mehr an den hehren Absichten einer Online-Beteiligung zweifeln, die offline starten muss.
Meine Empfehlung lautet, sich an nichts zu beteiligen, wo keine ernsthafte Beteiligung stattfindet! Angesichts von derzeit nur 111 Teilnehmenden (02. Mai 2014) fühle ich mich verstanden.
Ariane Hussy: Bitte partizipieren Sie!
Voll Freude stellte ich vor kurzem fest, dass endlich meine politische Partizipation wieder verlangt wird: Zuhauf ereilten mich E-Mails, Facebook-Event-Einladungen und besorgte Nachfragen, ob ich denn auch schon „etwas dagegen getan“ oder „mich beteiligt“ hätte. Im Anhang der Aufruf zur virtuellen Unterschrift auf einer beliebigen Online-Petition. Das Ausfüllen kostet fünf Minuten, das Gewissen ist für ein paar Tage beruhigt. Die bürgerliche Rolle in der Demokratie habe ich mit einem leidenschaftlichen Mausklick ausgelebt! Yeah! Ich fühle mich wie ein zweiter Rudi Dutschke, ich bin eine Rebellin, die auf Demonstrationen verpixelte Banner schwenkt und aufgebrachte Parolen an virtuelle Pinnwände schreibt! Und an sich umhüllt eine Online-Petition wirklich der Hauch des Verruchten. Man solidarisiert sich, man setzt sich ein, und all das, ohne in der Fußgängerzone von Menschen angesprochen zu werden, die einen vorher in tiefschürfende Diskussionen verwickeln.
Doch vielleicht ist das auch eines der Probleme. Der Mausklick fällt uns lockerer aus dem Handgelenk als eine tatsächliche Unterschrift. Der Inhalt der Petition wird überflogen, ein kurzer Blick wird darauf geworfen, welche Leute denn schon unterschrieben haben, und wenn all das passt und das Teewasser grade fertig ist, wird schnell der eigene Name in das vorgesehene Feld geschrieben. Ich kam, sah und klickte. Die Einfachheit, mit der Menschen über eine Online-Petition zu erreichen sind, treibt seltsame Blüten. „Hurra!“ scheinen sie zu denken „Ein Werkzeug, um all den Kleinkram zu ändern, der mir jeden Tag im Gehirn zwickt!“ Eine Petition gegen Rasenmähen am Sonntag und für Blumen am Fahrrad. Eine Forderung gegen blasse Moderatoren und für die Abschiebung singender kanadischer Buben. Diese nichtoffiziellen Online-Petitionen, im Rausch der Empörung getippt, richten sich nicht an Parlamente. Sie können sich an konkrete Personen, Organisationen und ein bisschen auch an die Menschheit an sich richten. Sie blinken auf dem Bildschirm ins Auge und sagen kurz: „Hey, geht es dir nicht genauso?“ Deine Meinung ist kein Außenseiter, die wachsende virtuelle Unterschriftenanzahl zeigt: In Wahrheit ist sie der geheime Underground-Star.
Du wusstest es doch schon immer, und nun wissen es alle anderen auch. Erschöpft lese ich all die Anfragen und Posts zu Sojamilch und Tierrettung, zu autofreien Tagen und öffentlichen Gärten. So viele Meinungen, wie sie von mir erwartet werden, habe ich noch gar nicht. Und damit nicht genug, der Schneeball rollt und reißt eine Meinungsflut mit sich. Eine relevante Petition verlangt natürlich nach einer Gegenpetition, nach noch anderen Meinungen, nach einer Lawine aus schillernden Blütenblättern, von denen man sich eines aussuchen soll. Aber wenn ich nicht partizipiere, was dann? Wird die Schnellstraße gebaut? Wird die Gentrifizierung die Stadt verschlucken? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Durchatmen und neues Teewasser aufsetzen. Interessant sind sie, die Meinungsfluten. Was mich oft beschäftigt und relevant ist, unterstütze ich. Sonst können wir uns zurücklehnen und uns an der Schar der Aussagen, Wünsche und Forderungen erfreuen, erschrecken und ergötzen. Und vielleicht wird sich ja alles irgendwann in seiner Meta-Ebene auslöschen: Die gefürchtete Online-Petition gegen Online-Petitionen.
Jürgen Ertelt: „StaSi reloaded“
Die Verfilmung des Romans 1984 trifft nur annähernd die Tragweite des Welt-Überwachungsskandals, den der Whistleblower Edward Snowden in Teilen öffentlich gemacht hat – mit Daten aus 2008. Stecken wir in 2014 bereits in einer Matrix-Interpretation des Terminator 4-Films mit einem Held namens Snowden oder ist es die potenzierte Daten-Apokalypse mit dem falschen Endzeitdatum 2012? Die Komplexität der Überwachungsmaschinerie überfordert den Einzelnen in seiner Vorstellungskraft, man glaubt im falschen Film zu sein – lebt aber in einer alltagskontrollierten Welt. Die Überforderung lähmt den Widerstand und die politische Handlungsunfähigkeit der betroffenen Regierungen gefährdet das hohe Gut der Demokratie. Die Überwachung wirkt tief nach ihrer Offenkundigkeit: Nur wenige Journalistinnen und Journalisten thematisieren sie in gebotener Vehemenz und Kontinuität der Anklage, Anonymous-Aktivistinnen und -Aktivisten fürchten um ihre Anonymität und werden zahm. Die belächelten Aluhut-Trägerinnen und -Träger der Verschwörungstheoretiker-Fraktion haben Recht behalten – aber hilft es, einen Aluhut zum Schutz zu bauen? Es besteht die Gefahr, dass wir wie ein Kind im Glashaus reagieren und uns durch artiges Verhalten nicht mehr der offensichtlichen Beobachtung ausgesetzt fühlen.
Das nahm auch der Frosch an, der im langsam erhitzen Wasser doch noch den brühenden Tod fand. Wir dürfen uns nicht mit einer staatlichen Totalüberwachung arrangieren! Und nein, es geht nicht um Datenarmut in Social Media, sondern um die Freiheit, meine persönliche Öffentlichkeit selbst zu bestimmen, ohne gefährdet zu sein oder als Gefahr sortiert zu werden. Die geschätzten Kolleginnen und Kollegen vom Chaos Computer Club und andere Netzaktive fordern in Konferenzen als Reaktion mehr und neue Verschlüsselung im Wettrüsten gegen den Überwachungsstaat; man möge in die Geheimdienste eintreten und diese unterwandern, die Schwarmintelligenz soll ein neues Netz bauen. Also doch Matrix-Revolution? Dem gegenüber stehen die immer wieder zu hörenden absurden Argumente der Fatalistinnen und Fatalisten sowie anderer politischer Opfer, die leider die überwachte Mehrheit stellen: Die leichte Beute spricht von ‚Terrorismus verhindern‘ und ‚selber nichts zu verbergen‘. Der nächste richtige Schritt in Deutschland wäre, die sich eigentlich selbst verbietende Vorratsdatenspeicherung zu streichen. Daran könnte die ‚GroKo‘ gewinnen. Unterm Strich müssen wir dennoch mit Überwachung leben, zumindest bis zum Weltfrieden.
Dies ist auch eine Herausforderung für die Medienpädagogik. Sie muss politischer agieren und mediale Überwachungstechnologien und deren Sabotage erklären und in Praxis-Workshops einen neuen Code gestalten und hacken trainieren. Das Internet wird nie wieder so sein wie es war. Wer das nicht glaubt, möge bitte jetzt deutlicher sprechen, die Webcam in einen 90 Grad-Winkel stellen und vor Verlassen des Hauses bitte die Akkus seines Mobiles aufladen.
Beitrag aus Heft »2014/01: Machtmittel Medien – Pädagogik ohne Macht«
Autor: Jürgen Ertelt
Beitrag als PDFGünther Anfang: Alles Playback?
Neulich bei der ars electronica und der in diesem Rahmen präsentierten Linzer Klangwolke war es wieder einmal so weit. Eine gigantische Inszenierung zum Thema „Bruckner lebt!“ am Donauufer in Linz mit vier Riesenleinwänden, einer Livebühne und jeder Menge pyro- und lasertechnischer Effekte wurde aufgefahren, um das Werk von Anton Bruckner zeitgemäß einem Massenpublikum zu präsentieren. Aber: Alles war playback! Der Schauspieler, der Anton Bruckner darstellte, der Chor, der die Musik von Anton Bruckner zum Besten gab, die Akteure und die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, die Szenen aus Bruckners Leben nachspielten. Nun klar, wir alle wissen, dass Bruckner nicht mehr lebt, aber muss dann alles, was über ihn erzählt und musikalisch dargeboten wird, aus der Konserve kommen? Im Fernsehen sind wir ja schon lange daran gewöhnt, dass niemand mehr live singt oder spielt. Das würde wahrscheinlich auch zu schrecklich klingen. Aber wenn auch Sprechakteure wie bei „Bruckner lebt!“ nun playback auftreten, dann stellt sich die Frage, ob hier nicht etwas Schule macht, das noch ganz andere Auswirkungen nach sich ziehen könnte. Stellen wir uns vor, die Nachrichten werden in Zukunft playback gesprochen oder in den diversen Talksendungen wird alles vom Band eingespielt. Dann kann zwar nichts mehr schiefgehen, weil alles vorab exakt geplant ist, aber wollen wir das dann noch sehen?
Nun gut, bei Politikerinnen und Politkern hat man ja sowieso das Gefühl, dass sie playback sprechen, so einstudiert und auswendig gelernt klingt da alles. Am Beispiel der Klangwolke kann aber auch gezeigt werden, dass sich niemand mehr zutraut, etwas live zu inszenieren. Alle Teile der Inszenierung werden auf Knopfdruck gestartet und exakt vom Computerprogramm gesteuert. Die Maschinerie des Liveevents wird sekundengenau abgefahren und in Szene gesetzt. Da können auch das Feuerwerk und die Lasershow genau auf den Punkt gestartet werden und niemand muss mehr manuell auf ein bestimmtes Stichwort warten. Einziges Problem bei dieser Zeitsteuerung ist wieder einmal der Mensch. Denn die Playbacktexte müssen ja auch von den Akteurinnen und Akteuren gesprochen bzw. gesungen werden. Wenn da der Mund zu früh aufgemacht wird, denkt man zunächst noch an einen Audio Delay, aber wenn es das eine Mal zu früh und das andere Mal zu spät passiert, ist der Schwindel schnell durchschaut. Sobald sich aber das Gefühl einschleicht, dass wir um die Wirklichkeit gebracht werden, trauen wir der ganzen Sache nicht mehr.
Und schließlich stellen wir uns die Frage, wie wirklich ist eigentlich die Wirklichkeit? Und wer dann noch weiter ins Fragen kommt, landet schnell bei populärwissenschaftlichen Büchern, die anscheinend Aufschluss darüber geben, „Wer bin ich? Und wenn ja wie viele?“ Spätestens hier kommen wir dann zu dem Schluss, dass wir eigentlich auf Konzerte, die so tun, als ob sie Bruckner wieder zum Leben erwecken, gerne verzichten können. Ebenso wie auf alle Schlager- und Popsternchen, die so munter playback trällern, aber eigentlich nichts zu sagen haben.
Elisabeth Jäcklein-Kreis: Warum? Weil’s geht.
Ein Surren. Ein Krachen. Unter vernehmlichem Stöhnen rutschen die Dias in der Schlange einen Platz nach vorne, für eine Sekunde blitzt die Leinwand grell weiß auf und leuchtet den sonst schummrigen Raum gnadenlos aus, jeden Anflug von Schläfrigkeit entlarvend. Pupillen springen schreckartig auf, um sich gleich wieder zu entspannen: Die Mutter lacht übermütig von der Leinwand, streckt dem mühsam flackernden Diaprojektor ihren Tequila Sunrise entgegen. KLACK. Papa und Sohnemann, stolz vor der gemeinsam errichteten Sandburg. KLACK. Mama, Tochter und der halbe Sohn, der in letzter Sekunde doch nicht aufs Bild wollte. KLACK. Mamas sonnenrotes Dekolleté, dazu ein Stück vom Oberarm, greifend nach dem fliehenden Sohn gestreckt, unter dem Arm ein schelmisches Auge der Tochter. KLACK. Sonnenuntergang.Zeitsprung. Wer heute von einer Reise heimkehrt, muss sich nicht mehr mit dem Diaprojektor herumärgern, dafür häufig genauso lange und intensiv mit dem Beamer. Die Fotos erscheinen gestochen scharf an der Wohnzimmerwand, dazu verbreitet der Laptop ostasiatische Klänge. An der Wand: Die Mutter, herzlich lachend, in der Hand den halb geleerten Mai Tai. Der Sohn mit dem gerade am Strand gefangenen Krebs vor dem Gesicht. Mutter und Sohn, gehüllt in ein zerlöchertes Betttuch, ausgemergelt und mit verzweifelten, großen Augen im Straßenstaub. Aber keine Sorge: Natürlich ist es nicht dieselbe Mutter, die ihren properen Nachwuchs eine Woche zuvor im gepolsterten Flieger ins ‚Exotische‘ entführt hat und vom Aufenthalt dort so mitgenommen ist. Mitnichten. Die Frage nach der Identität der abgebildeten Familie ist dennoch zumeist keine geeignete für den gemütlichen Abend, wird sie doch mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem Schulterzucken beantwortet und der Aussage: „Keine Ahnung, Einheimische, die saßen da am Straßenrand. Aber ist das nicht herzerweichend? Die großen Augen? Schau doch mal, wie furchtbar arm die Leute da sind!“Man verlegt sich also auf empathisches Nicken, auf ‚Oh‘ und ‚Ah‘, teilt einen Moment der emotionalen Überwältigung im Angesicht der Armut der Menschen in fernen Ländern, nimmt einen Schluck aus der ausgehöhlten Kokosnuss und geht weiter zum nächsten Bild.
Straßenkinder beim Fußballspiel mit zum Ball zusammengezimmerten Socken. Kleine Mädchen, die versuchen, selbstgebastelte Armbänder zu verkaufen. Drogendealer. Eine Schlägerei. Eine Frau in ärmlicher Kleidung mit unmutig erhobenem Arm. „Die war komisch. Wollte sich nicht fotografieren lassen.“ Komisch – dabei werden ‚Einheimische‘ doch von den Reiseveranstaltern so dekorativ in fremde Länder gesetzt, um als Touristenattraktion und emotionales Highlight jeder Fotoshow zu dienen. Dabei wurden Filmdöschen und Diaprojektoren doch eigens durch größenwahnsinnige Speicherkarten ersetzt, damit man sich nicht mehr auf die fünf wichtigsten Augenblicke der Reisegruppe beschränken muss, sondern auch munter auf jede sich darbietende Szene des ‚landestypischen‘ Alltagsleben draufhalten kann. Und dabei geben sich die großen Medien doch extra so viel Mühe, ihrem Publikum zu vermitteln, dass jeder ein ‚Bürgerreporter‘ sein kann – und sollte. Da darf man die neu entdeckte Paparazzi-Ader im Urlaub doch nicht gleich wieder verkümmern lassen.Gerade wo die teure Kamera das Elend am Straßenrand doch auch aus sicherer Entfernung noch pixelfrei ablichtet! Da wären ja die technischen Möglichkeiten vollkommen ungenutzt!
Bisweilen scheint im Umgang mit medialen und technischen Möglichkeiten die Devise zu gelten: Was geht, muss auch getan werden. Warum? Weil’s geht. Taktgefühl, gesunden Menschenverstand und ‚Denken vor dem Klicken‘ sind was für Langweiler oder Leute ohne gutes, technisches Equipment.Das machen Reality-TV und Co. vor und Otto Normalverbraucher macht’s nach. Und was bleibt für die Medienpädagogik? Nun, die ‚macht was dagegen‘-Rolle wäre noch zu besetzen.
Swenja Wütscher: Die letzte Seite
So langsam wird mein Finger lahm, denke ich, diese Liste mit Hunderten von Fernsehkanälen ist wirklich supersmart. Bereits drei potenzielle Programmangebote habe ich in meinem Kurzzeitgedächtnis gespeichert, obwohl ich von Buchstabe F bis M die Angebote nur im Turbolauf überflogen habe. Wenn ich nun die Programmtaste meiner Fernbedienung weiter durchgedrückt halten würde – anstatt jeden Kanal per Einzeldruck auszuwählen –, dann würde der Auswahlbalken für mich noch weiter über meine neue Flach-Mattscheibe rattern, aber einen Sinn hätte das wohl nur bedingt. Ich kann bei der Durchlaufgeschwindigkeit sowieso nur hieroglyphenartige Sendernamen erkennen und bis zur letzten Kanalübersichtsseite werde ich wohl in keinem Falle durchdringen.Ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, würde ich einmal das Ende des Internet erreichen. Würde mir mein Bildschirm wie aus dem Nichts eine Nachricht einblenden, dass dies die letzte Homepage sei. Dass es keine weiteren Seiten mehr gebe, dass ich meinen Browser nun schließen könne. Es wäre aus und vorbei ... und es wäre doch gleichzeitig so wundervoll, spannend, aufregend!Es würde dann ja sicherlich sowas wie einen Internet-Nachfolger geben, etwas, was ich mir in diesem Augenblick wohl einfach noch nicht vorstellen und adäquat betiteln kann. Es wäre so, wie mit den Schulheften damals.
Die, die ich mir neu gekauft und bei denen ich mir felsenfest vorgenommen habe, diesmal ganz bestimmt alle Hausaufgaben zu machen, ordentlich zu schreiben, immer das Datum zu vermerken und eine saubere Überschrift zu setzen, nichts mit Tinte zu verklecksen, umzuknicken und in keinem Falle eine Seite rauszureißen. Gut, nach einem Monat sah es eigentlich immer wieder genauso aus wie das Heft, das ich weggeworfen hatte, aber dieser Neuanfang hatte für mich dennoch immer die Geister des alten Heftes vertrieben und mir eine notwendige Brise an frischem Wind ins Gesicht geweht, ein Gefühl voller Stolz, es die ersten Seiten ganz in meinem Sinne geschafft zu haben. Und auch wenn ich beim Internet-Nachfolger vielleicht kein weiteres Ende mehr erleben würde, ich hätte doch jetzt die Möglichkeit eines unberührt- reinen Neuanfangs. Jeder von uns. Jede Internet-Surferin, jeder Internetsurfer hätte einen neuen Ausgangspunkt – die Startseite, die er selbst wählt.Schade, dass es so etwas in der heutigen Medienwelt kaum noch gibt. Bücher, Zeitungen, Kassetten, ja selbst CDs setzen sich so langsam aber sicher in die zweite Reihe und nehmen dabei den Geruch mit, der in meine Nase steigt, beim ersten Öffnen eines frischen Notizbuchs, bei dem die Seiten noch ein klein wenig aneinander kleben, der Rücken noch nicht gebrochen ist und die Ecken noch nicht abgeschrammt sind.
Ich für meinen Teil werde sie vermissen, die letzten Seiten, die abschließend neue Geschenke mit sich bringen. Nur sehr wehmütig verlagere ich mein Leben in die unendliche Freiheit, die so gesehen gar keine ist. Denn ein Kapitel in meinem Leben abzuschließen – ganz egal ob digital oder analog –, gibt mir persönlich einiges mehr an Freiheit für einen neuen Abschnitt.
Beitrag aus Heft »2013/03: Jugend und Information in der mediatisierten Gesellschaft«
Autor: Swenja Wütscher
Beitrag als PDFHans-Dieter Kübler: Digitale Gesellschaft – klammheimlich verabschiedet
Hat es jemand bemerkt zwischen Euro-Krise, Energiewende, Syrien-Krieg, US-Haushaltsdefizit, Homo-Ehe und Schavans Plagiats-Debakel? Wohl kaum. Am 28. Januar 2013 hat der Deutsche Bundestag offiziell, aber kaum vernehmbar die „digitale Gesellschaft“ verabschiedet. Nein, nicht die wohl noch kommende reale, sondern die parlamentarische Reflexion von 34 Mitgliedern seit Mai 2010 darüber. Und fast schon erwartungsgemäß – wie schon bei den Enquete-Kommissionen davor (zur „Informationsgesellschaft“ (1998) und zur „Globalisierung“ (2002)) – kommt politisch wohl nichts heraus. Doch „erfolgreich“, so der Vorsitzende Axel E. Fischer (CDU/CSU), war die Arbeit allemal: Viele hochkarätigen Experten wurden gehört, unzählige Gutachten, umfassende „Zwischenberichte“ und gut gemeinte Empfehlungen geschrieben, endlose Sitzungen abgehalten und langwierige Diskussionen geführt: Auf „insgesamt 2.000 Seiten“, so Fischer stolz, ist ein „umfassendes Bild der digitalen Gesellschaft“, ihrer „Potenziale, Problemfelder und Lösungsansätze“ notiert, sogar „regelrechte Nachschlagewerke für einzelne Themen“ sind entstanden, bilanziert das Gremiumsmitglied, Prof. Christof Weinhardt von der Universität Karlsruhe. Mithin: Willkommen in der alten, analogen Welt, die Archive werden traditionsgemäß für Nachkommende und neugierige Forscher auf Papier speichern, was Anfang des 21. Jahrhunderts zu „Internet und digitale(r) Gesellschaft“ höchstoffiziell gedacht, erörtert und projektiert wurde. Mehr nicht.Denn politisch tat und tut sich (fast) nichts; Regierungsfraktionen und Opposition konnten sich nicht einigen, Tagespolitik und Wahltaktik obsiegen wieder einmal. Immerhin, weitere Diäten und Ausgaben sind gesichert: Denn einhellig gefordert werden ein ständiger Ausschuss zu digitalen Themen und sogar ein Staatsminister im Bundeskanzleramt. Die können dann all die strittigen Fragen weiter traktieren – währenddessen die mächtigen IT-Konzerne wie Microsoft, Google, Amazon, Facebook längst Fakten schaffen und ihre digitale Gesellschaft nach ihren Interessen und Geschäftsmodellen formen: „Informationskapitalismus“ nennt man diese Politstrategien inzwischen sinnig, und selbst der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher verdammt sie als recht verwerfliches Ego-Spiel.
In Berlin stritt man sich hingegen höchst konventionell über ein kontroverses Verbraucherbild, also darüber, wie mündig diese Spezies vom und im Netz sei und ob es Schutz vom Gesetzgeber brauche. Oder über das Unterbinden von Massenabmahnungen, an denen sich findige Anwaltskanzleien bereichern. Oder über den Dauer-Casus ‚öffentlich-rechtlicher Rundfunk‘, den private Medienunternehmen und natürlich ihre parlamentarische Lobby endlich stutzen wollen: „Vollversorger“ oder „Qualitätsversorger“ – heißt die neue (Schein-)Alternative, die je nach Belieben und Interessen ausgelegt werden kann. Über alles andere und ungleich Relevantere wie Netzneutralität, Urheberrecht, Datenschutz, Green-IT, E-Government und Online-Bürgerbeteiligung lassen die Schlussberichte entweder nur Unverbindliches oder Dissonantes verlauten.Immerhin will man mehr Geld für die „Digitalisierung des kulturellen Erbes“ locker machen. Dazu zählen dann wohl auch die 2.000 Seiten dieser Enquete, womit sich der Kreis schließt. Und als wohl wichtigstes Resultat verkündet das Mitglied Manuel Höferlin (FDP), „viele [hätten nun] erkannt, dass Netzpolitik nicht nur ein Orchideenthema ist“. Na, wenn das kein (später) Lernerfolg ist, den sich die Volksvertreter wieder einmal teuer und ausgiebig abgerungen haben. Aber jeder einschlägige VHS-Kurs wäre billiger und mindestens so ertragreich gewesen.
Klaus Lutz: James Bond und die Elementarpädagogik
Wir verlieren unsere Jungs auf dem langen Weg durch die Bildungsinstitutionen. Das Abitur wird zunehmend weiblich, die Folgen davon sind – wie beim Klimawandel – nicht absehbar. Es scheint nur einen Ausweg zu geben: Mehr Männer braucht die Pädagogik! Doch woran liegt es, dass sich Männer bislang nicht für Erziehungsaufgaben im Elementarbereich begeistern lassen? Ist es die schlechte Bezahlung, sind es die geringen Aufstiegsmöglichkeiten, das weibliche Image des Berufs oder – wie so oft – die Medien, die in ihrer Rollenzuschreibung Kindererziehung als Aufgabe der Frauen sehen? Da die Medien schon für so viele Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht wurden, kann man ihnen dieses Problem ja auch noch zuschreiben. Oder mal ganz anders gedacht: Hängt das Desinteresse des starken Geschlechts vielleicht sogar mit der Abwesenheit von Medien zusammen? Jeder, der schon einmal einen Elternabend in Kindergarten oder Grundschule besucht hat, stellt fest, dass der Anteil der Männer dort überschaubar ist. Spielen bei solchen Veranstaltungen aber Medien eine Rolle, etwa gemeinsames Computerspielen von Kindern und Eltern, steigt ihr Anteil sprunghaft an.
Meist sind ja auch die Väter für die mediale Infrastruktur zuständig: Homepage einrichten, Netzwerkarchitektur aufbauen oder den Film vom letzten Sommerfest schneiden. Auf diese Rolle werden schon die ganz jungen Jungs geeicht. Wenn etwa ein Elfjähriger in seiner Klasse als Held gefeiert wird, weil er einen Laptop an den Beamer anschließen kann, ist klar, dass er nie einen Beruf ergreifen wird, in welchem Medien primär als Störfaktor gesehen werden. Und wer den neuen James Bond gesehen hat, in dem 007 vom jungen Q (regelmäßiges Rasieren ist noch nicht notwendig) erklärt wird: „Ich kann mit meinem Laptop frühmorgens im Pyjama mehr Schaden anrichten, als Sie in einem Jahr Außeneinsatz!“ weiß, aus welchem Holz die zukünftigen Helden sind. Vielleicht sollte man sich ohnehin Skyfall zum Vorbild nehmen und die guten alten Kitas ein wenig ummodeln: Jedes Kind bekommt ein Chip-Armband (kennt es ja schon aus dem all-inclusive-Familiencluburlaub) und ein Passwort – gerne auch mit Symbolen aus Bobbycar, Apfel und Fußball – womit es sich in die Mittagsspeisung einloggen kann. Die Erziehenden, immer per Headset verbunden, verfolgen auf dem großen Flatscreen in der Kommandozentrale, wie sich das Kind bewegt, welche Kinder es trifft und was es zum Mittagessen ordert; erstellt dann Profile, mit welchen die Erziehungsberechtigten beim nächsten Elterngespräch fundiert über Bewegungs-, Essens- und Spielvorlieben sowie Sozialkontakte informiert werden.
Die vom Kind gewählten Speisen und Getränke werden auf Vitamin-, Ballaststoff- und Fettgehalt analysiert und etwaigenFehlentwicklungen wird sachte entgegengewirkt. Nein, es geht natürlich auch eine Nummer kleiner. Wenn Kitas und Grundschulen das Interesse von Kindern an der Mediennutzung stärker in ihre pädagogische Arbeit integrieren würden, wäre schon viel gewonnen. Die Kinder könnten den aktiven Umgang mit Medien lernen, das pädagogische Personal könnte von den Kindern lernen, die Väter würden sich in die Elternarbeit einbringen und vielleicht gäbe es dann auch mehr Männer in Kitas und Grundschulen. Möglicherweise enden Kinderbücher in der Zukunft dann auch einmal so: „Und lange schallt´s im Kindergarten noch: unser WLAN lebe hoch.“
Michael Gurt: iPad, also bin ich
Ein Schulhof in der fränkischen Provinz im Jahr 1984: „Was willst du denn mit deinen ollen Pumas? Das sind doch billige Samba-Schlampen und sonst nichts!“ Der Angepöbelte sieht an sich herunter, mustert das eigene Schuhwerk mit Puma-Emblem und kontert gedankenschnell: „Du bist ja nur neidisch mit deinen blöden Adidas-Tretern. Die hat doch jeder Depp, das ist doch nichts Besonderes!“ … Eines kommt zum andern und schnell ist die schönste Schulhofschlägerei im Gange.München, ein Café irgendwo in Schwabing, im Frühherbst 2012: Ein ebenso lässiger wie gepflegter Mittvierziger starrt verträumt auf sein iPad, die Ohren verstöpselt, der Blick gefangen in den Tiefen des WWW in Westentaschenformat. Am Nebentisch verfolgt ein etwa gleich alter Geschlechtsgenosse das kontemplative Treiben. Der Nebentischmann ist deutlich weniger lässig, schlecht rasiert, der Blick verhuscht und wirkt wenig selbstbewusst. Nach kurzer Zeit durchdringt ein Klingelton die Stille, der iPad Nutzer blickt kurz auf und beobachtet sein Gegenüber.
Umständlich wird ein Smartphone eines fernöstlichen Herstellers hervorgekramt und nach einigen Drückern und Wischern hört er ein hervorgenuscheltes „Hallo? Ja, ich sitze grade im Café“. Die Blicke der beiden kreuzen sich und ein herablassendes Lächeln später, das zwischen Mitleid und Verachtung pendelt, geht jeder wieder seiner virtuellen Wege.Später am Abend nimmt die Schlammschlacht im virtuellen Raum richtig Fahrt auf: Der empfindlich gekränkte Smartphoner lässt seinem Frust im Forum einer X-beliebigen Technikplattform freien Lauf: Was denn eigentlich so toll ist an den Apple Produkten, schließlich kann das neue Samsung-Gerät viel mehr, schneidet bei den meisten Tests besser ab und hat einfach das bessere Preis-Leistungsverhältnis. Darauf hat die gegnerische Fraktion nur gewartet: Die Rede ist schnell vom abgekupferten Abfallprodukt, von Patentverletzungen und schlechter Infrastruktur, von Bedienungsmängeln und „blöden Farben“.Im Leben jedes Mannes kommt der Zeitpunkt, an dem er sich entscheiden muss: Adidas oder Puma, PC oder Mac, Levis oder Mustang, Audi oder Golf, Apple oder Samsung, Batman oder Superman, Iris oder Sandra, Max oder Moritz.
Mit den wirklich wichtigen Entscheidungen des Lebens sollte man(n) wirklich nicht leichtfertig umgehen. Ist es doch ein schmaler Grat zwischen angepasstem, seelenlosen Mitläufer und selbstbewusstem Tatmensch, der sein Glück in die eigenen Hände nimmt und die Symbole seiner Individualität vor sich herträgt wie ein Kreuzritter sein Banner. A propos Kreuzritter: In punkto Sendungsbewusstsein macht den verbissenen Apfel-Jüngern keiner etwas vor, nicht einmal die religiös verblendeten Gotteskrieger des Mittelalters. Ähnlich wie für diese gibt es für den echten Apfelianer keinen Zweifel über Gut und Böse und keine Kompromisse bei der Suche nach dem rechten Weg: Dieser Weg ins Paradies führt über Heiland Steve Jobs oder nirgendwohin.Wie sang schon Kabarettist Michael Krebs so schön: „Ich bin ja echt kein Markenfetischist. Ich steh bloß drauf, wenn meins das Beste ist.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Alfred Reif: al dente
Ich habe mir gerade ein paar Spaghetti mit Tomatensoße gemacht. Während ich Parmesan aus dem Kühlschrank fische, höre ich aus dem Wohnzimmer schon das glasklare Signal meines Laptops, der via WLAN an meinem Flatscreenfernseher angeschlossen ist. ‚Al dente’, im doppelten Sinne. Das Essen ist fertig, der Film ist da! Das Downloaden ging schneller als das Kochen. Selbst das Kondenswasser auf meiner Cola-Flasche könnte in einem Werbespot in diesem Moment eine gute Figur machen, in dem ich den dampfenden Nudelteller samt Parmesan auf den Tisch stelle. Ein Bewegungssensor wäre beim Überqueren der Türschwelle nicht schlecht. So könnte der Film direkt starten. Zeit ist kostbar. Film ab. Was ist das? Eine störende Vibration breitet sich aus. Das Mobiltelefon hüpft auf dem Tisch, das Display wird hell. Ärgerlicherweise muss ich den Film stoppen. Unerreichbarkeit ist zu einem Fremdwort mutiert. Die Gesprächsteilnehmerin am Ende der Leitung, hat eine wirklich sympathische Frauenstimme. „Das Gespräch kann zu Verbesserungszwecken aufgezeichnet werden“, sagt sie. Ob ich damit einverstanden sei, will sie wissen. „Wozu das alles?“, frage ich. Mein Vertrag umfasst drei Flatrates: SMS-Flat, Internetflat und die Flat im eigenen Netz. Während die überzeugende Stimme ihre Sparangebote runterrattert, sehe ich die kurz zuvor noch festen Kondenswassertropfen in kleinen Bächen die Cola-Flasche hinabfließen. Zügig nehme ich einen Schluck. Auch der aufsteigende Dampf des Essens wirbelt nur noch leicht verspielt umher.
Höchste Zeit einen Happen zu essen, bevor die Tomatensoße kalt wird. Schnell beende ich das Telefonat. Power. On. Restart. Der Thriller, gespickt mit Stars und Sternchen, klang vielversprechend und auch der Youtube-Trailer war powervoll. Gestern Abend hatte ich mir vorab den Soundtrack aus dem Netz gezogen. So lassen sich die Öffentlichen Verkehrsmittel im morgendlichen und abendlichen Berufsverkehr ertragen. Keine Störgeräusche anderer Fahrgäste, sondern basslastige Entspannung. Überzeugend war der Soundtrack nicht. Gut, dass ich noch 325 andere Alben auf meinem Mobiltelefon und unzählbar mehr auf meinem Laptop habe. Aber der Sound ist nur ein Element im Räderwerk des Films. Die ersten Minuten sind vorbei, das Essen zu einem Drittel verputzt und schon wieder steht eine Unterbrechung an. Auf dem Laptop geht ein Chatfenster auf. Sabrina will wissen, ob ich morgen Lust auf ein Konzert hätte. Während ich überlege, drehe ich ein paar Spaghetti um die Gabel, recherchiere die Daten fürs Konzert im Netz und schaue parallel noch kurz auf Youtube nach einem Video der Band. Im Anschluss noch ein kleiner Check auf Wikipedia und schon bin ich auf dem aktuellen Stand. Überraschungen sind nicht mehr zeitgemäß, sag ich mir immer. Die Band scheint zu passen. Guter alter Elektrosound. Ich bestätige ihr kurz, dass ich dabei sei. Gerade habe ich die letzten Nudeln um die Gabel gewickelt, da teilt sie mir auch schon mit, dass zwei Tickets an der Abendkasse bereit liegen. Sehr schön. Als ich gedanklich wieder zu dem Thriller zurückkehre, ist der halbe Film an mir vorbeigezogen.
Es ist spät geworden. Ich spule im Film zurück, und schaue ihn noch fertig an. Eine starke Interessenreduktion erschöpft sich in diesem Vorgang. Nebenbei bemerke ich, dass Max mir einen Link für neuen Sound geschickt hat. Ich kenne die Band nicht, sauge den Stoff dennoch auf mein Notebook. Für morgen hab ich nämlich noch keinen frischen Sound. Das Konzert war super. Eines der Bandmitglieder faselte zwischendurch etwas von Urheberrecht und der Angst um die Existenz der Band. Ein paar Tage später liegt das Schreiben eines Rechtsanwalts in meinem Briefkasten. Eine Abmahnung. Ungeliebte Überraschung. Ich soll eine nicht unerhebliche Summe begleichen. Wieso und weshalb, wird mir schnell klar. Diesmal suche ich im Internet etwas anderes und werde schnell fündig: www.abmahnwahn.de. Langsam fange ich an, die Aussagen des Bandmitglieds zu verstehen. Dabei wollte ich niemandem schaden. Am Ende ist doch irgendwie alles frei verfügbar?!
Günther Anfang: „Wie lange darf mein Kind jetzt eigentlich fernsehen?“
Mit dieser Frage wird man häufig auf Elternabenden zum Medienumgang von Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Die Meinungen gehen da sehr auseinander. Während ein Teil der Eltern das Fernsehen am liebsten vollkommen verbieten würde, ist der andere Teil ziemlich verunsichert, da man ja immer wieder hört, dass zu viel Fernsehen schädlich ist. Wieder andere sind davon überzeugt, dass vor allem die hektischen Schnitte dafür verantwortlich sind, dass sich unsere Kinder nicht mehr konzentrieren können. „Ich hab da mal einen Artikel eines Hirnforschers gelesen, der nachweist, dass die schnellen Schnitte das Hirn der Kinder nachhaltig schädigen.“ Solche und ähnliche Sätze bekommt man immer wieder zu hören, wenn man in Sachen Elternabend zum Thema Medien unterwegs ist. In der Regel wird man dafür von einem besorgten Mitglied des Elternbeirats engagiert, mit dem Hinweis, dass das Thema Medien an der Schule gerade intensiv diskutiert wird und deshalb der Rat eines Experten hinzugezogen werden sollte.
Auf die Frage wie viele Eltern denn erwartet werden, bekommt man dann häufig die ausweichende Antwort: „ Also ziemlich viele. Wir machen den Elternabend auf alle Fälle in der großen Aula.“ Am Elternabend selbst sieht es dann leider häufig sehr ernüchternd aus. Zwar ist die große Aula bestuhlt, doch weist die Art der Bestuhlung schon einmal darauf hin, dass nicht so viele Eltern kommen werden wie erwartet. „Ja, leider haben schon einige Eltern abgesagt, da sie einen anderen Termin haben. Und heute Abend ist ja auch noch das Fußballspiel im Fernsehen.“ Nun gut, dann werden es halt wieder die üblichen zehn bis 15 Eltern, die eigentlich schon alles wissen und nur noch kommen, um Bestätigung zu erfahren. Sie wissen jedenfalls, wie viel Fernsehen sein darf, nur bei den Computerspielen sind sie häufig noch ratlos. „Mein Sohn ist in letzter Zeit nicht mehr von diesen Spielen wegzubringen. Ist er schon computersüchtig?“ Hier beginnt in der Regel eine heftige Diskussion über Sucht und Suchtgefahren, doch stellt sich schnell heraus, dass das exzessive Spielen eine vorübergehende Erscheinung ist, von Sucht noch sehr weit entfernt. Ein weiteres Thema sind natürlich auch die ‚Killerspiele‘.
Zwar sind alle Eltern davon überzeugt, dass ihr Kind durch die Spiele nicht zum Killer wird, aber über Wirkungen lässt sich trotzdem trefflich streiten. Und: „Ich hab da mal einen Artikel gelesen ...“. Dies gipfelt dann nur noch in der Aussage eines Elternteils oder einer Lehrkraft, dass die Kinder heutzutage viel aggressiver sind und noch zutreten, wenn ein Kind schon am Boden liegt. Spätestens dann ist für viele bestätigt, dass die Medien die Ursache allen Übels sind. Am Ende des Elternabends ist man sich jedenfalls einig, dass es gut war, sich mit den Problemen des Medienumgangs der Kinder auseinandergesetzt zu haben. Und man ist sich sicher, Erziehungsrezepte für diejenigen gewonnen zu haben, die nicht da waren.
Beitrag aus Heft »2012/03: Privatsphäre und Datenschutz im Netz«
Autor: Günther Anfang
Beitrag als PDFElisabeth Jäcklein-Kreis: Sie dürfen die Braut jetzt küssen ...
Es war der Moment, auf den alle gewartet hatten. 50 Sitzreihen voller Gäste in frisch polierten Lackschuhen, schnell noch aufgebügelten Röckchen und mit mehr oder weniger kunstvollen Skulpturen auf den ordentlich bemalten Köpfen drängten sich dicht an dicht, die Augen gebannt nach vorne gerichtet. Die Stille war perfekt, nur unterbrochen durch das leise Seufzen einer Tante von hinten und das Knistern eines Taschentuches in der zweiten Reihe. Hände verschränkten sich erwartungsvoll, in manchen Augenwinkeln wartete eine kleine Träne darauf, sich den Weg durch die Rouge-Wüste zu bahnen.Vorne, wo alle hinsahen, wurde ein Mikro überreicht, weißer Tüll schälte sich aus einem Stuhl: Die Braut stand auf, bereit, vor aller Augen ihr Trauversprechen abzugeben. Sie holte tief Luft, straffte die Schultern, lächelte kurz in die Runde und – zog ihr tablet unter dem Sitzkissen hervor. „Moment“ übertrugen die Lautsprecher ihr erstes Wort, dann ein Klacken, ein Piepsen, als die Tastensperre aufgehoben wurde, drei schnelle Klicks und es konnte losgehen. Während salbungsvolle Worte durch den Chorraum klangen, während die Trauzeugin ergriffen ihr iPad in die Luft hielt, um den Moment für immer zu bannen und während aus den hinteren Reihen, wohin sich ein Kind verzogen hatte, um seiner motorischen Unruhe mit fliegenden Vögeln auf dem tablet zu begegnen, die angegriffenen Schweine angsterfüllt quietschten, wurde auch dem letzten, medienfernen Zeremoniengast klar, dass die Invasion der tablets nicht mehr aufzuhalten sein wird.
Sie sind in der U-Bahn und im Museum, auf Parkbänken und Picknickdecken, an der Haltestelle, im Flugzeug, im Restaurant – sogar auf Berggipfeln und Taufen wurden sie schon gesichtet. Bestenfalls 25 Zentimeter an Länge können sie aufweisen, einen bis drei Knöpfe und ein paar Eingänge für Kabel aller Art – unscheinbare Erscheinungen also, viel zu klein, um von den ausgewachsenen Artgenossen ernst genommen zu werden; und doch schleichen sie sich nach und nach überall ein, bahnen sich schier unaufhaltsam ihren Weg in die privaten und öffentlichen Räume, in Besprechungszimmer und Büros, Wohnzimmer und Kinderzimmer, auf Spielplätze und in Seniorenresidenzen.Sie heißen Playbook, Transformer, Flyer oder Ideapad und sie kleiden sie unauffällig in Stoffumhänge in allen Farben, in Lederetuis, Filztaschen und Plastikschalen.Manchmal blinken sie oder blenden in den grellsten Farben, manchmal piepsen sie frenetisch und bisweilen hört man in ihren Untiefen Vögel wütend mit den Flügeln schlagen, Schweine ängstlich quietschen oder Fische blubbern.
Ihren jüngsten Freundinnen und Freunden lesen sie Gute-Nacht-Geschichten vor, den älteren ermöglichen sie Kontakte in alle Welt, für so manchen ersetzen sie das Kochbuch, die Gute- Nacht-Lektüre, den Busfahrplan, den Taschenrechner, den CD-Player und den Ernährungsberater in einem.Sie machen es einem aber auch gar so einfach: Nehmen kaum Platz weg, essen nichts, schreien selten, haben keine kilometerlangen, wörtlich aus dem Chinesischen übersetzten Bedienungsanleitungen, sondern nur ein kleines Display, auf dem sie alles feil bieten, was sie können. Da drückt man drauf, wo man hin will – und es funktioniert. „What you get is what you see“ sozusagen. Ein Konzept, das der Braut nur wünschen ist ...Die allerdings hat derweil das Brettchen verstaut und sich zum Kuss unter allgemeinem Seufzen auffordern lassen, ganz analog und ohne elektronsiche Unterstützung, bis auf den Fotoauslöser im iPad der Trauzeugin.
Es grünt so grün ...
Um die Vor-, Nach- und Zwischenweihnachtszeit herum, ist die Welt für Naturfreunde aller Art zumindest ein nominelles Paradies: Evergreens in allen Farbabstufungen sprießen dann überall da, wo es sonst wenig grünt. Aus den Radioboxen tönt ‚Do they know it’s …‘, obwohl es müßig scheint, die Frage nach 27 Jahren ohne Antwort weiterhin zu stellen. Im TV hüpft der arme James seines hohen Alters ungeachtet unablässig über den frechen Tigerkopf und hat sich noch immer keine schlaueren Problemlösestrategien für die ‚same procedure‘ überlegt. Und unter dem Weihnachtsbaum sitzt die Familie mehr oder weniger traut vereint und hangelt sich mehr oder weniger müßig an den immergrünen Gesprächsthemen entlang: Die neuen Geschichten zuerst und umgekehrt proportional zur voranschreitenden Uhrzeit die immer historischeren Klamotten und Schwänke. Bei den Jugendstreichen den Großeltern angelangt, sind die Jüngsten im Bett und die Mittleren entflohen, nur wer zu nett ist oder unter Schlafstörungen leidet, findet keine gute Ausrede und muss stattdessen immer wieder neu begeisterte Zuhörerreaktionen auf die gut abgehangenen Pointen hervorzaubern. ‚Weißt du noch, der Verweis wegen Schneeballwerfens …‘, ‚Und damals, als wir die Böller in den Kanaldeckel…‘, ‚Da fällt mir ein, erinnerst du dich noch, als du den Feueralarm ausgelöst hast, als Mutprobe? Die ganze Schule wurde evakuiert!‘ Bei einem dieser Gespräche muss irgendwann im vergangenen Jahr wohl Familienministerin Kristina Schröder mit schweren Lidern und roten Ohren gesessen haben.
Eine andere Erklärung gibt es beinahe nicht, dafür aber zwei handfeste Indizien: Ihr Nachwuchs-bedingter Hausarrest und unberechenbarer Biorhythmus nehmen ihr die Entschuldigung für das Fernbleiben vom Geschichten-Allerlei. Und der aus ebendiesem Grund möglicherweise arg durcheinandergepurzelte Hormonhaushalt erklärt die kreativen Schlussfolgerungen der Frau Schröder. Denn nur solche können zu einer zeitnah gefällten Entscheidung der Mama aka Familienministerin geführt haben. Sicher muss man sich das etwa so vorstellen: Feueralarm, stimmt, das war einer der lustigsten Streiche … So etwas habe ich schon lange nicht mehr erlebt … werden heutzutage überhaupt noch richtige Streiche gespielt? … Ach nein, die Kinder wissen sicher gar nicht mehr, wie man einen Feuermelder einschlägt, da schwebt ja kein Maus-Cursor davor … oh, schreit da das Baby? … Nein, verhört… Aber was für eine triste Kindheit ihm bevorsteht, wenn es wieder aufwacht! Erwachsenwerden ohne Klingelputzen und Feuermelder-Streiche, nur auf höchst gefährlichen Internetseiten … da muss man doch was machen können …
In diesem Moment dürfte der jungen Frau mitten in die Kreissaal-Erzählung des Uropas ein Wickie-gleiches ‚Ich hab’s!‘ entfahren sein. Ein Notrufbutton für das Internet! Das klingt wichtig und sicher und dient zur Paranoia-Entfachung und -Beruhigung zugleich, weil die Kinder endlich erfahren, wie gefährlich das Netz ist; und wenn sie sich von unschönen Bildern, unfreundlichen Texten oder aufdringlich kreischenden Comicfiguren dort akut belästigt fühlen, können sie gleich wo drücken. Das bringt bestimmt ein paar Schlagzeilen nach der Babypause, sieht wichtig und gefährlich aus (und vielleicht kann man sogar Blaulicht für den Browser und ein paar animierte Rettungsautos für die Kopfzeile programmieren lassen) – und beschert dem friedlich schlummernden Spross obendrein authentische und zugleich moderne Streich-Erlebnisse. Ein Geniestreich sozusagen.
Ob an dieser Stelle Ur-Opa die Rede unterbrach und anerkennend nickte, ob der so eifrig bedachte Spross zustimmend schrie oder ob der Gedankengang doch noch den einen oder anderen Umweg machte, kann natürlich nicht abschließend festgestellt werden. Aber so ähnlich muss es sich doch zugetragen haben – die Indizien zumindest sind erdrückend!
Klaus Dreyer: Social Networking für Fortgeschrittene – oder nicht?
Erinnern Sie sich noch an Google plus? Sie wissen schon, dieses wirklich spannende soziale Netzwerk, das trotz Beta-Phase und Einladungszwang schon nach ein paar Wochen zehn Millionen Nutzerinnen und Nutzer hatte und dann gleich 25? Und das sich ja eigentlich Google+ schreibt? Ach, Sie sind Facebook-Nutzer … Dann erkläre ich das nochmal: Also, erst mal können Sie Ihre sozialen Kontakte endlich in Gruppen organisieren und müssen nicht allen alles erzählen, das ist viel näher dran am wirklichen Leben als diese angeblichen Freunde – und dabei können Sie eben steuern, wer was erfährt und das ist doch … Ach, sie sind gar nicht sozial vernetzt? Wie geht das denn? Na, das werden Sie selbst ja am besten wissen.
Ich fange also nochmal von ganz vorn an: Da hatte mal ein Student die Idee, dass er ein Bewertungssystem für Studierende seiner Uni programmieren könnte – obwohl, die Geschichte wird ja ganz unterschiedlich erzählt. Aber wie dem auch sei: Das Ding heißt Facebook und mittlerweile sind knapp 700 Millionen Leute dabei – also bis Google plus soweit ist, kann es noch eine Weile dauern und das relativiert natürlich auch den Hype etwas. Jedenfalls, auch wenn Sie nicht sozial vernetzt sind, dann müssen Sie zumindest wissen, dass Sie bei Google plus einerseits schreiben können, was Sie gerade tun oder was Sie gelesen haben oder, wenn Sie Google plus auf Ihrem Handy nutzen – ach, Sie haben gar kein Smartphone und telefonieren nur oder schicken gerade mal eine SMS? Also, dann stellen Sie sich einfach mal vor, Sie hätten eins. Oder noch einfacher: Sie nutzen Google plus eben ganz normal von ihrem Computer aus. Dann schreiben Sie eben nichts Aktuelles von der Tagung, auf der Sie gerade sind, sondern setzen sich hinterher hin und schreiben es allen auf, die Sie kennen – und das besondere bei Google plus ist nun eben, dass Sie es eben nicht allen … Warum Sie das aufschreiben sollen?
Es können eben nicht alle auf jeder Tagung sein, das wäre ja auch gar nicht zu managen. Und außerdem gibt es vielleicht Leute, die wollen genau von Ihnen wissen, wie die Tagung war. Denen können Sie das ja auch persönlich erzählen, sagen Sie? Das Neue bei Google plus ist aber gerade, dass Sie genau auswählen können, wem …Wie, bei Google fällt Ihnen nur „Datensammler“ ein? Nun ja, das ist ja einerseits wahr. … Aber das Besondere von Google plus ist ja gerade, dass sie diesmal versuchen, alles richtig zu machen: Privatsphären-Einstellungen, die jeder versteht und – übrigens, glauben Sie tatsächlich, dass es alle diese Personen wirklich gibt? Vielleicht die Top 100 der Google-plus-Autoren, diese ganzen Profilneurotiker, die jeden ihrer Atemzüge der ganzen Welt mitteilen müssen. Aber glauben Sie tatsächlich, dass es „Klaus Dreyer“ gibt, nur weil er hier drunter steht und über Google plus erreichbar ist? Also ich glaube, wenn Sie wirklich Medienpädagoge sind, dann haben Sie beim Thema Identität im Netz wirklich Nachholbedarf … Aber das ist ja ein ganz anderer Diskurs.
Iwan Pasuchin: Das „Nein“-Konzept
Als mein Sohn 15 wurde – übrigens echt ein süßes Alter, vor allem, wenn es sich um Monate und nicht um Jahre handelt –, fing er an zu verstehen, dass Dinge Namen haben, und zu versuchen, sie entsprechend zu bezeichnen. Der Ball hieß „ba“ und wenn er das zu mir sagte, dann bedeutete es, dass er mit mir Ball spielen wollte. Statt Buch rief er „bu“ und drückte damit seinen Wunsch aus, ich solle ihm vorlesen. Genauso wie alles, was er zu mir sagte, zum Ziel hatte,(mehr) Aufmerksamkeit von mir zu erlangen. Bei der Erfassung des Benennungskonzeptes gab es jedoch eine Tatsache, die ihn zunächst etwas verwirrte: Die meisten Dinge hießen unterschiedlich, aber es gab auch zahlreiche, die den gleichen Namen trugen. Darunter fielen so gegensätzliche Gegenstände, wie Messer, Elektrogeräte, Weingläser, brennende Kerzen etc. All diese Objekte trugen eine einzige Bezeichnung, die immer sehr deutlich und um einiges lauter artikuliert wurde, als die der anderen. Dieses ganz spezielle Wort, dessen Ausrufen zumeist mehrmals hintereinander und mit steigender Heftigkeit erfolgte sowie von seltsamen Grimassen der Erwachsenen begleitet wurde und womit außerdem verbunden war, dass jene, die es aussprachen, sofort aufsprangen und zu meinem Sohn liefen, lautete – wie unschwer zu erraten – „NEIN!“
Das anfängliche Erschrecken, welches meine Reaktion in solchen Fällen bei meinem Sohn auslöste, verflog schnell. Immer öfter griff er gezielt nach Gegenständen, die davor das Nein-Etikett erhalten hatten und allmählich überkam mich das Gefühl, dass er es richtig genoss, meinen Aufschrei zu hören und erst recht, all das Theater mitzuerleben, welches ich dabei für ihn darbot. Die Ahnung avancierte zu einer Gewissheit, als der Kleine anfing, jedes Mal, wenn er mich sah, entsprechende Objekte laut lachend anzusteuern und dabei „Nei! Nei!! Nei!!!“ zu brüllen. Offensichtlich hatte er von seinen Beobachtungen ausgehend ein eigenes „Nein-Konzept“ entwickelt, demzufolge „Nein“-Dinge nicht nur außerordentlich unterhaltungsversprechend wären, sondern vor allem die Chance bieten würden, besonders intensiv und in allerkürzester Zeit Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Denn während seine Aufforderung bzgl. „ba“ und „bu“ nicht immer und erst recht in den seltensten Fällen sofort die erwünschte Wirkung zeigte, war ich augenblicklich zur Stelle, sobald ich nur das „na…“ vernahm. Die (medien-) pädagogische Moral dieser kleinen Geschichte ist unschwer zu erkennen. Ich spreche gar nicht davon, dass sie die alte Vermutung meiner Wegbereiterinnen und Wegbereiter bestätigt, alles Verbotene wäre für Kinder und Jugendliche ausnehmend spannend und dass Untersagungen deswegen zumeist wenig von der erwünschten Wirkung zeigen würden. Um das zu verstehen, hätte ich nicht Vater werden brauchen. Sie legt jedoch eine weitere These nahe: Heranwachsende machen „Nein“-Dinge nicht trotzdem, sondern gerade weil sie Sanktionen von Seiten der Erwachsenen erwarten. Denn auf diese Weise erlangen sie etwas von der Aufmerksamkeit, nach der zu dürsten offenbar ihr zentrales biologisches Programm bildet. Ich stelle mir vor, wie mein Sohn, wenn er 15 ist (ich meine jetzt Jahre), mit Tonnen von Piercings im Gesicht und einer halbvollen Ginflasche in der einen Hand, mit der anderen mit Hilfe irgendeines virtuellen Metzgerwerkzeugs gerade heftig in 4D kopulierende Mutter Theresa und Vater Obama genüsslich tranchiert und denke mir, dass ich mir seine „ba“ und „bu“-Aufforderungen doch etwas mehr zu Herzen nehmen sollte – jetzt und mindestens in den nächsten vierzehn Jahren.
Beitrag aus Heft »2011/04: Migration und Medien: Vernetzung und Partizipation«
Autor: Iwan Pasuchin
Beitrag als PDFElisabeth Jäcklein-Kreis: Wer hat Angst vor‘m schwarzen Mann?
Schon als er in die Einfahrt biegt, kann ich ihn sehen. Ein fachmännischer Blick genügt mir, um genau zu wissen, mit wem ich es hier zu tun habe. Er ist nicht sehr groß, wohl eher durchschnittlich, dafür aber recht untersetzt. Etwas schleppend bewegt er sich auf meine Haustüre zu, strahlt eher Lethargie als Dynamik aus, während ich reglos hinter dem Fenster stehe, um seine Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen. Selbst aus der Distanz erkenne ich die untrüglichen Zeichen: Der letzte Friseurbesuch ist lange her, die dunkelblonden Haare hängen ihm strähnig und ungepflegt um das bleiche Gesicht. Und sind das nicht Augenringe, die sich da unter den wirren Brauen deutlich von der hellen Haut abzeichnen? Dazu die ausgebeulte Jeans, die an den Rändern schon Fransen zieht, ein schlecht sitzender, leicht ausgewaschener Pulli mit – da bin ich mir ganz sicher – Ketchupflecken! Jetzt besteht kein Zweifel mehr, dieser Hinweis ist untrüglich: Das muss ein Computerspieler sein!
Ich habe schließlich nicht umsonst so gut aufgepasst, in den Internet-Videos und Fernseh-Spots, die einem genau erklären, wie diese PCSpiele- Junkies aussehen, in den Texten, in denen so anschaulich beschrieben wird, was Computerspiele mit jedem machen, der den Fehler begeht, sie auch nur einmal zu öffnen! Tageslichtscheue Kreaturen mit ungesunder Haar- und Hauterscheinung, vorletztjährige Kleidung, da der PC-Platz nicht mehr verlassen werden kann und der charakteristische Ketchupfleck, der auf einseitige Ernährung ausschließlich durch Heimservice-Pizza und Pommes schließen lässt. Vor meinem geistigen Auge rufe ich mir das Bild wach: Ja, genau so sehen sie aus. Die fahle Bläue vom Widerschein des Bildschirmes, die in den Videos immer da ist, fehlt zwar, aber er steht ja auch in meiner Einfahrt statt vor dem PC. Das allerdings macht mich stutzig und auch etwas panisch: Was tut dieser Computer-Süchtige hier? Sicher hat er nichts Gutes im Sinn! Wahrscheinlich wähnt er sich in einem Computerspiel und wird gleich versuchen, in das Haus einzudringen und mich zu überwältigen! Bestimmt hält er mich für einen Gegner! Was, wenn er vielleicht sogar Waffen dabei hat? Langsam wird mir mulmig.
Doch ich habe wenig Zeit, einen Notfall-Plan auszuarbeiten: Schon klingelt er an der Tür. Ich hyperventiliere. Soll ich ein Messer holen? Die Polizei rufen? Vorsichtig spähe ich noch einmal durch das Fenster, doch Zweifel sind ausgeschlossen: Das runde Gesicht, der etwas langsame Blick und dieser Mittelscheitel! Das kann nur ein PC-Junkie sein! Ich erwäge, mich tot zu stellen, doch in diesem Moment blickt er auf, sieht mich und hebt die Hand. Ich erstarre. Hat er da einen Schlagring?Tränengas vielleicht? Oder versteckt er die Waffen in dieser komischen Tasche, die von seiner Schulter baumelt? Mein Herz rast. Doch ich habe keine Wahl: Er hat mich gesehen. Wenn ich nicht öffne, wird er sicher durch das Fenster springen – oft genug habe ich es gesehen, dass man so etwas lernt, in diesen Gewaltspielen! Ich nehme meinen Schlüsselbund als einzige verfügbare Waffe fest in die Faust und öffne zitternd und auf alles vorbereitet die Türe:
„Jaa?“
„Guten Tag, ich komme von den Pfadfindern, wir sammeln für den Spielplatz, der hier um‘s Eck gebaut wird, hätten Sie eine Spende für uns?“
Mit lautem Klirren trifft mein Schlüsselbund den Fliesenboden.
Beitrag aus Heft »2011/03: Jugendarbeit und social networks«
Autor: Elisabeth Jäcklein-Kreis
Beitrag als PDFElisabeth Jäcklein-Kreis: Ich bin online, also bin ich
Demletzt, im ÖPNV meines Vertrauens, wurde ich unfreiwillig Zeugin eines Gespräches zweier Mädchen, mittleres Teenie-Alter, angetan mit Chucks, Eastpaks, Haarreifen und iPods. Thema – natürlich – Liebesglück und Liebesleid. Objekt der Begierde – in diesem Fall – „der süße Typ aus dem Schulbus“.
Problem – naheliegend – die Kontaktaufnahme. Während das leidgeplagte Opfer von Amors neuestem Pfeil nur scheue Blicke aus der Ferne wagte, erwies sich die zu Rate gezogene Freundin als patenter und musste nicht lange um gute Ratschläge gebeten werden: „Ganz klar, du gehst hin und fragst nach seiner Handynummer!“
Ganz klar war dabei allerdings leider nur: „Das trau ich mich nicht.“
Eine einfachere Version musste also her und ward schnell gefunden: „Du fragst nach der E-Mail-Adresse.“ Doch leider, bei allen großen Gefühlen, auch der Plan wurde mangels Courage verworfen. Blieb also in den Augen der Ratgeberin nur eine Lösung: „Jemand anders geht hin. Ich könnte zum Beispiel hingehen, dann frag ich ihn, ob er bei facebook ist und dann könnt ihr euch befreunden.“
Noch etwas skeptisch, doch schon weitaus hoffnungsfroher bedachte die unglücklich Verliebte den Vorschlag und kam zum Ergebnis: „Super. Dann kann ich erst mal kucken, wie der so drauf ist und wir schauen uns alle Fotos an und so.“
Nur ein Unsicherheitsfaktor blieb, der schnell identifiziert wurde: Was, wenn der Angebetete nicht bei facebook ist? Plan B und C wurden also gefasst: „Ich frag, ob er bei facebook ist. Wenn er ‚Nein‘ sagt, frag ich, ob er bei SchülerVZ ist. Wenn er wieder ‚Nein‘ sagt, frag ich nach Lokalisten. Und wenn er dann noch ‚Nein‘ sagt … dann ist er eh komisch und du vergisst ihn.“
Darauf schließlich konnten sich die Verkupplungs- Expertinnen einigen und sich an der nächsten Haltestelle zufrieden mit einem „Bis später, im ICQ“ verabschieden. Was aus der gedanklich angebahnten Romanze geworden ist, entzieht sich leider meiner Kenntnis, doch die Moral von der Geschichte ist klar: Erstens: Soziale Netzwerke machen unkommunikativ, einsam und sozial isoliert – zumindest den, der nicht drin ist. Denn wer sich weigert, im digitalen Poesiealbum des 21. Jahrhunderts sein schönstes Foto nebst Hobby, Lieblingsfach und Beziehungsstatus (ganz wichtig!) zu hinterlassen und seine Pinnwand virtuos mit Musikvideos, witzigen Links und Buchstaben-Bildern zu gestalten, der kann nicht alle Gurken im Glas haben und ist entweder Eremit, Sektenanhänger, dem Mittelalter entflohen oder hat was zu verbergen – auf alle Fälle ist er aber, da mag er im Bus so süß aussehen wie er will, ganz schnell weg vom Dating-Fenster.
Zweitens: Datenschutz hin oder her – die online auffindbare Visitenkarte muss stimmen. Musste man früher seine Interessen noch umständlich, analog und nach und nach bekannt geben, gilt jetzt: Ich bin online, also bin ich. Das birgt so manche Herausforderung bei der Interessen- und Fotoalbum-Gestaltung. Schließlich braucht man ein paar seriöse Bilder für Lehrer und eventuelle Arbeitgeber, ein paar coole Bilder für die Freunde, ein paar nette Bilder für neugierige Mädchen aus dem Bus – und natürlich muss man das mühevoll gestaltete Alter Ego mindestens stündlich mobil checken und pflegen, denn der Super GAU wäre natürlich, wenn zwischen der Freundschaftsanfrage der mutigen Bus-Mitfahrerin und dem nächsten eigenen Status-Update etwa Tante Klara auf die grandiose Idee kommt, das Blockflötenkonzert vom letzten Weihnachtsfest mit all ihren Freundinnen und Freunden zu teilen und alle fleißigen Akteure zu verlinken.
Drittens, letztens und der ganzen, schönen neuen Welt zum Trotz: Ob in Zeiten der Cholera oder in Zeiten der weltweiten Vernetzung, die wirklich wichtigen Fragen des Lebens bleiben dann eben doch immer gleich: Irgendjemand muss erstmal selbst ‚hingehen‘…
Beitrag aus Heft »2011/02: Nichtkommerzielle Lokalradios heute«
Autor: Elisabeth Jäcklein-Kreis
Beitrag als PDFKlaus Lutz: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint
Morgens halb zwölf in Deutschland. Entspannt mit dem Familien-Van und Richtgeschwindigkeit 130 unterwegs auf deutschen Autobahnen zum sonntäglichen Schweinebraten bei den Großeltern. Links staut sich eine PKW-Kolonne auf der Gegenfahrbahn, rechts ziehen Verkehrsschilder, Hinweise auf die nächste Autobahnraststätte nebst Autobahnkirche, Tankstellen und McDonalds-Filialen vorbei, außerdem das eine oder andere liegengebliebene Auto, das auf einen gelben Engel wartet. Nichts davon nimmt man mehr so wirklich wahr, bis es plötzlich von hinten kräht „Papa, warum gucken die so traurig?“ Nachdem eigentlich niemand zu sehen ist, erläutert der Nachwuchs noch hilfsbereit: „Na, die Kinder auf den Plakaten!“. Zwei Kilometer weiter lässt sich das Rätsel lösen, zieht doch wieder – an vertrauter Stelle – ein riesiges Schwarzweißplakat mit traurig dreinblickenden Menschen aus der Aktion „Fuß vom Gas“ auf die Autofahrer herab. Erschüttert fordert das Kind zu langsamem Fahren auf dem rechten Fahrstreifen bis zur nächsten Autobahnausfahrt auf, die uns in Bebauungsgebiete und damit zu Plakatwänden führt. Die ausgiebige Rotphase an der nächsten Ampel gibt uns Gelegenheit zum intensiven Studium der auf der großen Plakatwand angebrachten Warnungen vor allem und jedem: Zigarettenrauchen, Aids, sexueller Missbrauch, Unfallgefahren im Haushalt, rasender Verkehr, Depressionen, Holz hacken und Computerspielen.
Wer es also bislang noch nicht wusste, weiß es spätestens nach ein bis zwei roten Ampeln: Das Leben ist gefährlich, lebensgefährlich und – Obacht! die nachfolgende Aussage ist eventuell gefährlich für ihren Gemütszustand – endet regelmäßig mit dem Tod. Zur Reduzierung der Gefahren plädieren wir daher für eine radikale Kennzeichnungspflicht für alles, was gefährlich ist: Rauchen ist tödlich, ungeschützter Sex auch, Banker gefährden die finanzielle Zukunft ganzer Staaten, Autos könnten tödlich sein, Hühnereier auch, Junkfood ist ungesund und schädlich für die Krankenkassen, Computerspiele machen Kinder zu Zombies, Äxte hacken Finger ab, Bäume können auch mal umfallen, Autos gefährden spielende Kinder, Blumen sind gelegentlich sehr giftig, Klebstoffschnüffeleien auch. Und wenn wir schon dabei sind, könnten wir noch hübsche Aufkleber einführen für alles, was ungesund ist, unmoralisch, umweltgefährdend oder ungesetzlich. Das alles macht das Leben dann zwar schön bunt, erzielt aber mutmaßlich nicht den gewünschten Effekt.
Deshalb muss der Superaufkleber her: „Zu viele Warnungen stumpfen ab.“ Denn sonst gehen die wirklich wichtigen Warnungen leider unter. Und die Gewarnten stehen wie paralysiert im Leben und wissen nicht mehr, was sie sich noch trauen dürfen: Kann man mal einen Kaffee mit zwei Stück Zucker trinken und ein Stück Schwarzwälderkirschtorte verdrücken? Mit dem Auto zu einem wunderbaren Ausflug in die Kirschblüte fahren? Holz hacken, im Wald Hütten bauen und Blumen pflücken? Oder ein Paar Weißwürste mit einer Halbe Bier genießen? Und sogar Computer spielen und Spaß dabei haben? Sich über Videos bei YouTube kaputt lachen und laut die Fanhymne der eigenen Fußballmannschaft mitgrölen? Oder ist all das zu verbieten, weil es jährlich 6.600 tödliche Verkehrsunfälle, 2,5 Mio. Alkoholkranke, echt viele Fettleibige und drei Prozent suchtgefährdete jugendliche Computerspieler gibt?P. S. Ein sympathischer Zug wäre es übrigens, wenn Kampagnen so gestaltet würden, dass das Zielpublikum die Kampagnen-DVD nicht im Giftschrank aufbewahren müsste, um Kinder unter zwölf Jahren nicht zu gefährden. Dies hätte auch den Vorteil, dass eine Kampagne vielleicht auch eine wesentlich breitere Wirkung entfalten könnte.
Gefällt mir nicht!
Manchmal wache ich nachts schweißgebadet auf, taste panisch meine Gliedmaßen ab und durchwühle hektisch die Post, gefasst auf Freundschafts- Kündigungen, Morddrohungen und horrende Rechnungen, die meinen finanziellen Ruin bedeuten. „Ewiges Pech! Ewiges Pech!“ hämmert es dann in meinem Kopf. Ein altes Trauma bahnt sich den Weg in mein Bewusstsein: Der Fluch der Kettenbriefe, die ich furchtlos ignoriert habe. Mittlerweile ist es ruhig geworden um die Angst und Schrecken verbreitende Post, doch es gab eine Zeit, als kein Briefkasten und E-Mail-Postfach davor sicher war. Wer sie öffnete wurde genötigt, Gummibärchen, Lieblingsrezepte oder lustige bis schmalzige Geschichten durch die Welt zu schicken. Wer mitmachte und seine Mitmenschen mit Soßen-Tipps und rührigen Lebensweisheiten erfreute, dem winkten nicht nur selbst tonnenweise Briefe, sondern zudem Geldsegen, beruf licher Erfolg und endlose Liebesgeständnisse von Nachbarn, Kollegen und Hollywood-Stars. Wer sich aber weigerte und die Kette unterbrach, nahm drakonische Gefahren in Kauf, setzte sein Liebes- und Lebensglück aufs Spiel und musste fürchten, von seinen Mitmenschen geächtet zu werden, weil er ihnen seine Käsekuchen-Geheimtipps vorenthielt.
Solche Zeiten sind vorbei, keiner wird mehr an Leib und Leben bedroht, wenn er sein Rezeptbuch nicht schnell genug öffnet. Keiner sitzt mehr eingeschüchtert zu Hause, paust Geschichten zehnmal durch und schneidet sich beim Briefmarken-Kleben die Zunge auf, um seinen guten Ruf zu retten. Und online verirrt sich nur noch ab und zu eine eingeschüchterte Drohung in mein Postfach. Freunde, Freundesfreunde und Freundesfreundesfreunde versorge ich heute nur noch freiwillig mit Lustigem, Spannendem, Lebenswichtigem und zwar digital per posting. Dieses Video etwa, The Hero (http://en.tackf ilm.se), das ein findiger facebook-Kontakt kürzlich auf seiner Pinnwand hatte: Mit einem Klick hatte ich auch mein Foto eingefügt und konnte mich selbst bestaunen, wie ich von frenetischen Menschenmassen als Weltenretterin gefeiert wurde und völlig fremde Menschen ob meines Konterfeis hemmungslos Tränen der Rührung vergossen. Herrlich! Das musste gleich weitergeschickt werden! Ich kenne mindestens zehn Leute, die das ebenso witzig finden. Dann habe ich noch etwas Schlaues gepostet: Eine Verlinkung auf eine Schlagzeile zur Tagespolitik. Es soll ja nicht so aussehen, als hätte ich nichts Vernünftiges im Sinn. Ach ja – und dann war da noch dieser Aufruf, eine Diplom-Arbeits-Umfrage zu unterstützen. Den Diplomanden kannte ich nicht, war wohl der Freund eines Freundes. Aber gepostet habe ich den Link natürlich trotzdem – wäre doch gemein sonst! Ein bisschen schade war es schon, dass nur eine Freundin mein lustiges Video weitergepostet hat. Die meisten kannten es wohl schon. Und bei der Schlagzeile haben nur zwei Kontakte ‚gefällt mir’ angeklickt und nur ein einziger wollte sie kommentieren.
Vielleicht suche ich mir demnächst lieber eine Kultur-Schlagzeile aus? Und sollte ich einmal selbst nach lustigen Videos suchen, die noch keiner kennt? Dann häufen sich bestimmt die ‚Gefällt mir’-Daumen darunter, die Kommentare und die Re-Posts? Ein wenig Angst habe ich schon, dass wieder keiner reagiert – und just da fällt mir mein letzter Traum ein: Ich poste und poste, Lustiges, Schlaues, Nachdenkliches, Persönliches, Fröhliches, Trauriges – doch das Kommentarfeld bleibt leer! Kein ‚gefällt mir’. Kein Kommentar. Kein Re-Post! „Gefällt mir nicht! Gefällt mir nicht!“ hämmert es unaufhörlich in meinem Kopf. Als ich schweißgebadet aufwache und mit zitternden Fingern den Computer hochfahre, versuche ich hektisch, mich an meine letzten Posts zu erinnern, durchwühle meine Gehirnwindungen nach kreativeren Ideen, um meinen Ruf in der Social-Network-Welt nicht zu verlieren. Bei all dem Psycho-Terror fällt mir aber wenigstens ein Gutes ein, das facebook & Co. mir gebracht haben: Meinen Kettenbriefe-Traum bin ich wohl ein für allemal los!
Bernd Schorb: Zerreguliert
In regelmäßigen Abständen wird der Rundfunkstaatsvertragneu geregelt – zum vierzehnten Mal diesen Sommer – und damit meist auch der Jugendmedienschutz. Inzwischen ist dieses Werk so komplex und unverständlich wie die meisten deutschen Gesetze. Gut, die Medien nehmen zu, kommenin neuen Gewändern daher und sind immer schwerer zu durchschauen – dafür sorgen Microsoft und Google – und zusätzlich erzwingen Partei- undWirtschaftsinteressen Kompromisse und Verwässerungen.Vor allem die Eltern, die den Schutz mit gewährleisten sollen, verstehen allenfalls Bruchstücke von dem, was hier geregelt werden soll. Die Teil-Evaluation des letzen Jugendmedienschutzstaatsvertrages, die das JFF aus der Perspektive von Eltern und Heranwachsenden durchgeführt hat, konstatierte denn auch: „Mangelnde Transparenz und Inkonsistenz ... sind Ankerpunkte für Missverständnisse und Fehlinterpretationen“ und forderte „Transparenz – Voraussetzung eines alltagspraktisch effektiven Jugendmedienschutzes“. (Theunert & Gebel in merz 1/2009, S. 1-25)
Löblich ist sicher die Absicht, eine bessere Kontrolle des Internets zu schaffen. Doch ob das auf dem Weg immer stärkerer Selbstregulierung gelingt? Die Einführung der ‚regulierten Selbstregulierung‘hat vor allem Selbstkontrollorgane hervorgebracht, getragen von der Medienindustrie, die die selbst kontrollierten Inhalte produziert. Darüber thront die KJM (Kommission Jugendmedienschutz), die aber – in der Regel – nicht selbst konkrete jugendgefährdende Angebote prüft, sondern lediglichdie Selbstkontrolleure zulässt und beaufsichtigt. Mit der jetzigen ‚Verfeinerung‘ des Systems wird dieses Kontrollorgan noch etwas machtloser. Denn nach § 19 gelten nun „Einrichtungen der freiwilligen Selbstkontrolle ... als anerkannt, soweit es die freiwillige Alterskennzeichnung von ... Spielprogrammen und für das Kino produzierten Filmen betrifft, wenn diese ... zum Herunterladen im Internet angeboten werden.“ Soll heißen, jetzt können sich die Selbstkontrolleure auch selbst zulassen. Wer keine eigene Regulierungsstelle hat, darf seine Angebote von einem bestehenden Organ prüfen lassen – was richtig teuer werden kann. Oder er übernimmt die Regeln eines zugelassenen Selbstregulierers und macht sich so zu einer ‚Quasi-Selbstregulierungsstelle‘. So verzinkt wie die Selbstregulierung ist auch die Alterskennzeichnung. Mit der Etablierung des kommerziellen Fernsehens entstand in den achtziger Jahren die Idee, die Altersklassifikation dererfolgreichen FSK (Freiwillige Selbstkontrolle Kino)auf das Fernsehen zu übertragen. Dazu wurde die Ideologie der bundeseinheitlichen Zubettgehzeiten erfunden und bestimmt, dass Filme, die erst ab 16 bzw. 18 Jahren zugelassen sind, erst nach 22 bzw. 23 Uhr ausgestrahlt werden dürfen. Das wird jetzt aufs Internet übertragen, indem Filme mit entsprechender Einstufung erst ab diesen Zeiten abrufbar sind – Ausnahmen impliziert,versteht sich. Wenn der Anbieter nämlich „durch technische oder sonstige Mittel die Wahrnehmung des Angebots durch Kinder oder Jugendliche ... unmöglich macht oder wesentlich erschwert“ (§ 5), können Altersverifikationen odertechnische Filter die Zeiten-Regel ersetzen.
Diese Idee hatten Anfang des Jahrtausends schon die Anbieter des Pay TV – der Versuch hielt der Realität nicht stand. Die Eltern konnten oder wollten die Filtertechnik nicht installieren. Also wurdensenderseitige Sperren verpflichtend gemacht, die von den Eltern nicht ein-, sondern ausgeschaltet werden müssen (Schorb & Theunert: Jugendmedienschutz – Praxis und Akzeptanz. Berlin 2001). So werden Kinder und Jugendliche im Pay TV wieder unabhängig von Vermögen und Willender Eltern geschützt, wie es auch im Grundgesetz bestimmt ist. So viel Selbstregulierung aber wollte man der Internetindustrie wohl nicht zumuten.
Andrea Uehlein: Kein Wort ohne meinen Verleger
Früher war alles besser: Die lieben Kinder setzten elterliche Anweisungen gewissenhaft und gründlich um, ohne nachzufragen. Heute tut das Kind nicht unbedingt etwas, um der Mama eine Freude zu machen oder fürs Leben zu lernen; auch fürstliche Entlohnung reicht als Ansporn kaum noch aus. Allenfalls die Aussicht „gedruckt und gesendet“ zu werden, sorgt für ein Mindestmaß an Motivation. So trug es sich unlängst zu im Kampf um die Hausaufgabe „schreibe eine schöne Nacherzählung in der ersten Vergangenheit, mit vielen Wiewörtern und direkter Rede“, dass ich mich – neben weitschweifigen Ausführungen zu Stilmitteln und innovativem Sprachgebrauch – plötzlich irrwitzige Versprechungen abgeben hörte: „Wenn du die Nacherzählung schön schreibst, dann drucken wir die als Buch – na, wäre das nicht toll? Dein erstes eigenes Buch!“ Zwei bis drei nölende „Nö“ später hat mir das Kind abgerungen, dass sein Buch auch als Hörspiel erscheint. Die dazu passende Kollektion von Merchandising-Artikeln wie Trinkflaschen, Radiergummis et cetera lasse ich mir allerdings nur gegen die Zusage abpressen, auch tatsächlich dieses komische Imperfekt zu verwenden und das Buch eigenhändig zu illustrieren.
Tief seufzend schmiert der Knabe nun eine Geschichte aufs Papier, die mich vor Mitleid fast weinen lässt: Handelt sie doch von einem kleinen Mädchen, das so gerne spielen möchte, aber von seiner sauertöpfischen Mutter gezwungen wird, sinnlose Einmaleins-Aufgaben zu rechnen. Die der traurigen Erzählung innewohnende Transferleistung lässt meine Tränen jedoch schnell wieder trocknen. Richtig ungemütlich wird es erst, als das Kind mich auffordert, still sitzen zu bleiben, denn „ich mal dich jetzt“. Zunächst beginnt er vielversprechend mit einem Kasten, der sich jedoch schnell zu einem Oberkörper à la Arnold Schwarzenegger auswächst. Dem fiktiven Leser seines noch nicht gedruckten ersten Buches mag dies durchaus verheißungsvoll erscheinen, mir indes nicht, denn erstens habe ich relativ wenig Ähnlichkeit mit einem Schrank und zweitens ahne ich, wie es weitergehen wird. Auf den Schrank kommt nämlich als Hals nun eine Art dicker Schlot, aufdem eine kümmerlich kleine, verschrumpelte Erbse platziert wird. Und nur weil der kleine Kreative dann versucht, Augen-Mund-Nase in diese Erbse zu pfriemeln, weiß ich: Das soll der Kopf sein! Als ich vorsichtigen Protest wage, wird beleidigt radiert, neu angesetzt und eine ähnlich kümmerliche Erbse produziert. Nach ausgiebigem Radiergummiverschleiß liegt dann ein zerknittertes Bild vor, das Erwachsene allenfalls als Zwischenergebnis werten würden, während die Kreativabteilung dies mit „Fertig. Krieg ich jetzt mein Hörbuch?“ kommentiert, so dass sich zwangsläufig folgender Ablauf anschließt: „Du, das hast du ganz toll gemacht. Hände wären aber auch nicht schlecht.“ Verächtlich packt der Künstler zwei unförmige Klumpen an die schlauchartigen Arme. „Und vielleicht Finger auch noch?!“ Gestöhne. Dann folgen vier bis sechs dicke Würste pro Klumpen. „Und wie wäre es mit ein paar Haaren?“ Wortlos wird etwas hingekritzelt, an dem Udo Walz nicht gerade seine Freude hätte. Danach herrscht beidseitserschöpftes Schweigen. Um größeres Unglück zu vermeiden gehe ich eine Runde Joggen und das Kind lässt sich vom ausgeleierten Kassettenrekorder Geschichten erzählen.
Als ich verschwitzt wieder zuhause erscheine, pirscht sich plötzlich der Knilch an und berichtet spitzbübisch „Ich hab’s nochmal gemacht“. Und dann erzählt er mir eine wirklich schöne Geschichte, die ein für-immer-als-Hörbuch Festhalten tatsächlich verdient hätte. So aber wird sie erzählt, verklingt – und wird noch lange in meiner Erinnerung bleiben.
Michael Gurt: Kein Sex mehr mit Vampiren!
Neulich auf einer Party: Sie:„Und, was machst du so ...?“
Ich: „Ich bin Medienpädagoge.“
Sie: „Das ist ja interessant. Und was macht man da so?“
Ich: „Ich erkläre Eltern zum Beispiel, warum sich Kinder und Jugendlich für bestimmteMedieninhalte begeistern.“
Sie: „Aha ... versteh ich nicht.“
Ich: „Also zum Beispiel diese Teenager-Vampierfilme, die grade so in Mode sind. Twilight – BIS(S) zum Morgengrauen und so ...“
Die Miene meiner Gesprächspartnerin hellt sich etwas auf. „Ich kann dir genau erklären, warum dieser Quatsch bei Teenagern so populär ist. Es geht um einen total gut aussehenden jungen Vampir, der neu an der Schule ist, der verliebt sich unsterblich in ein Mädchen. Aber weil er nun mal ein Vampir ist, dürfen sie keinen Sex haben, sonst gerät er in den üblichen vampirmäßigen Blutrausch und – zack bumm – aus ist’s mit der großen Liebe, du verstehst? Die alte Geschichte von der ‚reinen Liebe’, die von der dunklen Triebhaftigkeit der menschlichen Sexualität bedroht wird. Ist ja auch kein Wunder, die Autorin gehört der Kirche der Heiligen der Letzten Tage an. Kein Sex vor der Ehe, verstehst du ...und schon gar nicht für Vampire mit Beißhemmung! Na ja, typischer amerikanischer Teenagerquatsch eben. Und die Nachahmer stehen schon in den Startlöchern. Auf ProSieben ist grade Vampire Diaries angelaufen, das ist dasselbe in Grün. Eine schwülstige Inszenierung verdrängter Leidenschaft mit schmachtenden Blicken und im Kerzenschein blitzenden Eckzähnen.“
Meine Gesprächspartnerin hat eindeutig die Gesichtsfarbe gewechselt. Meine Ausführungen haben ihr eine schamhafte Röte ins Gesicht getrieben ...
„Ach, du kennst die Romane? Twilight hast du schon dreimal gesehen? Und Vampire Diaries ist deine Lieblingsserie? Verstehe.“
Irgendwie hat die Beantwortung der eigentlich so unverfänglichen Frage „Und, was machst du so?“ dazu geführt, dass die sexuelle Enthaltsamkeit an diesem Abend nicht alleine den Vampiren vorbehalten war. Dass selbst Anfang 30-jährige Akademikerinnen, die ungemein gebildet, karrierebewusst und aufgeklärt sind, diesem Schmonzus auf den Leim gehen, belegt dreierlei:
1. Die akademische Ausbildung ist auch nicht mehr das, was sie mal war
2. Vampirismus ist auch nicht mehr das, was er mal war
3. Jugendkult ist auch nicht mehr das, was er mal war ... nämlich der Jugend vorbehalten.
Beseelt von diesen Einsichten besinne ich mich auf meinen anstehenden vierzigsten Geburtstag, überlasse den romantischen Vampiren ihren triebfeindlichen Lebenswandel und merke mir vor, endlich mal wieder Murnaus Nosferatu anzusehen. Vielleicht gibt es ja bald eine Neuverfilmung mit Keira Knightley und Ashton Kutcher ... igitt!Außerdem fällt auf, dass die mittlerweile übliche multimediale Vermarktungsstrategie auch vor den jungen Blutsaugern nicht haltmacht. Teenager jeden Alters identifizieren sich mit ihren lichtscheuen Idolen und nehmen dafür zusätzlicheKosten in Kauf. Das Potenzial ist aber längst nicht ausgeschöpft. Unter dem Slogan „Bis(s) die Kasse klingelt“ ließen sich Kondome mit Knoblauchgeschmack, Blutwurst in Herzform oder sargförmiges Kastenbrot vermarkten. Dernächste Valentinstag kann kommen!
P. S.: Ich habe beschlossen, beim Small-Talk auf Partys als Beruf Jurist anzugeben. Das erscheint mir unverfänglich und provoziert keine Nachfragen. Mal sehen, ob es funktioniert.
Michael Bloech: Lansing ist überall!
Grüne Wiesen, blauweißer Himmel, fesche Buam und Madeln und süffiges Bier: Was wollen dieZuschauenden des Bayerischen Fernsehens mehr? Täglich grüßt hier nicht das Murmeltier sondern seit 2007 entfaltet werktäglich die Dokusoap „Dahaom is Dahaom“ ihre narkotisierende Wirkung. Angesiedelt im fiktiven bayerischen Dorf Lansing müssen dreißig quälend lange Minuten Protagonisten verschiedensten Alters in Oktoberfestverkleidungen agieren. Aus ihren Mündern quellen bedeutungsschwere Sätze, die man eigentlich bereits aus der Lindenstrasse seit Mitte der 80er-Jahre kennt. Vollends das Maß zum Überlaufen bringen die völlig uninspirierten und gnadenlos langweiligen Kameraeinstellungen. Was damit schon für die einen die Grenze der Unerträglichkeit sprengt, ist Balsam für die Seele der echten „Dahaom is Dahaom“-Fans. Für all die anderen bleibt nur der reflexartige Griff zur Fernbedienung, aber sogar das hilft manchmal nichts, denn bald stößt man vielleicht auf die „Rosenheimcops“ und scheinbar ist Rosenheim ähnlich gemütlich wie Lansing. Aber worin begründet sich die Faszination dieser Serien?
In der Story von „Dahaom is Dahaom“ bestimmt nicht, zu banal und durchschaubar wird die Handlung präsentiert, zu hölzern agiert das unbeholfen wirkende Schauspielerteam, zu scheinheilig mutet die Kulisse an, die im nächsten Moment umzustürzen droht. Also muss sich die Begeisterung für „Dahaom is Dahaom“, quasi das Lansing-Phänomen, aus etwas anderem heraus entwickeln. Vielleicht liegt es am nostalgischen Effekt der antiquiert anmutenden Dorfgeschichten, denn bekanntlich war früher grundsätzlich immer alles besser. Sicher richtig, doch zentraler dürfte etwas ganz anderes sein und jetzt kommt Mundart ins Spiel. Wobei Mundart streng genommen der falsche Begriff wäre, der Mund ist zwar involviert, aber bei Art, also Kunst, hört es schnell auf. Präziserer wäre das Phänomen daher als „künstlich“ zu bezeichnen, denn mit der kunstvollen Sprache „Bayerisch“ hat das wenig zu tun. Jetzt werden Sie sicher sagen: Unsinn, Bayerisch als Sprache gibt’s ja gar nicht! Und schon haben sie sich als unromantischer Realist geoutet, dem bekannt ist, dass in Bayern wirklich viele Dialekte existieren, die sich dummerweise auch noch von Region zu Region stark unterscheiden. Der künstliche Dialekt jedoch, der in Lansing gesprochen wird, ist ein geschickt angerührter Linguistikbrei aus einem stark eingedampften Oberbayrisch, das hochdeutsch eingefärbt und geglättet wurde.
Vielleicht wollten die Macher von „Dahaom is Dahaom“ gewährleisten, dass die oben bereits erwähnten, wichtigen Sätze auch über Landesgrenzen hinweg verstanden werden. Aber vermutlich geht es wirklich um etwas völlig anderes, genauer gesagt um Assimilation. Das synthetische Lansing-Bayerisch entspricht, wie gern von echten Münchnern abfällig geäußert wird, nämlich sprachlich am ehesten dem der sogenannten „Zugroasten“. Gemeint ist die Sprache der nach München Zugezogenen, die jahrelang qualvoll Sprachrhythmus und Klangfarbe des Bayerischen in ihren früheren Sprachhaushalt einarbeiteten und dann zum sogenannten „Münchnerisch“ veredelten. Dieser Minimalkonsens ermöglicht das Verstehen untereinander ungemein: Die alteingesessenen Dialektgewaltigen erkennen und verstehen die Zugroasten sofort und diese wiederum meinen naiv, jetzt vollständig dazuzugehören. Vielleicht ist es genau diese Assimilation, die den Reiz dieser und anderer bayerischen Mundartserien bei den Zuschauenden ausmacht. Ein bisserl dazugehören wäre ja nicht verkehrt, denn – hier bei uns in Lansing – sind die Wiesen grün, der Himmel blauweiß, die Buam und Madeln fesch und das Bier süffig.
Michael Gurt: Der Sommer der Wahrheit
„Das ist halt die Wahrheit und das richtige Leben. Wie es halt wirklich ist.“ (Flimmo-Kinderbefragung 1/2009 zu Erziehungs-TV). Wer sich im Sommerloch der letzten Wochen durchs TV-Programm zappte, war diesem richtigen Leben an allen Ecken und Enden ausgeliefert: Die Sommermädchen liefen auf ProSieben Schau und ließen sich von Möchtegern-Zuhältern am und im Pool erniedrigen. Auf RTL durften „Halberwachsene“(ebenda). Erwachsen auf Probe spielen und Babyattrappen im Schlaf erdrücken. Auf dem selben Sender griff Kolb ein, um Nachbarschaftsstreits ein Ende zu setzen. Dazu zwang er streitsüchtige Kleingärtner und hysterische Hausbesitzer an einen Tisch, damit diese vor der Fernsehöffentlichkeit ihre dreckige Wäsche waschen. Die Baustelle Liebe zeigte wackere Handwerker, denen die Romantik mit der Brechstange eingebläut wird. Und am Ende mussten die bedauernswerten Burschen auf der Showbühne auf die Tränendrüse ihrer Holden drücken. Die süffisanten Einlassungen der gazellengleichen Moderatorin machten die Sache nicht besser. Der absolute Renner des „Echtmenschen-Fernsehens“ sind Erziehungsformate. Damit auch der letzte Ewig-Gestrige einsieht, wie verdorben die junge Generation ist, werden reihenweise Zwangsmaßnahmen abgefilmt. Kaum zu glauben, dass es noch Heranwachsende gibt, die nicht durch die Besserungsanstalt Fernsehen getrieben wurden: Von der Super-Nanny geht es zu den Super Lehrern, von den Strengsten Eltern der Welt zu den Schulermittlern. Das Aufwachsen unter erschwerten Bedingungen ist ein steter Quell neuer Formate. Böse Zungen behaupten, die einschlägigen Sender ziehen sich durch ihren Programm-Müll die künftigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Formate gezielt heran. Auch wenn diese These etwas gewagt ist, muss die Frage erlaubt sein, warum unter dem Deckmantel pädagogischer Aufklärung dem Voyeurismus bedingungslos gefrönt werden darf. Angesichts der Qualität und des Ausmaßes der Reality-Doku-Soap-Coaching-TV-Welle reagieren Presse und Öffentlichkeit matt und abgestumpft auf die Zumutungen des Sommerprogramms. Nur Erwachsen auf Probe ließ die üblichen Alarmglocken läuten, weil Babys (und nicht wie sonst Kinder, Jugendliche oder Erwachsene) als Unterhaltungsware instrumentalisiert wurden. Dem Reality- und Casting-Wahn stemmte sich lediglich ein beherzter Vorzeige-Intellektueller entgegen, dafür in drastischer Form: Roger Willemsen drohte Germany’s Next Topmodel Heidi Klum Schläge an. Aber die knallharte Heidi wäre nicht ihres Vaters Tochter, würde sie aus solch medienwirksamen Anfeindungen nicht Publicity-Prof it schlagen. Wäre es nicht so traurig, könnte man über besonders aberwitzige Programm-Entgleisungen herzhaft lachen: Dass ausgerechnet Till Schweiger Germanys Next Hollywood-Star kürt, ist etwa so einleuchtend wie Dieter Bohlen als Musik-Juror. Aber das ist eine andere traurige Geschichte. Besonders beschämend wird es, wenn ehemalige B-Prominente nicht einfach bleiben, wo sie hingehören: In der Versenkung. Box-Legende René Weller („Der schöne René“) macht im Promi-Trödel-Trupp (RTL II) auf grenzdebilen Messie, der seine bessere Hälfte durch renitenten Altersstarrsinn zur Verzweif lung treibt. Bei Sendungen wie diesen gewinnt das Wort Fremdschämen eine ganz neue Bedeutung. Auch die Bräutigamschau von Giulia „In Love“ Siegel fällt in diese Kategorie. Der inszenierte Lustwandel taugt Gott sei Dank ebenso wenig zum Quotenrenner wie 90 Prozent der Sendeformate dieses Schlages. So bleibt die Hoffnung, dass Giulia, Till und Co. dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind: ins abgrundtiefe Sommerloch.
Elisabeth Jäcklein-Kreis: Google, my brain!
„Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben …“Ja, ich gebe es zu – ich habe jemanden kennen gelernt. Er ist so höflich und zuvorkommend, so witzig und gebildet, so verständnisvoll und immer für mich da. Wenn ich ein Problem habe oder ratlos bin. Und er weiß so viel – zu jedem Thema. Google ist tatsächlich ein Freund, wie man ihn selten findet. Schneller Helfer bei Wissensfragen, geduldiger Zuhörer in der Not, unermüdlicher Beschäftigungstherapeut bei Langeweile und unerschöpfliche Fundgrube. Bin ich mit meinem Latein längst am Ende, hat er meist noch einige hunderttausend Tipps für mich und gibt mir alles, was ich brauche – von witzigen Postkarten-Sprüchen über gewiefte Diskussionsargumente bis zu klugen Bewerbungstipps. Wozu da noch selbst denken – Google als ‚externes Gehirn’ funktioniert doch hervorragend.
Ich weiß ohnehin gar nicht, wie Menschen jahrhundertelang leben konnten, woher sie ihre Informationen bekamen, wie sie Jobs finden, Autos kaufen, Telefonnummern und Adressen herausfinden, ihre Rechtschreibung überprüfen, gar studieren und Abschlussarbeiten schreiben konnten, ohne zu googeln. „Ich google das mal eben!“ ist mittlerweile so populär, dass sich sogar der Duden nicht mehr erwehren konnte, ‚googeln’ (‚im Internet, bes. in Google suchen“) in sein dickes gelbes Schriftwerk aufzunehmen. Allein, irgendwie spricht sich das Rechtschreib-Standardwerk damit ein bisschen selbst die Relevanz ab – denn wer blättert schon noch in dicken gelben Büchern, wenn er auch mit zwei Klicks die bunte Buchstabenreihe um Rechtschreibtipps bemühen kann? Ja, die vielen farbigen Os – die wahlweise auch als Tierchen oder Luftballons, als saisonaler Gruß oder Hommage an große Kunstwerke, als Braille-Punkte oder Aliens daher kommen – sind mehr als nur schnöde Buchstaben. Sie sind Freund und Helfer, sie sind – um mit Malte Herwig, laut Google „Journalist und Redakteur“, zu sprechen – „zur kulturellen Ikone geworden, ein digitales delphisches Orakel.“ Sollte jemand das Schulwissen zu den Schlagworten „Antike“ und „Griechenland“ schon aus dem eigenen Gehirn ausgelagert haben: ‚delphisches Orakel’ lässt sich googeln. Aber Vorsicht: Das ‚delphische Tarot’, das das digitale Hirn gleich als zweiten Treffer anbietet, schaut mehr esoterisch in die Zukunft als historisch- fundiert in die Vergangenheit. Überhaupt beschleicht mich manchmal das leise Gefühl, dass irgendetwas fehlt in meiner Beziehung zum Traummann Google.
Will ich mich etwa weiter mit ihm über das Orakel des Apollo unterhalten, möchte er mich stattdessen zum Optiker oder wahlweise ins Kino schicken. Sehr höflich finde ich das nicht. Auch habe ich manchmal den Eindruck, die Machtgefälle in unserer Beziehung sind ein bisschen einseitig. Oder woher sonst rührt das leicht verschämt-beklommene Schweigen, das in so mancher Gesprächsrunde nur allzu schnell entsteht, wenn keiner da ist, der das politische Tagesgeschehen schnell per iPhone googelt? Vielleicht sollte ich doch wieder etwas mehr Selbständigkeit gewinnen? Mal wieder das eigene Hirn entstauben und auch da das eine oder andere peu Wissen reinpacken? In guten alten Zeitungen, Telefonbüchern oder Enzyklopädien blättern, wenn ich Wissens- oder Informationsbedarf habe? Der Brockhaus zum Beispiel, vielleicht ist der der bewandtere (und galantere) Gesprächspartner, wenn es um griechische Antike geht. Aber woher nehme ich jetzt einen Brockhaus? Ich werde das mal googeln …Herwig, Malte (2005). Generation Google. In: Herwig, Malte. Eliten in einer egalitären Welt. Berlin: wjs Verlag.
Beitrag aus Heft »2009/04: Informationelle Selbstbestimmung?!«
Autor: Elisabeth Jäcklein-Kreis
Beitrag als PDFGünther Anfang: Das Wetter war früher auch mal besser
Ja, alles wird schlechter. Die Weltwirtschaft steckt in der Krise, der FC Bayern ist nicht mehr das, was er mal war und die Wettervorhersagen sind schlichtweg eine Zumutung. A propos Wetterbericht. Da hat sich in den letzten Jahren einiges in der Aufbereitung getan. Früher gab es eine einfache Grafik. Da konnte man die Umrisse von Deutschland sehen und schell und ganz einfach erkennen, wo Wolken oder Regentropfen schlechtes Wetter ankündigten und wo lachende Sonnen uns auf schönes Wetter einstimmten. Dieser Grafik war in der Regel eine weitere vorangestellt, auf der man Zusammenhänge erkennen konnte. Denn hier wurde erläutert, warum es am nächsten Morgen im Süden schön und im Norden schon wieder schlecht wird. Ein Blick auf die europäische Wetterkarte ermöglichte es zu erkennen, dass zum Beispiel ein atlantisches Tief im Anzug und somit auch im Süden nicht mehr lange mit schönem Wetter zu rechnen ist. Das war sensationell, denn damit gelang es dem Fernsehen, Zusammenhänge aufzuzeigen, die man in den regulären Nachrichtensendungen vermisst. Da wird berichtet, dass eine Regierung gestürzt wurde und gleich darauf gemeldet, welche Opfer der Schweinegrippe-Virus fordert. Kurz darauf sind wir beim Börsenbericht und dann gibt’s noch ein bisschen Fußball und Kultur. Erläuterungen dazu: Fehlanzeige! Nun gut, wir haben ja noch das Wetter und eigentlich ist das für viele sowieso der einzige Grund, überhaupt noch Nachrichten zu sehen.
Doch die Zeiten eines Wetterberichts mit klaren Strukturen sind vorbei. Das Wetter ist nicht mehr Teil der Nachrichten, sondern eingebettet in einen Werbeblock. Da treten bei ARD und ZDF zwei Herren in grauen Anzügen mit einem Regenschirm auf. Sie kündigen an, dass uns nun das Wetter von der Commerzbank präsentiert wird. Das stimmt uns natürlich schon ein bisschen skeptisch, denn schließlich wissen wir seit einiger Zeit, dass sich die Herren von den Banken gewaltig verspekuliert haben. Ob wir ihnen da beim Wetter trauen können? Doch diese Überlegung müssen wir erst einmal beiseite schieben, schließlich wollen wir ja wissen, ob wir morgen mit dem Radl in den Biergarten fahren können. Also aufgepasst: Das Wetter von morgen präsentiert von den Sven Plögers und Jörg Kachelmanns. Sie stehen vor einer großen Wetterkarte auf der eine ganze Menge zu sehen ist. Und dann zeigen sie uns den Strömungsfilm mit vielen halbrunden Pfeilen, die alle wild durcheinander wirbeln. Anhand des Strömungsfilms erklären sie uns, wie der Wind das Wetter bestimmt. Verstehen kann man dieses Schaubild nicht, es ist lediglich zu erkennen, dass wir in einem ziemlich windigen Land leben. Doch die unterhaltsamen Wetterfrösche haben noch mehr auf Lager: Satellitenbilder, Unwetterkarten, Biowetterprognosen – damit will man uns weiß machen, dass die Wettervorhersage zu einer exakten Wissenschaft geworden ist.
Die Krönung ist dann der Wettertrend. Hier wird aus welchen Gründen auch immer irgendeine Stadt in Deutschland ausgewählt, anhand derer der Wettertrend aufgezeigt wird. Zu fragen bleibt da jedoch, ob es für uns hier in München interessant ist zu wissen, wie der Wettertrend in Kiel ist. Außer natürlich, wenn wir einen Urlaub an der Ostsee planen. Nach all den vielen Karten sind wir so verwirrt, dass wir gar nicht mehr genau wissen, wie das Wetter denn nun wird. Dafür gibt es dann noch die Zusammenfassung, damit wenigstens etwas hängen bleibt. Und schließlich machen uns die beiden Herren von der Commerzbank wieder darauf aufmerksam, dass das Wetter eigentlich eine Werbesendung war. Morgen wird’s wahrscheinlich eh regnen, auch wenn schönes Wetter vorhergesagt wurde. Aber das weiß ja schließlich jedes Kind, die Werbung macht uns immer was vor und stimmen tut sie sowieso nicht.
Jürgen Bofinger: Digitaler Hauseinbruch
Digitale Medien bereichern unsere Arbeit und Freizeit. Sie werden jedoch zunehmend von Einzelnen und Institutionen missbraucht. Aber der Einsatz digitaler Technik ermöglicht auch Fahndern Datensammlungen in großem Maßstab „ohne Ansehen der Person“. Plötzlich stehen wir alle unter einem Generalverdacht als potenzielle Betrüger, Diebe, Bestechliche, Gewaltbereite. So ist es zumindest tröstlich, dass das Bundesverfassungsgericht behördliche Videoaufzeichnungen bei Demonstrationen im Bayerischen Versammlungsrecht ohne Tatverdacht ‚kippte’. Dass eine unbegrenzte Online-Überwachung von Computern ein Heer von Verdächtigen schaffen könnte, führte zu öffentlichem Protest. Auch digitalisierte Persönlichkeitsmerkmale auf Personaldokumenten, eine elektronische Patientenkarte und digitale Gesundheitsakten könnten neben allen Vorteilen auch Unbefugte, Arbeitgeber, Arbeitsagenturen und diverse Behörden brennend interessieren (Stichwort: Datenabgleich). Heiligt der Zweck alle (digitalen) Mittel? Wo liegen die Grenzen? Welcher Schutz vor Missbrauch der persönlichsten Daten ist eigentlich vorgesehen? Welche Verfügungsrechte bleiben mir?Das Recht auf digitale Selbstbestimmung wurde mehrfach und bedenkenlos verletzt. Das zeigen die Affären bei Lidl, der Telekom, der Deutschen Bahn, in Kommunen wie Stuttgart. Auch digitale Bankkundendaten erleichtern ihren Missbrauch, was zwar zum Aufspüren luxemburgischer Steuerhinterzieher führte, aber ebenso jeden anderen Kunden treffen könnte. Und jede Bank-, Kredit- und Bonuskarte enthält sensible Daten, die in falsche Hände geraten könnten. Die digitalisierte Welt hat in allen diesen Fällen nicht mehr Sicherheit für den Einzelnen gebracht, sondern neue Gefahren geschaffen. Auch im Internet habe ich zunehmend das ungute Gefühl, beobachtet und ausspioniert zu werden. Mehr Personen und Institutionen als gewollt kennen meinen Wohnsitz, mein Geburtsdatum, meine Musik- und Büchervorlieben. Woher zum Teufel? Ich war so vorsichtig bei der Weitergabe persönlicher Daten! Ich habe bewusst an keinem Online-Gewinnspiel teilgenommen. Ich meide Diskussionsforen und Internetcommunitys. Aber ich bin Online-Kunde und kann nur hoffen, dass die beteuerten Schutzmechanismen wirken und sich Lücken nur in Form unerwünschter Werbung zeigen.Schuld am Verlust der persönlichen Selbstbestimmung haben aber nicht nur ‚die anderen’. Heimliche Aufzeichnungen mit dem Handy zur Bloßstellung von Mitschülerinnen, Mitschülern und Lehrkräften (‚Cyberbullying, -mobbing oder -stalking’) sind ‚in’. Die schlimmsten Entgleisungen stellen Videoclips brutaler Gewalt dar, die für eine möglichst breite Veröffentlichung aufgenommen werden – entweder zur eigenen Glorifizierung oder zur Demütigung der Opfer (‚Happy Slapping’). Persönlichkeitsschutz? Besuchen Sie einmal die Internetplattform YouTube. Auch der wachsende Missbrauch von Online-Chats, von Bekanntschafts- und Freundschaftsbörsen führt letztlich zur Zerstörung ihrer Grundidee einer offenen und bürgernahen Gesellschaft.Ich reagiere inzwischen sensibel auf jegliche Überwachung. Angefangen bei der Taschenkontrolle an der Supermarktkasse. Verfolgungswahn? Der ausgespähte, gläserne Bürger und Patient hat inzwischen ein fast lückenloses digitales Profil bekommen, man verliert immer mehr an Selbstbestimmung und Intimität. Alles wird öffentlich und wohlfeil. Digitale Zurückhaltung, eine größere Sensibilität für Persönlichkeitsrechte, für zwischenmenschlichen Respekt und für die besondere Verletzbarkeit der Intimsphäre in einer digitalen Welt würde uns allen gut tun – zum eigenen Schutz und zum Schutz einer lebenswerten bürgerlichen Demokratie.
Beitrag aus Heft »2009/02: Selbstentblößung und Bloßstellung in den Medien«
Autor: Jürgen Bofinger
Beitrag als PDFKai Hanke: Lost in Communities
Wie sich die Zeiten ändern! Gestern haben 68er und Spontis mit ihren Kinder geübt, sich auszuziehen und – spielerisch, ganz Nackedei – ihre Scham vor der Welt und sich selbst abzulegen. Heute sieht das schon anders aus. Ausziehen gehört im konkreten wie übertragenen Sinne zum Standardprogramm der durchschnittlichen Po-Mo-Jugend. Bestes Beispiel für die Mitteilungsfreude heutiger junger und sich jung fühlender Menschen: Die verwirrende Vielfalt und begeisterte Nutzung sozialer, internetbasierter Communitys. Ein unüberschaubares Geflecht von Social Communitys bietet uns die Möglichkeit, (endlich?) allen zu zeigen, wie wir wirklich sind. Wenn wir dabei nicht durch’s Coolness-Raster rauschen, haben wir sogar gute Chancen, uns die Hauptfunktion der sozialen Online-Netzwerke zunutze zu machen: In Kontakt bleiben, Netzwerke bilden. Das ist schön, denn nun können uns alle Bekannten – seit langem in mühseliger Arbeit mehr oder weniger sensibel losgeworden – endlich wieder als Freunde „adden“. Wenn wir Glück haben, begnügen sie sich damit. Und wenn wir so richtig Glück haben, melden sich darüber hinaus auch neue, interessante Menschen bei uns, mit denen der Kontakt sich dann sogar lohnt. Doch auch so wird es kompliziert. Denn sind die kommunikationsstarken, patchwork-identitären (oder doch eher -identitischen?) Community-Junkies von heute erstmal in Netzwerken aktiv, beginnt der permanente, freiheitlich-lästige Prozess der Selbstreflexion (Wer bin ich und: wer will ich sein?). Ein bisschen über sich selbst nachzudenken hat zwar noch niemandem geschadet. Aber immer dieser Identitätszwang! Bin ich überhaupt oft genug an der Uni, um bei meiner Community richtig am Platz zu sein (hallo, studiVZ!)? Ab wann bin ich zu alt für meine Community (hallöchen, schülerVZ!)? Ist mein Leben schon zu überregional für meine Community (servus, Lokalisten!)? Fühle ich mich eher als akademische Upper-Class-Mietze (hello, facebook!) oder als proletarische Plattformerin (whazzup, MySpace!)? Und wie schick muss mein Foto sein, um doch noch einen sinnlosen Job mit unverständlichem Tätigkeitsprofil zu finden, (guten Tag, XING!)? All diese Fragen müssen geklärt sein, will man sich kompetent in Netzwerken bewegen. Freilich kann man sich auch wie die Mehrheit für die nicht-kompetente Nutzungsvariante entscheiden. In diesem Fall bleibt immerhin die Ausrede Patchwork-identität: „Ach du, weißte, ich bin so der Typ Mensch so ... ich fühle mich so facettenreich, da muss ich einfach in mehreren Netzwerken sein, so ...“ Außerdem erleben durch Social Communitys sogenannte Fake-Identitäten sogar in Zeiten der Krise eine echte Hausse. Insofern darf ja ohnehin alles nicht mehr so ernst genommen werden. Ob internationalistischer Netz-Nazi oder Konsum-Antikapitalist – Sich-ernst-nehmen war gestern. Aufpassen ist trotzdem angebracht. Wahret den Überblick! Ein Jobgesuch mit dem Nickname Bienchen223 oder der Visage von Brad Pitt macht sich ebenso unvorteilhaft wie zahllose Sondereinträge im Handy-Adressbuch zur Ultrageheimverwahrung entsprechender Community-Passwörter. Im Kopf behält sich diese Unzahl ja kaum noch jemand. So oder so – verlieren wir uns doch einfach alle in der Vielseitigkeit. Sozusagen in guten wie in schlechten Seiten. Dann stört es auch niemanden, dass nicht nur Amnesie-Betroffene vergangener Abendveranstaltungen sich vergewissern können, wirklich auf derselben Party wie man selbst beim peinlich Sein fotografiert worden zu sein. Auch zukünftige Chefinnen – ach, oder überhaupt der Rest der Community-Welt – darf ruhig einen Blick riskieren. Hereinspaziert, das bin ich beim Ausziehen. Die Offenheit frisst ihre Kinder. Wie sich doch die Zeiten ändern ...
Bernd Schorb: Ich habe kein Handy
„Könnten Sie mir bitte Ihre Handynummer geben, damit ich Sie erreichen kann?“ „Ich ruf’ dich dann auf dem Handy an!“ „Tragen Sie hier die Nummer Ihres Mobiltelefons ein.“ Alle diese Aufforderungen, die mir täglich begegnen, beantworte ich mit „Nein“ oder gar nicht. Ich habe kein Handy. Handelt es sich bei dem Auffordernden um ein Formular, ist die Sache in Ordnung. Handelt es sich um einen Partner aus dem Bereich des Dienstlichen, erfolgt oft erst die Wiederholung der Frage und dann das Stirnrunzeln mit der unausgesprochenen Feststellung: Ein seltsamer (manche denken auch noch: alter) Kauz. Freunde und gute Bekannte fragen: „Wie?“ oder „Warum?“ Dann muss ich erklären.Anfangs war mir das Mobiltelefon noch zu teuer. Außerdem regten mich die Angeber auf, die immer dann, wenn eine ausreichend große Menschenmenge um sie herumstand, ihr damals noch dickleibiges Mobiltelefon herauszogen und mit wichtiger Miene höchst Wichtiges verkündeten: „Mutti, ich steig jetzt gleich in den Flieger ein.“ Später dann, als jeder, der so bedeutend war, dass er dienstlich auch unterwegs erreichbar sein musste, ein Handy hatte, wurde der Druck größer. „Wenn du nicht erreichbar sein willst, dann kannst du das Handy ja abstellen. Aber wenn mal was Wichtiges ist!“ Schön wär’s! Mein Problem ist, ich kann das Handy nicht abstellen.Zuhause hatten wir ein paar Jahre lang das einzige Telefon in der Siedlung. Das schwarze Gerät stand im Hausflur direkt unter dem Spiegel gegenüber der Eingangstür.
Wer zu uns kam, sah zuerst das Telefon. Wenn es läutete, konnte eine Oma gestorben oder ein Kind geboren sein, eine Fuhre Kohle geliefert werden oder mein Vater verkündete seine verspätete Ankunft zum Essen. Ausschalten konnte man da nichts. Das Kabel wuchs aus der Wand, es war ein Teil des Hauses. Das Klingeln dieses Telefons war bedeutungsvoll, viele Jahre lang. Heute, wo die Handy-Versorgungsrate in Deutschland 107,3 Prozent beträgt, weil außer ein paar Alten jeder ein Handy hat und viele sogar zwei, gelte ich als verschroben. Da habe ich aber nichts dagegen. Ich möchte weiterhin nicht erreichbar sein dürfen und auch nicht jederzeit telefonieren können müssen. Wenn der Zug wieder mal Verspätung hat, ist meist ein Schaffner so nett und leiht mir sein Diensthandy. Natürlich beeindrucken mich die Zeitungsmeldungen von dem einsamen Wanderer, der in den Alpen vom Weg abgekommen ist und dank der Möglichkeit, sein Handy zu orten, gerettet werden konnte. Aber ich frage mich auch, ob ich überall und jederzeit und überhaupt von unserem Innenminister geortet werden will. Tief beeindruckt war ich auch, als ich letztes Jahr im Himalaya mit einigen anderen Wanderern auf 4.000 Meter Höhe eingeschneit war und eine Schweizerin über ihr Handy per Satellit ihren Mann in Wägis anrief und der in Echtzeit im Netz die Wetterentwicklung am Anapurna prüfte und die Auskunft gab, dass es weiter schneien wird.
Wie lange ich das Privileg, autonom zu entscheiden, wann ich erreichbar bin und wann nicht, noch halten kann, weiß ich nicht. Es trifft mich der Vorwurf des Snobismus: „Das muss man sich erst mal leisten können.“ Es ist eigentlich auch ganz bequem, immer und überall Kontakt mit anderen aufnehmen zu können. Zuletzt habe ich geschwankt, als ich eines der Gesamtpakete von 1+1 angeboten bekam. Ich bin darauf eingegangen, allerdings ohne Handy. Das war richtig, denn der Kundendienst fürs Internet ist so miserabel, dass ich froh bin, mich nicht auch noch mit einem selten funktionierenden und falsch abgerechneten Handy herumschlagen zu müssen.
Hans Hoff: Voll supi-geil – das Bildungsfernsehen
Es soll ja Kinder geben, die sich bei einem Bauernhofbesuch von der Tatsache enttäuschen lassen, dass Kühe gar nicht so lila sind wie sie auf der Schokoladenverpackung immer scheinen. Wer in Großstadtschluchten aufwächst, glaubt halt leicht mal, dass die Milch im Karton wächst. Da passt es hervorragend, dass gerade so etwas wie die große Rückkehr des Bildungsfernsehens vonstatten geht. Man muss nur in der Lage sein, das neue Klugmach-TV zu identifizieren.Bildungsfernsehen orientiert sich dieser Tage konsequent an der angestrebten Zielgruppe, also an jenen, die es zu qualifizieren gilt. Goethe, Kant und Nietzsche waren gestern und evozieren heutzutage höchstens noch die Frage, bei welchem Verein die denn bitteschön spielen. Bildungsfernsehen dieser Tage setzt dort an, wo die Menschen leben. Wer zu blöd ist, seine Wohnung so einzurichten, dass sie der als Nachfolgerin der Schrankwandverordnung von 1948 anzusehenden IKEA-Einrichtungsnorm entspricht, bekommt schnellen Beistand, wenn er bei Deutschlands größter Hilfsorganisation vorstellig wird, beim deutschen Fernsehen. Dort wird derzeit beraten, geholfen und gebildet, was das Zeug hält.
Wenn etwa junge Menschen nach den Sommerferien ihrer staunenden Lehrkraft berichten, dass eine Kuh rückwärtig mindestens genauso viel Mist eruptiert wie eine durchschnittliche VIVA-Moderatorin mit Wortdurchfall, dann ist diese Erkenntnis dem Bildungsunternehmen ProSieben zu verdanken, das mit der Reihe Gülcan und Collien ziehen aufs Land mindestens so viel für das Zusammenwachsen von urbaner und bäuerlicher Bevölkerung geleistet hat wie die werblich anerkannte Volkshochschulabteilung RTL, die sich mit der Reihe Bauer sucht Frau gegen die Versingelung gestandener Jungagronomen stemmt. Dank sei in diesem Zusammenhang auch SAT.1, dem Sender, der sich nach Kräften bemüht, vereinsamten Grafen frisches Blut zuzuführen. Auch wenn es böse Zungen gibt, die behaupten, das Fernsehen mache Quote, indem es Menschen in prekären Situationen erlaube, anderen Menschen in prekären Situation beim Doofsein zuzuschauen, geht es letztlich doch nur um eins: um die Praktizierung direkter Nächstenliebe. Hat nicht einst die große Philosophin Vera Int-Veen einen höchst klugen Satz auf die RTL-Zuschauer losgelassen? „Das ist das größte Abenteuer unserer Zeit: Menschen in Not eine neue Hoffnung zu geben.“ Wer da behauptet, Mitmenschlichkeit werde hier als Abenteuerspielplatz einer medial betäubten Gesellschaft missbraucht, verkennt die Chancen.
Seit es Schuldnerberater, Wohnungseinrichter und mediengeile Schönheitsoperateure gibt, die an abgetakelten Hollywood-Diven per Niveauabsaugung ihre persönliche Prominenz auftakeln, wissen manche Menschen erst, dass es durchaus sinnvoll sein kann, nicht jeden Tag Hamburger zu essen, dass es sinnvoll ist, regelmäßig die Post zu öffnen, auch wenn sie Rechnungen enthält. Als Allgemeingut darf aufgrund der massiven Hilfe der Sendeanstalten sicherlich schon bald die Erkenntnis angenommen werden, dass es sich schöner lebt, wenn man einmal in der Woche aufräumt und nicht mehr Geld ausgibt als man einnimmt. Wer also braucht noch Kant und Nietzsche, wenn doch die Ergebnisse purer Alltagsphilosophie weitaus lebensnäher klingen? Oder, um es mal in den Verbalstil der VIVA-Moderatorin Gülcan zu übertragen: „Bildung ist voll supi-geil.“
Jürgen Bofinger: Nachhaltigkeit – ein frommer Wunsch?
Noch vor kurzem (und immer wieder in Wellen) waren jugendliches Medienverhalten, (gewaltfördernde) Medienwirkungen, übermäßiger Medienkonsum, Medien in der Schule und der Jugendarbeit, Mediendidaktik und -pädagogik Topthemen in der öffentlichen Diskussion, in Verwaltungen und Politik. Folgerichtig wurden Modellvorhaben mit beachtlicher finanzieller Ausstattung aufgelegt, aus denen man Schlüsse für das weitere Vorgehen ziehen wollte. Mit zeitlichem Abstand kommt man jedoch zu einem ernüchternden Urteil.
Ja, es stimmt: Viele Modellvorhaben sind heute noch vorzeigbare Glanzlichter. Aber ihre konsequente Weiterentwicklung und Breitenwirkung bleiben in der Regel hinter den Hoffnungen und Erwartungen zurück. Ihre Nachhaltigkeit ist begrenzt.Vielen Auftraggeberinnen und Auftraggebern – egal, ob aus Politik, Verwaltung oder Wirtschaft – sind schnelle, vorzeigbare und öffentlichkeitswirksame Erfolge wichtiger als sorgfältig geplante Projekte mit Langzeitwirkung. Die reflexartigen und kurzatmigen Reaktionen auf schulische Gewalttaten mit vermeintlichem Medienhintergrund sind nur ein Beispiel dafür. Die Finanzierung geht meist vom erhöhten Finanzbedarf eines Versuches, von begrenzten Teilnehmendenzahlen und Laufzeiten aus. Für längerfristige und umfassendere Wirksamkeit gewonnenener Erkenntnisse, für Übertragbarkeit und Nachhaltigkeit ist das ein sehr enges Korsett. Dabei spielen Wahl- und Haushaltsperioden keine unerhebliche Rolle. Viele Modellvorhaben lassen daher tragfähige Konzepte für die Zeit danach vermissen.
Das spiegelt sich auch bei den Macherinnen und Machern wider: Nicht wenige Modellvorhaben erschöpfen sich in umfänglichen Abschlussberichten, die Erfolge betonen (Financiers müssten sich sonst auch fragen, wie mit ihrem Geld umgegangen wurde). Weniger wird von eigenen Planungsfehlern, Erfolgs- und Irrwegen, von Anregungen für die Übertragbarkeit gesprochen. Und Modellvorhaben werden nicht nur aus Sachinteresse beantragt. Sie dienen dazu, die Existenz der Antragsinstitution zu begründen, die Zahl der Veröffentlichungen und das eigene Prestige in Fachkreisen zu vermehren, die Entlohnung von Beschäftigten und für die Sachausstattung zu sichern. (Das heißt nicht, dass die Produkte schlecht sind, aber sie werden durch solche Zwänge erheblich belastet.) Ist der Finanzrahmen des Modellvorhabens ausgeschöpft, der Abschlussbericht abgeliefert, stehen andere, politisch aktuellere und publikumswirksamere Themen an, ausgestattet mit neuen Geldtöpfen.
So bringt die zunehmende Drittmittelfinanzierung an den Universitäten nicht nur eine stärkere Praxisnähe mit sich, sie fördert auch ein solches Produktionskarussell. Kurzlebigkeit und relative Folgenlosigkeit von Modellvorhaben führen dazu, dass ihre Bedeutung kaum noch wahrgenommen wird. Parallelveranstaltungen und Neuauflagen zum gleichen Thema sind daher nicht selten. Nachhaltigkeit? In einer Zeit, da Aktionismus, äußere Form und öffentliches Aufsehen wichtiger sind als Sachbezogenheit und Wissenschaftlichkeit, systemisches Denken und Weitsicht? Wie ernsthaft gehen Entscheidungsträger mit wissenschaftlicher Arbeit um, wenn ihnen die naheliegenden, ja, zwingenden Folgerungen aus den gewonnenen Erkenntnissen nach einer Veröffentlichung der Endberichte als Tätigkeitsnachweis eigentlich nicht mehr so wichtig sind, getreu dem Motto: Es muss (immer) etwas geschehen, aber es darf nichts passieren?
Hans-Dieter Kübler: Wohlfeile Sündenböcke
Vom Termin her nicht ganz einsichtig, meinten die Mainstream-Medien zum Jahreswechsel 2007/2008 die sogenannte 68er-Bewegung aufleben lassen zu müssen. Denn ein markantes Datum lag nicht an. Und so jubiläumsträchtig sind 40 Jahre eigentlich nicht, als dass man sie demonstrativ feiern müsste. Aber womöglich wollte sich der eine oder andere Redakteur – der sich insgeheim selbst zu dieser Generation zählt und nun auch der Verrentung entgegenblickt – noch ein publizistisches Denkmal setzen. Erneut kursierten unisono die längst bekannten Fotos von Demos, freier Liebe und der Kommune 1, den Bürger schreckenden Protagonisten mit ihren Plakaten und Sprüchen durch Blätter und über Bildschirme, Dutschke, Cohn-Bendit und Krahl untergehakt mit allen den anderen, in Berlin und Frankfurt, Ho Chi Minh-Losungen skandierend, von Wasserwerfern zurückgepeitscht oder gleich in polizeilichen Gewahrsam genommen.
Und folgerichtig mussten solche Radikalisierungen in Brandanschlägen, Attentaten und Terrorismus enden, die RAF sozusagen als unausweichliche Konsequenz von Schüler-Revolte und Studenten-Rebellion. Nein, eine Aufarbeitung von Strukturen und grundlegende Veränderungen war es nicht und sollte es auch nicht sein, eher schon die effiziente Form der Etikettierung, des Branding, wie es im Branchen-Jargon wohl heißt. Dass es ‚die’ 68er gar nicht gab, vielmehr es sich um eine unüberschaubare Vielfalt von Aufbrüchen, Anfragen, Gruppierungen, Initiativen et cetera handelt, die sich massenmedial in jenen Fotos nur unzureichend visualisieren lassen, das kümmert die selbsternannten Interpreten nicht.
Wie Konservative schon seit jeher pauschale Schuldzuweisungen und Geschichtsklitterungen regelmäßig verteilen, wenn sie angebliche Leistungsverweigerung in der Schule, Werteverfall in Gesellschaft und Familie, soziale Zerrüttungen, Drogenkonsum und Kriminalität anprangern und umstandslos der antiautoritären Erziehung zuschieben, scheint nun auch dem ehedem ‚linken Milieu’ wohlfeil, sogar zur stilisierten Eigendiffamierung zu taugen: Die präzeptive Tonlage gab der selbstherrliche ‚Zwischenrufer’ des STERN, Hans-Ulrich Jörges, in seiner sogenannten ‚Brandrede’ vor (stern.de 16.01.2008): Politisiert habe ihn noch als Pennäler ein Schulstreik in Frankfurt 1969 (!) – „eine rauschhafte Erfahrung, Wochen glückstaumelnder Freiheit … Rock ‚n’ Roll bis morgens um vier“ –, bis es ihm schnell dämmerte: „totalitär“ sei die Bewegung gewesen, auf fatale Weise deutsch und unerbittlich auf blutigen Wegen: Repression statt Freiheit.“ Da ist die probate Metapher, die schon so oft zur Geschichtsbiegung herhalten musste: Totalitarismus gilt als Pauschalverdikt, wenn man etwas grobschlächtig denunzieren will, ob Hitlers oder Stalins Regime, im sogenannten Historikerstreikt sowieso.
Den Gipfel der perfiden Absurdität erklomm masochistisch der selbstgewisse Historiker Götz Aly, einst selbst vehementer 68er und zeit seines Lebens Faschismusforscher: Formal, in den totalitären Ritualen gleiche „unser Kampf“ dem der flugs herbeifantasierten 33er, der faschistischen Vätergeneration. Schlimmer kann man sich wohl kaum verirren, das lässt sich psychoanalytisch nur noch als rabiate Selbstaggression erklären, aber umso wirksamer wurde es medial ausgeschlachtet. Und da sich zugleich noch Hitlers „Kampf“ um die „Machtergreifung“ zum 75. Male jährt, fand sich wie von selbst jene verheerende Koinzidenz. Willkommen im historischen Tohuwabohu!
Ida Pöttinger: Senil mit Stil – Sind wir nicht alle ein bisschen MNT?
Und welcher MNT sind Sie? Was, das wissen Sie nicht? Sie brauchen sich doch nur die Ausgabe von Media Perspektiven 5/2007 ansehen. Dort hat man die neuen MedienNutzer-Typologien (MNT) beschrieben. Und da können Sie nachsehen, welcher Mediennutzer-Typ Sie sind. Unter der Bezeichnung MNT 2.0 findet man zehn Nutzertypen, die „trennscharf“ unsere Mediengesellschaft widerspiegeln. Laut Autor kann die Typisierung in Bezug auf Konsumenten- und Dienstleistungsmärkte „Erklärungskraft entfalten“, das heißt wahrscheinlich, dass sie passgenaue Werbeplatzierung ermöglichen soll.Dafür hat die MNT-Forschungsgruppe nicht nur die Mediennutzung (Hörfunk-, Fernseh- und Internetnutzung) abgefragt, sondern das Gesamtpaket, also auch die Alters- und Bildungsgruppe, Geschmacks- und Interessenvorlieben, Kleidermode, Lebensziele, Grundwerte – einfach alles. Respekt! Na, dachte ich mir, das ist alles Quatsch. Ich passe ganz bestimmt nicht in eure Rasterfahndung. Aber nach den ersten Zeilen, fühlte ich mich bereits ertappt: Während Jüngere das Internet zur „Lifestyle- Profilierung“ benutzen, gehöre ich offensichtlich zu den Älteren, die die „Linearität der klassischen Medien als ausreichend oder auch entlastend empfinden“.
Da ist etwas dran. Ich habe oft nicht die Disziplin mich von den vielen Links zu lösen, die mich immer weiter und weiter in den Dschungel der Websites eindringen lassen bis ich überhaupt keinen Plan mehr habe, was ich eigentlich wollte. In diesen Augenblicken wünsche ich mich wieder in die Gutenbergzeit zurück, in dem es durchnummerierte Kapitel gab und am Ende ein Fazit. Ja, Linearität hat schon was. Das finde ich eindeutig entlastend. Und in der Tat, als Lifestyle-Profilierung möchte ich das Netz gar nicht nutzen. Ich möchte kein Haus im Second Life haben. Mir reicht schon eine Wohnung zum Aufräumen! Aha, ich gehöre also zum Typ „alt“. Aber geht es nicht etwas genauer? Ja, selbstverständlich. Im Abgleich mit den Charakteristika der „Lebensstilgruppen“ kann man sich selbst testen. Klar, gehöre ich nicht zu den „Jungen Wilden“, die hedonistisch, materialistisch, konsumorientiert, selbstbezüglich und unsicher eine Phase des Erwachsenwerdens durchleben.
Aber ab da wird es schwierig: Bin ich etwa „zielstrebige Trendsetterin“, „aktiv Familienorientierte“, „Berufsorientierte“, „traditionell Kulturorientierte“, „vielseitig Interessierte“, „Häusliche“, „Zurückgezogene“ oder gehöre ich gar zu der Kategorie der „Unauffälligen“, was ja geradezu katastrophal wäre? Zu den „zielstrebigen Trendsettern“ passe ich nicht, weil ich keine Bloggerin bin, aber ein bisschen familien-, berufs- und kulturorientiert bin ich ja schon, obwohl ich verheiratet bin. So richtig passt das alles nicht. Oh, da gibt es noch einen Typ, den hatte ich glatt überlesen: „Moderne Kulturorientierte“. Sie wird so beschrieben: „(Ehemalige) kulturelle Avantgarde, unter anderem arrivierte „68er“, intellektueller Typ, hohes Aktivitätsniveau...“. „Moderne Kulturorientierte können als jene Gruppe gelten, die am kritischsten mit Medien umgeht“. Mist, doch erwischt! Wie blauäugig! Und so eine wie ich nennt sich Medienpädagogin!
Beitrag aus Heft »2008/01: Jugendmedienschutz auf dem Prüfstand«
Autor: Ida Pöttinger
Beitrag als PDFAndreas Lange: Kompetenzentgrenzung – Ein Einspruch
Jüngst hat der bayerische Ministerpräsident seinen Wirkungsort verlassen und wird demnächst in Brüssel die Bürokratie entschlacken. In einem Interview sprach er davon, dass es ihm darum geht, die Kompetenzkompetenzen zwischen Brüssel und Berlin und den anderen EU-Staaten wieder neu zu ordnen. Ups – noch eine Kompetenz, die sich da anheischt, als notwendiger Bestandteil des Portfolios eines Politikers Eingang zu finden. Nicht nur in der Politik, nein allenthalben schießen die Anforderungen an zu bewältigende Sachverhalte aus dem Boden: Die Welt wird unsicher und ambivalent, also brauchen wir eine Unsicherheits-/Ambiguitäts-/ Ambivalenzkompetenz.
Die Gefühle am Arbeitsplatz, in der Familie und im Freundeskreis dürfen auch nicht mehr naturwüchsig gezeigt und ausgelebt werden – man hat sich gefälligst des ausdifferenzierten Tableaus emotionaler Kompetenzen zu bedienen. Medienforscher werden nicht müde, mit derselben Verve Medienkompetenzen zu fordern – das kleine noch zu lösende Problem dabei liegt nur in dem kaum zu entwirrenden Gestrüpp von Vorschlägen hierzu … Und nicht zu vergessen – in Zeiten der auf allen Ebenen betriebenen Umbauten, Renovierungen und Innovationen im Feld der Beziehungen zwischen den Geschlechtern brauche ich ein ganzes Bündel von „Genderkompetenzen“, will ich nicht als hoffnungslos veralteter Zeitgenosse und Macho gelten.
Überhaupt – damit mein Leben fortan in geordneten Bahnen verläuft und ich sinnvoll mit meiner begrenzten Lebenszeit umgehe, diese richtig bewirtschafte, auch noch im Alter produktiv bin – wie im neuesten Altenbericht gefordert – auch immer gut vorbereitet in meine Meetings komme, da brauche ich – richtig geraten! – Zeitkompetenzen. Eine vollständige Liste weiterer unbedingt notwendiger und vor allem auch durch Forschungsprogramme summativ oder auch formativ zu evaluierender Fertigkeiten zu erstellen, liegt außerhalb meiner Kompetenzlistenerstellungskompetenz, würde aber offenbaren, dass die Kompetenzschürfer bis in die feinsten Poren des Alltags vorgedrungen sind. Dort lassen sie nicht locker, bis sie auch das letzte Quäntchen an Humanressourcen absaugen und der uns alle glücklich machenden Verwertung zuführen können. Sind sie beispielsweise derzeit „nur“ Hausfrau und fragen sich, ob Sie auch etwas können?
Keine Bange, auch hierfür gibt es mittlerweile eine sogar von Arbeitsämtern anerkannte Familienkompetenzbilanz. Das Leben des lernbereiten Mitteleuropäers besteht also immer mehr aus einer Anreihung von Kompetenzaneignungsphasen, Kompetenzbeweisepisoden (Prüfungen!) und schließlich Kompetenzperformanzevents (wenn’s dann richtig ernst wird in der Lebenswelt und man seine Kompetenzen beweisen soll und rhetorisch in Szene muss). Irgendwie erinnert mich das als eifrigen Sciencefictionleser (noch eine Kompetenz??) an abschreckende utopische Visionen im Stile von 1984. Ich glaube, als einzig wirklich wahres Gegenmittel hilft da nur die Pflege der „Kompetenzvernachlässigungskompetenz“ – nicht zuletzt der expansiv-regressive Medienkonsum, einfach so also eine Soap gucken (ohne deren Familienbilder für die nächste Vorlesung aufzubereiten), meine Lieblingsmusik hören (ohne gleich auf die positiven Auswirkungen auf meine Gehirnstrukturen zu spekulieren) …
Beitrag aus Heft »2007/05: Bildung - Partizipation - Medien«
Autor: Andreas Lange, Oliver Langewitz
Beitrag als PDFHans-Dieter Kübler: Wozu noch eine Tageszeitung?
Es ist immer noch ein (eigentlich) unentbehrliches, angenehmes Ritual: Zu Frühstücksei, Kaffee und Brötchen gehört die Lokalzeitung. In zehn bis 15 Minuten ist sie auch schnell geschafft. Im überregionalen Teil gilt das Interesse nur Schlagzeilen und Artikeln, die nicht schon in Fernseh- und Radionachrichten waren und den regionalen Blick bestreiten, dann noch ein Blick auf Seite zwei und drei, knappe, wohl abgewogene Kommentare und einige eilige Reportagen, eine Karikatur und ein paar Fotos. Regionale Nachrichten etwa über das Bundesland: Fehlanzeige, stattdessen lieber rührende Tiergeschichten, dazwischen etwas Gruseliges über Verkehr und Verbrechen, Heimeliges über Land und Leute. Auf zwei Wirtschaftsseiten verlautbarte Informationen von Firmen und Konzernen, Jahresbilanzen oder gar PR-Lancierungen.
Immer noch wird Platz für Börsenkurse verschwendet, die schon vor der Drucklegung überholt sind. Alles in allem brauche ich acht Minuten, mit Kaffee und Brötchen dazwischen vielleicht zehn. Der lokale Teil ist schnell überflogen. Mehr und mehr wird er zur Plakatwand für die Vereine und deren Repräsentanten, die sich gern in einer Art von Familienfotos ablichten lassen. Politische Themen oder gar Konflikte finden sich äußerst spärlich, zumal über die Ratssitzungen hinaus. Bleibt noch der Blick über das ein- bis zweiseitige Feuilleton, halbiert zwischen überregionalen, meist von Agenturen übernommenen Artikeln und wenigen selbst geschriebenen aus der Stadt. Wer sich nicht noch bei Familien-, Kontakt- und Werbeanzeigen aufhalten will, dem reicht besagte Zeit. Sie liegt fast um die Hälfte unter dem Durchschnitt, den die Deutschen immer noch für die Zeitungslektüre in den letzten Jahren aufbrachten, und genügt dennoch, das Informations- und Orientierungspotenzial seiner Lokalzeitung ausgeschöpft zu haben. Wenn nun wieder einmal das Wehklagen – professionell vom BDZV verbreitet und von den Reflexionsgazetten dankbar aufgenommen – über das schleichende Absterben der immer noch am üppigsten entfalteten Zeitungslandschaft anhebt, dann müsste man mehr über das Informationsangebot und vor allem den Lesernutzen der Tageszeitung wissen. Viel Geld und Ressourcen haben die Verlage in Online-Offerten, die obligatorischen Websites, aber auch in E-Papers gesteckt, wenig scheinen sie hingegen in ihr redaktionelles Kerngeschäft investiert zu haben, im Gegenteil; Redaktionen wurden massiv gekürzt, verschlankt oder sogar ganz outgesourct.
Fragt man Jugendliche, dann reagieren sie erstaunt oder lächeln überheblich: Ja, natürlich interessieren sie sich noch für Nachrichten, Politik, Sport, sogar für Kultur, aber warum dafür bezahlen, eine sperrige Zeitung kaufen oder gar abonnieren, wenn sie im Internet doch alles kostenlos bekommen. „It´s the content, stupid“, muss man Verlegern wie dem Springer-Vorstand Döpfner vorhalten, die die Zukunft der Zeitung allein in Online-Formaten sehen. Dort haben sich längst andere Kommunikationsformen wie Weblogs, Foren und Portale etabliert, die keine festen, ressortspezifisch professionalisierten Redaktionen brauchen. Den kommunikativen Mehrwert der Tageszeitung müssen die Verleger schon selbst erbringen, und er kann nicht nur in Mitmach-Aktionen und allerlei Zusatzgeschäften liegen. Jedenfalls: Ein Frühstück zwischen Tastatur und Display kann ich mir (noch) nicht vorstellen, und wenn die ältere Bevölkerung auf absehbare Zeit in ganz Europa und darüber hinaus anwächst, dann ist das immer noch die Leserschaft, die ihre Tageszeitung täglich vermisst. Und was in 50 Jahren sein wird, das können selbst die optimistischsten Online-Apologeten nicht prognostizieren.
Beitrag aus Heft »2007/04: Stimmungsregulation durch Medien«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDFJürgen Bofinger: Mobil(e)tainment – Ein nicht nur wohlwollender Ausblick
2006 war „Mobiletainment“ das Hauptthema auf der Messe der CTIA (Cellular Telecommuni-cations & Internet Association) in Las Vegas. Im Zentrum standen Anwendungen zur Unterhal-tung und zum Spielen für mobile Endgeräte vom Handy bis zu mobilen audiovisuellen Empfangsgeräten. Bekannt sind der iPod von Apple und diverse Plattformen für das (kostenpflichtige) Herunterladen von Musik, Videos, Hörbüchern, Podcasts und Spielen. Digitale Mobilität ist das Zauberwort, das nicht nur die Portabilität multimedialer Geräte (DVD-Player) oder ein zeitversetztes Abspielen von Downloads über das Internet (iPod) oder über Mobilfunk (Handy) meint, sondern auch den Lifeempfang von Unterhaltungssendungen und Online-Spielen auf Handys, Organizern, Laptops und Taschenfernsehern in bester audiovisueller Wiedergabequalität.„Sie wollen wissen, wie Sie Ihre Kinder auf langen Reisen zur Ruhe bringen? Mit dem richtigen Reisebegleiter natürlich. Glotze an, Klappe zu.“ „Die mitgelieferte Autositzbefestigung und der CarAdapter für den Zigarettenanzünder empfehlen besonders den Einsatz für das Auto. So können gerade Kinder auf der Rückbank lange Autofahrten genießen.“ Soweit zwei Werbetexte für DVD-Player.
Vorbei die Zeiten, als man noch die Landschaft betrachtete und Eltern dazu etwas erklärten? Vergessen die Spiele, mit denen man die Zeit verkürzte (Autokennzeichen, Automarken raten, Autofarben zählen usw.)? Szenenwechsel: Freunde treffen sich zum Essen in einem guten Restaurant. Die Insignien des Wohlstands sind sichtbar – auch beim Nachwuchs. Während die Erwachsenen speisen, sieht sich der kleine Sohn auf seinem DVD-Player einen Spielfilm an. Mobil(e)tainment als Beschäftigungstherapie für Kinder – überall und jederzeit.In der Bahn wird nicht mehr gelesen oder aus dem Fenster geschaut, sondern gesimst und laut telefoniert („Bin gerade am X-Bahnhof, werde in Y Minuten da sein – was gibt’s zu essen?“). Schon etwas lästig, aber Handys werden auch noch fernsehtauglich. Also nicht wundern, wenn jemand befiehlt: „Hände hoch, Geld her!“ Das muss nicht Ihnen gelten, es kommt aus dem Handy hinter Ihnen. Bleiben Sie locker. Schlimmer könnte es werden, wenn Ihr(e) Sitznachbar(in) eine Talkshow in voller Lautstärke anschaut. Das könnte die Stimmung stärker beeinträchtigen. Talkshows dauern länger, sind eine Geschmacksfrage und haben einen besonders hohen Unwohlsamkeitsfaktor.
Flucht – fast unmöglich.Sie fahren öfters mit dem Taxi? Vorsicht! Während der Fußballweltmeisterschaft war einem Taxifahrer das Fußballspiel auf seinem Taschenfernseher wichtiger als der fließende Verkehr. Mit Routine erreichten er und sein Fahrgast glück-licherweise wohlbehalten das Ziel.„Am See sehen! X’s Lösung für die WM: Mit dem portablen LCD-Fernseher von Y können Fußballfans irgendwo am Badesee liegen und dennoch WM-Spiele schauen.“ Mit dieser Steigerung hätten wir den Schritt getan, der uns nicht mehr von Äußerlichkeiten ablenkt. Gut, früher sorgten Kofferradio und Plattenspieler für Stimmung und Prestige am See. Aber sie hatten oft einen durchaus nichtmedialen Zweck. Bloß: Wozu ein Fernsehgerät im Grünen? Mit Ausnahme für Fernfahrer, um sich die Wartezeit im Stau mit einer der genannten Talkshows oder (anspruchsvoller) mit Kronzuckers Welt zu verkürzen, und für Campingfreunde, die auf ihr trautes Heim nicht verzichten können, fällt mir kein Mehrwert ein. Sind die Ideen für eine etwas andere Freizeitgestaltung schon so verkümmert?
Beitrag aus Heft »2007/03: mobil kommunizieren, spielen und lernen«
Autor: Jürgen Bofinger
Beitrag als PDFTillmann P. Gangloff: Raus aus der Greisenfalle
Das ist eine reichlich grimmige Lösung für das Demografieproblem: Weil der Staat die Altenpflege nicht mehr finanzieren kann, werden mittellose Rentner nach Afrika verfrachtet, wo sie ihrem Ende entgegendämmern; die letzte Ruhe finden sie in billigen Pappsärgen. Natürlich war es eine Fiktion, von der vor einigen Wochen der aufwändig produzierte ZDF-Dreiteiler „Aufstand der Alten“ erzählte, und sie sollte selbstredend aufrütteln. Mit Recht: Wir werden immer älter, wir werden immer weniger; und haben endlich wieder Grund, uns so richtig Sorgen zu machen. Prompt gehen die Prognosen vom Schlimmsten aus: verwaiste Kindergärten, leere Schulen, überfüllte Altenheime, Pflegekollaps. Prompt bricht schon heute Hysterie aus. Muss das so sein?
Nein, muss es nicht. Natürlich wird die Gesellschaft in dreißig Jahren ein großes Problem haben, wenn sie nicht schon heute beginnt, etwas dagegen zu unternehmen. Aber warum gleich alles so schwarz malen? Anstatt vom Schlimmsten auszugehen, sollte die Gesellschaft die Krise als Chance betrachten: Lehrer werden mehr Zeit für Schüler haben, Schuletats können zugunsten der Altenpflege schrumpfen; und wenn die Arbeitslosigkeit weiter erfolgreich eingedämmt wird, gibt es auch genug Beitragzahler für die Rentenversicherung.Außerdem wird es Zeit, das Beste aus der grassierenden Vergreisung zu machen: Schluss mit jugendlichen Helden, die noch nicht mal eigenen Bartwuchs haben, und her mit den Alten! Gedanken dieser Art müssen Sylvester Stallone durch den Kopf gegangen sein, als er sich entschloss, Rocky Balboa aus der Rente zu locken. Filmfreunde erinnern sich an die Saga vom Aufstieg und Fall des Boxers, für die Autor und Hauptdarsteller Stallone einen Oscar bekam.
Als er 1976 Teil eins drehte (vier weitere folgten), war er immerhin schon dreißig. Drei Jahrzehnte später nun also das Comeback: mit sechzig! Die Nachricht hat offenbar den Ehrgeiz von Harrison Ford geweckt, der nach 17 Jahren zum vierten Mal den speckigen Abenteurerhut von Indiana Jones aufsetzt. Mr. Ford wird in diesem Jahr 65. Die Beispiele zeigen: Von „Greisenfalle“ kann gar keine Rede sein. Was früher der Beginn des Ruhestands und das Warten auf den Tod war, ist heute der Zenit der Lebenszeit. Kinder werden immer früher älter, sagen Soziologen. Mit den Jahren wendet sich das Blatt dann wieder: Alte bleiben länger jung. Beispiel Fußball: Die beiden Torhüter des WM-Sommermärchens, Jens Lehmann und Oliver Kahn, waren zusammen fast Mitte siebzig. Wer die Menschen heute mit 67 in Rente schicken will, erwischt sie auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Und noch eine Erkenntnis ist überfällig: Falten sind sexy! Sean Connery sieht selbst mit 76 noch richtig knackig aus.
Der gleichaltrige Clint Eastwood heimst reihenweise Oscars ein in einem Alter, in dem andere schon zehn Jahre zuvor für ihr Lebenswerk geehrt worden sind. Und die Damen? Keine Bange: Hannelore Elsner ist 62, Hannelore Hoger 64, Senta Berger 65; und alle erfolgreicher denn je. Wie lautet doch das trotzige Lebensmotto von Iris Berben (56)? „Älter werde ich später“.
Beitrag aus Heft »2007/02: Männliche Identität(en) und Medien«
Autor: Tilmann P. Gangloff
Beitrag als PDFGünther Anfang: BKJ, KuPoGe und KS-Muc
Sind Sie nicht auch schon über Sätze gestolpert wie „Jeder VoIP-Fan kennt X-Lite und X-Pro. Vom Hersteller dieser ausgefeilten Must-have-Software stammt auch X-PDA, ein SIP-Softphone für Windows Mobile 5 für Pocket PC:“ (Connect 12/2006, S. 46) oder „Das CMS unterstützt jetzt auch JSR-170, eine Java-API für standardisierte Content-Ablage.“ (c’t 19/2004, S. 194) Nun, der eingefleischte Kenner von X-Lite und X-Pro wird hier nur müde lächeln, denn er oder sie hat sich sicher bereits diese „Must-have-Software“ besorgt. Wir als eifrige Leserinnen und Leser diverser Fachzeitschriften verzweifeln jedoch nicht selten an Abkürzungen, die wir nicht verstehen. Bei vielen Abkürzungen hat man zudem die Vermutung, es geht nicht darum, sie zu verstehen, sondern den Produkten einen Nimbus des Außergewöhnlichen zu geben, um sie besser vermarkten zu können. Abkürzungen eignen sich auch hervorragend zur Schaffung von Gemeinden, also Communitys. Damit können hervorragend „User“ von „Nichtusern“ unterschieden und diejenigen vom Gespräch ausgeschlossen werden, die die Kürzel nicht verstehen. Und das betrifft beileibe nicht nur die Welt der Computer und neuen Medien. Auch in der pädagogischen Fachszene wird gerne in Kürzeln gesprochen. Jeder, der diese Zeitschrift liest, weiß beim Kürzel JFF sofort, welche medienpädagogische Fachinstitution gemeint ist. Allerdings stolpern viele über die ausgeschriebene Version „JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis“. JFF kann ja schließlich nicht die Abkürzung von Institut für Medienpädagogik sein. Das Geheimnis des Kürzels liegt in der Geschichte des JFF, als es noch „Jugend, Film, Fernsehen“ hieß und noch nicht 50 Jahre alt war. Das nur für diejenigen, die beim nächsten medienpädagogischen Diskurs nicht schon beim Kürzel JFF ausgeschlossen werden wollen.
Für alle, die gerne noch andere Abkürzungen erklärt haben wollen, hier eine kleine Auswahl: Noch relativ einfach zu erklären sind Kürzel wie KuPoGe und BKJ. KuPoGe bedeutet Kulturpolitische Gesellschaft und BKJ Bundesvereinigung kultureller Kinder- und Jugendbildung. Das ist einleuchtend, denn die Abkürzungen stehen für in der Fachszene bekannte bundesweite Einrichtungen. Schwieriger wird es bei Begriffen wie KS-Muc, KS-Nue und KS-Aug. Denn wer außer Kulturschaffende in München, Nürnberg und Augsburg weiß schon, dass damit Netzwerke gemeint sind, die sich der Vermittlung von außerschulischen Angeboten im schulischen Bereich verschrieben haben und sich Kulturservice München, Nürnberg und Augsburg nennen. Vielleicht ist das ja auch so in Ordnung. Spätestens beim BMFSFJ stößt man aber wieder auf eine bundesweit wichtige Einrichtung, bei der man nie sicher ist, ob die Abkürzung gerade richtig geschrieben wird. Schließlich hat sich das dahinter stehende Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mehrfach in seiner Geschichte umbenannt. Und man weiß ja nie, welche Aufgabenfelder gerade unter dem Dach dieses ominösen Ministeriums zusammengefasst werden. Doch kehren wir am Schluss wieder zu den technischen Begriffen zurück. Was X-Lite von X-Pro unterscheidet, ist mir nach wie vor egal.
Mit dem Stichwort CMS verbinde ich zumindest das Content Mangagement System eines Internetauftritts. Warum das aber jetzt auch noch die Java-API JSR-170 unterstützt, wird mir ewig schleierhaft bleiben. Somit verbleibe ich mfG G.A.
Jeanne Rubner: Warum Bildung und Online-Anschlüsse nicht viel miteinander zu tun haben
Arme kleine Niedersachsen. Ihnen droht, so haben Forscher der Hochschule Vechta herausgefunden, die digitale Spaltung. 14 Prozent der Dritt- und Viertklässler arbeiten nie mit dem PC in der Schule, ebenso unglückliche 15 Prozent besitzen zu Hause noch nicht einmal einen Computer. Was soll aus diesen Kindern werden?
Was hatten Netzprotagonisten nicht an Bildungsrevolutionen versprochen! Vor den Bildschirmen würden Menschen entstehen, die anders dächten, weil sie in ihren Hirnwindungen schon das Bildhafte, das Assoziative des Netzes gespeichert hätten. Die Welt unter ihren Fingerspitzen würden sie mühelos über den Ozean des Wissens surfen, hier Fremdsprachen, dort Formeln aufsaugen. Besser noch: Via Email-Austausch mit kleinen Afrikanern und Chinesen werde die Völkerverständigung gefestigt. Die Schulen würden sich in blühende Lernlandschaften verwandeln, in denen friedliche Kinder vor flachen Schirmen sitzen und statt harscher Worte freundliche Botschaften ihrer Lehrer empfangen.Nicht Bücher, sondern Laptops würden in den Ranzen stecken. Die Pädagogen selbst könnten den Frontalunterricht aus dem 19. Jahrhundert aufgeben und nur noch als Wissens- und Medienkompetenzvermittler arbeiten. Wer hatte das Diktum „Ich bin online, also lerne ich“ je in Frage gestellt?„Schulen ans Netz“ hieß das Motto der sozialdemokratischen Bildungsministerin Edelgard Bulmahn und des flugs zum Internet-Kanzler gekürten Gerhard Schröder
Andere verwiesen gerne auf die USA, wo bereits vor ein paar Jahren 85 Prozent der Schulen einen Internet-Anschluss bekamen, während es hierzulande nur ein Drittel war. Was im gelobten Land des Internet geschah, musste wegweisend für die Bildung sein.Dummerweise hatten die Apologeten des Netzes ein paar Fallstricke der Verkabelung übersehen. Etwa das Geld: Mindestens 40 Milliarden Euro, so eine Schätzung der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 1998, würde es kosten, für jeden Schüler einen Computer bereitzustellen. Hinzu kämen noch einmal zwölf Milliarden Euro jährlich für dieWartung.Auch über die Datenflut im World Wide Web wurde wenig geredet. Wer eine Information sucht, muss sich durch mehrere Milliarden oft schlecht sortierter Seiten wühlen. Im dezentralen Netz ist mehr Text gespeichert als in der Library of Congress in Washington D.C.. Doch welcher Lehrer würde seine Schüler ohne Vorwissen zum Kapitol schicken? Beim Netz dagegen hegen viele die absurde Vorstellung, der Mausklick könnte Wissen ersetzen - als ob der Griff zur Enzyklopädie schon gebildet macht.Zwei Ereignisse beendeten die Träume der Netzeuphoriker.
Mit den zerplatzenden Hoffnungen der New Economy erhielt auch die „Schulen ans Netz“-Bewegung einen Dämpfer. Schließlich fehlten plötzlich eben jene Unternehmen, die die schöne neue Lernwelt propagiert hatten. Doch auch Pisa offenbarte, dass die deutschen Schulen andere Sorgen plagen als nur die Verkabelung der Klassenräume. Plötzlich wurde allen bewusst, dass der Bildungsgraben in Deutschland nicht zwischen Schulen mit und ohne Online-Zugang verläuft, sondern zwischen guten und schlechten.Überrascht waren die schlauen niedersächsischen Forscher übrigens von der Tatsache, dass ein Viertel der Grundschüler den PC im Klassenzimmer für Spiele nutzt. Sollte Lernen doch ein wenig mehr sein als Klicken?Der Beitrag ist die gekürzte Version eines Textes, der am 10.1.2003 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.
Erwin Schaar: Ist der Rucksack eine Weltanschauung?
Es war mir gerade noch gelungen, meine Brille vor dem Verschwinden unter den Sitzbänken der U-Bahn zu retten, als eine junge Mitfahrerin ihren Rucksack ohne Rücksicht auf Verluste schwungvoll in Position brachte und dabei meine Gesichtshälfte touchierte. Obwohl geübt im Beobachten und vorsichtig beim Auftauchen solcher Mitmenschen, die ihren Handlungsraum mit dem so beliebt gewordenen Verstauungsutensil erweitern, gelingt es doch nicht immer, dieser neuen Körperkompetenz geschickt zu entgehen. Ich frage mich immer wieder, was denn diese Menschen, die so viel Gefallen an diesem hässlichen Rückenaufbau finden, alles mit sich herumschleppen, dass es diese mächtigen Ausbuchtungen ergibt. Denn meist sind es ja keine Bergsteiger und Bergsteigerinnen oder alternaiven Reisenden, die diese mächtigen Inhalte mit sich tragen. In Parenthese: Ich wundere mich auch über die Erstklässler mit mächtigen und schweren Schultaschen auf dem Rücken. Brauchen die das alles im Unterricht oder haben die ihre Kinderzimmer griffbereit verpackt?Meine natürliche Abneigung gegen die Rückenmonster der meist jungen Leute rührt eigentlich noch von der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945!) her, als Scharen von Hamsterern und Hamsterinnen unterwegs waren, um die gegen gute Ware des Hausstands eingetauschten Lebensmittel vom Bauernhof in die Stadt zurückzubefördern.
Leider hing uns dieser Sack meist etwas schlapp am Rücken und zeigte eher die geringe Kompetenz zu handeln oder den Mangel an brauchbarer Tauschware. Aber diese Erinnerung kann für die jüngeren Generationen eher als obsolet gelten, weil für sie nicht existent.Vielleicht hängt diese körpererweiternde Rückenkonfiguration, die ja auch das bei gesellschaftlichen Anlässen tragbare Bonsai-Format kennt, mit dem Willen nach körperbewusster Ausdehnung zusammen, mit dem Verlangen nach Machtkompetenz, die meist rücksichtslos den Nachbarn, die Nachbarin in menschlichen Ansammlungen zur Seite drängen lässt. Eigentlich müssten die Träger dieser zum modischen Objekt aufgewerteten Behältnisse für den ländlichen oder den Wandergebrauch doch wissen, dass ihr neuer Körperteil nicht Luft sein kann. Oder stelle ich zum Beispiel einen Handkoffer, den ich mit mir schleppe, anderen Leuten in öffentlichen Verkehrsmitteln ungefragt auf die Füße? Und denke mir, sie werden sie schon wegziehen ihre Latschen, wenn ihnen das hinderlich ist!Früher hat man von einer Ellenbogengesellschaft gesprochen, wenn die Menschen glaubten, sich auf Kosten ihrer Mitbürger profilieren zu müssen. Heute könnte man von einer Rucksackgesellschaft im gleichen Zusammenhang sprechen.
Die sogenannte soziale Kompetenz bedürfte keiner großen ethischen Verlautbarungen und PR-gesteuerter Aktionen, wenn Alltägliches und natürlich fürs gesellschaftlich große Ganze Randständiges einfacher Rücksichtnahme unterliegen würde. Die politisch geforderten Ich-AGs haben schon ihr psychisches Pendant, die Ego-AGs. Die Beachtung des Nebenmanns, der Nebenfrau (die kann allerdings auch was anderes bedeuten) wird zum outgesourcten Verhalten.Es ist mal ganz interessant, die Geschichte der letzten Jahrzehnte mit dem ständig gestiegenen Wohlstand und der gewachsenen Gier nach Geld und Gütern mit in die Betrachtungen der auf den ersten Blick nebensächlichen Verhaltensweisen einzubeziehen. Da hat uns leider die emanzipative 68er-Bewegung mit dem nachfolgenden larmoyanten Gutmenschentum auch nicht weitergeholfen. Vor lauter Aufklärung haben wir die Entwicklung unserer eigenen Sozialität vergessen. Aber zumindest können wir in Zukunft, wenn die wirtschaftliche Situation sich weiter in die Miesen entwickelt, den Rucksack trotzdem weiterhin - diesmal mit Begründung - benützen: Wir können die Sorgen in ihn hineinpacken - denn jeder muss doch wohl sein Päckchen tragen. Und die je nach gesellschaftlichem Status angemessenen Modelle aus ordinärer Plane oder feinem Leder sind schon längst am Markt.
Krystian Woznicki: Der Patriot als Markenkonsument
"There is nothing wrong with getting somebody who knows how to sell something. We are selling a product. The product we are selling is democracy. We need someone who can rebrand American foreign policy, rebrand diplomacy. She got me to buy Uncle Ben's rice." – Colin Powell legitimierte mit diesen Worten die Anstellung der Marketingspezialistin Charlotte Beers als Under Secretary of State for Public Diplomacy„Beers believes that our country must show that the tragedy of September 11 was an attack on the world, not just America. One tangible way she has done this was to update the US government website with a map showing the more than 80 countries affected by the tragedy.“ – Melissa Overby
Der US-Nachrichtensender CNN betreibt eine Website: www.cnn.com
Dort sind täglich, manchmal sogar auch stündlich neuste Nachrichten zu lesen. Top-Meldungen werden meistens mit einem Bild hervorgehoben, das ungefähr Kreditkarten-gross ist. Auf diesem engen Raum bündeln die CNN-Redakteure visuelle Daten, die so prägnant, aussagekräftig und aufsehenerregend sein müssen, dass sie es schaffen das Auge des Internet-Flaneurs in ihren Bann zu ziehen. Meistens gelingt das mit Bildern des Nachrichtendienstes Associated Press oder Reuters. Besonders wirksam sind jedoch die Eigenkreationen des Hauses CNN: Grafiken und Computer-Collagen mit karthographischen Elementen, eingeblendeten Talking-Heads und symbolischen Elementen. Als ein Leitmotiv kann die US-Amerikanische Flagge ausgemacht werden, dass Sinnbild des Patriotismus. Es gibt ganz klassische Konstellationen. Auf „Iraq Ustates“ ist zum Beispiel ein karthographischer Ausschnitt des nahen Ostens zu sehen, auf dem der Irak farblich hervorgehoben ist. Darüber schweben die irakische und amerikanische Fahne, vis a vis, als würden sich zwei Boxer gegenüber stehen. Zwei souveräne Gebilde (Staaten), die kurz davor stehen miteinander in den Krieg zu treten.
Es gibt jedoch auch Kompositionen, die alles andere als klassisch sind, die uns eigentlich wundern müssten, denn in ihnen erfährt das Symbol des Patriotismus eine Zersetzung. Die Fahne zerfällt in individuelle Elemente. Sie ist in Ausschnitten zu sehen, als semi-transparenter Hintergrund, als abstrahierte Quecksilbermasse. Sie ist flüssig geworden, formbar, rekonfigurierbar. Um ein paar Beispiele zu geben: „Bush Briefing“ heisst ein Bild, auf dem der US-Amerikanische Präsident mit erhobener Stimme dem Betrachter direkt in die Augen schaut. Im Sturzflug-Modus fliegt rechts neben ihm eine Passagiermaschine in den gräulich-porösen Hintergrund, während über seiner linken Schulter zwei kräftige rote Streifen auf weissem Hintergrund so geneigt sind, dass sie eine Aufwärtsbewegung gen Himmel beschreiben. „Padilla Radiation 2“ heisst ein anderes Bild, auf dem ein Schwarz-Weiss-Bild eines mutmasslichen Terroristen in der linken Bildhälfte untergebracht ist. Die andere Hälfte ist vielschichtig belegt: Ein feinmaschiges, mit Computer-Präzision gestanztes Noppen-Raster; eine imaginäre Landschaft von heller werdenden Erhebungen und von Graustufen bis ins Schwarz vordringenden Untiefen; das Symbol für Radioaktivität in dreifacher Ausführung nebeneinander angeordnet, wie die drei Teilansichten des Erdballs und zwischen all diesen Ebenen die rot-weissen Streifen und die blaue Fläche mit weissen Flecken drauf: geisterhaft-verschwommen, konturenlos und blass. Am erstaunlichsten ist allerdings ein Bild, das einfach nur „War On Terror“ heisst. Es besteht aus drei Ebenen und ebenso vielen Elementen: Ein schwarzes Fadenkreuz befindet sich im Vordergrund und überlagert einen blau schimmernden, transparent-gläsernen Globus an der Stelle, wo sich die USA befindet. Der blaue Globus geht fliessend über in das Blau im Hintergrund, das sich neben den roten und weissen Farbtupfern zur Fahne zusammensetzt.
Diese ist flatternd in Bewegung begriffen und scheint – als wäre sie aus noch nicht getrockneten Wasserfarben gemacht – zu zerfliessen. Solche Auflösungserscheinungen zapfen die Angsthormone des Betrachters an; sie schüren Paranoia, schliesslich ist als im Zerfall begriffen dargestellt, was das geliebte Vaterland repräsentiert. Gleichzeitig artikuliert diese visuelle Strategie eine expansive Grossmachtpolitik mit den Mitteln des ästhetischen Cross-Marketings. Das Symbol der „Brand USA“ (Charlotte Beers) wird als wiedererkennbares Logo in die unterschiedlichsten semiotischen Zusammenhänge übersetzt, wobei der Wiedererkennungswert zu steigen scheint, je stärker die Flagge verfremdet wird. Ein solches Branding schult den Patrioten in zeitgenössischer Geopolitik: Das Vaterland ist nicht mehr das, was es mal war. Die Grenzen sind nicht mehr klar umrissen; das heimische Territorium ist eine flexible Größe geworden. Der in Verruf geratene Wahlspruch „Recht oder Unrecht - es ist mein Vaterland!“ wird damit nicht nur wieder aktuell, er erfährt auch eine gänzlich neue Wendung. Im Zweifelsfall dient nicht nur der Erdball als patriotische Projektionsfläche, sondern - CNNs „War On Terror“-Bild legt dies nahe - auch das gesamte Universum.
Goedart Palm: Humanitätsappell gegen mediale Gewalt
Der zum Kulturstaatsminister avancierte Ethikphilosoph Julian Nida-Rümelin interpretierte den Erfurter Amoklauf als eindringliches Gefahrensignal. Die mühselig erreichte Humanisierung der Gesellschaft drohe in der Flut gewaltdurchtränkter Medieninhalte weggespült zu werden. Das Erfurter Massaker habe sein tödliches Filmskript erst in medialen Fantasien gefunden. Die gesellschaftliche Selbststilisierung des humanen und friedlichen Miteinanders vereinbart sich schlecht mit autistischen Amokläufern. Solche Attentäter setzen ihre nackte Existenz ein, um ihrer Rache, Wut und Hilflosigkeit das höchstmögliche Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zu verleihen. Robert Steinhäuser, der Schulversager, schaffte es immerhin bis zur Abbildung seines Porträts auf dem TIME-Magazine. Die Quelle des Übels wird gleichwohl nicht mehr wie einst so mythologisch wie sprachlos im unhintergehbaren Typus des Sündenbocks verortet. Stattdessen bezichtigt sich die Gesellschaft nun selbst, die Gewalt zu produzieren. Familien, Bildungseinrichtungen und die gewaltfreudigen Medien der Spassgesellschaft sitzen auf der Anklagebank. Diese Schuldzuweisung hält sich aber zumeist nicht lange mit den Feinheiten komplexer Wirkungszusammenhänge auf. So wie es der philosophierende Kulturstaatsminister nun wieder vorgibt, konzentriert sich der selbstgefällige Diskurs vornehmlich auf die allgegenwärtigen Abbildungen der Gewalt. Wer über die wuchernden Medien der Gewalt redet, Bilder, Filme, Computerspiele und Texte inkriminiert, erspart der westlich exklusiven Gesellschaft humanen Fortschritts die Selbstreflexion ihrer dunkelsten Seiten.
Die fragilen Erkenntnisse zur Mediengewalt werden dann wie in Julian Nida-Rümelins Verdikt kurzerhand zum Abbildungsverbot bzw. scheinliberal zum „Prinzip der regulierten Selbstregulierung“ umgemünzt. Und dieser ordnungspolitische Bildersturm folgt, wie Michael Kunczik richtig beobachtet hat, regelmäßig der bildungsbürgerlichen Differenzierung von Hoch- und Alltagskultur: Shakespeare ja, Counterstrike nein. Das Verbot stößt sich dabei nicht am Paradox, dass Mediengesellschaften die schrecklichen Bilder im Überfluss produzieren. Umfassend können solche Darstellungen den Medien schon deshalb nicht ausgetrieben werden, weil die mehr oder minder hehren Zwecke der Information, Aufklärung, Wissenschaft und Kunst, nicht weniger als Meinungs- und Wirtschaftsfreiheit, staatlichen Zensurgelüsten enge Grenzen setzen. Wirken Bilder und Texte der Gewalt kathartisch oder suggestiv? Dieser kontextlosen Frage verdankt sich ein offener, mehrtausendjähriger Diskurs, der mit Platons Verdikt gegen Märchen beginnt, während etwa Aristoteles auf die kathartische Wirkung der Poesie vertraute, und der auch gegenwärtig zahllose Zensurgelüste gegenüber dem vermeintlich fatalen Einfluss von Filmen, Bildern und Texten auf die beeindruckbare Psyche jugendlicher Täter motiviert. Nida-Rümelin ist überzeugt, dass es einen wissenschaftlich abgesicherten Zusammenhang zwischen realer Gewalt und ihrer suggestiven Handlungsanleitung in den Medien gibt. Dabei lässt sich allein für bestimmte Tätertypen unter bestimmten Voraussetzungen eine mehr oder weniger gesicherte Kausalität von dargestellter und ausgeübter Gewalt bestätigen. Die Suggestionsthese verstrickt sich bei näherer Betrachtung tief in den Zusammenhang von Erziehungs- wie Milieudispositionen, aber auch habituellen Momenten des Täters.
Der isolierte Kampf gegen Gewaltdarstellungen wird als selbstreferenzielles Schattengefecht geführt, das seine moralische und philiströse Anmaßung nur schlecht verbergen kann. Allein die dem Schrecken entspringende Provokation, dass das Selbstbild friedfertiger Gesellschaften ein Irrtum sein könnte, wird dann bis zum nächsten Gewaltausbruch oberflächlich gelindert. Weder die Apologetik noch die Verdammung solcher Darstellungen reagieren angemessen auf juvenile Gewalt. Auch eine Zensur, die sich nicht staatlichen Herrschaftsinteressen verschreibt, sondern mit Nida-Rümelin der Humanität, verkümmert in Zeiten globaler Vernetzung ohnehin zur anachronistischen Geste. Kurze Zeit nach Robert Steinhäusers Amoklauf präsentierte die US-Army ein interaktives, im Internet frei erhältliches Simulationsspiel, um zukünftigen Kombattanten ein virtuelles Killertraining zu spendieren. Wer der Gesellschaft die Gewalt durch Zensur austreiben will, ohne fundamental in ihr Betriebssystem einzugreifen, rechtfertigt lediglich den status quo gewaltbereiter Gesellschaften, so aufrichtig seine gegenteiligen Beteuerungen auch sein mögen.
Erwin Schaar: Recht als Entertainment
Das Nachmittagsprogramm der (privaten) Fernsehanstalten ist einmal an die Älteren gerichtet, die aber als Zielgruppe für die werbliche Ansprache weniger interessant sind. Die Forscher der Konsumgüterindustrie haben nämlich herausgefunden, dass die alten Menschen ein beharrendes Markenbewusstsein haben und weniger ansprechbar sind für spontanes oder sich änderndes Kaufverhalten. Es mangelt ihnen nicht an Geld, aber das stecken sie entweder in den Sparstrumpf oder stellen es der Enkelgeneration zur Verfügung. Und diese Enkel sind die andere Zuschauerschicht, die zudem für den Verkauf von Waren eminent wichtig ist. Deren eigenes Taschengeld ist meist gar nicht so gering, zudem wird es durch die Gaben der Grosseltern nicht unerheblich aufgepolstert.Der Rückschluss für die Programmgestalter kann also nur sein, ansprechende Sendungen für unseren Nachwuchs zu kreieren. Waren bis vor kurzem die Talkshows mit der Verhandlung allerlei intimer Themen die Renner, so stagniert dieses Gewerbe in letzter Zeit auffallend. Ausser ein paar Proll-Jugendlichen sind kaum vermarktbare Talk-Gäste zu finden, die Themen werden rar oder sind abgenudelt. Die Spannung ist raus.
Langsam aber sicher verschwinden die Artikulationsversuche und werden von einem neuen Genre besetzt: den Gerichtshows.Um die fiktionalen Gerichtsverhandlungen nicht nur den Gockeln vom Show-Business zu überlassen, wurden hochprofessionelle Vertreter des justizialen Gewerbes gewonnen, die für die Realität meist viel zu gut waren und die sich jetzt verdientermassen an das Nachmittagsprogramm, unseren Kindern gewidmet, verdingt haben. Nachhilfe in sozialer Kunde kann auch für die Bildung Gutes leisten.Beim Betrachten der Justiz-Shows tauchen aber dann doch Zweifel auf, ob unserem rechtstaatlichen System mit diesen Vorführungen richterlicher Unabhängigkeit gedient wird. In 45 Minuten werden zwei bis drei Fälle mit Zeugenvernehmung, Anklage, Verteidigung, Richterspruch durchgezogen. Dabei handelt es sich weiss Gott um keine Minimaldelikte, da sind Vergewaltigung, Raub, Zuhälterei im Spiel, was allein schon auf das Schielen auf die Neugierde des Publikums hindeutet. Das Spektakel im Schnelldurchlauf, das von diesen echten Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern geliefert wird, kann den wenig Wissenden doch kaum vertrauensvoll auf das Bestreben der Wahrheitsfindung einstimmen.
Die Vorsitzende des Hamburgischen Richtervereins, Inga Schmidt-Syaßen, hat schon im März 2000 im Hmburger Abendblatt gewarnt: "Ich bin erschrocken, wie dort Verfahren im Zeitraffer zusammengeschnitten werden." Der unerfahrene Zuschauer werde über den ungeheuren Zeitaufwand für einen Richter durch Aktenstudium und Beweisaufnahme getäuscht. Und es darf hinzugefügt werden: die Gewichtung auf spektakuläre sexuelle Vergehen verbiegt den Blick auf die Gesellschaft. Die Talkshows am Nachmittag haben sich der gleichen Strategie bedient. (Im Übrigen haben diese trotz vieler Diskussionen bei den Landesmedienanstalten ihre Anzüglichkeit noch getoppt!)Das Auftreten eines Alexander Hold oder einer Barbara Salesch ( beide SAT 1) lässt zudem die Verteidiger nur als Randfiguren erscheinen, als ob sie in unserem Rechtsystem ein notwendiges Übel wären. Da wächst Vertrauen! Nicht ein starker Strafverteidiger vertritt den angeklagten Bürger, der Richter ist der alleinige Herr des Geschehens. Die vom Staatsdienst beurlaubten Roben-Stars erscheinen nahezu unfehlbar.
Die Show eskaliert in einer Überheblichkeit - Richter Schill wäre auch eine ganz gute Besetzung. Einzig Dr. Ruth Herz vom "Jugendgericht" (RTL) kann durch ihr zurückhaltendes Agieren wenigstens ein paar positive Punkte sammeln. Und jetzt sollen diese Shows noch vermehrt in den Programmen lanciert werden!Um auf unsere Heranwachsenden zurückzukommen, die das Zielpublikum des Nachmittags sind und denen soziales Leben nahegebracht werden soll: Mit Hans Wollschläger, der von einem "zerpoppten Geschichtsbewusstsein" der jungen Leute gesprochen hat, könnte hier die Förderung eines ebensolchen Rechtsbewusstseins konstatiert werden, wenn nicht gar eine Analphabetisierung in der rechtlichen Sichtweise.
Beitrag aus Heft »2002/04: Medienpädagogik heute - Eine Diskussionsrunde«
Autor: Erwin Schaar
Beitrag als PDFBernd Schorb: Die Sprachlosigkeit bekämpfen
Für unsere Gefühle aber auch für eine Erklärung des Geschehens von Erfurt fehlen uns die Worte. Doch auch für die Reaktionen der Boulevardmedien ebenso wie vieler Politiker fehlen mir die Worte. Haben alle wirklich ein so kurzes Gedächtnis, dass sie Politikern und Boulevardmedien Glauben schenken, die nun Medienverbote fordern? Kann sich keiner erinnern, dass bei jedem Amoklauf, sei es in einem bayrischen Internat oder in Freising das Gleiche gefordert wurde und nichts geschehen ist? Warum werden Verbote gefordert und dann von den gleichen Leuten nicht umgesetzt?Dafür gibt es "gute" Gründe. Einer ist, dass man weiß, dass das Problem nicht allein und nicht einmal primär bei den Medien liegt. Es ist völlig richtig, dass man fragen muss, warum wir es zulassen, dass in Spielen und Filmen Gewalt geradezu abgefeiert wird. Es ist auch zu fragen, warum die Mitglieder unserer traditionsreichen Schützenvereine Pumpguns kaufen dürfen.
Gegen die exzessive Gewalt in allen Medien gehört etwas getan und dies hätte auch schon geschehen können. Erreicht wäre damit aber noch nicht sehr viel.Wider besseren WissensMedieninhalte sind nicht Verursacher von Gewalthandlungen, sondern Verstärker von Gewaltbereitschaft. Das wissen Wissenschaft, Politik und Medien seit einem Vierteljahrhundert. Medien können nur dort verheerend wirken, wo bereits Voraussetzungen gegeben sind. Bei Menschen, die so labil oder krank sind, dass sie Gewalt als Ausweg aus ihrer Misere sehen.Gewaltverherrlichende Medien entstehen und finden nur in einer Gesellschaft massenhafte Abnehmer, die es akzeptiert, dass Gewalt als Mittel des Handelns propagiert wird. Fehlen Zuschauer und Käufer durch gesellschaftliche Ächtung von Gewalt, dann gibt es auch keine Gewaltmedien mehr. Geld und Gewinn sind die obersten Maximen unserer Ökonomie – auch im Medienbereich.Die Realität: Deregulierung statt EinschränkungGewalt in den Medien hat immer zwei Seiten. Sie hält uns einerseits einen Zerrspiegel vor, in dem wir in übertriebener Weise sehen, welche Werte wir akzeptieren und was wir für "normal" halten. Andererseits kann sie das Gewalthandeln solcher Menschen mit anstoßen, die nur darin einen Weg aus einer persönlichen Katastrophe sehen.Gegen die Propagierung von Gewalt in allen Medien muss natürlich etwas getan werden, aber man darf sich davon nicht erwarten, dass solche Fälle wie Erfurt verhindert werden. Zumal es unwahrscheinlich ist, dass tatsächlich etwas unternommen wird. Schon gar nicht von denen, die jetzt laut nach Sofortmaßnahmen rufen. Denn eine Behinderung der Medien stünde gegen die erklärte Politik der Bundes- und Landesregierungen ebenso wie gegen die der großen Parteien.
In der realen Medienpolitik in Deutschland geht es nicht um Verbote oder Einschränkungen, sondern um Deregulierung. Und das heißt: Beseitigen, was das Wachstum der Medienindustrie behindern könnte. Wie sonst ist es zu erklären, dass einerseits Verbote gefordert werden und andererseits ein Jugendmedienschutzgesetz vorbereitet wird, das die Kontrolle der Medieninhalte dem Einfluss der Medienindustrie überlässt?Dann bestimmen so genannte Selbstkontrollen über die Inhalte und deren Gefährlichkeit – beim Fernsehen ebenso wie bei Computerspielen, bei deutschen Internetanbietern ebenso wie bei den Videoverleihern. Über den Inhalt dieses Gesetz sind sich Bund und Länder schon letztes Jahr einig gewesen, nur wegen der Zuständigkeiten gab es wie üblich Streit. Es wird wohl im November verabschiedet werden – nach den Wahlen, wenn Ruhe auch über das Grauen von Erfurt eingekehrt ist.Und die Boulevardmedien? Sie haben schon gar keine Interesse, Verbote zu fordern. Sie tun dies so lange die Katastrophe brandaktuell ist, aber dann schweigen sie, wie sie das bei jedem der vorherigen Amokläufe getan haben. Wären sie doch selbst von einem solchen Verbot betroffen.Woher kommt die Sprachlosigkeit?
Wie Erfurt gezeigt hat, ist das grundlegende Problem die Sprachlosigkeit: Ein junger Mann, der mit seinen Eltern in einer für ihn existenziellen Situation nicht reden kann, ihnen nicht einmal sagt, dass er von der Schule geflogen ist. Er redet über sich und seine Probleme auch mit niemand anderem, weil er wohl in seinen Mitschülern, Lehrern und Schützenbrüdern keine Freunde hat. Er flüchtet sich in mediale Scheinwelten und auf den sehr realen Schießstand.Diskutiert werden müsste darüber, wie es dazu kommen kann, dass wir so unfähig sind miteinander zu kommunizieren, zu erkennen, wenn der Mensch gegenüber verzweifelt, krank oder gar gefährlich wird. Natürlich würden wir in einer solchen Diskussion auch Einigkeit darüber erzielen, was die Medien sollen und was nicht und wir würden das auch umsetzen. Aber in erster Linie würden wir uns bei uns selbst und in unserer Gesellschaft umsehen, wo die Ursachen für solche Katastrophen liegen.Richtige KonsequenzenSo sehr mich das Verhalten der Boulevardmedien und führender Politiker erzürnt und zugleich deprimiert hat, so sehr habe ich mich über die Nachricht gefreut, dass die Gutenberg Schule in Erfurt vor hat, sich als Reaktion nicht abzukapseln, sondern das Miteinander zu verbessern. Sie wollen zur Modellschule werden, in der alle lernen, sich wahrzunehmen, gemeinsam zu sprechen und zu handeln. Das ist eine kluge und weitsichtige Antwort aus Erfurt, von der alle lernen können.
Rudolf Maresch: "Cyborgs"
Soeben sind die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City zuende gegangen. Zur besten Fernsehzeit konnten wir die Spannweiten von Oberschenkeln, Brustkörben und Oberarmen der AthletInnen bewundern, die technische Präzision, mit der sie ihre Vehikel ins Ziel lenkten ebenso, wie das modische Outfit ihrer Rennanzüge, das Männlein und Weiblein einen merkwürdig androgynen Status verlieh. Dass diese Jagd der Menschenkörper nach Rekorden, Werbeverträgen und Images nicht ganz ohne Wachstumshormone, chemische Zusätze und medizinische Tricks ablaufen würde, ist bekannt. Ernährungspläne, Trainingsprogramme und die Computer gesteuerte Abgleichung von Blut- und Laktatwerten genügen nicht, um über Nacht zum Titanen, Heroen oder Giganten aufzusteigen, der in der Hall of Fame des Weltsports Aufnahme findet.
Den Body mit Wirkstoffen und anderen Stimulantien und Drogen aufzupeppen, ihn mit künstlichem oder im Labor gezüchtetem Material zu screenen oder upzudaten, liegt im Trend. Weswegen wir dieses technische Hochtrimmen eines als mangelhaft erfahrenen Körpers zu neuen Höchstleistungen überall dort finden, wo Fitness und Non-Stop Engagement für die Firma, die Organisation oder den Verein verlangt werden oder der eigene Körper zum Kapital und Markenzeichen im Kampf um mediale Aufmerksamkeit und Prominenz wird. Reproduktionsmedizin, Diätetik und Schönheitschirurgie bieten denn auch eine Vielzahl von Praktiken und Techniken an, um Lippen oder Brüste aufzuschäumen, Häute und Wangenknochen zu glätten oder überflüssige Pfunde abzusaugen.
Der Wille zur Selbstvervollkommnung geht soweit, dass manche(r) sich giftige Substanzen unter die Haut spritzen lässt, um wieder wunderbar frisch wirkende Gesichtspartien zu erzielen. Den Nachteil, den diese subkutane Verabreichung von Bakterien hat, scheinen die auf juvenil getrimmten Personen gern in Kauf zu nehmen. Da durch das Gift die Signalübertragung zwischen Muskel und Nervenzelle gelähmt wird, ist die Person zu keiner Regung der Wut, der Angst oder der Freude mehr fähig. Auf ihre Umwelt wirkt sie daher wie ein Tagesschau-Sprecher oder eine Figur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Vor den Möglichkeiten, die Selektions- und Optimierungstechniken anbieten, verblassen die Erfolge der Forschungen zur künstlichen Intelligenz. Trotz lichtschneller und entscheidungssicherer Schach- und Kreditprüfungsprogramme, und trotz aller Tamagotchis, AIBOs und Fußball spielender Robocups, die Eigenschaften lebendiger Systeme (Autonomie, Flexibilität, Teamgeist ...) simulieren, ist es den AI-Forschern bislang nicht gelungen, eine Intelligenz zu modellieren, die der menschlichen in etwa gleichkommt oder sie gar übertrifft. Offensichtlich lässt sich Intelligenz nicht so einfach von seinem kohlenstoffbasierten Träger trennen oder auf andere Stoffe übertragen.
Damit sie selbstständig Entscheidungen treffen, situativ auf Ereignisse reagieren und Bekanntes im Lichte neuer Erkenntnisse reflektieren kann, braucht die Intelligenz die Erfahrung der Erdschwere, der Verdauung, der Bewegung usw.Wahrscheinlicher ist deshalb eine Kooperation und schrittweise Annäherung von Mensch und Maschine. Diese Cyborgisierung des Menschen vertritt beispielsweise auch Rodney Brooks in seinem Buch „Menschmaschinen“, das soeben im Campus Verlag erschienen ist. Darin wagt der Direktor des Artificial Intelligence Lab am MIT einen Ausblick, wie man sich die technische Manipulation des Menschenkörpers bald vorzustellen hat: Gehörschnecken, die eine direkte Verbindung zum Nervensystem herstellen, Netzhaut-Chips für Blinde, Arm- und Beinprothesen, die womöglich vom Gehirn aus gesteuert werden. Und während Roboter mit Menschen kommunizieren, die Gentherapie den Hautsack auf zellulärer Ebene manipuliert, machen Schulkinder ihre Hausaufgaben mit implantiertem Internetzugang.
In Philipp K. Dicks „Do Androids Dream of Electric Sheep?“, der Romanvorlage des SF-Klassikers “Blade Runner” von 1982, ist die Verschmelzung des Menschen mit der Maschine nahezu abgeschlossen. Dort sind die Replikanten bereits so perfekt, dass biologisches Original und technische Fälschung nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Nur durch einen sogenannten „Empathie-Test“ sind sie von ihren Schöpfern noch zu unterscheiden. Damit wären wir wieder am Anfang, bei den Titanen des Sports. Was sie uns so sympathisch macht, ist ja weniger das Timing, mit der sie ihre Rekorde erzielen. Vielmehr ist es ihr Blut und Schweiß, ihre Wutausbrüche und Tränen der Freude und der Enttäuschung, die uns bewegen und faszinieren. Schon wegen dieses ganzen Gefühlsmatches werden die Roboter-Menschen den Maschinen-Robotern immer eine Nasenlänge voraus sein.
Florian Rötzer: Das terroristische Wettrüsten
Die Terroranschläge haben wieder einmal die schrecklichen Seiten einer Mediengesellschaft offenbart, die nicht vornehmlich Wissen oder Information verarbeitet, sondern deren Fundament die Erzeugung und Akkumulation von Aufmerksamkeit und, wie man als Reaktion beobachten kann, der Ausbau von Überwachung als der meist weniger beachteten Kehrseite der Aufmerksamkeit ist. Die Anschläge zeigen, dass die Terroristen ebenso wie die Medien gefangen sind in einer Überbietungsspirale, also immer grössere und beeidruckendere Spektakel realisieren müssen, um noch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erhalten. So liess sich in den 90er Jahren zwar beobachten, dass die Zahl der Anschläge welweit zurück gegangen ist, abrer die Zahl der Opfer kontinuierlich zunahm.Ob und was auch immer den Attentätern vom 11.9. an Dramaturgie vorgeschwebt haben mag, so haben sie jedenfalls versucht, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, ein möglichst einprägsames Spektakel zu inszenieren, das offenbar keiner Legitimation mehr bedarf. Das Attentat als l'art pour l'art hat sich zwar schon lange angekündigt, seitdem nicht mehr gezielt bestimmte Menschen i mVisier standen, sonedrn Anschläge seit der Verfügbarkeit von Dynamit ungerichtet nur möglichst viele zufällige Opfer finden sollten, um eine Desabilisierung mit unbekanntem Ende auszulösen, aber es ist mit dem Anschlag auf da World Trade Center sicherlich (vorerst) kulminiert.
Im Unterschied zu früheren Zeiten gibt es heute dank der elektronischen Medien Fernsehen und Internet tatsächlich eine globale Öffentlichkeit. Um deren Aufmerksamkeit zu erreichen, was in erster Linie bedeutet, den Blick der kollektiven Aufmerksamkeitsorgane der Medien als der vorgeschalteten gesellschaftlichen Selektionssysteme auf sich zu lenken, muss in der konkurrenz all der ebenfalls auf die Erzielung von Aufmerksamkeit gerichteten Ereignisse und Spektakel, die weltweit auf allen lokalen, regionalen, staatlichen, kontinentalen und globalen Ebenen stattfinden, etws Herausragendes vorfallen oder inszeniert werden. Terroristen sind in diesem schrecklichen Sinn seit jeher eine Art Medien- und Aufmerksamkeitskünstler gewesen. Die Wirksamkeit der Anschläge beruht nicht allein auf der Grösse des Schadens und der Menge der Opfer, sonern auch auf der Ästhetik der Bilder, die durch sie entstehen. In einer visuell geprägten Gesellschaft sind es vornehmlich die Bilder, die sich verbreiten, die die Aufmerksamkeit anlocken und die sich in die Speicher und Gehirne einbrennen. Die endlose Wiederholung der Bilder nach den Anschlägen auf den Bildschirmen, vor denen dieMenschen wie gebannt saßen, hat die Faszination an dem erhabenen-schaurigen Schauspiel deutlich werden lassen. Nicht allein, weil der Zerstörung am flachen Pentagon weniger eindrucksvoll als die Zerstörung der Türme war, sondern vor allem, weil es keine Live-Bilder vom Aufprall gab, liess die Berichterstattung über das Pentagon mehr in den Hintergrund treten.Die besondere Faszination oder das eingentümliche Grausen an den Bildern des Anschlags auf das World Trade Center war, dass sie nicht nur die hinterlassenen Spuren der Zerstörunng zeigten, sondern den Anschlag selbst - und das beim Crash des zweiten Flugzeugs in den Turm praktisch live.
Der Beobachter ist nicht mehr distanziert, sondern er sieht dem Ablauf der Geschehnisse überrscht zu, ohne zwar in diesen eingreifen zu können, aber ald jemand, der dennoch weiss, dass er i ndiesem Fall noch einmal davon gekommen, ein Überlebender ist. Auch das hat wohl die Wucht der Bilder für das globale Bewusstsein ausgezeichnet, das weniger betroffen oder gelähmt gewesen wäre, wen es sich um eine langsam sich vollziehende Katastrophe gehandelt hätte oder wenn er nur, wie so oft, Bilder der bereits geschehenen Katastrophe zu shen gewesen wären. Ob die Attentäter die Inszenierung aus aufmerksamkeitsstrategischen Gründen auch wirklich so geplant hatten, muss dahin gestellt werden, doch die Zeit zwischen dem Einschlag des ersten Flugzeugs und dem des zweiten hat erst die Live-Bilder aus einer distanzierten Perspekitve von der sich für den Zuschauer schicksalhaft abspielenden Katastrophe ermöglicht, wobei in einer teuflischen Strategie die nacheinander einstürzenden Türme den gesamten Ablauf noch stärker dramatisiert hatten.Ganz offensichtlich unter dem Bann der Bilder stehend, hat ein 15-Jähriger amerikanischer Schüler aus Tampa Anfang Januar versucht, die für ihn als Telebeobachter am Bildschirm virtuell bleibenden Bilder in die Realität umzusetzen, möglicherweise, um selbst im Augenblick des Untergangs zumindest kurz im Strahl einer möglichst großern Aufmerksamkeit zu stehen. Am 5.Januar flog Charles Bishop, offenbar ein exzellenter Schüler, aber ein Einzelgänger und verschlossener Jugendlicher, mit einer viersitzigen Cessna in den 28. Stock des 42-stöckigen Hochhauses der Bank of America, des Wahrzeichens von Tampa, Florida.
Ereignisse, die die kollektive Aufmerksamkeit auf sich lenken und daher medial wirksam sind, lösen einen Drang nach Nachahmung aus. Es sind vor-bildliche Ereignisse, die prominent werden und auch Täter oder Opfer prominent machen können. Aufmerksamkeit und Prominenz sind ni´cht erst in der Mediengesellschaft wertvolle Ressourcen, für den ERwerb vieles unternommen wird, aber Medien transportiernen die Informationen und Bilder zu einem immer grösseren, tendenziell globalen Publikum, so dass auch eher Menschen zur Nahcahmung durch diese Meme infiziert werden. Da Aufmerksamkeit ein begehrenswertes und wertvolles gesellschaftliches Gut zu sein scheint, schliesslich ist sie auch die Grundlage der Anerkennung und der zwischenmenschlichen Existenz, wirken Ereignisse, die in den Medien, den kollektiven Aufmerksamkeitsorganen, an primärer Stelle stehen, ansteckend. Sie fordern auf, die Prominenz nachzuahmen, um an deren Erfolg teilzuhaben, wodurch eine soziale Konformität hergestellt wird. Die Logik der Aufmerksamkeitsgewinnung ist hart. Wer über medienästhetisch beeindruckende Ereignisse wie Katastrophen oder Anschläge prominent werden will, weil er anderweitig vom Markt der kollektiven Aufmerksamkeit wie die meisten Menschen ausgeschlossen ist, muss mitunter selbst sein Leben aufs Spiel setzen, um das Spektakel zu inszenieren, oder zuminidest mit Strafe nach vollbrachter Tat rechnen, die ihn kurzzeitig ins Rampenlicht der Öffenlichkeit gebracht hat. Selbstmordanschläge bedürfen daher keineswegs, wie das in letzter Zeit so erscheinen mochte, einen religiösen Hintergrund. Möglicherweise sind die Selbstmordanschläge etwa der muslimischen Attentäter auch eher aus den aufmerksamkeitsökonomischen Grundlagen heraus zu verstehen, während die vorgeschobenen politischen und religiösen Motive sekundär sind.
Fast schon erstaunlich ist daher, dass die Anschläge auf das WTC erst so spät zu einer Nachahmung geführt haben. Auch wenn die Selbstmordtat im Gegensatz zu den Anschlägen auf das WTC in aller Hinsicht "lokale" Züge hatte, schaffte es Bishop unter Einsatz seines lebens die gesuchte Aufmerksamkeit zu finden und sich so buchstäblich aus seinem Leben als unbekannter und scheuer Einzelgänger heraus zu kapitulieren. Mit dem kleinen Flugzeug blieb der Schaden in dem am Wochenende nahezu leeren Hochhausgebäude allerdings gering. Außer Bishop gab es keine weiteren Opfer.Gefunden wurde bei Bishop eine Art Abschiedsbrief, in dem er seine Bewunderung für Usama bin Laden und die Anschläge vom 11.9. zum Ausdruck brachte. Einen irgendwie gearteten terroristischen Hintergrund gibt es nicht, abgesehen davon. DIe Nachahmung offenbart vielmehr die verführerische Kraft der Ästhetik des Terrors, der der Jugendliche erlegen ist. Der Abschiedsbrief lässt darauf schliessen, dass der Jugendliche den Selbstmordanschlag geplant und nur auf eine Möglichkeit gewartet hatte, ihn in der Nachfolge der Terroristen vom 11.9. auszuführen. Ob er das Hochhaus schon von Anfang an als Ziel im Auge hatte, ist nicht bekannt. Vor dem Sturz in das Hochhaus hatte Bishop die MacDill Air Force Base überflogen, das Hauptquartier des United States Central Command, von dem aus die militärischen Aktionen in Afghanistan aus der Ferne an Bildschirmen geleitet werden.
Beitrag aus Heft »2002/01: Medienwirklichkeiten: der 11. September«
Autor: Florian Rötzer
Beitrag als PDFErwin Schaar: Abschied vom Job
"Was werden Sie denn machen?" gehört/e fast schon zur Regelanfrage, wenn man sich outet, sich in naher Zukunft in den Rentenstand verstzen zu lassen. Kann es denn sein, dass sich einer, der so viele Jahre an der regelmäßigen Publizierung einer Zeitschrift arbeitete, sich von seiner Arbeit verabschiedet, ohne Pläne für die Zukunft ausgearbeitet zu haben? Er wird seine Zeit doch nicht damit verbringen, die Deckel der Kochtöpfe zu lupfen, in denen eine zu Hause herrschende Frau, so sie vorhanden ist, täglich Nahrung zubereitet, deren Verzehr dann Lebenszeit strukturiert? Der aus diesem tiefen Loch des Nichtstuns, in das er unweigerlich fällt, seltsame Marotten ausbrütet, die seine Umwelt zur Verzweiflung treiben werden?Wollen wir den Albtraum verlassen, der so oft mit dem Eintritt in den Ruhestand assoziiert wird. Es sit ja zuzugeben, Begriffe wie "Rente" oder "Ruhestand" beinhalten die unbeweglichkeit des Geistes und des Körpers, lassen Stagnation und daraus sich ergebende Rüchwärtsgewandheit erwarten. Andererseits hört man auch immer wieder: "Jetzt kann ich das nachholen, wozu ich vorher die Zeit nicht aufbrachte" - die vielen Bücher lesen, die Reisen in Angriff nehmen, die so genannten Interessen pflegen.
Das wäre dann die aktivere Form des Zeitverbringens.Der nue Lebensabschnitt - gleich wie lange er dauern wird - dürfte zumindest eine neue erfahrung bringen, die nicht immer Zuckerschlecken sein wird, auch wenn der Schrebergarten im Kopf erklärter Feind sein soll. Vorsätze hängen immer von Körper und Geist ab.Diie Rückschau auf die langjährige Tätigkeit schrumpft bedenklich, wenn ein Fazit gezogen werden soll. Die vielen gebundenen Jahresbände der Zeitschrift lassen eigentlich eine Vielfalt vermuten, die mit Arbeit in Verbindung gebracht werden könnte - aber warum ist die Zeit so schnell vergangen, in der das Bemühen um jedes einzelne Heft gar nicht mehr aufscheint? So viel möchte man noch sagen, zur Entwicklung der Medien, dem Selbstverständnis der Medienpädagogik, die sich parallel dazu entwickelt hat und wo man doch so viele Lücken entdeckt, die nicht gesehen wurden, denen kein Eingang in die Auseinandersetzung gewährt wurde. Besucht man aber ab und zu ein Referat einer Ringvorlesung einer Hochschule, die interessiert, muss man immer wieder feststellen, wie abgekapselt meist vor sich hin gedacht wird, weil das Vertreten der eigenen fachlichen Belange nicht nur mit dem Gegenstand zusammenhängt, sondern dessen Eingebundenheit in wirtschaftliche und soziale Gegebenheiten schon viel Kraft verlangt.
Die eigene Notwendigkeit muss deutlich, andere von der eigenen Wichtigkeit überzeugt werden.Der Abschied fällt in eine Zeit, in der auch die geistige Bindung an die politische Linke in Frage gestellt wird durch die "uneingeschränkte Solidarität" zu einem Krieg, der viele Fragen aufwirft, die kritische Haltung erfordern, deren Wert aber ofiziell immer mehr angezweifelt wird. Doch die intelektuelle Freiheit und die geistige Vielfalt der Medien sind zu nicht mehr wegzudenken Bestandteilen des politischen Lebens geworden.Die Medien sind in positives Geschehen eingebunden. Und sie sind durch ihr dasein auch Auslöser für Phantasien und Taten, die ohne sie einfach nicht vorstellbar wären. Das hat nichts mit Schuld an etwas zu tun, das ist eine wertneutrale Feststellung, die aber in die Anlyse der Taten mit einbezogen werden muss. Der französische Medienphilosoph Paul Virilio hat 1986 über 2Krieg und Kino" geschrieben, was auch für das Fernsehen gelten dürfte: "Kino ist Krieg, weil Gustav Le Bon 1916 schreibt, 'der Krieg nicht nur das materielle Leben der Völker erfasst, sondern auch ihr Denken...
Und hier kommt man wieder auf die grundsätzliche Vorstellung, daß die Welt nicht vom vom Rationalen gelenkt wird, sondern von Kräften affektiven, mystischen oder kollektiven Ursprungs, die die Menschen führen, den mitreißenden Suggestionen dieser mystischen Formeln, die umso mächtiger sind, als sie sehr vage bleiben... Die immaterliellen Kräfte sind die wahren Lenker der Kämpfe."Widersprüche und Sprünge meiner Ausführungen müssenso stehen bleiben. Sie sollen und müssen auch die weiteren Auseinandersetzungen prägen. So weit ersichtlich werde ich Mitheruasgeber von merz bleiben und als eher zurückgezogener Berater tätig sein. Meine Kollegin Claudia Schmiderer wird die Redaktion übernehmen mit einem neuen Team, das sie in der nächsten merz-Ausgabe vostellen wird. Ihr und dem Team viel Erfolg.
Georg Seeßlen: Die Moral der digitalen Bilder
Die alltägliche Realität unsererBilderkultur mag uns erscheinen, als hätten sich Adorno und Horkheimer, Philip K. Dick und Vilém Flusser gegenseitig ihre schlimmsten Albträume erzählt. Und nun ist ganz offensichtlich mit der virtual reality ein neues Kapitel in dieser Präsenz der überwältigenden Bilder eröffnet: Das Bild, das nicht mehr die Wirklichkeit als Material benötigt, um 'real' zu wirken. Nichts muss mehr gespielt, inszeniert und aufgenommen werden in Filmen wie "Final Fantasy", in denen mehr oder minder reale Menschen auftreten, denen man die Herkunft aus dem Computer zwar gerade noch ansieht, die aber vielleicht auch schon verweisen auf eine nächste Generation von Bildern , in denen in der Tat nicht mehr zwischen einem menschlichen Schauspieler und einem "Synthespian" zu unterscheiden wäre. Haben Synthespians eine Seele? Oder um es profaner zu sagen: Wo beginnt da etwas, was über das Programm selber hinausgeht? Von einer anderen Seite her versucht Steven Spielbergs das in "A.I." zu untersuchen. Er erzählt (mit realen Schauspielern) die Geschichte eines Jungen, der in Wahrheit nichts als ein Computerprogramm und ein täuschen ähnliche menschliche Maske ist, geschaffen um die emotionalen Bedürfnisse realer menschen zu befriedigen.
Aber diese Maschine oder, wenn man so will: dieses Bild, (das Bild unserer Sehnsucht nach Liebe, an anderem Ort das Bild unseren sexuellen Begierde, das Bild unserer Agression etc.), das so "auf Liebe eingestellt" ist, muss, um die Liebe in seinem Programm zu verwirklichen , den unbändigen Wunsch danach hegen, "als wirkliches Kind" angesehen zu werden. Natürlich ist das zunächst nichts anderes als eine SF-Version des Pinocchio-Märchens, und das wiederum nichts anderes als eine metaphorische Einkliedung der Frage: Wie werde ich Mensch?So haben die alten Phantasien in unseren Bildermaschinen die Formen gewechselt. Und trotzdem reichen solche Filme, so unterschiedlich sie ansonsten sein mögen, sehr viel tiefer in unser Verhältnis zu den Bildern. Wir ahnen, dass sie nicht länger in der alten Weise zu kontrollieren sind, in den Fernseh-Kanälen nicht, in den wuchernden Welten der Videogames nicht, und schon gar nicht im Internet. Die Phase der apokalyptischen Angstbilder, der Monster, die aus dem Fenster kommen oder Bildschirme, die Kinder fressen, Roboter, die Kriege gegen ihre menschlichen Erbauer führen, ist vielleicht vorbei. Selbst auf der Ebene der populären Kultur können wir ein wenig ernsthafter über das Verhältnis zwischen den Menschen und seiner zweiten Schöpfung nachdenken. Es genügt nicht mehr, die Bilder kaputtzumachen, die uns lästig geworden sind. In den Datennetzen und dem selbstreferentiellen System der populären Kultur kann man Bilder nicht mehr zerstören.
Im elektronischen Zeitalter sind Bilder Wesen, die sich mit rasender Geschwindigkeit vermehren.Je mehr sich die Bilder von der materiellen Realität und je mehr sie sich von der Kontrolle in der eigenen Kultur entfernen, desto mehr verlangt es nach einer neuen Art der Verantwortung unserer Bilder. Sie werden immer mehr von Spiegelungen zu wirklichen 'Schöpfungen'. Der Unterschied zeigt sich in der Materiallosigkeit ebenso wie in der Globalisierung des Bilder ´markts und der Bilderfabrikation. Eine priäre Moral der Bilder betraf gerade das Vor-Bild und die Art, wie es zu 'erbeuten' ist. Ein 'unmoralisches Bild' ist in der traditionellen Technik zunächst ein Bild, das etwas Unmoralisches abbildet. Uns ein unmoralisches Bild ist eines, das auf unmoralische Weise zustande gekommen ist, zum Beispiel gegen den Willen der Abgebildeten oder gegen die Abbildungscodes einer Kultuer. Ein unmoralisches Bild ist sodann eines, das unmoralisch bearbeitet, etwa gefälscht oder etwas als falsches 'Argument' missbraucht wird. Und schließlich ist ein unmoralisches Bild eines, das an den falschen Blick gerät, zum Beispiel an den eines Kindes. In dieser Kette der Moral von der Produktion des Bildes über die Vermittlung bis zum Konsum kann man auf der einen Seite durchauss so etwas wie ein Bilderverbrechen konstruieren, einen Bildweg, der in seinen verschiedenen Etappen Menschenrecht und Zivilisationsabsicht verletzt.
Und auf der anderen Seite gibt es wohl auch einen nützlichen und sogaar heielnden Bildweg. Aber dazwischen liegt ein ungeheurer Bereich der Gleichgültigkeit, der alltäglich gewordenen Bilderdummheit.Das digitale und das globalisierte Bild verkürzen und verschleiern diesen Bildweg. Ist das digitale Bild einer Tierquälerei 'moralischer' als ein authentisches? Verschieben sich, zum Beispiel, was das Pornografische anbelangt, die moralischen Grenzen vom realen fotografischen Bild zum Cybersex? Und wie verhält es sich mit Bildern, die alle kulturellen Schranken auf den elektronischen Wegen überschreiten, aber in den Kulturen sehr verschiedene Bedeutungen haben?Je weniger uns 'das Abgebildete' als moralischer Maßstab bleibt, je weniger das 'Tabu' als territoriale Kultur den entorten Bildern entgegensteht, desto mehr muss uns die Abbildung selbst als 'moralisches Wesen' erscheinen, im Guten wie im Bösen. Arbeiten wir an der Philosophie, die sich um die Seele unserer Bilder kümmert.
Wolfram Knorr: Leerlaufende Betriebsamkeit
John Ford, der Homer des amerikanischen Kinos, wusste, dass seine epischen Reisen in die Vergangenheit mit der Realität wenig zu tun hatten. In seinen nationalen Legenden ging es ihm um eine höhere Wahrheit. Der Imperativ seines Oeuvres fällt in seinem Film „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ (1961): „Wenn die Legende Wirklichkeit wird, drucke die Legende.“Als er im Auftrag der US Navy einen Film über Pearl Harbor drehte, stellte er den japanischen Überfall in großen Teilen einfach nach. Dafür erhielt das Werk einen Oscar - als bester Dokumentarfilm. Ford war egal, ob amerikanische Flieger japanische vortäuschten und schon zu Wracks geschossene Schiffe noch einmal zur Explosion gebracht wurden. Die Bilder waren in dem Sinne ‘echt’, in dem sie einen wahren Eindruck des Überfalls vermittelten.Ford konnte nicht wissen, welche Entwicklung die „laufenden Bilder“ nehmen würden. Er glaubte noch, mit den Mitteln der Manipulation einer „höheren Wahrheit“ dienen zu können. Die neuen elektronischen Medien sind längst pervertiert, haben die Wahrhaftigkeit in Stücke geschlagen und in rein konsumistische Perspektiven aufgelöst. Hunderte von Fernsehprogrammen bieten zahllose Programme und Formate, auf der fieberhaften Suche nach der richtigen und gewinnbringenden Bedürfnis-Befriedigung. Die Folge: Überall der gleiche Kram. Der Computer mit seinem Internet ist noch besser und noch schneller und noch detaillierter. Um Wahrheit in partiellen oder gar komplexen Zusammenhängen gehts dabei freilich nicht mehr; es geht ausschließlich um Informationen, die ungeprüft durchs Netz flottieren und immer weniger mit der Wirklichkeit zu tun haben. Den Nutzern ist nur noch das Medium oder der Internet-Zugang gemeinsam. Die Interessen dagegen sind zersplittert und schließen sich einander aus. Die Sicht auf die Dinge ist rein egoistisch und produziert - grotesk genug - statt Öffnung Isolation.
Jugendliche ballern in düsteren Ruinen um ihr virtuelles Leben, Hacker knacken Codes, Musikfans bieten illegale Mitschnitte, Künstler basteln an neuen World Wide Web-Formen, Pornographen und andere Schmuddeltypen suchen sich ihre voyeuristischen Nischen und das Netz produziert seine eigenen Stars, die den real existierenden Kino- und Mattscheibenhelden schärfste Konkurrenz machen. Wie einst das Traumfabrik-Imperium auf erfolgreiche Comic-Helden wie Flash Gordon und Superman reagierte, indem es die Strich-Rivalen ganz machiavellistisch an die Brust drückte, so verfährt es auch mit den Kultfiguren aus dem Reich der Pixel.Lara Croft war erst der Anfang. Eine schwindelerregende neue Stufe erreichte der japanische Spieleerfinder Hironobu Sakaguchi mit der Kinoversion seines erfolgreichen Games „Final Fantasy“. Seine Stars, von Aki Ross bis Doktor Sid, sind allesamt rein virtuell. Wurde Lara Croft noch - wie einst die Comic-Helden - mit einer Schauspielerin besetzt (Angelina Jolie), haben Sakaguchi und seine zweihundert Mitarbeiter nicht einmal mehr mit Vorbildern aus dem Reich der Wirklichkeit gearbeitet. Die Figuren entstammen allesamt aus der Pixel-Welt - und sind gespenstisch echt. Die Haut der Heldin Aki wurde mit kleinen Haut-Unreinheiten und Sommersprossen versehen; 60. 000 Haare auf den Kopf so plaziert und einzeln bearbeitet, dass man glaubt, sie seien wie von Fotos hineinkopiert. Was den Menschenschöpfern allerdings noch nicht gelang, ist die Umsetzung von Emotion auf die Mimik. Konzentriert man sich allerdings auf die Augen, ist die Irritation perfekt.Dass bereits aus Hollwood beunruhigende Töne über diese Entwicklung zu hören sind, ist verständlich. Der Schritt zur perfekten Täuschung ist nurmehr ein kleiner. Die Medien befinden sich in einem besinnungslosen Taumel, fast blindwütig auf die technische Perfektion fixiert.Geschichten, die zu einer sinnstiftenden Wahrheit führen könnten, werden dabei ignoriert. Hier liegt das Dilemma der alles beherrschenden Bilderkultur. Die Fähigkeit zur bloßen Virtualität und zum Reality-Prinzip sind (vorläufig noch?) reine leerlaufende Betriebsamkeit.
Georg Maria Roers: Wer war es, der meinen Mund zuschraubte?
Bei uns am Ort gab es kein Kaufhaus. In meiner Familie lernte ich eine Welt wahrzunehmen, die überschaubar war. Und jetzt? Wäre ich doch erst gar nicht in die Stadt gezogen, wie es im 20. Jahrhundert modern wurde. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war es üblich, auf dem Land zu leben und im 21. Jahrhundert gilt plötzlich beides nicht mehr. Menschen von heute, die etwas auf sich halten, sind global vernetzt. Sie reisen durch die Welt und leben mal hier und mal dort. Wie sie leben, ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Eine einzige mögliche Form des Familienlebens gibt es nicht mehr, denn die ideale traditionelle Familie - Eltern mit vier Kindern - hat mächtig Konkurrenz bekommen. Peter Neysters zählt in seinem Buch Heiraten - oder nicht? Chancen und Risiken einer Lebensentscheidung (München 2000) insgesamt 14 mögliche Lebensformen auf, die er in vier Gruppen zusammenfasst: die traditionelle Familie, die modernisierte Familie (Doppelverdiener-Familie, Wochenend-Familie, Familie mit Hausmann, Familie mit Tagesmutter), die neuen Eltern (alleinerziehende Mütter und Väter, homosexuelle Paare mit Kindern), die kinderlose Familie (Singles, kinderlose Ehe oder Partnerschaft, Wochenend-Beziehung, schwule und lesbische Partnerschaften), die zusammengesetzten Lebensformen (Stief- oder Fortsetzungsfamilien, freie Wohn- und Lebensgemeinschaften).Die ländliche-traditionelle Familie ist kein Ideal mehr. Der österreichische Literat Josef Winkler schreibt in seinem Roman Der Leibeigene Anfang der 90er über seine Kärntner Heimat: „Wer war es, der, als ich ein Kind war, meinen Mund zuschraubte und die blutigen Löcher mit Schraubenmuttern belegte? Wer war es, der Heiligenbilder, so groß wie Lesezeichen, auf meine Lippen klebte? An den Geruch der Hände, die von hinten kamen und mir die Augen zuhielten, kann ich mich noch erinnern. Einmal schlug mir jemand mit einer zusammengefalteten Zeitung auf den Mund. Ich suchte die Buchstaben, die von der Wucht des Schlages aus der Zeitung auf den Boden gefallen sein mussten, fand sie aber nicht.“
Dieses Stück österreichische Gegenwartsliteratur setzt mit dem Jahr 1897 ein. Seitdem hat es riesig viel Fortschritt gegeben. Aber in der Erziehung scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Kinder werden heute mehr denn je geschlagen!Ich hatte schon als Kind viele „Fragen“. So heißt auch ein autobiographisches Gedicht aus meinem Band Gestern war es Schnee (München 2000): „Der Dreizehnjährige rechnete / jeden Tag hieb- und stichfest / mit den Schlägen des Vaters // in der Hand seine / Gürtelschnalle im Gesicht / nichts als Hass und Schweiß // im Kopf die Rippen zu brechen / zerquetschen Fragen dem Jungen / seine gequälte Lunge // damals fühlte er nur / wie jemand das Blut / aus seinem Kopf wusch.“Je weniger Kinder der Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt sind, je weniger sie nur auf ihre eigene traditionelle Familie fixiert sind, desto mehr können sie sich entfalten. Andererseits: Je vielfältiger die Formen des familiären Zusammenlebens in unserer Gesellschaft sind, desto wichtiger wird für das Kind die Geborgenheit in der Familie. Um welche Form von Familie es sich dabei handelt ist sekundär. Wie Frauen und Männer harmonisch miteinander zusammenleben, können Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde, Bekannte, Lehrer und Erzieher vorleben.Unsere Wahrnehmung wird durch unsere Umgebung und durch menschliche Beziehungen geprägt und verändert. Formenvielfalt trägt solange zur Lebensfreude bei, wie wir lernen, damit umzugehen.
Die Umgestaltung unserer Lebensumstände wird um so mehr gelingen, wie sich das soziale Netz nicht in ein undefinierbares, globales Netz verliert. Ausdruck von Leben kann nur anhand konkreter Formen gelingen.Wer nur Schönes erlebt, der wird kaum lernen über seinen Tellerrand hinauszuschauen. Wer dagegen nur Hässliches erlebt, der wird äußerlich und innerlich verkümmern. Um sich in der Welt zurechtzufinden, bleibt es wichtig, Schritt für Schritt zu lernen, was zu tun und was zu lassen ist. Das gilt auch und gerade, um in einer Informationsgesellschaft zu überleben.Kinder haben einen anderen Horizont als wir Erwachsene. Deshalb sind Formen keine Stilfrage, sondern lebenswichtig. Nur bei grüner Ampel über die Straße zu gehen, ist für ein Kind wichtiger, als zu wissen, wie eine Ampelanlage überhaupt funktioniert. Darüber können Mädchen und Jungen zukünftig noch genügend nachdenken, wenn es dann überhaupt noch Ampeln geben wird!
Jürgen Hüther: Ein vergessenes Schulhaus in Tiefensee
Adolf-Reichwein-Straße 13, ein unauffällig farbloses Haus, grauer Rauputz, stellenweise ausgebessert, rückwärtig einige Spielgeräte, Bäume, Sträucher, ein kleiner Garten. Das Gebäude fügt sich nahtlos ein in die Reihe seiner ebenso bescheidenen Nachbarn. Die Vorstellung fällt schwer, dass an diesem Platz in den 30er Jahren lebhafter Schulbetrieb herrschte und mit Adolf Reichwein ein Lehrer tätig war, der hier zu Zeiten finsterer Diktatur und ideologischer Unterdrückung seine Schüler zu mündigen Selbstdenkern erzog. Auf den Spuren dieses couragierten Pädagogen bin ich in Tiefensee, einem Straßendorf zwischen Berlin und Bad Freienwalde an der B 158, die im Ort seinen Namen trägt. Sechs Jahre unterrichtete Adolf Reichwein hier. Nach eigenem Bekunden lebte er gern, wenn auch beengt, im Tiefenseer Schulhaus, gleichzeitig seine Wohn- und Arbeitsstätte. „Tiefensee liegt 36 km von Berlin, hat 270 Einwohner und 30 Schulkinder. Landschaftlich sehr schön...an der Strausberger Seenkette, umgeben von großen Wäldern, in einer leicht beschwingten Hügellandschaft. Wir genießen die Stille“ (aus Reichwein-Briefen 1933).
Hier hat Reichwein sein reformpädagogisches Schulmodell entworfen und praktiziert, und hier hat er vor 65 Jahren an einer bemerkenswert modernen Filmdidaktik und an einer Schulung zum kritischen Sehen gearbeitet, die über die Stufen des betrachtenden Erfassens und der analysierenden Reflexion zu medienbezogenem und medieneinbeziehendem Handeln führen soll. Vom Schauen zum Gestalten, der Untertitel seiner 1938 erschienenen Veröffentlichung „Film in der Landschule“, bündelt gleichsam formelartig Reichweins medienpädagogisches Programm und darüber hinaus sicher auch seine grundlegende Zielsetzung, den Menschen vom kritischen Betrachten der Dinge zu deren Verstehen und aktiver Mitgestaltung zu führen. Das ehemalige Schulhaus, vor dem ich stehe, beherbergt heute eine Kindertagesstätte der Gemeinde Werneuchen, der Tiefensee verwaltungsmäßig angegliedert ist. Die Gedenktafel an der Vorderseite des Gebäudes teilt mit: Adolf Reichwein 1898 – 1944Hochschullehrer in Halle an der Saale1933 seines Amtes enthobenAngehöriger des Kreisauer Kreisesim Widerstand gegen den Nationalsozialismusam 20.10.1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet,als Lehrer an diesem Ort 1933 – 1939 schuf er eine humane, lebendige Schule.
Ein Straßenname und eine Wandinschrift, ist das alles, was an den großen Pädagogen erinnert? Die Standesbeamtin von Werneuchen, selbst aus Tiefensee stammend, bejaht dies mit Bedauern. Die Stadt hat gegenwartsbezogene Sorgen, da zählt Vergangenheit nicht, erst recht nicht die einer wirtschaftlich schwachen Exklave, an der der Aufbau-Ost bisher vorbei ging. Blühende Landschaften nur während des ländlichen Sommers.Margot Hönsch wohnt direkt neben dem Schulhaus, sie war vor mehr als sechs Jahrzehnten Schülerin bei Reichwein: „Seit der Wende hat sich Tiefensee zum Nachteil verändert. Wir hatten früher mehrere Gaststätten, Schuster, Bäcker, Gärtner. Jetzt haben wir nichts. Die Geschäfte machen alle zu. Hier am See hat sich aus Westdeutschland einer alles gekauft und sich breit gemacht. Für uns ist das nicht mehr unser See. Wie schön Tiefensee früher war, ist fast schon vergessen. Auch Adolf Reichwein.“Vergessen jedenfalls von den regierenden Sozialdemokraten in Potsdam und Berlin, deren Friedrich-Ebert-Stiftung Adolf Reichwein in einer Festschrift als einen ihrer ganz Großen feiert: „Gerade in seinen letzten Lebensmonaten (vor der Hinrichtung durch die Nationalsozialisten, Anm. des Verf.) wurde deutlich, mit welcher Konsequenz sich das Leben dieses sozialdemokratischen Pädagogen und Regimegegners vollendete...Wegen seiner geistigen Offenheit und seines politischen Selbstbewusstseins wurde Reichwein nicht immer angemessen gewürdigt.“1 Hier vor Reichweins Wirkungsstätte wird klar, wie unverändert dies auch heute gilt. Gibt es in Brandenburgs Kultusetat keine Mittel für eine adäquate Gedenkstätte, für die Einrichtung einer schul- und medienpädagogischen Dokumentations- und Forschungsstelle etwa? Oder fehlt das Interesse, fehlt das Gespür für die Leistung, die Reichwein hier in Tiefensee vollbrachte? Reichweins ehemals lebendige Schule, Wirkungsraum seines schaffenden Schulvolks, zeigt sich gegenwärtig, trotz Kinderhort, als ein sträflich vernachlässigtes Gebäude, als deprimierend lebloser Ort. Die Vergesslichkeit heutiger Politik gegenüber einem der wenigen politisch und ethisch konsequent handelnden Pädagogen im Dritten Reich schmerzt.
1 Peter Steinbach: Für die Selbsterneuerung der Menschheit. Zum einhundertsten Geburtstag des sozialdemokratischen Widerstandkämpfers Adolf Reichwein. Bonn 1998, S. 42f.
Hans-Dieter Kübler: Über die kulturelle Aufwertung der Medien
Neu aber ist, dass die unversöhnlichen Elemente der Kultur, Kunst und Zerstreuung, durch ihre Unterstellung unter den Zweck auf eine einzige falsche Formel gebracht werden: die Totalität der Kulturindustrie. Sie besteht in Wiederholung“, schrieben 1944 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ unter dem Eindruck der Medien- und Werbeumwelt in den USA. „In unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede“ begründete Adorno 1963 in einem Rundfunkvortrag: „Wir ersetzten den Ausdruck durch ‘Kulturindustrie’, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: dass es sich um etwa wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst.“Kulturindustrie war ein ebenso analytischer wie polemischer Begriff, eine Kategorie der Ideologiekritik, der gegen die Suggestion und Raffinesse des einvernehmenden Mainstream resistent bleiben und damit Anstöße für kritische Kultur- und Medienforschung eröffnen sollte.
Heute ist der Begriff Kulturindustrie fast vergessen oder wird nur noch als historische Reminiszenz gebraucht – trotz der ungleich mächtigeren, fast über alle Branchen agierenden Medien- und Informationsindustrie. Stattdessen macht der der Medienkultur Karriere, ohne dass bislang hinlänglich geklärt ist, was letzteren präziser und valider macht als ersteren. Denn „Kultur“ insgesamt durchlief und durchläuft bemerkenswerte semantische Metamorphosen oder auch Inflationen: Vom romantischen Ideal des „Schönen, Guten, Wahren“, also einem elitär normativen Begriff, wird er in Anlehnung an den angelsächsischen Usus ‘plebejisiert’: als Alltagskultur(en) kennzeichnet er empirische Lebensweisen. Als Sub- und Gegenkultur im 68er und 80er Kontext ist er wieder wertend gemeint, nunmehr aber mit gegensätzlicher politischer Stoßrichtung, nämlich gegen die etablierte Kultur. Die britischen ethnographischen Studien zur Jugendkultur verknüpfen gewissermaßen die beiden Stränge, indem sie die Lebensweisen und Ausdrucksformen vornehmlich unterprivilegierter Gruppen sowohl als Protest wie auch authentische Identitätsstiftung interpretieren, die gleichwohl ständig unter der Drohung der kommerziellen Einvernahme steht. Heute firmiert Kultur als elegante Metapher für alle sogenannten weichen Faktoren des Kommerzes, vom Prädikat des Wirtschaftsstandorts bis hin zur Unternehmenskultur. Mit der „deutschen Leitkultur“ hat die politische Rechte einen vorderhand inhaltsleeren, aber insgeheim chauvinistischen und militant einsetzbaren Kulturbegriff in Umlauf gebracht. Zu solch instrumenteller und vernebelnder Semantik passt sicher Medienkultur. Sollte der Terminus allerdings spezieller und präziser gemeint sein, bedürfte es exakterer Explikationen: Zwar begründet etwa K. Hickethier die Verwendung von „Medienkultur“ damit, dass „alle kulturellen Diskurse durch die Medien, vor allem durch das dominante Medium Fernsehen, präfiguriert“ seien. Für W. Faulstich gehören alle Medien zur Kultur und bilden sogar ihren Kern, weshalb der Begriff als „Schlüssel zum Verständnis von Gesellschaft, als Zugang zu tieferen Einsichten in Veränderungen und kulturellen Wandel“ tauge.
Aber für die Fakultät Medien der Weimarer Bauhaus-Universität ist Kultur seit jeher ohne Medien nicht denkbar. Mithin sind Medien schon immer Kultur gewesen, oder sie konstruieren erst jetzt eine spezielle.Neben dem gänzlich wertfreien Kulturbegriff kursiert also nach wie vor ein normativer Kulturbegriff. Aus dieser Spannung, wenn nicht gar Dichotomie ist auch die Medienkultur nicht zu entlassen. Vielmehr müsste ihre analytische Schärfung dreierlei erreichen:
1. Wenn Medienkultur unsere Gesellschaft, Lebensweise und Symbolik kennzeichnet, dann müsste präzise dargelegt werden, wodurch sich kulturelle Formationen heute von früheren und simultanen qualitativ und quantitativ unterscheiden, wie weit etwa die medialen Formierungen reichen, ob sie totalitär, umfassend sind oder nur segmentär, welche Sektoren von ihnen dominiert sind. Solange bleibt der Terminus eine zwar eingängige, aber unbewiesene Metapher, die unweigerlich alle Medien und ihre Inhalte aufwertet.
2. Wenn alle kulturelle Produktion als symbolische Äußerung medialer Materialisierung und/oder Speicherung bedarf, dann war Kultur immer schon Medienkultur, zumindest im phänomenologischen Sinne. Heutige Medienkultur wäre demnach durch die enorme Expansion von Speicher- und Übertragungstechnologien, den Einsatz enormer Kapitalien eher technologisch und ökonomisch geprägt, was Adorno und Horkheimer in ihrem treffenden Begriff der Kulturindustrie fassen wollten.
3. Da trotz der Universalisierungstendenzen nach wie vor Segmente und Ressorts existieren, die einen wertenden, substantiellen Kulturbegriff mindestens institutionell verkörpern, ihm authentischen Ausdruck zu verleihen bestrebt sind, mithin Kulturbegriffe jeweils neu kreieren, kritisch prüfen und auch transzendieren, sind Medienkultur und Kulturmedien längst noch nicht identisch, sondern repräsentieren Spannungen und Widersprüche, die es exakter zu analysieren gilt.
Hans-Dieter Kübler: Medienbildung: Erlösung vom Erziehungsauftrag?
Im Deutschen sind sie zwei nicht ganz gleiche Komponenten eines Prozesses, nämlich der kognitiven, emotionalen, sozialen und psychischen Entwicklung des Menschen unter Beteiligung von Subjekten, anderer wie des eigenen: Erziehung und Bildung. In Sprachen, die auf das lateinische „educare“ rekurrieren, gibt es nur einen Terminus dafür, wodurch sich viele diffizile wie subtile Unterscheidungen erübrigen. Zahlreiche akribische Definitionen und Abgrenzungen sind hingegen im Deutschen ersonnen und verordnet worden. Immer waren und sind mit ihnen grundsätzliche, mitunter auch aporetische Sichtweisen auf das Individuum, seine (eschatologische) Bestimmung und seine Rolle in der Gesellschaft wie auf die Wirklichkeit als ganze verbunden. Am einprägsamsten ist vielleicht die pragmatische Unterscheidung, dass man erzogen wird, aber sich selbst bildet, obwohl auch diese in diversen theoretischen Modellen in Frage gestellt und konterkariert wird. Im Terminus der Sozialisation ist eher die gesellschaftsbezogene Perspektive angesprochen, im neuerdings favorisierten Konzept der Selbstsozialisation überwiegen hingegen wieder Autonomie und Eigensinn des Subjekts. Deren Erstarken wird überraschenderweise auch dem Wirken der Medien zugeschrieben, obwohl diese ja gesellschaftliche Institutionen sind und als mächtig steuernde, wenn nicht manipulierende Agenturen beargwöhnt werden. Dennoch sollen gerade die sich ständig weiter ausdifferenzierenden Netze Chancen für Individualisierung und selbständige Gestaltung persönlicher Lebensstile bergen.Medien sind von der theoretischen wie praktischen Pädagogik seit jeher kritisch beäugt worden, als Konkurrenten wie als Störenfriede des Erziehungsprozesse (nur wenige haben zumindest die guten oder pädagogisch wertvollen Medien in didaktische Bemühungen einbezogen seit J. A. Comenius selig).
Daher bot sich Medienerziehung als passender Begriff an, zumal sie sich zunächst eher als Erziehung gegen die Medien, mindestens als eine - meist normativ ausgerichtete - Erziehung verstand, die gegen die Reize und Verlockungen der Medien standfest machte. Als „heimliche Erzieher“ wurden die Medien aber lange Zeit immer verdächtigt.Mit der realistischen Wendung der Pädagogik zur (empirischen) Erziehungswissenschaft verlangte es auch der Medienerziehung als sich mittlerweile etablierende Teildisziplin nach einem neutralen Terminus, womit zugleich der Anschluss an die sozialwissenschaftlichen Denkweisen der Kommunikations- und Publizistikwissenschaft geschafft werden sollte: Funktionalismus, Systemtheorie, symbolischer Interaktionismus, Habermas´ Universalpragmatik wurden nun bemüht. Dieter Baackes Habilschrift von 1973 gibt davon illustres Zeugnis: Medienpädagogik wurde kreiert (wiewohl eigentlich im unbemerkten terminologischen Gegensatz zum erziehungswissenschaftlichen Mainstream). Mit ihr wurde auch der theoretische Grundstein für die dann vielbemühte Medienkompetenz gelegt, die seither als Allerweltsformel dient. Die Verfechter einer normativen Medienerziehung blieben gegen diese Versozialwissenschaftlichung skeptisch; sie erkannten sie - nicht zu unrecht - als normative Neutralisierung, ja als unentschlossene bis schicke Beliebigkeit des damals en vogue werdenden „anything goes“. Als wohl letzter stritt dagegen noch 1992 der katholische Pädagoge Rainald Merkert, der in der Medienpädagogik Baackescher Prägung den essentiellen Bezug zum menschlichen Humanum, eine anthropologische Grundbesinnung, vermisste.Aber im Umgangssprachlichen haben sich solche Trennschärfen nicht durchgesetzt. Noch im Februar diesen Jahres wurde beispielweise in Bremen ein aufwendiger Modellversuch zur „Medienerziehung in der gymnasialen Oberstufe“ samt hochmögender wissenschaftlicher Begleitung abgeschlossen.
Die Frage, ob dieser Terminus mit (normativer) Absicht gewählt worden sei, wie er sich vertrage für (fast) erwachsene Menschen von 16 bis 19 Jahren und angesichts der im Laufe der dreijährigen Projektphase immer stärkeren Ausrichtung auf Computer und Onlinekommunikation, blieb unbeantwortet; sie war offenbar nicht hinreichend bedacht worden.In den Diskursen der 80er Jahre blieben Medienpädagogik und pädagogischer Umgang mit dem Computer weitgehend getrennt, wie sich nicht zuletzt an den beiden Rahmenkonzepten der Bund-Länder-Kommission zur „informationstechnischen Bildung“ (1987) und, erst acht Jahre später, zur „Medienerziehung“ (1995), übrigens ohne Bezug auf ersteres, manifestiert. Allein in Nordrhein-Westfalen konnte 1985 auf den ständig argumentativen Druck von Bernd Schorb und mir erreicht werden, dass die informationstechnische Bildung zur „informations- und kommunikationstechnologische Bildung“ erweitert wurde, unter Einbeziehung medienpädagogischer Ziele. Doch auch diese Integration blieb auf dem Papier.Anders lässt sich wohl kaum erklären, dass mit der inzwischen zwischen heftig forcierten Ausstattung der Schulen mit Online-Computern, mit den Anforderungen von Wirtschaft und Bildungspolitik, eine breite, aber ebenso diffuse Medienkompetenz in der Schule zu vermitteln und das Internet gewissermaßen zum Allroundmedium des Unterrichts zu machen, sich erneut eine terminologische Wende bemerkbar macht: Medienbildung heißt nun das Motto für die anbrechende Ära des vernetzten und digitalen Lernens. Wer immer es inauguriert hat - Stefan Aufenanger beansprucht für sich eine gewisse Urheberschaft -, hinreichend ausgelotet und expliziert, gerade auch mit Blick auf die skizzierte historische Hypothek, ist seine Semantik nicht.Bildung firmiert offiziell immer noch als eine der drei publizistischen Grundaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Besonders in der Nachkriegszeit zum Aufholen der kulturellen und als politische Bildung, aber bis in die 60er Jahre hinein, etwa bei der Gründung der Dritten Fernsehprogramme und dem Ausbau der Tele- und Funkkollegs, wurde dieser Programmauftrag ambitioniert wahrgenommen. Heute erinnert sich infolge des Kahlschlags der Bildungsprogramme kaum mehr jemand daran, und den Rundfunk für Bildung in Anspruch nehmen, tun nur noch wenige, höchstens die notorischen Hörer der Dritten Programme etwa oder die Zuschauer von arte und 3sat. Medienbildung, so lassen die wenigen Ausführungen bislang erkennen, umfasst zumindest programmatisch alle Lernprozesse, die mit und für Medien, zumal die digitalen und vernetzten, stattfinden, oder - noch pauschaler - sie steht für Kommunizieren, Lernen, Arbeiten und jedwedes symbolische Handeln in der sogenannten Informations- und/oder Wissensgesellschaft. Offenbar wollen ihre Anwälte sie an die Stelle der inzwischen verbraucht erscheinenden Medienkompetenz rücken, ohne sich darum kümmern zu müssen oder zu wollen, warum die eine (Leer)Formel nun durch eine andere ersetzt werden soll.Denn so imposant und visionär die Entwürfe daherkommen, hinreichend deutlich und präzise ist es nicht, was mit Medienbildung gemeint sein soll. Nicht einmal die Kausalitäten und Zusammenhänge sind geklärt: Bilden Medien per se (wie noch im Rundfunkkonzept angenommen)? Bildet man sich mit den Medien (wie in allen didaktischen Konzepten mit Medien angestrebt wird)? Bildet man sich für die Medien, also qualifiziert man sich für den Umgang mit ihnen (wie es Konzepte des Computerführerscheins, heute des „Internet-Führerscheins“, vorsehen)? Oder bildet man sich gar gegen die Medien (wie es früher Ideologiekritik und Gegenaufklärung propagierten)? Die Apologeten werden großzügig alles (und noch etliches mehr) vereinnahmen, Hauptsache: man nutzt Rechner und Netze. Doch ganz und stiekum lässt sich die pädagogische Tradition nicht beiseite fegen - zumal es in Nordrhein-Westfalen (womöglich auch anderswo) bereits wieder ein Rahmenkonzept „Medienbildung“ gibt. Aber seine Ziele und methodischen Verfahren unterscheiden sich kaum von den vielfach vorgebrachten Dimensionen der Medienkompetenz und ebenso wenig von denen der informations- und kommunikationstechnologischen Bildung - nur die (medien)technischen Optionen verändern sich. Also: nur ein neues Label auf bewährte Ziele, die freilich bis heute materiell und personell uneingelöst blieben?
Der Bildung eignen fraglos positive semantische Konnotationen, soviel traditionelle Wertschätzung inhäriert ihr noch immer; in jedem Fall rekurriert sie auf Kognition (Erkenntnis) und sachliche Logik. Erziehung rekurriert hingegen eher auf Normen und Werte; sie ist sozialen Beziehungen wie Hierarchien unterworfen und nicht selten subjektiver Willkür ausgesetzt. Vermutlich ist dieser semantische Bonus anvisiert, wenn nun der „Medienbildung“ der Vorrang gegeben wird. Aber wenn Namen nicht nur (strategischer und öffentlichkeitswirksamer) Schall und Rauch sind, was wissenschaftliche Seriosität noch immer unterstellen muss, dann impliziert „Medienbildung“ eben auch mindestens dreierlei (heimliche) Intentionen:p Wenn Medien bilden bzw. wenn man sich mit Medien bildet, dann braucht man sie selbst, ihre Strukturen und ihre gesellschaftlichen Funktionen wie ihre unzähligen Inhalte und Programme nicht mehr unbedingt einer kritischen Überprüfung und Kontrolle, was früher auch Ideologiekritik hieß, zu unterziehen. Vielmehr haben sie a priori einen (positiv besetzten) Bildungswert und pädagogischen Bonus. Das vermeintlich für alle gleichberechtigte und zugängliche Internet wird quasi zum Mythos der vorgeblich generellen Medienfreiheit und -pluralität hochgejubelt, in dem sich alle weltanschaulichen und individuellen Inhalte optimal wiederfinden, sich quasi verobjektivieren und damit nur noch nach persönlichen Vorlieben und Interessen ausgewählt werden.p Eine wertorientierte und kritische Erziehung hinsichtlich der und auch gegen die Medien braucht unter den Vorzeichen der Bildung nicht mehr stattzufinden. Pädagogik erlöst sich gewissermaßen selbst vom ebenso prekären wie mühsamen Erziehungsauftrag (den sie gegen die mächtigen Medien nicht mehr gewinnen kann); sie kann sich daher nur noch den unverfänglichen, neutralen, sachbezogenen und kognitiven Bildungs- und Lernprozessen mittels Medien widmen.p
Allein verantwortlich für seinen Medienumgang und für die Inhalte, denen es sich aussetzt, für seine „Medienbildung“ ist letztlich das (sich durch Medien selbstsozialisierenden) Individuum, der selbst kompetent gewordene User. Ihm allein bzw. der ihm irgendwie vermittelten Medienkompetenz obliegt die Verantwortung für den persönlichen Medienkonsum, aber am Ende auch - in der Kollektivität - für die kommunikative Verfassung einer Gesellschaft, getreu der Marktlogik von Nachfrage und Angebot. So wird das Individuum zum Subjekt des Medienmarktes stilisiert, obwohl der sich ständig neu strukturiert und weiter oligopolisiert, ohne Einfluss der Rezipienten. Dennoch wird ihre Spezies zum auch sonst gehätschelten Phantom des autonomen homo oeconomicus und communicator mystifiziert.Wenn diese Tendenzen nur annähernd zutreffen, dann passen sie zweifelsohne in den Mainstream von Deregulierung und Globalisierung, von Flexibilität und Eigenverantwortung, wie die Modewörter derzeit lauten. Ob dies die Verfechter der „Medienbildung“ gemeint haben?
Beitrag aus Heft »2000/05: Aktuelle Medientheoretische Reflexionen«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDFHans-Dieter Kübler: Begrenzt wahrhaftig: die Erweiterung der Medientheorie
Grenzbe- wie auch -überschreitungen gehören zum Geschäft des Journalismus: Interessen und Vorteilsnahmen müssen entlarvt, öffentliche Geheimnistuereien aufgedeckt werden, die Privatsphäre bleibt selten tabu, Anstand und Geschmack gehen vor vermarktbarer Sensation und voyeuristischer Präsentation in die Knie. Hin und wieder müssen Gesetze strapaziert werden, zumal wenn sie recht parteiisch sind oder so ausgelegt werden. Auch die vermeintlich sakrosankte Barriere zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen Fakten und Fiction wird nicht selten überschritten. Ganze Litaneien solch journalistischer Verfehlungen und Skandale lassen sich deklamieren.Nun also ein neuer Fall, der des Klatschjournalisten Tom Kummer, der Interviews mit Hollywood-Stars wie Brad Pitt, Kim Basinger oder Sharon Stone sich ausgedacht oder von Büchern abgeschrieben hat. Ausgerechnet der „Focus“, dem selbst schon etliche Inkorrektheiten und Nachlässigkeiten angekreidet wurden, ‘deckte’ Mitte Mai Kummers Machenschaften auf. Postwendend grämen sich wieder die bestellten Tugendwächter im Journalismus um Glaubwürdigkeit und Wahrheit in der Journaille, aber in etlichen Kommentaren mischt sich auch die übliche Häme drunter. Dabei hat Kummer nicht nur das angeprangerte „SZ-Magazin“, beliefert. Doch unisono fiel die Branche über die „Süddeutsche“ her – womöglich weil sie in den jüngsten politischen Skandalen hartnäckige und findige Spürnase war und damit Meinungsmacht gewann? Jedenfalls gaben sich „SZ“ und „SZ-Magazin“ sogleich schuldbewußt, schassten die beiden Chef-Redakteure und entschuldigten sich bei den Lesern, die angeblich betrogen worden seien.Freilich, noch kurz zuvor hatte einer der Chefredakteure des „SZ-Magazins“, Christian Kämmerling, - wie eine von der SZ-Medien-Redaktion eilends, über zwei Seiten der Wochenendausgabe publizierte Dokumentation über den “Casus Kummer” (27. Mai 2000) anführt - just das „Ausloten der Grenzen“ zum publizistischen Motto des Magazins erklärt.
Und alle, die Kummers Wirken in den 80er Jahren beim Lifestyle-Magazin „Tempo“ oder seit Anfang der 90er sein undurchsichtiges Treiben in L.A. kannten, wussten, dass bei ihm nicht alles koscher war. Selbst sein 1997 bei dtv erschienenes Buch „Good Morning, L.A.“, das der Verlag unumwunden als „Panoptikum des medialen Selbst- und Publikumsbetrugs, der Informationssucht in pathologischer Form und Abgründen“ anpreist, enthält sogar Regeln zur „Steigerung journalistischer Effektivität“.Unbeirrt steht daher Tom Kummer zu seinen Usancen: „Mir ging es immer darum“, räsoniert er im „Spiegel“ (21/2000), „die Definition, was Realität ist und was Fiktion, in Frage zu stellen. Wenn ich schreibe, beginnt eine Implosion des Realen. Das ‘SZ-Magazin’ hat mir die Möglichkeiten gegeben, diesen Borderline-Journalismus zu betreiben. Ich wollte die Medientheorie erweitern und dem Magazin Schillerndes abliefern.“ Soviel Selbstbewusstsein und Theoriemächtigkeit sind neu (sofern die Zitate stimmen, was man ja auch nicht genau weiß), wo sonst das mea culpa ansteht. Eine gewisse Klasse kann man Kummers Argumenten jedenfalls nicht absprechen, halten sie doch kongenial mit kuranten poststrukturalistischen Medien- und Realitätstheorien mit. Wahrheit und Wirklichkeit, so tönt es allenthalben: wer kann sie angesichts des medialen Dauerbombardements noch unterscheiden? Intern mokiert sich die Branche schon lange darüber und spielt damit, Marketing und Quoten fest im Blick.
Nur zugeben darf es keiner. Stattdessen wird die Fahne der journalistischen Glaubwürdigkeit hochgehalten.Und am nächsten Tag? Vergessen sind die Tugenden! Ständig werden vielmehr einschlägige Formate entwickelt: Reality-TV, Doku-Soaps, VIP-Porträts, Live-Reportagen und Katastrophen-Hunting bis hin zum Voyeur-Fernsehen à la Big Brother – sie alle manipulieren Wahrheit und Wirklichkeit.Und auch die Interviewten oder Prominenten mimen mit im dubiosen Spiel, nutzen es als wohlfeiles Vehikel für ihre Selbstinszenierung. Selbst vermeintlich seriöse Interviews wie die hoch geschätzten im „Spiegel“ werden nach langen, formlosen Gesprächen kollagiert und nachträglich mit den berühmt provokatorischen Fragen versehen, wie kürzlich ein renommierter Jurist aus eigener Erfahrung verriet. Dagegen angehen? Was helfen Gegenmaßnahmen, wenn die Sache längst publiziert ist?Sind wir Leser also von Kummer betrogen worden? Kaum mehr als sonst! Was wäre anders gewesen, wenn er die Stars hätte unmittelbar befragen dürfen: nach vorheriger Abklärung und anwaltlicher Überprüfung der Fragen, mit vorgestanzten Sätzen aus den VIP-Agenturen oder nachträglicher Redaktion durch die persönlichen Agenten?Nein, betrogen worden sind die Redaktionen, die glaubten absatzsteigernde Promi-Ware zu bekommen, und nun von Kummer reingelegt wurden. Deshalb die Aufschreie und die Entrüstung! Für 6000 Mark – und die über Jahre konstant – kriegt man nun mal nicht mehr, kontert Kummer lässig: „Üblicherweise wird für Interviews solchen Zuschnitts ein Vielfaches gezahlt.“ Wer Schnäppchen einkaufen will, muss mitunter mit unsauberer Ware vorliebnehmen.
Margrit Lenssen: Was hat Medienpädagogik mit dem wahren Leben zu tun?
Kinder und Medien, das lesen wir nun schon seit 20 Jahren, das ist eine Super-Symbiose. Das passt zusammen wie Fernseher und Fernbedienung, wie Nin und tendo. Die Konsum-Kids wachsen in der Medien- und Merchandising-Welt auf, da muss man einfach sehen, dass wir das mit der Medienkompetenz gut hinkriegen.
Klar, ich weiß, medienpädagogisches Handeln ist immer eine Gratwanderung zwischen Autonomiegewährung und Verantwortungsübernahme. Als gut geschulte Medienpädagogin weiß ich ebenfalls, dass das Medienhandeln der Kinder schon hochkompetent ist. Sie kennen sich einfach besser aus mit Maschendrahtzäunen. Ich sehe das, nur manchmal fällt es mir nicht leicht, mich an allen Ecken und Enden immer wieder mit den mehr oder weniger erfreulichen Anmutungen der Medien- und Konsumwelt auseinanderzusetzen.
Nur kleine Beispiele vom Alltag mit drei medienmündigen Kindern: Das Aufstehen am Morgen ist ganz harmlos. Uns weckt der Radiowecker. Die Töne der A-Teens „Super Trooper“ begleiten die Kinder aus dem Haus raus und in die Schule.Nach der Schule rücken die Medien näher. Die Tochter (11 Jahre) kommt mit ihrer Freundin als erste nach Hause. „Kannst du uns mal sagen, wer die Freundin von Kai ist und mit wem sich Flo verkracht hat?“ „Ich, nee kann ich nicht sagen, wer ist überhaupt Kai, ich kenn’ keinen Kai und schon gar nicht seine Freundin.“ „Du hast ja keine Ahnung!“ Da war ebensoviel Vorwurf wie Mitleid in der Stimme. „Nee“. Hab’ ich auch nicht, immerhin kriege ich mit, dass das Taschengeld zum ersten Mal in einem Rätselheft von GZSZ angelegt wurde. Als Hauptpreis winkt eine leibhaftige Komparsenrolle in der leibhaftigen Soap, mit all den leibhaftigen Stars.
Na gut, das Kind kommt grade in die Pubertät, da braucht man solche weiblichen Rollenvorbilder, wie sie GZSZ zeigt. Klar, weiß ich doch. Die sind da auch total tolerant den Schwulen gegenüber und alle Mädels sind so hip. Wer die nicht gut findet, ist in der Klasse sowieso unten durch.Szenenwechsel. Nachmittags gehe ich mit meinem Sohn (12) in die Stadt, er will unbedingt das Geldgeschenk seines Paten in richtige Ware umsetzen. An was er so gedacht hat? „An Bettwäsche“. „Bettwäsche?“ Eher ungewöhnlich. Aber ich lass mich belehren, wahrscheinlich habe ich wieder einen Trend verpasst. Endlich am richtigen Regal stehend wird mir Ignorantin gezeigt, dass es da die geilsten Dinge gibt. Ach so, Fan-Bettwäsche war gemeint. Aber natürlich ist nur eine Bettwäsche die wahre – die vom FC Bayern.
Hi- Hi- Hilfe! Nicht dass ich etwas gegen diesen Verein hätte. Seit der ersten Grundschulklasse meiner Kinder weiß ich, dass die erste Frage der Kinder untereinander nicht lautet „Wie heißt du“, sondern „Von was bist du Fan?“ So, liebe PädagogInnen, steckt man Claims ab.Fies und total un-medienpädagogisch ist dann wohl mein dezenter Hinweis, dass mein Sohn bei Kauf dieser coolen Bettwäsche allerdings sein Bett immer selbst beziehen müsse, da ich diesen Bettwäscheanblick nur schwer ertragen könne. Das lässt den Sohn nachdenklich werden, ob dieser Preis nicht doch zu hoch ist für das Gefühl, nahe bei seinem Club zu schlafen. Er zuckt erstmal zurück.Abends kommt der Jüngste (8) vom Kindergeburtstag zurück. Man war gemeinsam im Kino – „Star Wars“. Eierlaufen ist out, so lautet wortwörtlich die Werbung für’s Kino und die müssen es schließlich wissen mit ihrer jahrelangen und einfühlsamen Kindergeburtstag-Erfahrung.
Endlich hat der Jüngste etwas, mit dem er imponieren kann, wenigstens für einen Abend. Vorm Einschlafen ist er kurzfristig der King bei seinem älteren Bruder. Denn flugs hat er sich ein paar Bilder von Obi-Wan Kenobi und Darth Maul und Kumpane an die Tür gehängt und erklärt seinem größeren Bruder, wer wer ist und wie man die Namen ausspricht. Ja, wieder was gelernt: die Medien haben dem Kleinen geholfen, dem großen Bruder mal so richtig zu zeigen, wer Ahnung hat. Wissen ist Macht und es macht nichts, woher man das Wissen hat. Tagtäglich werde ich darauf gestoßen, wie wichtig diese Medienbeiträge für die Entwicklung des Selbstbewußtseins und überhaupt alles im Kindesalter sind.
Vielleicht zweifle ich ja nicht, aber ehrlich, muss es denn gleich so geballt kommen mit diesem kompetenten Surfen durch die Medienwelt und das fast an jedem Tag. Wann, so frage ich mich, wann darf ich mal aufjaulen, ohne den Kindern die Verantwortung für das Medienhandeln aus der Hand zu nehmen und sie auf ewig zur Unmündigkeit zu verdammen? Da sei doch die kleine Nachfrage erlaubt, ob...?
Morgen, morgen bin ich wieder verständnisvoll. Dann höre ich mir „Wadde hadde dudde da“ zwanzigmal an.
Herbert Riehl-Heyse: Mensch – Medien – Zukunft
Wenn Sie mich etwas befangen hier stehen sehen, so hat das mehrere Gründe: Einer ist, dass ich ja dem Programm habe entnehmen und soeben bei der Podiumsdiskussion habe sehen können, wie viel bedeutende und respekteinflößende Persönlichkeiten bei dieser Tagung schon aufgetreten sind, eine Reihe von Wissenschaftlern darunter, die sowieso sehr viel mehr von den hier zu diskutierenden Fragen verstehen, und dann auch noch den Vorteil haben, dass sie vor mir dran waren. Die Gefahr ist also groß, dass ich Ihnen nichts Neues sagen werde – und das auch noch auf unwissenschaftliche Weise. Aber da müssen wir jetzt alle durch – ich mehr noch als Sie. Sie können ja die Augen schließen und vielleicht einen inneren Film an sich vorbeiziehen lassen.
Haben Sie bitte alle den eleganten Übergang zur Kenntnis genommen? Ich bin jetzt also auf dem Umweg über den Film doch endlich bei den Medien, über deren Zukunft in meiner Eigenschaft als Mensch – wenn ich das Programmheft richtig gelesen habe – ich heute reden soll. Ich soll das ausdrücklich nicht als Medienpädagoge, der ich auch nicht bin, weil meine jüngste Tochter 16 ist und nur noch müde lächelt, wenn ich sie mal vorsichtig frage, warum sie auch die Wiederholung der Wiederholung der alten Folgen von „Beverly Hills, 90210“ noch mal sehen muss, statt eine gute Kultursendung bei 3sat: Als Medienpädagoge bin ich also an meinen Grenzen, als Futurologe bin ich das aber auch, genau genommen gehört es sogar zu den vielen Fähigkeiten, die ich nicht habe, dass ich so richtig zielsicher in die Zukunft schauen könnte. Ich weiß also, das wird Sie jetzt enttäuschen, nicht genau, wie alles kommen wird. Ich kann es mir höchstens denken, genauer: zu denken versuchen. Jedenfalls habe ich mir gedacht, ich teile meine jetzt folgende fünfstündige Rede in zwei Hauptteile: der erste Teil wird davon handeln, wie es kommen könnte im Zusammenhang mit den Medien, wenn man die heutige Entwicklung hochrechnet. Und die zweite davon, wie es kommen müsste.
*Wie die Lage der Medien heute ist, wissen Sie selber: Sie ist überwältigend, um eine neutrale Formulierung zu gebrauchen. Wären wir von der Wasser- und Schifffahrtsdirektion – übrigens mit drei „f“ – dann würden wir von einer Medienflut reden, davon, dass die Pegelstände überall steigen auf dem Murdoch-Strom, in den Bertelsmann-Gewässern, in dem Ozean, der nach Bill Gates benannt ist. Wenn die Fluten noch weiter steigen, dann steht uns – sagt die Erfahrung – irgendwann das Wasser bis zum Hals, und später ersaufen wir dann darin.
Nein, das war jetzt ganz blöd – man kann Bilder auch zu Tode strapazieren, und in Wahrheit ist es ja genau umgekehrt. Je höher die Fluten steigen, je mehr Medien wir haben, desto mehr sollen wir uns freuen. Wären wir jetzt bei den Münchner Medientagen oder bei den Konkurrenzveranstaltungen in Hamburg oder in Köln, dann träte mit Sicherheit irgendwann ein Bürgermeister ans Mikrophon oder gar ein leibhaftiger Ministerpräsident und rechnete uns vor, dass – beispielsweise – im Großraum München, das habe ich kürzlich einem solchen Grußwort entnommen, jetzt schon mehr als 100.000 Leute irgendwie im Medienbusiness tätig sind, und von Medien leben, als Regisseur oder Kabelträger, als Lohnschreiber, Intendant oder Intendantensekretärin. An dieser Stelle würde sich dann jede weitere Debatte ohnehin erübrigen: Wo so viele Arbeitsplätze entstanden sind und immer noch entstehen, wo so viele schöne Umsatzrenditen erzielt werden - oder wenigstens erzielt werden sollen – verbietet sich jede kulturkritische Bemerkung über die Produkte, die in diesem Business hergestellt und vertrieben werden, über die Inhalte, die gesendet oder gedruckt werden, über den „Content“, wie wir Fachleute das nennen. Weil das so ist, denke ich mir, reden ja auch immer weniger Leute über Inhalte, redet niemand mehr über ein Programmwie RTL2 zum Beispiel, nicht einmal über dessen Programmhöhepunkt. Wie, den kennen Sie gar nicht? Wenn Sie sich ein bisschen beeilen heute Abend, können Sie leicht dabei sein, um 22.30 Uhr bei „Strip“, der Erotik-Show mit Jürgen Drews. Der Content der Sendung ist, dass sich alle fünf Minuten, jeweils nach einem Jubelschrei des Moderators, eine immer wieder andere Frau – gerne auch eine Hobbykünstlerin aus dem Publikum - , um eine Art Kletterstange windet, sich dabei auszieht, sich ans Geschlecht greift und ein bisschen stöhnt. Über so etwas, denkt jetzt vielleicht der eine oder andere, redet man nicht in einem solchen Festvortrag.
Man redet aber überhaupt nirgends darüber, weil hier wirklich die Unsäglichkeit zum Programm gemacht worden ist; darüber ließe sich höchstens in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen berichten, wo einmal im Jahr ja auch darüber berichtet wird, dass sich der Jahresumsatz bei Beate Uhse um 10,2 Prozent gesteigert hat, weil die Nachfrage nach Dildos angezogen hat.
Man könnte natürlich auch umgekehrt argumentieren, könnte sagen, dass gerade die Unsäglichkeit mancher Programme eine gewisse Diskussion herausfordert. Man könnte fragen, was es über den kollektiven Geisteszustand einer Gesellschaft aussagt, wenn der Exhibitionismus Programmbestandteil geworden ist, könnte darüber nachdenken, was es für den Geschmacks- und Gefühlshaushalt junger Leute bedeutet, mit solchen Programmen ganz selbstverständlich groß zu werden, könnte sich sogar fragen, wozu es eigentlich all die gesellschaftlich relevanten Persönlichkeiten gibt, die als Medienminister in den Staatskanzleien sitzen, oder als Repräsentanten von irgendwas, zum Beispiel der Kirchen, in den Medienräten, wenn sie alle zusammen ein Phänomen wie den ständig kreischenden Herrn Drews sang- und klang- und kommentarlos zur Kenntnis nehmen. Aber andererseits – mit solchen Fragen machte man sich irgendwie lächerlich, schließlich sind wir alle aufgeklärte Menschen und manche von uns – ich zum Beispiel - haben die Verklemmtheiten der 50er Jahre zu schrecklich in Erinnerung, als dass sie auch nur eine Sekunde in den Verdacht geraten wollten, sie wünschten sich die „Aktion saubere Leinwand“ zurück. Deshalb stelle ich die oben aufgeführten Fragen auch nicht.
Ich erwähne das alles sowieso nur, weil man vielleicht davon ausgehen muss, dass die Perfektionierung des Fernsehschaffens auch auf dieser Ebene in den nächsten Jahren noch viele weitere Höhepunkte erwarten lässt. Der kleine Mathematiker in uns Zukunftsforschern braucht sich nur die Kurve der Entwicklung anzusehen, braucht sich nur zu erinnern, was sich getan hat, seit den vor zehn Jahren noch viel diskutierten Tutti-Frutti-Ratespielen, die man heute ohne weiteres im Kinderfernsehen zeigen könnte. Wir sind einfach ein ganzes Stück weiter, da brauchen Sie sich nur anzuschauen, wie der schrottigste Schrott, den das Fernsehen produziert, dann wieder in kleine Stückchen zerlegt und in witzigen Sendungen neu gesendet wird, woraufhin der Moderator von „TV Total“ natürlich sofort einen Medienpreis erhält - ich finde „TV Total“ natürlich auch ganz witzig, auf Wunsch kann ich Ihnen auch „Maschendrahtzaun“ vorsingen, und wer nicht weiß, was ich damit meine, hat im Prinzip auf einer Veranstaltung des JFF gar nichts verloren. Trotzdem: Wenn Sie sich das alles vor Augen halten, und es dann mit Tausend multiplizieren – weil zwar das digitale Fernsehen in Premiere World bis jetzt erst 69 Kanäle hat, aber demnächst gewiss tausend –, und wenn Sie das Ergebnis endlich mit einer Million Websites im Internet zur Potenz rechnen, – dann, ja dann muss uns nicht Bang werden um eine Vision von der Zukunft des Menschen in der Medienwelt: Die eine Hälfte der Menschheit wird davon leben, die Fluten zu erzeugen, in denen die andere Hälfte ersäuft.
*Ich sehe schon, jetzt ist mir doch wieder der Gaul durchgegangen, den ich doch eigentlich am Zügel führen wollte. Wenn ich wollte, könnte ich gerne noch ein paar Stunden über meine Vermutungen philosophieren, wie es um die Kontakt- und Erlebnisfähigkeit von Menschen aussehen wird, die in ihrer Jugend zu viel Telefonsex-Werbung gesehen haben nachts um halb eins oder auch nur zu viele Tatorte mit von der Russenmafia hingemetzelten Prostituierten. Darauf verzichte ich, genauso wie auf längere Ausführungen über die Segnungen der immerwährenden Kommunikation, von denen ich endgültig überzeugt bin, seit ich kürzlich die Geschichte von einem Model gelesen habe. Die Frau habe, so erfuhr man später von der Polizei, im letzten Monat bevor sie nicht mehr leben wollte, eine Telefonrechnung in Höhe von 3.000 Mark gehabt und ist offenbar beim dauernden Telefonieren völlig vereinsamt. Würde ich diesen meinen Trieb zum Kulturpessimismus weiter ausleben, so würde ich an dieser Stelle auch noch auf das Interview verweisen, das kürzlich der amerikanische Internet-Pionier Clifford Stoll dem Spiegel gegeben hat, um vor den Gefahren des von ihm so vorangetriebenen Mediums zu warnen. „Das Wichtigste, was wir auf Erden haben“ – hat er gesagt – „ist die Zeit. Sie ist begrenzt und wir verschwenden sie mit dem Surfen im Internet, stundenlang. Nach fünf Stunden sitzt man da und fragt sich, was es einem gebracht hat. Bin ich ein besserer Mensch geworden, verstehe ich besser, was die Welt im Innersten zusammenhält. Nein, ich bin nur um fünf Stunden älter geworden.
“So, wie gesagt, würde ich nie reden, der Mann redet ja wie ein Pfarrer, und viel zu pessimistisch. Ich persönlich bin eher – wie Sie vielleicht schon gemerkt haben – ein Optimist, jedenfalls jetzt im zweiten Teil meiner Rede, den man immer optimistisch anlegen soll, um seine Zuhörer nicht in die Depression zu schicken. Sie werden, wenn Sie den zweiten Teil hören, vielleicht glauben, ich redete als der Agent des Bundesverbandes der deutschen Zeitungsverleger, aber das ist nicht wahr. Ich wollte Ihnen in diesem zweiten Teil nur sagen, wie es mit den Medien und dem Menschen in der Zukunft weiter gehen sollte. Und das geht nicht ohne ein Plädoyer für das gedruckte Wort, auch wenn dies in Gegenwart von lauter Fachleuten aus den konkurrierenden und für die konkurrierenden Medien vielleicht ein wenig unpassend wirken sollte. Man lädt aber nicht ungestraft einen Zeitungsredakteur zu einem solchen Vortrag ein, und sowieso war bisher von Zeitungen nicht die Rede.*Wozu also wird man künftig noch Zeitungen brauchen? Das ist nun wirklich leicht zu erklären. Oder haben Sie schon einmal versucht, Ihre Schuhe, wenn die im Regen nass geworden sind, mit Hilfe von Fernsehsendungen oder gar mit dem Internet auszustopfen? Na also! Die Beweisführung stammt übrigens von dem bekannten Kommunikationswissenschaftler Loriot und wird als unwiderlegbar in die Geschichte des Zeitungswesens eingehen.
Vielleicht sollte man sich aber noch nicht einmal mit dieser Loriotschen Rechtfertigungslehre des Zeitungsmachens zufrieden geben. Womöglich gibt es ja noch ein paar andere Argumente für die These, dass die Zeitungen, insbesondere die Tageszeitung, (für die ich hier vor allem sprechen möchte), ihre besten Zeiten erst noch vor sich haben. Anders gesagt: ich bin fest davon überzeugt, dass sie im nächsten Jahrhundert noch mehr gebraucht werden als je zuvor.
Obwohl es doch diese vielen anderen, neueren, schnelleren Medien gibt, über die ich im ersten Teil schon geredet habe. Das erste Argument für meine These hängt paradoxerweise genau mit dieser Entwicklung zusammen. Ich versuche sie noch einmal etwas deutlicher zu formulieren: Wenn auch nur annähernd stimmt, was etwa der amerikanische Medienexperte Nicolas Negroponte nicht müde wird zu prophezeien, dann haben wir es sehr bald mit einem völlig neuen Fernsehzeitalter zu tun, dem digitalen eben: Irgendwann werden weltweit 15.000 Fernsehprogramme auf dem Markt sein, die man sich mit Hilfe eines Zauberkastens namens Decoder ins Wohnzimmer wird holen können, lauter Programme, die uns zum Beispiel dabei helfen werden, die anstrengenden Politik-Sendungen der ARD – sofern es sie dann noch geben sollte – weiträumig zu umsurfen.
- Das gelingt den Jüngeren jetzt schon perfekt: Erst gestern ist in den Zeitungen über diese Studie berichtet worden, aus der hervorgeht, dass innerhalb von sechs Jahren der Anteil der Jugendlichen, die noch ARD und ZDF sehen, von 40 Prozent der Gesamtbevölkerung auf 19 Prozent gesunken ist.Aber zurück in die Zukunft: Nichts wird es mehr geben, das nicht gesendet werden wird. Es wird Sendungen geben, aus denen wir alles über die Traditionen des türkischen Bauchtanzes erfahren werden oder auch das Neueste über die Feinheiten der kreolischen Kochkunst, nicht zu vergessen die schönsten indischen Seifenopern, auf die wir keineswegs verzichten müssen, wenn wir nur ein bisschen zu zappen gelernt haben. Ganz zu schweigen von den unzähligen Möglichkeiten, sich mit Hilfe des Video on Demand ein besonders schönes DFB-Pokal-Halbfinalspiel aus dem Jahre 1977 reinzuziehen oder auch einen überdurchschnittlich gelungenen Zigeunerbaron des Stadttheaters Luzern...
Mit anderen Worten, schon bald wird es kein Fernsehen im herkömmlichen Sinn mehr geben, weil es nämlich dann in seine 15.000 Bestandteile atomisiert (und marginalisiert) sein wird. Dann wird es vielleicht so sein, dass uns das immer größere Angebot immer gleichgültiger lässt, auch weil sich der Esel zwischen tausend Heuhaufen überhaupt nicht mehr entscheiden mag – vielleicht ist das ja, nebenbei gesagt, die Erklärung dafür, warum sich Premiere World so verdammt schwer tut, genug Zuschauer zu finden und Geld zu verdienen. Ich frage mich ohnehin, ob es beim Fernseh-Quoten-Geschäft nicht mal ein paar sehr böse Überraschungen gibt. Davon abgesehen ist eines jedenfalls sicher: Wenn diese Atomisierung, von der ich gesprochen habe, erst einmal passiert ist, sieht jeder von uns dauernd etwas anderes, und unsere altvertraute Frage an den Arbeitskollegen, ob er gestern vielleicht das aufrüttelnde Magazin „Panorama“ gesehen habe, wird endgültig absurd sein.*Wenn aber das Medium Fernsehen ausgefallen sein wird als Basis für die öffentliche Diskussion und wenn insoweit auch das Internet nicht weiterhelfen wird, das ja mit seinen Millionen Möglichkeiten der individuellen Kommunikation geradezu das Gegenteil von Öffentlichkeit herstellt, was bleibt da übrig? Genau – wir werden die Tageszeitungen, die Wochenblätter und die Magazine brauchen, aus gesellschaftspolitischen Gründen sozusagen.
Demokratie setzt nämlich die öffentliche Debatte voraus, die wiederum nicht möglich ist, wenn nicht eine größere Anzahl von Menschen die gleiche Wissensbasis für ihre Fragen, Gegenentwürfe und letztlich ihre Entscheidungen hat. Um die Qualitäten oder Mängel des vom Finanzminister geschnürten Sparpakets zu beurteilen, muss man es schließlicherst kennen – genauso wie man in der Kleinstadt nur mit Hilfe der Zeitung – und ein paar schönen Zeichnungen in derselben – sinnvoll darüber diskutieren kann, wo die Trassen der neuen Umgehungsstraße angelegt werden sollen und ob man überhaupt eine Umgehungsstraße braucht.
Ein zweites Argument hängt eng mit dem ersten zusammen: Der Mensch versteht die Geheimnisse der bundesdeutschen Innenpolitik ja nicht deshalb besser, weil inzwischen zwanzig deutsche Fernsehkanäle – und demnächst vielleicht 50 – eigene Nachrichtensendungen haben und deshalb schon bald 500 Kameraleute den Minister fast zu Tode quetschen, damit er auf dem Weg vom Sitzungssaal zum Klo einen Halbsatz darüber formulieren kann, dass noch nichts entschieden ist in der Frage der Erbschaftssteuer. Auch die ganze Welt versteht der Mensch nicht besser als früher, weil er heute tausendmal mehr erfährt als noch vor 50 oder gar 100 Jahren über Zugunglücke in Hinterindien und Regierungskrisen in Surinam. Das Gegenteil ist der Fall: Aus der amerikanischen Mediendiskussion stammt der Satz, wir alle seien „overnewsed and underinformed“ – und wenn das richtig ist, dann haben die Zeitungen heute eine ganz andere - zusätzliche - Funktion als jemals zuvor: Sie müssen Lebenshilfe bieten, sie haben so etwas zu sein wie die Leuchttürme im immer dichter werdenden Nebel.Je komplizierter und undurchschaubarer die Sachverhalte, desto mehr bedürfen sie der Erklärung durch Journalisten, die sich auf das eine oder andere Feld spezialisiert haben, von dem sie deshalb etwas mehr verstehen als der Nachrichten-Normalverbraucher. Niemand kann ja auch nur annähernd noch für sich beanspruchen, dass er alleine den Überblick behalten hätte – ganz gewiss können das auch Journalisten nicht. Stattdessen können wir aber eine Mittler-Rol
Beitrag aus Heft »2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Herbert Riehl-Heyse
Beitrag als PDFClaudia Schmiderer: Happy New Year!
Trotz Sofi und Jahrtausendwechsel, der Weltuntergang und die befürchteten großen Katastrophen wie ein Y2K-Fiasko sind ausgeblieben. Der Dax und die Zuschauerzahlen der Teletubbies steigen weiter. Die Medien werden weiterhin verteufelt und den verlorenen moralischen und ethischen Werten wird verstärkt nachgetrauert.Der Verlust der Werte wird im neuen Millenium ein attraktives Thema bleiben, ein besonders beliebtes dazu für Weihnachts- und Neujahrsansprachen, auf die wir nun leider wieder fast ein ganzes Jahr warten müssen. Ebenso füllt es auch unzählige Spalten in der ZEIT, im Spiegel und in den Rückblicken prominenter Zeitzeugen wie Dönhoff, Schmidt & Co.Im Kampf um die Aufmerksamkeit ist die Story von der Entwicklung zu einer Wert-losen Gesellschaft gesellschaftsfähig geworden.
Der Zerfall von öffentlicher Moral, so wird uns nahegelegt, hat zutiefst verunsicherte, orientierungslose Bürger zur Folge, die ihre privaten ethischen Normen verloren haben. Sämtliche vorhandenen sittlichen Maßstäbe seien aus den Fugen geraten und dafür gäbe es nun wirklich genügend Beispiele: Die Familie, Jahrhunderte lang ein Hort der Vermittlung der wichtigsten Regeln für ein friedliches menschliches Zusammenleben, zerfällt. Versicherungen und Finanzämter werden betrogen. Die Moderatorinnen und Moderatoren überbieten sich in den Talkshows gegenseitig mit Provokationen, um ihren Gästen Intimitäten zu entlocken oder sie gegeneinander aufzubringen. Schmuddel ist in! Wer zeichnet dieses Bild der Welt und seiner Menschen? Zuallererst natürlich die Medien. Mir scheint, als riefen – selbstverständlich wieder über die Medien - diejenigen am lautesten nach der Einhaltung moralischer und ethischer Vorgaben, die sie stets nur von den anderen einfordern, sich selbst aber über den Dingen stehend betrachten. Die wahrlich schrecklichen Gewalttaten Jugendlicher sind die Taten Einzelner, denen ein familiärer Halt, ein fürsorgliches soziales Umfeld versagt geblieben ist, die Vorbilder suchen und sie möglicherweise auch in Gewaltvideos finden. Kaum vorstellbar, was in den Köpfen und Herzen dieser jungen Menschen vorgehen muss. Das Geschehene ist in keiner Weise zu rechtfertigen. Dennoch, sind Lehrer, die immerhin auch Machtpositionen einnehmen, wirklich gänzlich unschuldig am möglichen Hass der Schüler auf die Institution Schule und ihre Vertreter?
Für die kriegführenden Erwachsenen auf der ganzen Welt gibt es andere Gründe, das Leben unzähliger Menschen auszulöschen. Wir haben es mit einem ausgesprochenen Problem der Menschen zu tun, die Macht besitzen – in den Regierungen, Parteien und Chefetagen der Unternehmen. Sie alle scheinen sich ihren eigenen Reim auf das zu machen, was political correct ist. Natürlich, sie rackern sich ab, Tag für Tag, Wochen- wie Sonntags, wie man hört 28 bis 32 Stunden am Tag – und das für einen Hungerlohn. Da hat es doch jeder Arbeitslose schöner, der sein Geld für nichts und wieder nichts bekommt und womöglich auch noch schwarz dazuverdient. Ein Flug mit dem Hubschrauber, eine Urlaubsreise, ein paar Peanuts...alles geschenkt beziehungsweise im wahrsten Sinne des Wortes umsonst, also ohne Gegenleistung. Aber stellen wir uns doch nicht so an. Das gab es immer schon, bei Kleopatra und Shakespeares „Ceasar“: „der Größe Missbrauch ist, wenn von der Macht sich das Gewissen trennt“. Und seien wir einmal ehrlich, alles wäre wirklich halb so schlimm, würde die Einhaltung der Werte, der christlichen oder humanistischen, nicht ständig von ‘oben’ eingefordert.Daher unsere Bitte für das taufrische Jahrtausend: gebt es auf, aus uns bessere Menschen machen zu wollen. Der Glaube an irgendetwas Wert-volles versetzt keine Berge mehr. Wir kennen nämlich – entgegen der gängigen Meinung - immer noch sehr genau den Unterschied zwischen Gut und Böse, und wir lassen uns dieses Wissen nicht nehmen. Lasst die Jugend in Ruhe, sie ist hochmotiviert und braucht am wenigsten gute Ratschläge für die Gestaltung ihres Lebens.
Es ist an der Zeit, Rechenschaft von denjenigen zu verlangen, die die Regeln für die menschliche Gemeinschaft meinen für ihre Bedürfnisse und nach eigenem Gusto modifizieren zu können. Doch dieses Vorhaben wird wie alle anderen sehr wahrscheinlich glimpflich für die Betroffenen ausgehen. Und mit den paar Mark unterm Kopfkissen – denn vor Bankkonten sei gewarnt - lässt es sich die nächsten Jahre ganz gut leben.